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Fjodor Gladkow - Zement (1925)
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IV. Der Arbeiterklub „Komintern"

KPR-Zelle

Der Arbeiterklub „Komintern" befand sich im Hause des ehemaligen Direktors, in einem soliden einstöckigen Gebäude aus dreifarbigem rohem Stein, gelbem, blauem und grünem. Wie ein Felsblock lag es auf einer mit Kreuzdorn-und Thujahecken bedeckten Berghöhe; in der Architektur streng und puritanisch schlicht wie eine Kirche, war es trotzdem reich und verschwenderisch mit offenen Veranden und Baikonen ausgestattet, und von Nebengebäuden (ebenso solide und sauber gemauert), von Blumenrabatten und Spielplätzen umgeben. Im Haus gab es eine Unmenge Zimmer, dämmrige, verzweigte Gänge und Treppen mit Eichensäulen und bunten Ampeln. Jedes Zimmer hatte Stofftapeten, kunstvollen Wandschmuck, Gemälde erster Meister, riesige Spiegel und schwere Möbel.
Vor der Vorderfront lag am Hang ein Obstgarten — von Ziegen abgeweidet, mit verwilderten Pfaden, umfriedet von eisernen Gittern auf steinernen Sockeln. Rechts, hinter der Hügellinie, gigantische blaue Schlote, links wieder Schlote und hoch oben Steinbrüche und zerstörte Bremsberge.
Hier hatte einmal ein geheimnisvoller alter Mann gelebt, den die Arbeiter nur von weitem sahen und dessen Stimme sie nie hörten.
Erstaunlich, wie er allein, dieser greisenhaft gewichtige Direktor, die dreißig Zimmer des Palastes hatte bewohnen können, ohne dass er Angst vor der Leere, Alpdruck und Grauen bekam vor Armut, Schmutz und Gestank, vor dem ganzen viehischen Zustand der Arbeiterbuden und Mietskasernen !
Dann war der Krieg gekommen, die Revolution, die große Katastrophe... Er hatte sich aus dem Zusammenbruch gerettet, der Direktor, und war geflüchtet, hilflos und armselig. Mit ihm waren die Ingenieure, die Techniker und die Chemiker geflüchtet. Nur einer war geblieben — Ingenieur Kleist, der älteste Mitbegründer des Werkes; er hatte sein Arbeitszimmer im Hauptgebäude der Verwaltung unten an der Chaussee vergraben, dem Palast seiner letzten Schöpfung genau gegenüber.
An einem Frühlingstage, als Wolken, Meer und Berge gleißten und die Luft mit Sonnennadeln in die Augen stach, waren die Arbeiter des Werkes in der Schlosserei versammelt. Mitten im Gedränge, im Gebrüll und Tabaksqualm hatte der Schlosser Gromada den Antrag gestellt: „Der wunderbare Palast, in dem der Blutsauger von Direktor gewohnt hat, soll ein Arbeiterklub werden und Komintern' heißen." Im Erdgeschoß wurden der Klub, die Partei- und Komsomolzellen untergebracht, im ersten Stock die Bibliothek und die Abteilung zur besonderen Verwendung.
Wo früher völlige Ruhe geherrscht hatte, wo die Arbeiter die zementierten Wege, die am Palast vorbeiführten, nicht hatten betreten dürfen (die Direktion hatte es streng verboten) — dort schmetterten jetzt, wenn abends die Spiegelscheiben im feuerroten Widerschein der untergehenden Sonne lohten, die Trompeten der Klubkapelle, von Trommelwirbel begleitet.
Aus den Häusern der geflüchteten Ingenieure waren alle Bücher in die Klubbibliothek gebracht und in die Schränke gestellt worden. Die Bücher blinkten golden, gehörten aber einer unverständlichen und fremden Welt an: auf den farbigen Rücken leuchteten Titel in deutscher Schrift.
Die Arbeiter hausten nach wie vor in ihren Höhlen und Kasernen. Die Häuser der Ingenieure standen leer und flößten Schrecken ein mit ihren Zimmerfluchten.
In der Schlosserei wurden weiter Feuerzeuge hergestellt, und abends suchten die Arbeiter ihre Ziegen in den Bergen. Das Weibervolk ging in die Stanizen und Dörfer hamstern.
Wie Stiere brüllten im oberen Stockwerk die Trompeten, und dröhnend explodierte die Pauke.
Im Arbeiterklub „Komintern" eröffnete Gleb eine außerordentliche Parteizellensitzung. Das Zimmer war geräumig und hatte hohe Paneele aus karelischer Birke; aus karelischer Birke waren auch die Möbel. Von der Abendsonne beleuchtet, glänzten Wände und Möbel wie Gold. Man holte noch roh gezimmerte Bänke aus dem Theatersaal.
Gleb saß am Tisch und überblickte die Versammelten. Alle Gesichter sahen sich ähnlich. Zwar schienen sie verschieden, doch etwas Gemeinsames in ihnen ließ sie zu einem einzigen Gesicht verschmelzen.
Lange quälte sich Gleb mit der Frage, was das sei. Warum war ihm das früher nicht aufgefallen? Warum beunruhigten ihn diese Gesichter erst jetzt?
Endlich begriff er: Das war der Hunger.
Viele sahen Gleb zum ersten Mal wieder, begrüßten ihn aber so gleichmütig, als wäre er nie fort gewesen. Das letzte Mal hatten sie ihn an jenem glutroten Abend gesehen, als die Offiziere auch ihn aus den Reihen der vor dem Werktor angetretenen Arbeiter herausgriffen und zusammenschlugen.
Manche schüttelten ihm kräftig die Hand, verzogen das Gesicht mühsam zu einem Lächeln und wussten nicht, was sie sagen sollten, sie räusperten sich und riefen: „Na? Was ist, Kumpel? Wie steht's denn mit uns, he?"
Dann gingen sie, ohne sich umzuschauen, auf ihre Plätze. Beim Hinsetzen aber schenkten sie ihm ein warmes, nicht zu unterdrückendes Lächeln.
Dann kam der kleine Gromada mit dem großen Namen, lachte los und schrie mit seiner schwindsüchtigen Stimme: „Der ist aus anderem Holz geschnitzt, der Genosse Tschumalow, Ehrenwort. Heiz uns ein, dass wir, als Kommunisten, uns an Ziegen und Feuerzeugen verzettelt haben! Und keine Diskussion darüber... Stoß ihnen Bescheid, und damit basta!"
Er drehte sich zu den Arbeitern um und verschluckte sich vor lauter Begeisterung.
„Da habt ihr's, ihr verdammten Faulpelze! Durch den Tod ist er gegangen und so weiter... Ich erkläre: ich werde zur Tagesordnung nicht das Wort ergreifen, ich möchte aber gleich im voraus gesagt haben, dass er, der Genosse Tschumalow, meine ganze Seele umgekrempelt hat, dass ich durch ihn in die Reihen der KPR eingetreten bin."
Man hörte Gromada zu und griente — zu Gromada passten solche Worte nicht. Selbst Tschumalow lächelte ihn an wie einen kleinen Jungen. Die Arbeiter waren in Rauch gehüllt und husteten.
Loschak saß in einem entfernten Winkel. Saß da und schwieg, kleiner als alle anderen, doch nicht zu übersehen, mit seiner finsteren, unausgesprochenen Frage in den Augen.
Die Frauen kicherten und schwatzten. Dascha, ihre Wortführerin, stand an der Wand. Ab und zu trat sie zu ihnen, dann drängten sich alle auf einen Haufen, tuschelten miteinander und erstickten vor Lachen.
Man wartete auf Luchawa; er musste jeden Augenblick kommen, um sein Referat „Kampf dem Verfall und der Brennstoffkrise" zu halten.
Doch nicht Luchawa kam, sondern der zottige Sawtschuk wankte herein, barfuss, mit verquollenem Gesicht.
Schwerfällig ließ er sich neben der Tür auf den Fußboden sacken, die klapperdürren Knie voller Schrammen und Blutergüssen knackten. In seinen Alkoholikeraugen glomm trübe Schwermut.
Dascha trat ans Fenster und riss die beiden Flügel auf, die schwer waren wie Türen.
Auseinandergelaufen waren sie alle in ihre Wohnlöcher — vergessen war die Fabrik mit ihrem Lärm, Staub und
Maschinengestank. Anderer Staub — der Staub der Bergstürme — bedeckte sie, die Werkleute gemeinsamer Arbeit, die mit Säcken auf dem Buckel über die Hügel schwärmten. Über Bergpfade und Steppenwege ging's — wie zur Zeit des Austauschs von Naturalien — auf die Gehöfte und in die Stanizen, getrieben von Hunger und primitiver Gier. Werkleute, die einst am Morgen nicht Hahnenschrei, sondern das eherne Heulen der Sirenen geweckt hatte, erfuhren in diesen Jahren die Wonne der Ziegen- und Schweinebuchten und die Freude der warmen Hühnernester. Maschinenarbeiter lernten, mit Schweinen und Hühnern um die Wette zu schreien — wegen der Schweine, wegen der Hühner, wegen der Ziegen, wegen eines Schlags Suppe aus der Volksspeisung, die ein fremdes Ferkel aufgefressen hatte. Erloschen war die Elektrizität in Werk und Kasernen, im Staube erstickt waren die Sirenen — Ruhe und Müßiggang hatten eine gackernde, grunzende Dorfidylle ausgebrütet, und mürrisch schlossen sich der vorsichtige Hausvater und sein geiziges Weib im häuslichen Käfig ab.
Und hier nun im Klub „Komintern" wischten sich die Kommunisten den Schlaf aus den Augen. Die ungewaschenen Hände und Kleider stanken nach Hühnermist und dem Salmiakgeruch der Schweine- und Ziegenställe. Einträchtig saßen sie Schulter an Schulter, und das Getöse der Trompeten und die nicht alltäglichen Worte riefen das andere, vergessene Leben der Vergangenheit wach. Und Gleb kam ebenfalls aus der Vergangenheit (es schien erst gestern gewesen zu sein), und von ihm ging der Geruch von Maschinenöl, von glühendem Eisen und der Schwefeldunst erkaltender Schlacke aus. Und wieder das Werk, Produktion, Bremsberge, Werkhallen.
Sergej Iwagin trat ein und beugte sich über Tschumalows Schulter. Gleb stand auf und überflog die Genossen mit strengem Blick.
„Genossen, an Luchawas Stelle ist Genosse Iwagin gekommen. Genosse Luchawa ist bei den Schauerleuten: Sie
meutern, wahrscheinlich wegen der Rationen. Wir eröffnen die Versammlung. So haltet doch endlich den Mund, ihr Dösköpfe! Ich wollte euch noch sagen: Ich habe gehört
— auch das Radio spricht davon —, dass das Ausland, die Entente, mit uns Handel zu treiben wünscht. Schaut sich die Augen aus nach Konzessionen und chartert schon Schiffe. Ich denke, wir werden darüber nicht sehr böse sein
— bitte schön! Sehr erfreut! Wir haben auch einiges dazugelernt: Uns kann keiner mehr für dumm verkaufen."
Gromada stand auf und legte los: „Genossen, wir sind Arbeiter eines berühmten Werkes, aber wir haben uns Ziegen aufgehalst und so weiter... Schmach und Schande, Jungs! Ich schlage demzufolge vor, alles Überflüssige zu liquidieren zum Nutzen unseres Kinderheimes ... und da wir die Arbeiterklasse sind."
Aufregung, Geschrei, fuchtelnde Arme.
„So siehst du aus! Der hat's aber eilig. Unsere Schweine. Hast du sie gemästet? Blutiger Schweiß klebt an ihnen."
„Und wer hat sie aus Gehöften und Stanizen geklaut?"
„Scher nicht alle über einen Kamm! Deine Alte, Gromada, hat ja selber auf den Gehöften die Röcke abgewetzt..."
„Liquidieren! Zum Teufel noch mal! Setz einen Beschluss auf, Tschumalow, im Namen der Parteizelle."
„He, Kumpels! Wir haben doch nichts zu fressen, he! Warum macht ihr unnütz Stunk, Kumpels?" Gleb läutete und gebot Ruhe.
„Schluss jetzt, Genossen! Vorläufig werden Ziegen und Schweine noch nicht angetastet. Spielt damit, soviel ihr wollt. Wenn's soweit ist, werden wir nach Proletarierart rasch damit fertig werden wie mit der Bourgeoisie ... Aber augenblicklich — bitte schön —, wenn ihr wollt, könnt ihr aus lauter Liebe mit ihnen schlafen. Ich schlage vor, das Präsidium zu wählen."
Er hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, als die Frauen die Arme zu schwenken begannen und sich gegenseitig überschrieen: „Dascha! Dascha Tschumalowa!"
„Gromada! Tschumalow! Sawtschuk!" forderten ebenso hartnäckig die Männer.
Gromada lief zum Tisch und hob ungeduldig beide Arme.
„Genossen! Wegen der Weiber — von mir aus nichts einzuwenden. Nur sind die Weiber man eben erst gleichberechtigte Geschöpfe und so weiter, und die jungen Frauenzimmer ... damit sie als Führer... Die sollen vom Mann erst ein wenig lernen. Hier braucht's einen Bart im Vorsitz."
„Wo hat denn Tschumalow einen Bart? Und bei dir, da hat die Katze die Haare weggeleckt."
Die Frauen wurden bereits böse. „Dascha Tschumalowa! Dascha!"
Gleb schwang die Glocke.
„Ich lasse abstimmen, Genossen. Dascha Tschumalowa steht als erste auf der Liste. Sie ist zwar meine Frau, aber ich habe trotzdem nichts gegen das Weiberkommando. Wer ist dafür?"
Kaum hatte er Daschas Namen genannt, als die Weiber wieder losschrieen: „Dascha. Warum gebt ihr den Weibern keine Chance, ihr Ekel?"
Gleb hob als erster die Hand, gleichzeitig mit den Frauen und Sergej. Widerwillig, schnaufend und hustend, hoben die Arbeiter einer nach dem anderen die Hand.
„Jag bloß die Weiber nach Hause!" kläffte Sawtschuk aus seiner Ecke, ohne die Hand zu heben. „Ich kann das nicht ausstehen!"
Gleb schwang die Glocke und unterbrach das Geschrei. „Gromada kommt zur Abstimmung. Einstimmig. Wer ist für Loschak? Dann steht noch mein Name auf der Liste. Nehmt eure Plätze ein, Genossen!"
Ins Präsidium waren Dascha, Gromada und Gleb gewählt worden. Die Leitung übernahm Dascha.
„Genossen, ich bitte um Ruhe. Gib mir die Tagesordnung, Genosse Tschumalow. Das Wort hat Genosse Iwagin
zu seinem Referat. Nicht länger als eine halbe Stunde, Genosse!" Sergej breitete verdutzt lächelnd die Arme aus.
„Eine allzu knappe Redezeit, Genossin Tschumalowa."
„Fassen Sie sich eben einmal kurz, sprechen Sie nur zur Sache."
„Die geht aufs Ganze. Ich hab gleich gesagt, lieber kein Weib."
„Genosse Sawtschuk, sei still! Halte Disziplin. Du bist nicht auf der Straße, sondern in einer Parteiversammlung."
Dascha hatte recht. Man musste sich kurz fassen. Was konnte man dem Arbeiter schon in einem Referat sagen? Er wusste besser, was ihm jetzt Not tat. Und die kalten Buchphrasen waren den Leuten fremd und unverständlich, fern und blutleer, genau wie er selbst, Sergej, in seinen Worten und seinem Wesen für sie unverständlich und fremd war.
„Genossen! Ein ungeheuerlicher Verfall... Eine harte Probe für die Arbeiterklasse ... Eine noch nie dagewesene Krise ... Liquidierung der Kriegsfronten. Alle unsere Kraft an die Wirtschaftsfront! Der Zehnte Parteitag verspricht eine neue Wendung in der ökonomischen Politik. Das Proletariat ist die einzige Kraft... Wiederaufbau der Produktion der Republik ... Konzessionen und Weltmärkte ... Das proletarische Vaterland bewachen mit verzehnfachten Kräften und eisern geschlossenen Reihen. Wir haben die Blockade durchbrochen. Die Arbeiterklasse und die Kommunistische Partei... — Brennstofflieferung ... Die Maschinenkraft des Werkes..."
Sergej sprach lange, suchte nach einfachen Worten, aber sie wollten ihm, wie zum Trotz, nicht einfallen. Er spürte, dass seine Rede bei diesen missmutigen Leuten nicht ankam. Sie langweilten sich, fühlten sich bedrückt und konnten es kaum erwarten, dass er Schluss mache. Dascha suchte schon zum zweiten Mal mit strengem Blick seine Augen
und runzelte missbilligend die Brauen. Als er schließlich, verschwitzt und erschöpft, schwieg und sich auf seinen Hocker setzte, atmete alles erleichtert auf.
„Genossen, gibt es Fragen an den Referenten? Offenbar nicht."
Alle sahen Gleb erwartungsvoll an. Er stand auf, räusperte sich und betrachtete einige Zeit die Gesichter der Arbeiter.
Viele von diesen Gesichtern waren stumpf ergeben und gleichgültig, viele aber auch bewegt von Erwartung und Hoffnung. Scheinbar saßen alle diese Leute teilnahmslos da, saßen nur pflichtgemäß die Zeit ab, die nun einmal der Partei gehörte. Doch Gleb kannte sie besser: Keinem einzigen schönen Wort, keinem einzigen tönenden Versprechen schenkten sie Glauben. So war es auch jetzt bei Sergejs buchgelehrtem Referat gewesen: sie hatten alles an ihren Ohren vorbeirauschen lassen. Doch brauchte man ihnen nur kurz und bündig zu sagen: „Freunde, morgen geht's an die Arbeit!" — und jeder würde von seinem Platz aufspringen und mit überschnappender Stimme schreien: „Genosse Tschumalow, darauf warten wir längst, lieber heute als morgen. Der Verfall bringt uns um."
Als Gleb Dascha anblickte und das einfache, liebe Gesicht von früher wieder fand mit einem aufmunternden Lächeln in den Augen — da dämmerte es ihm, dass er ihr gegenüber schuldig, dass er ihrer unwürdig war. Andererseits konnte er ein Gefühl der Feindseligkeit nicht unterdrücken, als er jetzt wieder ihre selbstsichere Ausgeglichenheit spürte, den neuen, vollen Klang ihrer Stimme hörte. Ihm kam das alles gespielt und unecht vor. Unwillkürlich legte er die Hand auf ihre Schulter und streichelte sie. Ihr sanfter Gegendruck sagte ihm, dass ihr diese zärtliche Geste nicht unangenehm war, dass sie ihm seine brutalen Angriffe verziehen habe. Und seine Empfindlichkeit und der ganze Zank erschienen ihm jetzt so nichtig und erniedrigend, dass er vor Scham die Augen schloss. Wenn die Leute
wüssten, was für ein eifersüchtiger Esel er war ... Sie glaubte an ihn, erwartete bedeutsame, entscheidende Worte von ihm und zweifelte keinen Augenblick daran, dass nur er, ihr Gleb, die Herzen der Genossen entflammen konnte, die sich nach Arbeit sehnten.
„Genossen, wir wollen nicht viel Worte machen. Wir haben in diesen Jahren schon viel zuviel geschwatzt vor lauter Müßigkeit. Das muss aufhören, Genossen. Wir haben unsere revolutionären Pflichten vergessen. Das Werk ist kein Werk mehr, sondern ein Viehhof. Staatseigentum plündern wir für unsere persönlichen Bedürfnisse. Ist das etwa richtig, Genossen? Der Mensch hat zwei Wege, Freunde, entweder er geht dem Teufel ums Maul, oder er haut ihm aufs Maul. Unsere Hände sind nicht für Ziegen und Schweine, unsere Hände sind für anderes bestimmt. Wir Bolschewiki sind ein ganz besonderer Schlag. Wie die Seele — so die Hand, so der Kopf. Genosse Iwagin hat gesagt: Neue Ökonomische Politik. Was heißt das — Neue Ökonomische Politik? Das heißt: Haut dem Teufel aufs Maul mit dem Wiederaufbau der Wirtschaft. Wir produzieren Zement, Zement aber ist ein zähes Bindemittel. Zement — das sind wir, Genossen, die Arbeiterklasse. Das müssen wir wissen und fühlen... Schluss mit der Faulenzerei und der Ziegenwirtschaft. Es wird Zeit, dass wir an unsere eigentliche Arbeit gehen — an die Produktion von Zement für den Aufbau des Sozialismus."
Glebs letzte Worte brachten die Arbeiter in Wallung. Viele sprangen von ihren Plätzen und verlangten das Wort. Gleb hob die Hand und bat nochmals um Gehör. Dascha läutete.
„Also, Genossen! Ich komme zur Sache. Ich fange mit dem Wichtigsten an — mit dem Brennmaterial. Brennmaterial haben weder Werk noch Arbeiter. Für das Werk bekommen wir Treibstoff von den staatlichen Stellen. Aber für die Stadt? Für die Arbeiter? Für die Kinder — die Kinderheime? Mit der Gespannpflicht dürfen wir nicht rechnen;
der Bauer fährt uns kein Holz an. Wir müssen selbst aus der Situation herauskommen. Nur wir allein können diese Frage lösen. Am Pass ist ein neuer Bremsberg zu bauen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir den ersten Dieselmotor anlassen, den Dynamo anlassen, dass wir Licht in die Arbeiterwohnungen bringen. Uns stehen bestimmte Mengen an Öl und Benzin zu. Der Bremsberg — das ist unser erster Schlag. Über das Gewerkschaftskomitee werden wir Sonntagseinsätze organisieren. Zur technischen Anleitung werden wir die Ingenieure mobilisieren. Für den Anfang lasst eure Ziegen und Ferkel herumspazieren. Später aber... in einem Jahr werden wir uns totlachen über uns, Jungs."
Die Arbeiter klatschten einmütig. Sawtschuk drängte sich nach vorn und schlug, schwer atmend, mit der Faust auf den Tisch.
„Ich verlange, dass die Böttcherei sofort wieder in Betrieb genommen wird."
Dascha stand auf und verwarnte ihn streng: „Genosse Sawtschuk, keine Krakeelerei. Wann lernst du es endlich, dich zu beherrschen!"
„Ich verlange es. Lauter Feuerzeugmacher und Schweinehirten ..."
„Genosse Sawtschuk, zum letzten Mal..."
„Gleb, Genosse, hau deinem Gespons eine runter, ist nicht meines. Und ihr, ihr Teufelsfratzen, ihr Ziegenhirten! Habt eure Seelen gegen Feuerzeuge getauscht. Und Gleb, du hast da eben etwas von Ingenieuren gesagt. Wie kann denn Ingenieur Kleist dein Freund sein, der dich dem Tod ausgeliefert hat?"
„Richtig! Ein Spezi! Hockt wie eine Ratte in seinem Loch. Schleicht geduckt herum wie ein Dieb. Worauf wartet die Tscheka?"
Ingenieur Kleist. Dieser Mensch hatte einst Glebs Leben in der Hand gehabt und es den Henkern hingeworfen.

Ingenieur Kleist. War denn Glebs Leben nicht ebensoviel wert wie das Leben des Ingenieurs Kleist?
Loschak hob still die Hand. „Genosse Loschak hat das Wort."
Alle wandten den Kopf zu dem buckligen Schlosser. „Genossen, es heißt doch, man soll das Pferd nicht beim Schwanze aufzäumen. Mit Ingenieur Kleist ist das so eine Sache, die Assel ist kein Amboss. Ich will damit sagen: Stimmt, Ingenieur Kleist hat Gleb mächtig reingeritten. Aber wie hat er Dascha behandelt? Wer hat sie damals vor dem Tode bewahrt? Er, Kleist. Das sollte man bedenken. Und wegen des Bremsberges, da stimme ich Tschumalows Vorschlag zu. Ich meine nur, dass wir nicht mehr als nötig fällen sollten."
Dascha war unruhig geworden und unterbrach Loschak: „Genosse Loschak, von mir ist hier nicht die Rede. Halt dich ans Referat. Was haben Kleist und ich damit zu tun? Jetzt geht es um den Bremsberg und um Brennstoff." Ihre Zähne blitzten. „Du sagst doch selbst, man soll das Pferd nicht beim Schwanz aufzäumen."
Loschak winkte ab und setzte sich auf seinen Platz.
Wieder Dascha. Wieder ein Geheimnis, das die Seele beunruhigte.
Gleb überlegte und kämpfte mit sich. „Genossen, mit dem Ingenieur werde ich selbst abrechnen. Lassen wir diese Frage jetzt. Wir sind vom Thema abgekommen."
Die Diskussion ging rasch vonstatten und verlief reibungslos bis zur Annahme der Resolution. Es wurde beschlossen, unverzüglich mit dem Bau des Bremsberges zu beginnen und am nächsten Tage bereits in den einzelnen Werkhallen an die Arbeit zu gehen — den Müll wegzuräumen, kleinere Ausbesserungen vorzunehmen, alles in Ordnung zu bringen.
Dascha hob den Zettel, auf dem die Tagesordnung stand, an die Augen und sah dann die Arbeiter an.
„Genossen, gehen wir an die nächste Frage mit aller Strenge und Aufmerksamkeit heran: Wir müssen unbedingt einige Parteizellenmitglieder zur Arbeit auf den Dörfern abkommandieren."
Undurchdringliches Schweigen folgte diesen Worten. Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Dann holten sie tief Luft und schrieen wütend durcheinander: „Mord ist das und keine Abkommandierung. Wir sind kein Vieh — wir lassen uns nicht zur Schlachtbank treiben."
„Was soll das? Ihr wollt uns wohl den Banditen zum Fraß vorwerfen?"
„Genossen, ihr seid doch Kommunisten und keine Memmen! Ich bin eine Frau, aber ich sage euch: Niemals, keine einzige Stunde habe ich um das eigene Schicksal gezittert. Das wisst ihr alle genau."
„Na, dann fahr doch selber, wenn du Lust hast." Gleb kam hinter dem Tisch hervor, ging bis zur Mitte des Zimmers und sah alle schweigend an. Eine Drohung lag in seinem Blick. Dann sagte er finster und verächtlich: „Schickt mich hin, Genossen Kommunisten. Beauftragt mich und meine Frau. Sie hat euch ein Wort an den Kopf geworfen: Memmen! Ich sage euch dasselbe: Memmen seid ihr, keine Proletarier. Wie ihr wisst, habe ich drei Jahre lang gekämpft."
„Gekämpft schon, aber heil davongekommen. Gekämpft haben viele. Wer hat in diesen Jahren kein Blut gerochen?"
„So? Und warum bin ich davongekommen? Weil ich mit dem Tod Brüderschaft getrunken hab wie mit meinesgleichen. Und wenn ihr Blut gerochen habt, dann werdet ihr ja wohl wissen, was für Zähne der Tod hat. Diese Zähne sind schärfer als ein Zahnrad. Ich kann's euch zeigen, ich bin nicht zimperlich."
Er riss sich die Feldbluse und das Unterhemd vom Leib und warf sie auf den Boden. Sein Körper überzog sich mit Gänsehaut vom Hals bis zum Bauch. Auf der Brust schimmerte goldgelbe Wolle. Und als sein nackter Körper zusammenschauerte und unter der Haut die Muskeln spielten, war er für alle plötzlich zu einem lebendigen, vertrauten Menschen geworden. „Wer will, kann herkommen und fühlen."
Auf der Brust, auf dem linken Arm, unter der Schulter und der Hüfte waren flammendrote und blasse Knoten und Narben zu sehen.
„Wollt ihr, dass ich auch die Hosen runterlasse? Bitte. Ach, nicht nötig? Dort habe ich auch solche Orden. Ihr möchtet gern, dass andere für euch arbeiten gehen, damit ihr in euren Ziegenlöchern ruhig schlafen könnt? Gut! Ich gehe!"
Niemand trat zu Gleb. Er sah, wie die Augen feucht und heiß wurden, sah, wie die Menschen auf einmal verstummten und erstarrten. Sie schauten auf seinen nackten Körper und blickten dann sogleich verwirrt zur Seite.
„Genossen! Das ist doch eine Schmach und Schande! Wie weit soll es denn noch kommen, Genossen, mit unserem inneren Verfall? Genossen!"
Gromada wand sich hinter dem Tisch und konnte seine Entrüstung nicht mit Worten ausdrücken.
Einer der bärtigen Arbeiter stand von der Bank auf und schlug sich mit Wucht vor die Brust. Sein Kopf zitterte. „Schreib mich auf! Ich gehe! Ich bin nicht so ein ausgespiener Dreckskerl. Na ja, drei Ziegen, eine Sau mit Ferkeln hab ich, und Säcke hab ich auch gebuckelt. Was wollen wir noch reden: wir haben uns selbst zugrunde gerichtet, Genossen."
Nach ihm streckten sich noch einige schwere Hände hoch. Dascha aber (sie sah Gleb tiefbewegt an) schwenkte den Arm. „Genossen, ist unsere Parteizelle etwa schlechter als andere? Nein, wir haben gute Arbeiter und gute Kommunisten."
Und sie begann als erste zu klatschen.

August Bebel und Motja Sawtschuk

Die dunkelviolette Ferne hinter dem Werk, über Meer und Vorstadt, war dunstig und öde; voll gespenstischer Funken und nebelhafter Schatten. Vom Leuchtturm verzitterte ein feuriger Strang auf der Bucht zum Werk hin. Sterntropfen hingen hoch oben über dem Meer. Der Himmel aber hinter den fernen zerklüfteten Bergrücken war so bunt wie eine Pfauenfeder.
Im Gebirge, hinter der Stadt, flammten rätselhafte Lichter auf, kreisten, erloschen und erglühten neu.
Dascha berührte Glebs Hand.
„Siehst du sie? Die Lichter dort? Das sind die ,Weißgrünen'. Sie signalisieren. Es wird noch große Kämpfe mit ihnen geben, wird uns noch viel Blut kosten ..."
Was für ein Leben hatte Dascha ohne ihn geführt? Welche Macht hatte ihre Seele von seiner gelöst? Diese Macht hatte die frühere Dascha ausgelöscht, und eine andere, größere Dascha war erstanden. Mit dem Verstand begriff Gleb diese Macht, sein Herz jedoch konnte sich durchaus nicht mit ihr aussöhnen.
„Daschalein, was war das mit dir und dem Ingenieur Kleist? Was hat Loschak da ausgeplaudert? Was ist los? Einmal schickt Kleist in den Tod, das andere Mal bewahrt er vor dem Tode. Erzähl doch!"
Dascha schwieg eine Weile, dann antwortete sie widerstrebend: „Er hat die Geschichte mit der Spionageabwehr gemeint." „Was?" Er blieb stehen und packte ihren Arm.
Dascha lächelte, doch Gleb beachtete dieses Lächeln nicht.
„Na ja, die Spionageabwehr hatte mich verhaftet. Motja hatte sich bei Kleist für mich eingesetzt. Er hatte dann für mich gebürgt. Ich war wegen der ,Grünen'..."
„Warte doch, warte! Lass mich überlegen. Aber du hättest doch dabei umkommen können. Na, und weiter?"
„Das ist eine lange Geschichte. Bei Gelegenheit erzähle ich dir alles der Reihe nach. Aber jetzt fällt's mir schwer. Ich möchte mich nicht aufregen."
Sie schritt rasch aus und ließ ihn zurück. An ihren hastigen Bewegungen merkte er ihre Erregung. Er erinnerte sich: Auf dem Wege zum Kinderheim hatte sie sich ebenso benommen.
„Dascha, da stimmt etwas nicht! Dahinter steckt doch etwas. Steht vielleicht einer zwischen uns? Sag's geradeheraus! Du wirst immer so unruhig, wenn man von dir spricht."
„Wenn du mir nicht traust, wie soll ich mich da zu dir verhalten? Dann kannst du mich doch nicht verstehen."
Er folgte ihr schweigend in die klingende Abendstille, die Seele voll Leid und Verwirrung.
Heimgekommen, setzte sie sich sogleich an den Tisch und packte die Bücher aus, die in eine Zeitung gewickelt waren. Sie suchte sich eins aus, rückte die Lampe heran und stützte den Kopf in die Hände. „Was liest du da, Dascha?"
Er hatte weich und zärtlich fragen wollen, merkte aber selbst, dass es unaufrichtig und dumm klang.
Ohne vom Buch aufzusehen, sagte sie zwischen den Zähnen: „August Bebel ,Die Frau und der Sozialismus'." „Und das da? Was sind das für Bücher?" „Das — vom Genossen Lenin ,Staat und Revolution'. Nimm's, wenn du willst."
Mücken flogen zum offenen Fenster herein, kreisten um die Flamme, versengten sich am Zylinder und bedeckten den Tisch wie Hirsekörner. Vögel zwitscherten im Gebüsch auf den Hängen „Ja — nein? Ja — nein?". Vom offenen Fenster der Sawtschuks schimmerte einladend trübes Licht herüber.
Gleb stand auf und ging aus dem Zimmer.
Die Sawtschuks waren im Begriff, schlafen zu gehen. Der
Tisch war voller Speisereste. Motja, ohne Bluse, nur im Mieder, hantierte am Herd. Sawtschuk lag barfüßig und zerzaust auf dem Bett. Motja zog verschämt Mieder und Hemd über die Brust.
„Du bist ja kein Fremder, Gleb. Ich hatte mich schon für die Nacht..."
„Genier dich nicht, Motja. Ich weiß auch so, dass du ein strammes Frauenzimmer bist. Erzähle mir lieber, wie du Sawtschuk kirre machst."
„Sawtschuk? Wieso? Er ist jetzt ganz friedlich."
„Schwindle nur nicht, wem habe ich gestern erst die Knochen geknetet? Vergessen, was?"
Motjas Augen blitzten. „Ach du, Zottelkopf. Na, dann denk mal nach — wem habe ich die Schnauze poliert?" Gleb lachte — lustige Leutchen, die Sawtschuks!
„Na, was ist, Sawtschuk, Genosse? Es wird dir streng verboten, dich mit Motja herumzuschlagen. Halt dir die Hände für andere Arbeit frei." Motja stieß einen Freudenschrei aus und lief zu Gleb.
„Ja, ja, Gleb, Lieber! Was ist das Leben ohne Arbeit — nur Unglück und Tränen. Als Arbeit da war, war auch Familie da. Und als die Kinder da waren, wurzelte ich in der Erde wie ein Baum. Jetzt komme ich mir entwurzelt vor, um mich herum sind nur Dreck und Steine."
Mit Tränen in den Augen ging sie wieder zum Tisch. Sawtschuk aber setzte sich in drohender Haltung auf den Bettrand und stemmte seine schwieligen Füße mit den verkrüppelten Zehen gegen den Fußboden.
„Pass auf, Gleb! Wenn diese Hände in ein leeres Loch greifen, bist du ein toter Mann! Morgen gehe ich in die Böttcherei, mal hören, was für ein Lied meine Sägen singen. Dein Gespons ist ein Teufelsweib; hat die ganze Parteizelle um den Finger gewickelt."
Motja drehte sich zu Gleb um und sah ihm forschend ins Gesicht. Sie wollte etwas sagen, konnte sich aber nicht entscheiden und begann den Tisch abzuräumen.
„Na, was ist denn? Red schon, Motja", sagte Gleb lächelnd. „Was fürchtest du denn?"
„Vor dir hab ich jedenfalls keine Angst, Gleb, denk das bitte nicht! Warum nur hat Dascha ihre Njurka in fremde Hände gegeben, als wär's ein junger Hund? Weib ohne Kinder — Weib ohne Zucht! Sie wollte mich auch in ihre Herde locken, aber ich bin ja noch zu retten."
Sawtschuk schlug sich mit der Faust aufs Knie. „Na, das ist ein Weib, dein Gespons! Hol's der Teufel, hat die Parteizelle einfach um den Finger gewickelt, hoho!"
Gleb aber hing gierig an Motjas Lippen. „Los doch, Motja! Erzähl mir von Dascha! Was sie hier für Heldentaten ohne mich vollbracht hat."
Durchschaute ihn Motja? Wusste sie, was für ein Leben Dascha und er in der letzten Zeit führten? Sie betrachtete ihn voll verschmitzter Neugier und schien ihn zum besten zu halten.
„Was ist denn, Gleb Iwanowitsch? Hast du dir die Finger verbrannt?"
„Ganz recht; Dascha ist nicht wieder zu erkennen. Verstehst du, sie will sich mir nicht anvertrauen, ist zu stolz dazu!"
Motja kniff spöttisch die Augen ein und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„Mach keine Winkelzüge, Gleb Iwanowitsch! Ich merke deine Schliche. Sieh einer den Schlauberger an! Du hast sie allein gelassen. Aber das Weibchen war nicht unterzukriegen — sie hat durchgehalten. Eine andere wäre draufgegangen. Versuch ihr jetzt mal mit bloßen Händen nahe zu kommen! Gib's zu: du bist ihr auf die Pelle gerückt, ja? Na, und da hat sie dich abfahren lassen. Stimmt doch. Ich sage dir aber nichts. Nun gerade nicht. Dass du's weißt."
Gleb lachte, um seine Verlegenheit zu bemänteln.
„Hast du aber einen Riecher, Motja! Dich kann man nicht auf den Leim führen. Hast recht, selbständig ist sie
geworden. Aber ich verstehe nicht, warum sie den Mund nicht aufkriegt. Könnte sich doch ein bisschen dicke tun. Vielleicht steckt aber etwas anderes dahinter? Vielleicht ist sie mal gestrauchelt als Frau? Dann soll sie es sagen, ich bin doch kein Unmensch."
Auch diesmal durchschaute Motja seine geheime Absicht.
„Ach, Gleb Iwanowitsch! Schämst du dich denn nicht, dich so zu verstellen? Geh nach Hause und leg dich schlafen. Wetz nicht unnütz den Schnabel. Ich hab deine Dascha sehr gern, Gleb Iwanowitsch! Hätte sie Njurka bloß nicht ins Waisenhaus gesteckt! Njurka ist doch bei mir gewesen. Sie hätte auch weiter bei mir bleiben können. Wie kann eine Frau leben ohne Kinder und ohne Mann? Na, es ist nicht ihre Schuld allein. Denk mal über dich selber nach. Du hast auch vieles wiedergutzumachen, Gleb Iwanowitsch."
Doch im Hausflur, als sie Gleb hinausbrachte, drückte Motja seine Hand und lachte verschämt auf.
„Ach, Gleb, Lieber! Du bist doch unser Freund. Du weißt gar nicht, wie froh ich bin. Du weißt es nicht! Es ist wieder soweit, Gleb! Jawohl! Ich werde wieder Mutter, wie damals, Gleb! Wieder!"
Sie öffnete die Tür und seufzte.
„Was für ein Unglück, Gleb! Ihr beide, Dascha und du, könnt nicht mehr wie früher zusammen leben. Nein! Jetzt lässt sie sich nicht mehr binden. Geschieht euch Schuften ganz recht: verdammt eure Weiber nicht zu einem Hundeleben."
Gleb fand Dascha in der gleichen Haltung wieder: über das Buch gebeugt, den Kopf auf die Hände gestützt. Ihr Gesicht war streng und besorgt.
Sie drehte sich rasch zu ihm um und stemmte den Ellenbogen auf das Buch. „Nun, was hast du bei den Sawtschuks erfahren?"
Gleb umarmte sie zärtlich und sagte mit ganz anderer
Stimme als sonst: „Mir ist so elend zumute, Dascha. Du behandelst mich wie einen Fremden, als hieltest du ein Messer am Busen versteckt."
Sie sagte nichts, schmiegte sich aber an ihn und wurde wieder ein schwaches, liebendes Weib. Es schien ihm sogar, dass der frühere Geruch nach Milch von ihr ausgehe.
„Na, und wenn auch was gewesen ist — das ist doch gar nicht wichtig. In einer schwachen Stunde kann das allen passieren."
Sie riss sich von ihm los und seufzte. Dann sah sie ihm wie Motja in die Augen und sagte leise, mit schmerzlich gebrochener Stimme. „Ja, allen, allen, Gleb."
Gleb war, als schleudere ihn eine Riesenhand von Dascha fort und presse ihm die Kehle zusammen. Sein Herz stockte. Blass stand er da, brachte kein Wort hervor. Dann murmelte er heiser: „So! Davon hättest du schon längst anfangen sollen. Aha, rumgetrieben hast du dich, mit geilen Kötern."
Sie sprang auf, umklammerte die Stuhllehne und warf den Kopf zurück. „Komm zu dir, Gleb! Was redest du da?"
Sie verstummte mit hochgezogenen Brauen.
Er atmete schwer und starrte sie mit der sinnlosen Wut eines Menschen an, den ein unerwarteter Schlag getroffen hat. Er begriff noch nicht, was ihm widerfahren war, fühlte aber, dass etwas Furchtbares und nicht Wiedergutzumachendes geschehen war, dass sein Ausfall gegen Dascha ihn selbst erniedrigt hatte. Verwirrt wich er zurück, seine Lippen zitterten.
Dascha schwieg, musterte ihn von Kopf bis Fuß und sagte dann mit tiefer, etwas heiserer Stimme: „Ich hab dich auf die Probe gestellt, Gleb. Siehst du, du kannst mir noch nicht zuhören. Ich habe das nur gesagt, damit du Farbe bekennst. Ich weiß sehr wohl, wie es um dich steht. Du bist ein guter Soldat, aber im Leben bist du — ein schlechter Kommunist."

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