3. Kapitel: Jimmie Higgins diskutiert die Kernfrage
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  Die graue Flut der Schreckensherrschaft überrollte Belgien, und  jeden Morgen, und am Nachmittag erneut, schlug die erste Seite der  Zeitung von Leesville ein wie eine Bombe. Fünfundzwanzigtausend  Deutsche bei einem Angriff auf Lüttich gefallen, eine viertel Million  Russen in den masurischen Sümpfen niedergemetzelt und ertrunken und so  weiter, bis es den Menschen wie ein Mühlrad im Kopf herumging. Sie  sahen vor ihren Augen Reiche und Kulturen zugrunde gehen, sahen alle  die Gewissheiten, auf die ihr Leben gegründet war, sich auflösen wie  Nebel bei Sonnenaufgang. 
    Bisher hatte es Jimmie Higgins immer von  sich gewiesen, eine Tageszeitung zu halten. Für ihn bitte keine  kapitalistischen Lügen; er wollte seine Pennies für das sozialistische  Wochenblatt aufheben! Doch nun musste er die Nachrichten haben, und so  abgespannt er nach der Tagesarbeit auch war, saß er doch auf der  Veranda seines Hauses, die müden Füße gegen einen Pfosten gestemmt, und  entzifferte die Depeschen. Danach schlenderte er zum Zigarrenladen des  Genossen Stankewitz hinunter, eines verschrumpelten kleinen rumänischen  Juden, der in Europa gelebt hatte und eine Landkarte besaß und Jimmie  zeigte, wo Russland lag und warum Deutschland durch Belgien marschierte  und warum England sich einmischen musste. Es war gut, einen Freund zu  haben, der weit gereist war und Fremdsprachen konnte - besonders, als  die Kämpfe sich um Orte wie Przemysl und Przasnysz konzentrierten! 
    Jeden Freitagabend hatte dann die Ortsgruppe ihre Versammlung. Jimmie  war stets als erster da, eifrig darauf bedacht, dass ihm kein Wort  entging, das die besser informierten Genossen zu sagen wussten, und auf  diese Weise die Bildung zu vervollständigen, die die Gesellschaft ihm  so grausam vorenthalten hatte. 
    Der Krieg war kaum ein paar Wochen alt, als in Jimmies Kopf schon alles  durcheinanderging; nie hätte er es für möglich gehalten, dass die  Menschen so viele widersprüchliche Meinungen haben und mit solch  leidenschaftlicher Starrheit daran festhalten könnten! Es schien, als  ob der Weltkrieg in Leesville im Kleinen ausgefochten würde. Auf der  dritten Versammlung nach Kriegsbeginn erhob sich der wohlhabende Dr.  Service und stellte mit seiner imposanten Rednerstimme den Antrag, die  Ortsgruppe solle ein Telegramm an das Zentralkomitee der Partei  schicken, mit dem Ersuchen, gegen die Invasion in Belgien zu  protestieren; desgleichen ein Telegramm an den Präsidenten der  Vereinigten Staaten, mit dem Ersuchen, gleichermaßen zu verfahren. Da  aber ging ein Höllenlärm los! Genosse Schneider, der Brauereiarbeiter,  wollte wissen, ob die Ortsgruppe Leesville schon jemals das  Zentralkomitee ersucht habe, gegen die Invasion in Irland zu  protestieren. Oder hatte die Sozialistische Partei vielleicht schon mal  den Präsidenten der Vereinigten Staaten ersucht, Ägypten oder Indien  vor Unterdrückung zu schützen? Genosse Dr. Service, der sich nicht  gesetzt hatte, begann die Freveltaten, die die deutsche Armee in  Belgien verübt hatte, leidenschaftlich anzuprangern; worauf Genosse  Schneiders blühendes Gesicht purpurrot anlief. Er verlangte zu wissen,  ob denn nicht jedermann bekannt sei, dass Frankreich zuerst in Belgien  eingefallen wäre und dass die Belgier die Franzosen willkommen geheißen  hätten? Waren etwa nicht alle belgischen Festungen Deutschland  zugekehrt? Natürlich! antwortete der Doktor. Aber wennschon! War es  etwa ein Verbrechen, zu wissen, wer einen angreifen wollte? 
    Ohne auf diese Frage einzugehen, begehrte der purpurgesichtige Brauer  zu wissen, ob denn nicht aller Welt bekannt wäre, dass die Franzosen  mit einem Flugzeugbombardement auf die deutschen Städte den Krieg  angefangen hatten? Der Genosse Doktor, dessen Gesicht sich ebenfalls  purpurrot färbte, erwiderte, die ganze Welt wisse, dass dies ein  Märchen sei, das die deutsche Propagandamaschinerie in Umlauf gesetzt  habe. Und woher wisse das die ganze Welt? brüllte Schneider. Durch eine  Telegrammzensur, die von britischem Gold beherrscht wurde? Dieser  Streit beschäftigte Jimmie sehr. Störend war nur, dass er beiden  Meinungen zustimmte und die Neigung verspürte, beiden Seiten zu  applaudieren. Er applaudierte auch dem nächsten Redner, dem jungen Emil  Forster, einem schlanken, blassen, blonden Jugendlichen, der in der  Teppichfabrik Designer war. Emil gehörte zu denen, die selten auf  Versammlungen das Wort ergriffen, denen man aber, wenn es doch einmal  geschah, mit Aufmerksamkeit zuhörte, denn er war Student und ein  Denker; er spielte Flöte und sein Vater, der ebenfalls  Ortsgruppenmitglied war, Klarinette; das Paar war darum für „gesellige  Abende" unentbehrlich. Mit seiner freundlichen, leidenschaftslosen  Stimme erklärte er, es sei nicht leicht für die Menschen in Amerika,  das Dilemma der deutschen Sozialisten in der gegenwärtigen Krise zu  verstehen. Man müsse bedenken, dass die Deutschen nicht nur gegen  England und Frankreich kämpften, sondern auch gegen Russland, und  Russland sei ein riesiges, noch halb barbarisches Land unter der  vielleicht grausamsten Regierung der Welt. Wie würde wohl den  Amerikanern zumute sein, wenn in Kanada oben dreihundert Millionen  unwissende, versklavte Menschen säßen, die man in riesigen Armeen  drillte? 
    Ganz schön und gut, entgegnete Dr. Service schlagfertig. Aber warum  bekämpften die Deutschen dann nicht Russland und ließen Frankreich und  Belgien in Frieden? Weil, antwortete Emil, die Franzosen das nicht  zulassen würden. In Amerika denke man an Frankreich als an eine  Republik, doch dürfe man nicht vergessen, dass es sich um eine  kapitalistische Republik handle, eine Nation, die von Bankiers regiert  werde, und diese Bankiers hätten mit Russland ein Bündnis geschlossen,  das einzig und allein die Zerstörung Deutschlands zum Ziel haben könne.  Frankreich habe Russland so etwa vier Milliarden Dollar geliehen. Und  da sprang Schneider hoch. Ja, und dieses Geld sei es, womit die  Geschütze und Granaten beschafft worden seien, die jetzt dazu benutzt  würden, Ostpreußen zu verwüsten, das Land, wo er, Schneider, geboren  sei! 
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  Auf beiden Seiten geriet man immer mehr in Hitze, und die Neutralen  bemühten sich, den Streit zu schlichten. Genosse Stankewitz, Jimmies  Freund aus dem Zigarrenladen, rief mit seiner schrillen, eindringlichen  Stimme: „Warum wollen wer uns einmischen in Kämpfe in Europa? Wissen  wer nicht, was sind Bankiers und was sind Kapitalisten? Was ist für ein  Unterschied für den Arbeiter, ob er wird ausgeraubt von Paris oder wird  ausgeraubt von Berlin? Ich muss wissen", sagte Stankewitz, „hob ich  gearbeit' in alle beide Städte, und bin ich gewesen genauso hungrig  unter dem Rothschild, als ich bin gewesen unter dem Kaiser." Dann war  Genosse Gerrity, der Organisator der Ortsgruppe, an der Reihe. Was sie  auch täten, sagte Gerrity, sie müssten sich in diesem Krieg ihre  Neutralität erhalten; die einzige Hoffnung der Welt liege jetzt in der  sozialistischen Bewegung - dass sie den internationalen Geist bewahren  und eine kriegszerrissene Welt zurück zum Frieden führen möge.  Besonders in der Ortsgruppe Leesville müssten sie jetzt einen klaren  Kopf behalten, denn sie ständen vor dem wichtigsten Schritt in ihrer  Geschichte: der Gründung einer Wochenzeitung. Dem dürfe sich nichts in  den Weg stellen! 
    Ja, sagte Genosse Service, aber sie müssten doch  wohl die politische Linie der Zeitung festlegen, oder wie? Wollten sie  etwa gegen das Unrecht im eigenen Land auftreten, sich jedoch um den  empörendsten Fall von internationalem Unrecht in der Geschichte der  Welt nicht kümmern? Sollte eine Arbeiterzeitung etwa nichts sagen  dürfen gegen die Versklavung der Arbeiter Europas durch den Kaiser und  seine Militaristenclique? Er, Dr. Service, wolle dann mit so einer  Zeitung nichts zu schaffen haben. Da starrten die Mitglieder der  Ortsgruppe einander erschrocken an. Jeder Mann und jede Frau, die sa  saßen, wussten, dass der wohlhabende Doktor mit fünfhundert Dollar an  der Spitze der Spendenliste für den demnächst zu gründenden Leesviller  „Worker" gestanden hatte. Der Gedanke, diesen großzügigen Beitrag zu  verlieren, versetzte sogar die Deutschen in Bestürzung. 
    Aber es gab in der Ortsgruppe einen Mann, den keine Drohung  einschüchtern konnte. Und der erhob sich jetzt - hager, fahl, ja fast  schon grün, mit schwarzem Haar, das ihm in die Augen fiel, und einem  Husten, der ihn bei jedem zweiten Satz schüttelte. Er hieß Bill Murray;  den „Wilden Bill" nannten ihn die Zeitungen. Die rote Karte, die er bei  sich trug, war von den Sekretären einiger dreißig Ortsgruppen im Lande  abgezeichnet. Er hatte unter einem Motorpflug in Kansas ein paar Zehen  verloren und in einer Weißblechfabrik in Alleghany County die halbe  Hand; er war bei einem Streik in Chicago bewusstlos geprügelt und bei  einem offenen Redewettstreit in San Diego geteert und gefedert worden.  Dieser Mann nun sagte den Mitgliedern der Ortsgruppe Leesville, was er  von jenen Salonrevolutionären hielt, die die Ortsgruppe bis zur  Ehrbarkeit eines Kirchenvereins hochstilisieren wollten. Der Wilde Bill  hatte die Diskussionen über Abschnitt sechs, die Schutzbestimmung gegen  Sabotage und Gewaltanwendung in der Satzung der Partei, verfolgt.  Dieselben Leute, die sich für das bisschen bürgerlichen Aufputz  begeistert hatten, versuchten jetzt, die Ortsgruppe für die  Verteidigung der englischen Seemacht einzuspannen. Worin lag denn  verdammt noch mal für den Arbeiter der Unterschied, ob der Kaiser nun  eine Eisenbahn nach Bagdad bekam oder nicht? Natürlich, wenn einer in  England zur Schule gegangen war und eine englische Frau hatte und sich  als englischer Gentleman fühlte -ein merklicher Schauder ging durch die  Versammlung, denn jeder wusste, dass Dr. Service gemeint war -, na  schön, dann sollte der doch das erste Schiff nehmen, das über den Ozean  fuhr, und sich anwerben lassen; aber er sollte nicht versuchen, aus  einer amerikanischen Sozialistenortsgruppe eine Rekrutierungsstelle für  britische Grundbesitzer und Aristokraten zu machen! 
    Dies wiederum rief Genossen Norwood auf den Plan, den jungen  Rechtsanwalt, der mitgeholfen hatte, im Nationalkonvent der Partei den  Abschnitt sechs durchzubringen. Wenn gewissen Leuten dieser Paragraph  nicht passte, warum traten sie dann nicht aus der Partei aus und  gründeten ihre eigene Organisation? 
    „Weil", antwortete Murray, „wir lieber Sabotage  begehen als streiken!" 
    „Mit anderen Worten", fuhr Norwood fort, „ihr bleibt in der Ortsgruppe  und treibt durch eine Kampagne von Hohn und Anzüglichkeiten eure Gegner  hinaus!" „Es ist dies seit Monaten die erste Versammlung, auf der wir  das Vergnügen haben, Genossen Norwood zu begrüßen", sagte der Wilde  Bill mit gehässiger Gelassenheit. „Vielleicht hat er gewusst, dass wir  aufgefordert werden sollten, ein Regiment für Kitchener aufzustellen!"  Und dann erhob sich wieder Genosse Stankewitz, und sein mageres,  eifriges Gesicht sah unglücklich aus. „Genossen, das bringt uns doch  nicht weiter! Es gibt doch nur eine Frage, die wer müssen beantworten,  und die heißt: Sind wer nu Internationalisten, oder sind wer keine?"  „Mir scheint", fuhr Norwood fort, „die Frage heißt: Sind wir  Antinationalisten?" 
    „Na schön", schrillte der kleine Jude. „Will ich lassen gelten - ich  bin Antinationalist! Alle Sozialisten sollten sein!" „Aber so verstehe  ich es nicht", erklärte der junge Rechtsanwalt. „Wer allerdings zu  einer Rasse gehört, die schon seit zweitausend Jahren kein Land mehr  ihr Eigen nennt, für den ist es leicht..." 
    „Und wer ergeht sich jetzt in Anzüglichkeiten?"  höhnte der Wilde Bill. 
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  So stand es um die Ortsgruppe Leesville. Das Ergebnis der Debatte war,  dass Genosse Dr. Service erklärte, er wolle von nun ab mit der  Sozialistischen Partei nichts mehr zu schaffen haben. Und der Genosse  Doktor knöpfte seine hübsche schwarze Jacke über der stattlichen Brust  zu und stolzierte aus dem Saal. Der Rest des Abends verging  größtenteils mit einer Diskussion über ihn und seine Person und seinen  Einfluss in der Ortsgruppe. Das sei überhaupt kein Sozialist, erklärte  Schneider, das sei ein englischer Aristokrat oder jedenfalls so was  Ähnliches - seine Frau habe zwei Brüder im britischen Expeditionskorps  und einen Neffen, der sich schon freiwillig für die Territorialarmee  gemeldet habe, und im Augenblick sei ein Vetter zu Besuch auf dem Wege  nach Kanada, weil es so am schnellsten ginge, in die Geschichte mit  hineinzukommen. Doch trotz all dieser nachteiligen Umstände war die  Ortsgruppe nicht zu bewegen, ihren großzügigen Förderer einfach  fallenzulassen, und Genosse Gerrity, der Organisator, sowie Genosse  Goldstein von den Ypsels wurden als Komitee eingesetzt, das zu ihm  gehen und mit ihm reden und ihn womöglich in den Schoß der Partei  zurückführen sollte. Was Jimmie anging, so war sein Problem nicht  derart kompliziert. Er hatte nirgendwo Verwandte, von denen er wusste,  und wenn er ein „Vaterland" hatte, dann hatte dieses Vaterland  jedenfalls vergessen, ihn diesen Umstand wissen zu lassen. Das erste,  was sein Vaterland für ihn getan hatte, war, dass es ihn einer Negerin  in die Hände gab, die ihn mit Haferschleim und Wasser großzog und ihn  im Winter ohne Decke schlafen ließ. Dieses Vaterland war für Jimmie ein  Haufen Besitzer und Bosse, die einen für den Lohn, den sie einem  zahlten, tüchtig schwitzen ließen und einem die Polizei mit Knüppeln  auf den Hals hetzten, wenn man Sperenzchen machte. Ein Soldat war für  Jimmie ein Kerl, der der Polizei zu Hilfe kam, wenn sie in die Klemme  geriet. Ein Soldat ging mit herausgedrückter Brust und in die Luft  gereckter Nase umher, und Jimmie nannte ihn „Blechkopp" und hielt ihn  für einen Verräter an der Arbeiterklasse. 
Es war also leicht für unseren kleinen Maschinenarbeiter, dem jüdischen  Zigarrenhändler aus Rumänien zuzustimmen, der sich einen  „Antinationalisten" nannte. Es war auch leicht für ihn, zu lachen und  zu applaudieren, als der Wilde Bill wissen wollte, worin denn verdammt  noch mal der Unterschied bestehe für einen Arbeiter, ob der Kaiser nun  eine Eisenbahn nach Bagdad bekam oder nicht. Ihn ließ die Meldung, dass  die britische Armee in Frankreich Schritt um Schritt zurückfiel und  dabei zehnmal soviel Feinde aufhielt, völlig kalt. Die Zeitungen  nannten das „Heldentum", aber für Jimmie war es nur ein Haufen armer  Irrer, denen man mit einer Fahne vor den Augen herumgefuchtelt hatte  und die sich für einen Shilling an die Grundbesitzer ihres Landes  verkauft hatten. In einer der sozialistischen Zeitungen, die Jimmie  las, erschien jede Woche eine Folge von Comics, in denen der Arbeiter  unter dem Namen „Henry Dubb" als treuherziger Tölpel dargestellt wurde.  Der arme Henry glaubte immer, was man ihm sagte, und am 
Ende jedes Abenteuers bekam er eins auf die Birne, dass Sterne über die  Seite tanzten. Und die komischsten von den vielen Abenteuern, die Henry  Dubb erlebte, waren die, wo er sich eine Uniform anzog. Jimmie schnitt  diese Bilder immer aus und zeigte sie im Werk herum und auch bei seinen  Nachbarn in der Barackensiedlung, wo er wohnte. Und an Jimmies Gefühlen  änderte sich auch nicht viel, als er von Gräueltaten der Deutschen las.  Zunächst einmal: Er glaubte sie nicht, sie gehörten nur zum Giftgas des  Krieges. Wenn Männer bereit waren, einander mit Bajonetten zu erstechen  und einander mit Granaten zu zerfetzen, dann waren sie auch bereit,  übereinander Lügen zu verbreiten, da bestand kein Zweifel; die  Regierungen logen vorsätzlich; das war eine der Praktiken, wie man  Soldaten zum Kampf anstachelte. Was, argumentierte Jimmie, ihm wollte  man erzählen, die Deutschen seien eine Bande von Barbaren? Wo er doch  mit Hunderten von ihnen in einer Stadt lebte und dauernd mit ihnen in  der Ortsgruppe zusammen war? Da waren zum Beispiel die Forsters: wo  fand man eine freundlichere Familie? Dem sozialen Rang nach standen sie  weit über Jimmie - sie besaßen ein eigenes Haus und hatten ganze Regale  voller Bücher und einen mannshohen Stapel Noten; kürzlich hatte Jimmie  auf einem sozialistischen Botengang bei ihnen haltgemacht, und sie  hatten ihn zum Essen eingeladen, und es war da ein dünnes,  abgearbeitetes Frauchen mit liebem Gesicht gewesen und vier  heranwachsende Töchter - nette, freundliche, ruhige Mädchen - und zwei  Söhne, die noch jünger waren als Emil; es hatte geschmortes Rindfleisch  gegeben und eine große Schüssel mit dampfenden Kartoffeln und eine  andere mit Sauerkraut und einen komischen Pudding, den Jimmie nicht  kannte, und danach hatten sie musiziert - sie waren ganz verrückt nach  Musik in dieser Familie; sie spielten die ganze Nacht, wenn man nur  zuhören wollte, wobei der alte Hermann Forster sein behäbiges,  dunkelbärtiges Gesicht nach oben kehrte, als könnte er in den Himmel  gucken. Und da wollte man Jimmie glauben machen, dass ein solcher Mann  aufs Bajonett gespießte Babies herumtrug oder Mädchen vergewaltigte und  ihnen hinterher die Hände abhackte! Oder da war der Genosse Meissner,  einer von Jimmies Nachbarn, eine freundliche kleine Quasselstrippe von  einem Mann, der als Vorarbeiter verantwortlich war für ein Dutzend  Frauen aus ebenso vielen Völkerschaften, die in der Glasfabrik Flaschen  abpackten. Die Tränen traten in Meissners blassblaue Augen, wenn er  erzählte, wie er diese Frauen antreiben musste, auch wenn sie krank  waren oder schwanger oder was auch immer. Und man sollte bedenken, der  Oberaufseher und der Eigentümer, die das von Meissner verlangten, waren  Amerikaner - nicht Deutsche! Der kleine Mann konnte seine Arbeit nicht  aufgeben, weil er eine große Kinderschar und eine Frau hatte, der  irgend etwas fehlte - niemand konnte sagen, was, aber sie nahm alle  möglichen Patentmedizinen ein, die die Familie arm machten. Manchmal  ging Lizzie Higgins hinüber, um nach ihr zu sehen, und die beiden  sprachen sich aus über Krankheiten und über die Lebensmittelpreise, und  unterdessen ging Meissner hinüber zu Jimmie, der so lange die  Jimmiekinder hütete, und die beiden rauchten ihre Pfeife und erörterten  die Kontroversen zwischen den „Taktierern" und den Anhängern „direkter  Aktionen" in der Ortsgruppe. Und da wollte man Jimmie glauben machen,  dass Männer wie Meissner alte belgische Frauen an die Kirchenwand  stellten und abknallten!
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Doch im Laufe der Wochen begannen sich Nachrichten über Gräueltaten  zu häufen, und Jimmie musste eine Rückzugsstellung beziehen. Na ja,  konnte ja sein, aber schließlich waren alle Armeen gleich. Jemand  erzählte Jimmie von dem Ausspruch eines berühmten Generals, der Krieg  sei die Hölle, und daran hielt sich Jimmie - es war genau das, was er  glauben wollte! Krieg war ein Rückfall in die Barbarei, und je  schlimmer er wurde, desto überzeugender wurde Jimmies Argument. Er  hatte kein Interesse für die Bemühungen der Menschen, den Krieg zu  verbessern, indem sie sich einigten, auf diese Weise zu töten, aber  nicht auf jene, diese Sorte Menschen zu töten, aber nicht jene. 
  Diese Ideen übernahm Jimmie von seinen Genossen in der Ortsgruppe und  von den sozialistischen Zeitungen, die jede Woche eintrafen, und von  den vielen Rednern, die er hörte. Diese Redner waren Männer und Frauen  von verwirrender Offenheit und mit einem klaren, völlig logischen  Standpunkt. Ob sie nun über Krieg, Verbrechen, Prostitution, politische  Korruption oder andere soziale Übel sprachen, immer wollten sie nur das  eine: das alte, baufällige Gefüge niederreißen und an seine Stelle  etwas Neues und Kluges setzen. Man konnte sie möglicherweise dazu  bringen, zuzugeben, dass es zwischen den kapitalistischen Regierungen  leichte Unterschiede gab; doch wenn es zur Nutzanwendung kam, zum  Handeln, stellte man fest, dass für diese Leute alle Regierungen gleich  waren - und niemals so gleich wie in Kriegszeiten! 
  Auch war der Protest der Sozialisten noch nie so notwendig gewesen!  Sehr schnell wurde offenbar, dass es für Amerika keine leichte Sache  sein würde, sich aus dem Weltstrudel herauszuhalten. Weil die  amerikanischen Arbeiter einen Lohn unter dem Existenzminimum bekamen  und nicht kaufen konnten, was sie produzierten, gab es einen  Produktionsüberschuss, der im Ausland verkauft werden musste; so war  das Geschäft der amerikanischen Fabrikanten abhängig von ausländischen  Märkten - und hier plötzlich stürzten sich alle Haupthandelsnationen  der Welt darauf, so viel amerikanische Produkte zu kaufen, wie sie  konnten, und ihre Feinde möglichst daran zu hindern, überhaupt etwas zu  kaufen. 
  Eine Rednerin kam nach Leesville, eine gewitzte kleine Person mit einer  scharfen Zunge, die diese Streitigkeiten veranschaulicht hatte und sie  als Dialog wie in einem Bühnenstück zum Besten gab: Kaiser Willy sagt:  „Ich brauche Baumwolle." John Bull sagt: „Kriegst du nicht." Uncle Sam  sagt: „Aber das ist sein gutes Recht. Mach Platz, John Bull." Aber John  Bull sagt: „Dann halte ich deine Schiffe an und bringe sie in meine  Häfen." Uncle Sam sagt: „Nein, nein! Mach das nicht!" Aber John Bull  tut es trotzdem. Und dann sagt der Kaiser: „Was bist du denn für einer,  dass du dir von John Bull deine Schiffe stehlen lässt? Bist du ein  Schlappschwanz, oder bist du heimlich ein Freund von diesem alten  Gauner?" Und Uncle Sam sagt: „John Bull, dann gib mir wenigstens meine  deutsche Post und meine deutschen Zeitungen." Aber John Bull antwortet:  „Du hast einen Haufen deutsche Spitzel im Lande - darum kann ich dir  deine Post nicht geben. Und die deutschen Zeitungen kannst du nicht  kriegen, weil der Kaiser sie mit Lügen über mich vollstopft." Und der  Kaiser sagt: „Wenn John Bull mich meine Baumwolle und mein Fleisch und  all das übrige nicht haben lassen will, warum hörst du dann nicht auf,  ihm was zu schicken?" Er wartet ein Weilchen, und dann sagt er: „Wenn  du nicht aufhörst, diesem alten Gauner Sachen zu schicken, dann  versenke ich eben einfach die Schiffe, und Schluss." Und Uncle Sam  schreit: „Aber das ist gegen das Gesetz!" - „Wessen Gesetz?" fragt der  Kaiser. „Was ist denn das für ein Gesetz, das nur in der einen Richtung  gilt?" - „Aber auf den Schiffen sind Amerikaner!" ruft Uncle Sam. „Na,  dann lass sie doch nicht rauf auf die Schiffe!" antwortet der Kaiser.  „Lass sie so lange nicht rauf, bis John Bull sich an das Gesetz hält." 
  Auf diese Art dargestellt, war die Situation jedem Jimmie Higgins  verständlich, und als die Diskussionen weitergingen, wurde Jimmies  eigener Standpunkt von Monat zu Monat klarer. Er war nicht daran  interessiert, Baumwolle nach England zu schicken und Fleisch noch viel  weniger. Er schätzte sich schon glücklich, wenn er selber zweimal in  der Woche ein Stück Fleisch hatte, und es leuchtete ihm ein, dass die  Kerle, denen das Fleisch gehörte, dieses, wenn sie es nicht ins Ausland  verschicken durften, vielleicht in Amerika zu einem Preis verkaufen  würden, den ein Arbeiter bezahlen konnte. Das war nicht etwa bloß  Habgier von Jimmie; er war durchaus bereit, auf Fleisch zu verzichten,  wenn es um ein Ideal ging - man brauchte sich ja bloß anzusehen, wie  viel Kraft, Zeit und Geld er für den Sozialismus einsetzte! Der  springende Punkt war: Wenn man Waren nach Europa schickte, half man,  den Kampf in Gang zu halten; wenn man aber damit aufhörte, dann mussten  die Holzköpfe doch Vernunft annehmen. Also stellten die Jimmie Higginse  ihre Kampagne unter die Losung: „Hungert den Krieg aus und macht  Amerika satt!" 
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Im dritten Kriegsmonat begannen in Leesville beunruhigende Gerüchte  zu kursieren. Der alte Abel Granitch hätte sich auf einen Vertrag mit  der belgischen Regierung eingelassen, und die Empire Machine Shops  würden nun Granaten herstellen. In den Lokalzeitungen erschien darüber  nichts, aber jeder behauptete, er hätte es aus erster Hand, und wenn  auch nicht zwei Leute dasselbe sagten, so musste doch irgendein wahrer  Kern in alldem stecken. Und dann erfuhr Jimmie eines Tages zu seiner  Bestürzung von Lizzie, der Verwalter des Grundstückseigentümers sei  gekommen und habe ihnen gekündigt und sie müssten binnen drei Tagen  ausziehen. Der alte Granitch habe das Land aufgekauft, und die Werke  sollten nach dieser Seite hin erweitert werden. Jimmie traute seinen  Ohren kaum, denn er war sechs Häuserblocks vom nächstgelegenen Teil der  Werke entfernt; aber es war die Wahrheit, das sagten alle. Das gesamte  Land war aufgekauft worden, und ein halbes Tausend Familien - Kinder  und Greise und Kranke, Männer auf dem Totenbett und Frauen im Kindbett  - hatten alle miteinander drei Tage Zeit, in neue Unterkünfte  umzuziehen. 
  Man stelle sich das Durcheinander vor, das Babel der  Sprachen, die Frauen, die sich von Veranda zu Veranda Fragen und  Ratschläge zuriefen! Die Kraftausdrücke und das Geschimpfe und die  Drohungen mit dem Gericht! Der Ansturm auf die Grundstückseigentümer,  und wie die Preise in die Höhe gingen! Jimmie lief zum Genossen  Meissner, der sich ein Haus gekauft hatte und es in Raten abzahlte;  Meissner, als Sozialist, versuchte nicht, ihm das Fell über die Ohren  zu ziehen, sondern war froh, dass er Hilfe für die Abzahlungen bekam.  Es waren keine Trennwände auf dem Dachböden, den Jimmie mietete, aber  sie wollten Vorhänge anbringen und würden sich irgendwie behelfen, und  Lizzie würde Mrs. Meissners Herd benutzen, bis sie oben irgend etwas  installieren konnten. Und dann ab zum Gemüseladen an der Ecke, einen  Handwagen ausborgen und mit dem Transport der Möbel anfangen; denn  morgen würde jeder umziehen, und dann würde man einen fahrbaren  Untersatz weder für Geld noch für gute Worte kriegen können. Bis nach  Mitternacht plagten sich Jimmie und Meissner mit dem Transport von  Babies und Bettzeug und Kochtöpfen und Stühlen und Hühnerkörben, hoch  aufgetürmt auf dem Handwagen. 
  Und am nächsten Morgen im Werk neue Aufregung! Jimmie war jetzt vier  Jahre beim alten Granitch beschäftigt und hatte während dieser ganzen  Zeit immer dieselbe Arbeit gemacht, in einer Riesenhalle in einem  Durcheinander von wirbelnden Rädern und Riemen stehend, unter Dröhnen  und Kreischen und Poltern und Sausen, das von seinen fünf Sinnen einen  vollkommen auslöschte. Vor ihm kam, mechanisch transportiert, eine  Palette voll kleiner rechteckiger Stahlklötze an. die er, mit jeder  Hand einen, an zwei Stellen in eine Maschine einführte; die Maschine  fasste diese Klötze, rundete ein Ende ab, fräste den Rest ein bisschen  kleiner, schnitt ein Gewinde ein und ließ sie dann als Bolzen in eine  Palette auf der anderen Seite fallen. Weil Jimmie die Maschine  beaufsichtigen und die Schmierbüchsen voll Öl halten musste, wurde  seine Arbeit als angelernt eingestuft und mit neunzehneinhalb Cent die  Stunde bezahlt. Vor einiger Zeit hatte ein Experte den Vorgang studiert  und durchgerechnet, dass es bei diesem Preis für die Arbeitskraft um  einen achtel Cent pro Stunde billiger war, die Arbeit von Hand tun zu  lassen, als eine Maschine dafür aufzustellen, und daher hatte Jimmie  schon seit vier Jahren diesen Arbeitsplatz, wo er von sieben bis zwölf  und noch einmal von halb eins bis sechs immer auf demselben Fleck stand  und jeden Sonnabendabend die Summe von zwölf Dollar und neunundzwanzig  Cent nach Hause trug. Man könnte vielleicht meinen, die riesigen  Maschinenwerke hätten das auf zwölf Dollar dreißig aufgerundet, aber  wer das denkt, hat keine Ahnung von der Massenproduktion. -Und nun,  urplötzlich und ohne Warnung, fand Jimmies präzis geordnete, gewohnte  Welt ihr Ende. Er stand auf seinem Platz, als die Sirene heulte, doch  die Maschinen liefen nicht an. Und wenig später kam der irische  Vorarbeiter mit der kurzen Mitteilung, die Maschinen würden nie wieder  laufen, jedenfalls nicht an dieser Stelle; sie sollten weggeräumt und  neue Maschinen dafür aufgestellt werden, und die Leute sollten sofort  mit Schraubenschlüsseln, Hämmern und Brechstangen an die Arbeit gehen  und eine neue Welt errichten! 
  Eine Woche lang taten sie das, und in der Zwischenzeit sah Jimmie jeden  Abend auf dem Heimweg, wie Wohnstätten demoliert wurden - Dächer  stürzten unter Wolken <von Staub zusammen, und Arbeitsbrigaden luden  die Trümmer auf riesige Lastwagen. Es dauerte nicht lange, da hatten  sie Karbidbeleuchtung und arbeiteten die ganze Nacht durch -Trupps von  Arbeitern, die in Zelten auf freien Parzellen außerhalb der Stadt  wohnten und ihre Zeltbahnbetten durch Schlafen in zwei Schichten warm  hielten. Jimmie Higgins erkannte die schreckliche Wahrheit, dass trotz  aller Agitation der Sozialisten tatsächlich der Krieg nach Leesville  gekommen war!  | 
  
    
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