Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Fjodor Gladkow - Zement (1925)
http://nemesis.marxists.org

X. Seelenschichten

Ruhige Minuten

Dascha und Gleb kamen aus der Werkkantine. Sie gingen die Chaussee hinunter und bogen dann ins Gebüsch ab, das von wildem Wein und immergrünen Efeugirlanden durchrankt war. Sie waren gerade in einem noch frühlingshaft grauen und durchsichtigen jungen Eichen- und Hainbuchengehölz untergetaucht, als Polja sie einholte.
„Genossen, ich begleite euch ein Stückchen. Ich möchte mich zusammen mit euch etwas erholen, in dieser Stille." Dascha fasste Polja am Ellenbogen.
„Genossin Mechowa, du bist noch nie bei uns gewesen. Komm mit, besuch uns. Wir sehen uns freilich jeden Tag bei der Arbeit und haben uns wohl auch aneinander gewöhnt, aber wie wir zu Hause sind und was wir auf dem Herzen haben — das wissen wir nicht."
Polja schüttelte ihre Locken und blieb damit an einem dornigen Zweig hängen. Sie lachte, brach den Zweig ab und roch daran.
„Wie schön ihr's hier habt! Ich habe lange keinen Wald mehr gesehen. Es riecht nach Erde und Harz. Wie lange das schon her ist, wohl beinahe seit der Kindheit. Hier unter diesen Büschen sieht man tiefer in sich hinein, kommt man sich durchsichtiger vor. Dort, in den Bergen, war mir nicht traurig zumute, aber jetzt bin ich richtig rührselig geworden — wegen dieser kleinen Eichen und des Frühlingsduftes. Ich hake mich bei deinem Mann ein, Dascha. Wir sind doch schwache Weiber."
So schwatzte sie, spielte mit den Zweigen, lachte und zappelte vor Aufregung. Sie lief zu Gleb, hakte sich bei ihm ein und sah über ihn hinweg Dascha an. „Bist du nicht eifersüchtig?"
Dascha erwiderte lächelnd Poljas Blick. „So schwach bin ich nun doch nicht, um eifersüchtig zu sein."
Gleb fühlte, wie Polja seinen Arm an ihre warme Brust drückte.
Die Sonne war bereits im Niederbrennen, sie erlosch allmählich hinter den fernen Bergrücken. Der Himmel war tiefblau und stand über der Sonne in Feuer. Das Gebirge schien ganz nahe gerückt und glich erkalteten Eisen- und Kupferströmen. Zur Rechten konnte man den Bremsberg sehen, seine gelbe aufgewühlte Furche durchschnitt den schroffen Berggrat.
Vom Grund der Schlucht herauf schwammen violette Abendschatten in die kraterähnlichen Vertiefungen. Die sonnigen Streifen und Flecke auf Bergrücken und Hängen strahlten indessen noch Hitze aus. Hier unten auf dem grasbewachsenen Pfad, zwischen den graublauen, wie Spinnweben verstrickten Büschen, atmete die vorabendliche Stille den berauschenden Duft von Frühlingserde und schwellenden Knospen.
Dascha ging etwas voraus und brach dürre Zweige ab. „Was für eine gute Luft, Genossen. Wie Honig! Bald wird alles grün sein und blühen."
„Das hast du vorhin treffend gesagt, Dascha. Wir sind einander nur bei der Arbeit nahe, aber privat sind wir uns fremd. Das ist einer unserer schweren Widersprüche. Wir haben vor nichts so Angst wie vor unseren Gefühlen. Man braucht unseren Leuten nur in die Augen zu sehen, und das Grauen kommt einen an. Sie sind wie mit Stahl gepanzert. Wir sind immer hinter Schloss und Riegel. Am Tage sperren wir uns selber ab und in der Nacht unsere Zimmer."
Dascha blieb stehen und bemerkte mit milder Strenge:
„Die Menschen können warten, liebe Polja, aber die Sache nicht, sie verlangt ständige Wachsamkeit. Vergiss nicht, dass unsere Arbeit mit Gefahren und Opfern verbunden ist. Du hast heute auch ein Gewehr in den Händen gehalten, nicht nur den Spaten."
„Das beweist noch gar nichts, Dascha", ereiferte sich Polja, „du vereinfachst die Frage. Es gibt viele, die unter ihrer seelischen Einsamkeit leiden, sie geben es nur nicht zu, weil sie Spott oder Heuchelei fürchten oder Vorwürfe wegen mangelnder ideologischer Festigkeit. Was hat aber ideologische Festigkeit damit zu tun?"
Dascha entfernte sich immer mehr von ihnen und brach Zweigspitzen ab. Gleb fuhr freundschaftlich durch Poljas zerzauste Locken.
„Du singst ihr vergeblich deine Serenaden, Genossin Mechowa. Ihr kommst du nicht bei. Ich habe ihr noch ganz andere Lieder gesungen, habe ihrem Herzen noch ganz anders zugesetzt und wurde trotz allem geschlagen ..." Daschas Zähne blitzten von weitem.
„Gleb ist dir ähnlich, Polja, er liebt herzbewegende Gespräche ... und Wühlerei in fremden Seelen."
Dunstig und rot senkte sich die Sonne auf die fernen Gipfel, die sich in sie hineinnagten wie in eine feurige Plinse. Die geraden vom Hafen heraufführenden Straßen zerteilten die Stadt am Fuße der Berge, die mit ihren Häusern in die Schlucht hinabglitt. Zwischen den Anlegestellen und Molen schillerte das Meer wie Perlmutt. Hallen und Kuppeln des Werkes türmten sich in tiefem Schweigen wie ewiges Eis.
„Mir setzen in letzter Zeit quälende Fragen zu, Genossen. Neue Ökonomische Politik. Wir treten in eine Periode schwerer Widersprüche ein, aber alle tun so, als merkten sie es nicht. Ich bin die ganze Zeit in Unruhe und erwarte etwas Fürchterliches."
„Was ist mit dir, Genossin Mechowa?" fragte Dascha verwundert. „Warum bist du nervös? Widersprüche — gut, schwere Widersprüche — sehr gut: wir werden noch zäher kämpfen. Komm mit, ich gebe dir heißes Wasser mit Süßstoff zu trinken."
Polja sah Dascha erschrocken an und ging rasch auf den Mauerdurchbruch zu.
Dascha blickte ihr lange nach, und in ihrem Gesicht zuckte ein liebevoll spöttisches Lächeln. „Ein gutes Mädel, gescheit, aber mit sich zerfallen." „Weißt du was, Daschalein. Steigen wir auf den Berg, setzen wir uns ein Weilchen hin. Ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen."
„Meinetwegen, gehen wir. Ich bin zwar müde, aber ich habe auch keine Lust, im Zimmer zu hocken. Der Abend ist so schön."
Gleb war gerührt. Dascha nahm seine Hand und ging schweigend neben ihm her. Gleb fühlte, dass sie erregt war. Er merkte, dass sie mit sich kämpfte: sie wollte ihm etwas sagen — ihr Eigenstes, Innerstes, Wesentlichstes enthüllen, aber sie konnte sich nicht entschließen. Nicht ohne Grund war sie so bereitwillig mit ihm auf den Berg gegangen, nicht ohne Grund hatte sie Polja gehen lassen. Was mochte das bedeuten?
Sie gingen an Gärtchen und Häuschen vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Genauso in sich gekehrt kletterten sie über die Steinplatten zum Wasserreservoir hinauf. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, stützte sie und drückte sie an sich, und sie litt es gerne. Das Reservoir lag hoch über der „Gemütlichen Kolonie", von hier aus wurde das Wasser durch ein Rohrsystem in die Arbeitersiedlung und weiter in die verschiedenen Dienststellen, Laboratorien, Werkhallen und sonstigen Gebäude geleitet.
Sie gingen um eine Steinhalde herum und an einem Stollen mit verrosteter Eisentür vorbei, an der ein Schloss hing. Dann stiegen sie eine Steintreppe hinauf und erreichten einen breiten betonierten Platz. Er war eben und dröhnte unter ihren Schritten wie eine Kirchenglocke.
Unten, am Fuße des Berges, stuften sich die roten Dächer der Kasernen bis zur Höhe der Schlote empor, jenseits der Kasernen standen die Gebäude und Türme des Werkes, und noch weiter unten folgte die violette Bucht mit den ans Ufer rollenden Wellenspiralen. Hinter den Molen lag ruhig das Meer, grenzenlos, höher als die Schlote und die fernen Bergkämme.
Vom Werk zur „Gemütlichen Kolonie" gingen Arbeiter, in Gruppen und einzeln. Weit hinter der Mauer aber, auf dem braunen Berghang, lief ein kleines Mädchen einen schmalen, fahlen Pfad entlang und schwang die Arme.
„Dort geht Polja, siehst du sie? Eigenartiges Geschöpf, diese Polja: mal ist sie nicht kleinzukriegen, und dann wieder zittert sie wie eine Weidenrute. Ich habe Angst, dass mit ihr etwas passiert. Du gefällst ihr allzu gut... Sie wird sich doch nicht verliebt haben?"
Gleb, der sich neben ihr ausgestreckt hatte, war verblüfft; er konnte aber auf ihrem Gesicht nichts als ein verstecktes Lächeln erkennen. Was war los mit ihr? War sie etwa eifersüchtig? Er wusste nicht, was er ihr antworten, wusste nicht, ob er sich ärgern oder lachen sollte.
„Na, Daschalein, du magst zwar die Leute nicht leiden, die in fremden Seelen wühlen, aber selbst bist du auch jederzeit bereit, in eine fremde Seele zu tauchen — so tief es nur geht." Dascha drehte sich rasch zu ihm und lächelte.
„Bist du aber ein komischer Kauz! Sind denn Mechowa und ich nicht gleichberechtigte Frauen? Sie möchte sich aber auf irgendeinen Helden stützen."
„Ich möchte mich selbst stützen... aber nur auf dich ..."
„Nun, sich zu stützen, muss man verstehen. Das ist nicht so einfach. Ich möchte am liebsten ... auch ich möchte gern eine Stütze haben. Aber in diesen drei Jahren hat sich alles um und um gekehrt. Auch wir beide, Gleb, sind anders geworden. Ich habe viel erlebt, viel durchgemacht, und ich habe gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen und selbständig zu denken. Einem geliebten Wesen, Gleb, soll man sich behutsam nähern und mit viel Achtung."
Ihre Worte gingen ihm nahe; ihr Wissen machte sie so neu und stark und unwiderlegbar, dass er nicht mehr wie früher mit ihr sprechen konnte. In jener unvergesslichen Nacht (verfluchte Schlucht!) hatte er zum ersten Mal gefühlt, dass auch er ein anderer geworden — nicht mehr der gleiche war wie gestern, in dessen Innern alles ausgebrannt schien. Er hatte entdeckt, dass er Dascha auf eine neue, bislang nie gekannte Art liebte — nicht nur als Weib, sondern als den Menschen, der ihm näher stand als alle anderen. Was wäre aus ihm geworden, wenn sie umgekommen wäre an jenem Tage, da er nicht an sie dachte, da er nur für das Werk, die Maschinen, die Werkhallen da war?
Unter dem Betonplatz rauschte in der Tiefe das Wasser, und ein gewaltiges, lebendes Wesen seufzte im Leeren. Es hörte sich an, als kämen die Seufzer aus dem Walde und von seinen Wipfeln, als entstiegen sie der Dämmerung des Tales.
Alles löste sich auf, wurde tief und unmessbar: Die Berge waren keine Berge mehr mit Zacken, Steinen und Felsen, sondern eine Gewitterwolke, das Meer in seiner aufgebäumten Uferlosigkeit war kein Meer, sondern eine azurne Untiefe, und sie beide hier auf dem Hügel über dem Werk und das Werk selbst befanden sich auf einem Planetensplitter, der lautlos in die Unendlichkeit flog.
Gleb legte den Kopf auf Daschas Knie und sah über sich ihr Gesicht mit Feuertupfen auf den Wangen und ihre Augen, groß, voller Erregung und Liebe.
„Hier unterm Himmel fühlt man sich als anderer Mensch, Dascha. Da liege ich nun auf deinen Knien. Wie lange ist das her? Noch nie, glaube ich, habe ich etwas Ähnliches erlebt. Ich weiß nur eins — deine Liebe war größer und tiefer als meine, und ich bin deiner unwürdig. Ich habe nicht den hundertsten Teil durchgemacht von dem, was du
durchgemacht hast. Erzähl mir doch von der furchtbaren Zeit. Vielleicht kenne ich mich dann selber besser."
Der Himmel gleißte plötzlich auf. Überall flammten kleine und große Sterne. Erregung überkam Gleb, er richtete sich auf.
„Schau, Dascha, Liebste! Ist es nicht schön, zu kämpfen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen! Das alles — das gehört doch uns ... das sind wir! Unsere Kraft und unsere Arbeit. Als ob man tief Luft holt, vor dem ersten Schlag ... wenn man weit ausholen will."
Dascha legte die Hände auf seine Brust. Auch sie war ergriffen, und Gleb hörte, wie in dumpfen Schlägen ihr Herz klopfte.
„Ja, Lieber, es ist schön, für sein Schicksal zu kämpfen. Was sind Qualen, was Tod. Gewiss ist das schrecklich, und nicht jeder kann durchhalten. Ich habe damals nur durchgehalten, weil die Liebe zu dir stärker war als die Angst. Dann hatte ich auch noch anderes begriffen, anderes liebengelernt ... vielleicht mehr noch als dich."
„Sprich, Dascha, was es auch sei — sag es. Ich habe schon gelernt, nicht nur zuzuhören, sondern auch ... gegen mich anzukämpfen."

Die Geburt der Kraft

An diesem violetten Abend erzählte sie Gleb von ihren Abenteuern, erzählte ihm, wie sie kämpfen gelernt, wie sie ihren Weg zum Glück gefunden hatte.
Auf dem Speicher, zwischen Mäusen und Spinnen, hatte Gleb seine Wunden heilen lassen, und eines Nachts war er dann fortgegangen in die Berge, wo in Schluchten und Wäldern die Rot-Grünen saßen.
Dascha hatte gewusst, dass Gleb sie vielleicht für immer verließ, und Abschied von ihm genommen wie von einem Toten. Sie hatte lautlos an seiner Brust geschluchzt und lange nicht von ihm lassen können. Als er dann in die Nacht hinausgegangen war, hatte sie kein Licht angezündet; mit Njurka auf den Armen war sie im Zimmer auf und ab gelaufen, bis die Morgendämmerung das Fenster erhellte. Von da an war jeder Tag und jede Nacht voller Grauen gewesen wie ein Alptraum.
Sie sollte aus diesem Halbleben ebenso plötzlich aufschrecken, wie sie in ihm erstarrt war.
Polternd und johlend, Gewehre und Pistolen im Anschlag, drangen eines Tages Offiziere und Soldaten bei ihr ein, umringten sie, und mehrere Stimmen fragten gleichzeitig: „Wo ist dein Mann?"
Zum ersten Mal begann sie zu zittern, zum ersten Mal lähmte sie Entsetzen. Njurka brüllte und wand sich in ihren Armen, doch sie war wie taub, sie hörte das Schreien nicht.
„Sag uns, wo dein Mann ist. Wir wissen, dass er hier war. Mach gefälligst keine Unschuldsaugen und markier nicht die Zierpuppe..."
„Woher soll ich denn wissen, wo mein Mann ist? Sie wissen das am besten. Sie haben ihn ja weggeschleppt."
Dascha weinte nicht, nur ganz bleich wurde sie, und ihre Augen glänzten durchsichtig wie Glas.
Einer der Offiziere, ein halber Knabe noch, mit spitzem, erbostem Gesicht, der immerzu aufstand und sich wieder setzte, ununterbrochen rauchte und sie unverwandt ansah, brüllte: „Du, lüg nicht so frech! Du weißt es! Du weißt es sehr gut! Du kommst mir nicht davon."
Er brach plötzlich ab und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Du wirst sofort verhaftet und an Stelle deines Mannes erschossen. Rede, aber mach uns keinen blauen Dunst vor!"
Doch sie stand wie erstarrt und bewegte kaum die Lippen.
„Ja, woher soll ich's denn wissen? Sie haben die Macht — töten Sie mich. Sie sehen doch, ich bin allein. Wozu quälen Sie mich?"
Der Offizier schwieg und beobachtete sie wieder scharf. Sah er die Qual in ihren Augen, hörte er einen Vorwurf in Njurkas Schreien? Er stand rasch vom Stuhl auf.
„Gründliche Haussuchung vornehmen! Jede Kleinigkeit genau beachten."
Er setzte sie zwischen zwei bärtige Soldaten, und die anderen Soldaten durchstöberten bis zum Morgen alle Winkel und Ritzen und Fetzen. „Hat sich zur rechten Zeit dünngemacht, das Aas." Am Morgen schleiften die von der nutzlosen Arbeit verschwitzten und mitgenommenen Soldaten Dascha und Njurka hinter das Werk zu den Villen. Und dort saß sie scheu zwischen einem Haufen fremder, verstörter, von Todesangst gepeinigter Menschen bis zum Mittag in einem Keller. Jemand sprach sie an, und dann noch andere — aber was sie sprachen, davon behielt sie kein Wort.
Mittags holte man sie aus dem Keller, und derselbe Offizier sah sie mit zusammengekniffenen Augen scharf an.
„Na, wo ist denn nun dein Mann, junge Frau? Keine faulen Ausreden — wir lassen dich sowieso nicht frei, ehe du's nicht sagst. Wenn er in Sicherheit ist, warum hast du da solche Angst? Lass das Leugnen. Das hat doch keinen Zweck, zum Teufel."
Sie aber, zum Umfallen müde, vor Erschöpfung und Gram, stammelte: „Wie kann ich wissen, wo er ist? Sagen Sie mir doch, wo Sie ihn hingetan haben."
Im Hintergrund murmelte jemand angewidert: „So schick sie doch zum Teufel, Oberst! Siehst du denn nicht, dass sie vor Angst von Sinnen ist?"
Der Oberst klopfte eine Zigarette gegen das Etui und lächelte plötzlich. „Ich werde dich für deine Halsstarrigkeit erschießen las-
sen. Das geht bei uns fix. Es wird dir nicht gelingen, die Dumme zu spielen." „Na, schießen Sie doch, na wennschon ... wennschon."
Zum ersten Mal weinte sie laut und winselnd auf. „Sie selber haben ihn doch totgeschunden! Sie selber doch! Schinden Sie auch mich tot. Mich und Njurka, mich und Njurka, wo Sie schon dabei sind."
Sie kam erst auf der Straße in der Sonne wieder zu sich. Sie ging auf der lichtüberfluteten Chaussee. Vor ihr lag das Werk, weiter hinten, auf der Anhöhe, die Arbeitersiedlung, und sie sah von fern das rote Dach, unter dem sich ihr verlassenes Zimmer befand.
Und wieder lebte sie allein dahin. Sie freundete sich mit Motja Sawtschuk an und verbrachte ganze Tage mit ihr.
Oft saß sie vor ihrer Haustür auf der Treppe, lauschte dem Plätschern der Bäche in der Schlucht und dachte an Gleb. Wo war er? Lebte er? Würde der Verschollene einmal zu ihr zurückkehren?
Eines Tages, als die Berge sich im Dunst auflösten, saß Dascha wieder auf der Vortreppe und stopfte zerlumptes Zeug; Njurka spielte neben ihr auf dem zementierten Platz des kleinen Hofes mit einem Kätzchen — Zikaden zirpten, und hinter den Arkaden des Werkes, draußen über dem Meer, schossen Möwen aufleuchtend durch die Luft.
Ein schnurrbärtiger Soldat in Wickelgamaschen ging vorbei (als ob wenig Soldaten an ihrem Haus vorbeigingen). Er trat zum Zaun und lehnte sich auf einen Pfosten.
„Dascha, bleib sitzen, erschrick nicht. Nachrichten von Gleb. Heb den Zettel sofort auf ... da! Erwarte mich heute abend."
Er ging. Ihr war nur eins aufgefallen: Der Schnurrbart sah wie Werg aus, die Augenbrauen auch.
Sie wollte zum Zaun laufen, doch der Soldat drehte sich um, und die Wergbrauen runzelten sich über den Augen. Sie verstand — sie musste so lange warten, bis er mit seinen schweren Schritten hinter dem Berg verschwunden war.
In zärtlichem Ton bat sie Njurka: „Komm her, komm zur Mama, mein Kleines! Schnell, schnell! Heb das Zettelchen dort auf und bringe es der Mama, Ja, so. Komm auf Mamas Schoß mit dem Zettel. Schnell, schnell!"
Njurka watschelte zum Zettel, grapschte ihn mit ihrem Fäustchen und lief zufrieden zur Mutter. „Da, Mama! Da!"
Dascha blickte sich nach allen Seiten um, entfaltete den Zettel und las (das konnte nur Glebs Schrift sein).
„Liebste, ich bin gesund und munter. Gib acht auf Dich und das Kind. Verbrenne das sofort, Jefim erzählt Dir alles, was nötig ist."
Gleb, lieber, einziger! Wenn du nur lebst und gesund bist und es dir gut geht! Um sie brauchte er sich nicht zu sorgen, sie war dann auch froh und guten Mutes.
In der Nacht kam Jefim, der nach Wald und Bergen roch, und Dascha bildete sich ein, er rieche nicht nach Wald, sondern —nach Gleb. Im dunklen Zimmer saßen sie nebeneinander am Fenster (nur am Himmel tropften Sterne), und Dascha zitterte vor Freude und vor Liebe zu Gleb. Jefim aber, die Pistole in der Hand, kam sofort zur Sache; er flüsterte mit seiner von Machorkarauch heiseren Stimme: „Du musst uns helfen, Dascha. Ich sag dir offen: Gleb schlägt sich durch die Weißen durch zur Roten Armee. Keine Angst, er schafft's bestimmt. Doch es geht jetzt nicht um ihn."
Dascha zitterte und murmelte stotternd: „Vielleicht... sag, Genosse Jefim! Wenn er nun umkommt, wenn er in eine Falle gerät? Er ist doch ganz allein und rundherum lauter Bestien."
„Es geht jetzt nicht um ihn, sag ich dir noch einmal. Gleb lässt dir ausrichten: Sei stark und hilf uns. Eine stürmische Zeit ist das jetzt. Ich bleib immer in deiner Nähe. Du wirst also unsere Grüne sein. Pass auf. Du wirst Aufträge für die ganze grüne Gruppe erledigen. Also auch für Gleb. Unsere Jungs sollen dir eine Zeitlang deinen Mann ersetzen. Denk daran. Organisiere aus allen grünen Witwen einen tüchtigen Trupp. Du selber fang im Werkkonsum zu arbeiten an. Wir werden die Sache im Nu hinbiegen."
„Ja, aber... aber meine Tochter? Was soll aus Njurka werden?"
„Gib sie einer guten Frau in Pflege. Njurka ist kein Spatz, sie fliegt dir nicht davon. Sag, was du noch auf dem Herzen hast."
Dascha zitterte so, dass sie nur mit Mühe das Nötigste herausbrachte.
„Genosse Jefim, vielleicht geht Gleb jetzt allein durch die Nacht, allein unter Bestien, und auf Schritt und Tritt lauert der Tod auf ihn ... wenn Gleb diesen Weg gewählt hat, dann will ich auch — dann gehe ich auch denselben Weg mit ihm."
Jefim lachte im Dunkeln auf und strich ihr sanft übers Knie.
„Bist ein braves Weib, das weiß ich. Ich sage dir im voraus: Die Sache ist gefährlich. Aber du bist nicht allein, du gehörst zu uns. Und wir haben auch starke Arme."
Er verschwand ebenso unhörbar, wie er gekommen war.
Njurka kam zu Motja in Pflege gegen Daschas Ration. Motja nahm die Kleine gern zu sich. Sie war eine gute Frau und eine gute Freundin, und Njurka hatte es bei ihr wie bei der Mutter.
Dascha arbeitete nun in der Konsumbäckerei. Oft erschienen Steinbrucharbeiter bei ihr mit einem Zettel und holten für „die Kumpel beim Bergbau" Brot ab.
Tag für Tag suchte sie die „grünen Witwen" auf. Die Hälfte von ihnen hamsterte. Manch eine verfluchte ihren geflohenen Mann, tat sich mit einem anderen zusammen und vergaß bald den ersten. Andere ernährten sich durch Wäschewaschen für die Offiziere. Dascha scharte sie um sich und gab ihnen Aufträge: Sie schickte sie in die Berge, um den Grünen Kleidung, Schuhwerk und, wenn nötig, Papiere verschiedener wichtiger Personen zu überbringen.
Besonders eng freundete sich Dascha mit drei Frauen an. Die jüngste war Fimka (ein Mädchen in heiratsfähigem Alter, dessen Bruder Petro bei den Grünen war). Sie sah so zart aus wie ein gnädiges Fräulein. Die älteste war Domacha — knochig, rothaarig, Mutter von drei ewig heulenden Gören. Lisaweta aber war eine kinderlose junge Frau, hochbusig und rotwangig. Fimka war nachgiebig und zärtlich: nie ließ sie sich von einem Mann vergebens um Liebesdinge bitten, nie von einer Frau vergebens um etwas zu essen. Domacha war zänkisch und machte alle Welt für ihre Not verantwortlich, Lisaweta wiederum war hochmütig, schweigsam und unnahbar. Diese drei hatte also Dascha unter ihre Fuchtel genommen. Nur mit ihnen verbrachte sie ihre freien Stunden.
In dunklen Nächten kam Jefim, klopfte sich mit dem Revolver aufs Knie und erklärte:
„Merkt euch, Genossen Weibsleute, die einzig wahre Regel: Schweige, töte alles Gedächtnis in dir ab. Nimm die Zunge zwischen die Zähne. Die Zunge ist das allerverfluchteste Stück Fleisch — der Teufelsschwanz des Menschen. Hat man dich zum Beispiel ertappt und gepackt — beiß die Zunge ab und spuck sie aus. Kapiert? Die Zunge hat noch keinen Berg versetzt, kann aber eine ganze Festung weglecken/'
Das war ihr erster Lehrer und Freund. So verging fast ein Jahr. Und in diesem Jahr wurde Dascha gleichsam neu geboren. Ihr früheres Leben am häuslichen Herd erschien ihr bereits nichtig und erniedrigend; nie mehr wollte sie wieder dahin zurück. Durch die Arbeit mit den Frauen und die Beziehungen zu den Grünen gewann sie Erfahrungen und neue Gedanken.
Als Dascha eines Tages hinter dem Verkaufstisch stand — es war ein frischer, sonnenklarer Morgen —, stießen Offiziere die Menge mit Gewehren auseinander und drangen in die Bäckerei ein. Erschrocken liefen die Leute nach allen Richtungen davon. Dascha aber wurde auf einen Last-
wagen zwischen die Meute von Offizieren gesetzt; man fuhr sie zu der Villa, wo sie damals mit Njurka gewesen war, und warf sie in denselben Keller. Wieder lagen und saßen dort viele Menschen, wieder waren ihr alle fremd, alle von Todesangst gepeinigt und halb irre.
Sie grübelte, wie sie sich verhalten sollte — was sie tun müsste, um nicht schwach zu werden. Alles könnte sie ertragen, Qualen, vielleicht auch den Tod — aber sich über Njurka hinwegsetzen, Njurka aus ihrem Herzen reißen, das könnte sie nicht.
Im trüben Halbdunkel erblickte sie einen Schnurrbart und ein Paar Augenbrauen, die wie Werg aussahen. Jefim kannte sie nicht, und sie begriff: Sie durfte mit keiner Miene verraten, dass sie ihn kannte. In einem Menschenhaufen, nicht weit von ihr, schluchzte Fimka, neben Fimka saß ihr jüngerer Bruder Petro, ein Bursche mit flaumigen Kinderwangen. Er streichelte ihr das Haar, den Rücken und flüsterte ihr etwas zu. Sein Gesicht sah aus, als hätte er Gift geschluckt.
Hier erlebte Dascha zum ersten Mal das Grauen menschlicher Qual.
Zuerst wurde Jefim hinausgeschleift und dann sie. Derselbe junge Oberst erwartete sie — und erkannte sie sofort. „Ah, beehrst du uns wieder mit deinem Besuch? Na, diesmal kommst du hier nicht wieder fort. Erzähl mal, wie du die Grünen mit Brot versorgt hast. Warum hast du uns denn vorgelogen, du wüsstest nicht, wo dein Mann sei?"
Dascha stellte sich dumm.
„Woher soll ich wissen, wo mein Mann ist? Sie haben ihn selbst beiseite geschafft, und nun hängen Sie mir auch noch die Grünen an."
„Das werden wir gleich nachprüfen. Führt sie in die Küche und gebt ihr ordentlich zu futtern!"
Man schleppte sie in einen anderen, kleineren Keller. Auf dem Fußboden stand eine schmutzige Pfütze, und es
stank nach Leichen. Ein nackter, blutüberströmter Mann lag auf der Erde.
Zwei stämmige Kosaken bearbeiteten ihn keuchend und knurrend mit Ladestöcken.
Sie verspürte einen brennenden Schlag im Rücken. „Eins, zwei! Da, du Luder! Zeig diesem Aas mal den schönen Mann dort."
Ihr wurde übel, und sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Auf unbegreifliche Weise bekam sie sich wieder in die Gewalt und stöhnte: „Wozu quält ihr mich? Wofür?"
Erneut hieben sie mit ihren Ladestöcken auf Jefim ein, aber er lag flach auf dem Bauch, drehte den Kopf hin und her und schwieg. Und dieses Schweigen ließ Dascha die Größe seiner Kraft und seiner Qual ahnen. Erst jetzt ging ihr auf, was Standhaftigkeit bedeutete und dass Schweigen ihre Pflicht und Schuldigkeit war. Dort wurde Jefim geschunden — aber keine Folter konnte ihm das große Geheimnis entlocken, das seine Herzenssache, die Revolution, schützte und aus ihm selbst einen unbeugsamen Kämpfer machte.
„Los, du Himmelsziege, gesteh, was für Techtelmechtel hast du mit diesem Lumpen gehabt? Sagst du's, dann rühren wir ihn nicht mehr an, und du bist frei."
„Ich weiß von nichts. Ich habe selbst genug am Halse. Warum verhöhnt ihr mich, ihr Tiere?"
Und wieder fuhr ihr das unerträgliche Brennen durch und durch. Ihr Herz drohte zu zerspringen, und sie schrie gellend: „Was hab ich euch denn getan? Wofür schlagt ihr mich?"
„Rede! Oder es geht dir wie dem. Du hast die Wahl!"
Und mit einemmal wurde ihr klar, dass man nichts über sie wusste, keine Beweise gegen sie hatte. Sie war nur auf Verdacht oder auf Denunziation hin festgenommen worden. Weder Domacha noch Lisaweta waren hier. Fimka? Das war etwas anderes — Fimka war ihres Bruders wegen
hier. Wahrscheinlich hatte man ihn in ihrem Zimmer entdeckt — er kam ja oft nachts zu ihr geschlichen.
„Ich habe nichts zu sagen. Was soll ich denn gestehen? Ich lebe allein und behellige niemanden."
„Gib dem Onkel noch eine Portion, so, ja! Schlag zu! Feste! Bis er zu grunzen anfängt, bis ihm die Suppe hochkommt."
Jefims Körper lag schon leblos im Schmutz und zuckte nur noch im Todeskrampf. Die Kosaken hieben erschöpft auf das blutige Fleisch ein, und von den Ladestöcken flogen klebrige Spritzer.
Kopfüber flog Fimkas Bruder Petro an Dascha vorbei. Tierische Angst in den Augen, sprang er auf, glitt aus, fiel hin, sprang wieder auf und lief durch den blutigen Schlamm, der unter seinen nackten Füßen aufquatschte. Zwei Kosaken mit Ladestöcken stürzten ihm nach. Petro stieß einen furchtbaren Schrei aus und prallte mit voller Wucht gegen die Wand.
Mit irren Augen stierte Dascha auf die Folterung ihrer Genossen und konnte, wie erstarrt, den Blick nicht von ihnen wenden. Sie sah nichts als Blut.
Sie kam wieder zu sich in jenem hellen Zimmer, in dem der Oberst saß und qualmte; er blinzelte sie durch den Rauch an.
„Na, junge Frau, hat dir unsere Küche gefallen? So, und jetzt wollen wir uns mal unterhalten."
„Ich weiß nichts. Quälen Sie mich doch nicht sinnlos."
„Du kennst wohl auch nicht den Lümmel und das Mädel?"
„Fimka kenne ich, auch Petro. Ich habe sie schon als kleine Kinder..."
Zwei Offiziere flüsterten ihm etwas ins Ohr. Er runzelte zuerst die Stirn, dann zog er die Mundwinkel breit.
„Ü berlass sie uns, Oberst." Und sie kamen mit verzerrten Gesichtern auf Dascha zu.
Sie flüchtete in die Ecke und streckte abwehrend beide
Arme aus. „Nicht! Nicht! Eher sterben. Lieber schlagt mich gleich tot."
Der Oberst hob die Hand und lachte. „Na schön. Dir soll nichts geschehen, wenn du die Wahrheit sagst. Komm her und erzähle." „Ich weiß nichts, gar nichts! Dass Sie sich nicht schämen!"
Der Oberst lehnte sich zurück und kniff hämisch die Augen zusammen.
Die beiden Offiziere packten Dascha unter den Achseln und schleiften sie ins Nebenzimmer.
Bis Mitternacht lag sie mit nackten Beinen und Brüsten halbtot im Keller. Wie man sie hingeworfen hatte, so war sie liegen geblieben. Fimka kroch zu ihr, stöhnte, sank mit der Stirn auf ihre Brust und kroch wieder fort. Zweimal sah sie Njurka vor sich: Sie hüpfte auf ihren kleinen Füßchen und kreischte voller Freude.
Dascha streckte die Hände nach ihr aus und schrie auf vor Angst und Widerwillen. „Nicht! Ach, nicht doch, Njurkalein, nicht!"
Dann dachte sie nicht mehr an Njurka. Njurkas Bild verschwand aus ihrem Gedächtnis wie ein verloschenes Traumbild.
Nach Mitternacht — auch daran erinnerte sie sich wie an einen Traum — erwachte sie vom Rattern eines Lastautos. Sie saß auf dem Boden des hölzernen Kastens, und neben ihr lagen oder saßen stumme Gestalten. Sie erkannte Fimka, Petro und Jefim. Rings standen Kosaken, das Gewehr im Anschlag.
Nur eins blieb ihr klar in Erinnerung: die farbigen Funken der Sterne und dass die Sterne ganz nahe waren — zum Greifen nahe. Sie wusste, das war der Tod. Gleich wird das Auto halten, man wird sie auf die Erde werfen, zum Meer, an den Strand führen, und dann werden Kugeln ihr die Brust zerreißen. Sie wusste es, und das Herz drohte ihr zu schmelzen wie ein Stück Eis. Aber es war kein Entsetzen. Es war alles so unwirklich, wie ein Traum, an den man nicht glaubt, wenn man ihn träumt, und von dem man weiß, dass seine Bilder bald verlöschen. Und wieder erschien ihr Njurka — sie rannte mit ausgebreiteten Ärmchen auf sie zu und kreischte einmal kurz auf: „Ei!"
Wie Leichen wurden die liegenden Genossen hin und her geschüttelt: Jefim, Fimka und Petro. Und niemand tat ihr leid, weil sie kein Herz in der Brust hatte, sondern ein Stück Eis.
Als der Wagen hielt, stieß man sie hinunter. Neben ihr stand Fimka. Sie flog vor Schüttelfrost, fasste Dascha am Kleid und drängte sich an sie wie ein Kind. Jefim lag unbeweglich zu ihren Füßen. Petro, mehr tot als lebendig, trat auf der Stelle, drehte den Kopf nach allen Seiten (sein Gesicht war schwarz von Blut), lallte und spuckte.
Hastig und böse, als sei es nicht sie, sondern eine Wildfremde, flüsterte Dascha ihrer Freundin ins Ohr: „Schweig, schweig ... schweig, schweig ... blind und stumm ... schweig."
Dann war es ihr, als stürze sich ein großer Haufen auf sie und schiebe sie beiseite.
Es waren vier Kosaken: sie stießen mit den Gewehren Fimka und Petro vor sich her.
Als sie sich ein Stück entfernt hatten, schrie Fimka plötzlich auf und schlug um sich wie ein Vogel. Sie warf die Arme hoch und wollte umkehren.
„Dascha, meine liebe Dascha! Was machen sie mit mir, Dascha!"
Die Kosaken stießen sie vorwärts und fluchten unflätig, sie kreischte, zappelte und fiel in den Sand. Man riss sie an den Armen hoch und stellte sie wieder auf die Beine. Sie ging schweigend ein paar Schritte, blieb dann wieder stehen und rief besorgt: „Ach! Was habe ich getan? Ich habe ja meinen Schal auf dem Auto vergessen."
Man fasste sie unter und schleifte sie in die Dunkelheit.
Vorn auf der sandigen Nehrung, wo das Meer sich wie ein schwarzer Acker in der Finsternis verlor, sah Dascha
dann nur verschwommene Schatten, und diese Schatten schienen wie betrunken auf der Stelle zu tanzen.
Und wieder hallte Fimkas schrilles Kreischen herüber: „Ich will nicht, nicht verbinden! Mit eigenen Augen will ich meinem jungen Tod ins Gesicht sehen."
Bis die Salve krachte, hörte das Kreischen nicht auf. „... mit eigenen Augen will ich ..."
Als dann die Schüsse verhallt waren, schien es Dascha, als flattere Fimkas Kreischen noch immer über dem Meer.
Geschmeidig näherte sich Dascha ein Schatten. „Zum letzten Mal: Sag, wer mit den Grünen zusammenarbeitet. Ich gebe dir mein Wort, wir lassen dich unverzüglich nach Hause. Oder ... hast du gesehen? So wird es auch dir ergehen."
Wie früher antwortete Dascha stumpfsinnig: „Ich weiß nichts." „Gut, Schafft diesen Gänserich weg!"
Jefim wurde fortgeschleift, und Dascha hörte diesmal keine Salve, sondern nur einen einzelnen Schuss.
Wieder erschien der geschmeidige Offizier. „Ich gebe dir eine halbe Minute." „Schießt schon ... schießt... nur quält mich nicht."
Sie fühlte: noch einen Augenblick, und sie fällt wie Fimka hin und schlägt um sich.
Sie wurde gepackt und irgendwo hinaufgeworfen. Ihr Kopf prallte schmerzhaft gegen Eisen.
Wieder ratterte das Auto, wieder zitterten ganz nah, zum Greifen nah, die goldenen Tropfen der Sterne, und der Himmel über den Bergen erglühte in feurigem Dunst.
Später führte man sie wieder in jenes Vernehmungszimmer, und ohne sie anzusehen, sagte derselbe Oberst träge und deutlich: „Ingenieur Kleist hat für dich gebürgt. Wir glauben nicht dir, sondern Ingenieur Kleist. Du kannst gehen. Aber merk dir: erwischen wir dich noch einmal, kommst du nie wieder nach Hause. Und merk dir noch was: hier ist dir nichts geschehen. Deine Augen haben
nichts gesehen. Wenn deine Zunge dir früher oder später mal ausrutschen sollte, ergeht es dir ebenso wie jenen Hunden. Nun scher dich weg — marsch!"
Dascha erzählte niemandem etwas, aber sie lernte es, sachlich und zur rechten Zeit zu reden. Daheim war sie nur nachts. Das Zimmer verdreckte, in den Ecken sammelten sich Spinnweben und Staub. Die Blumen auf dem Fensterbrett welkten und verdorrten. Daschas Gesicht verlor die Farbe, ihre Augen wurden kalt und durchdringend. Sie verbrachte ganze Tage bei Motja, der guten Freundin und sorglichen Hausfrau. Sie freundete sich mit Sawtschuk an, mit Gromada, saß stundenlang mit dem buckligen Loschak zusammen. Unauffällig traf man Vorbereitungen zum Empfang der Roten Armee. Sie warb sowohl Loschak als auch Gromada und Sawtschuk für ihre geheime Sache. Früher hatten sie nachts geschlafen und tagsüber auf die Berge geblickt. Jetzt litten sie nachts an Schlaflosigkeit und stellten sich am Tage blind.
Mit einer stummen Frage in den Augen kamen Soldaten bei ihr vorüber. Von außen betrachtet, kamen sie, um Unfug zu treiben, um mit der jungen Witwe zu schäkern, kamen ein-, zweimal und verschwanden dann, und an ihrer Stelle kamen neue. Wo die vorigen geblieben waren — das konnten Daschas klare Augen niemandem verraten.
Im Hafen lagen englische Schiffe; sie nahmen unzählige Scharen reicher und vornehmer Flüchtlinge aus dem Norden auf.
Aus der Ferne, hinter den Bergen, drang ein dumpfes, unterirdisches Grollen und erschütterte den Boden, und in der Nacht tropften vor diesem unermesslichen Grollen die Sterne wie Feuer vom Himmel herunter.
Und dann, an einem heißen Frühlingsmorgen, als man das Meer nicht vom Himmel unterscheiden konnte und die Luft nicht von den blühenden Bäumen, ging Dascha über stinkenden Unrat, vorbei an Pferdekadavern und Leichen, durch das Grauen eines panischen Todes, ging mit dem
roten Kopftuch in die Stadt, um die Kommunisten zu suchen. Ging allein, als Bürger und Arbeiter, noch ganz betäubt, sich nicht aus ihren Höhlen hinauswagten. Dascha ging, und ihre Augen und ihr Kopftuch brannten vor Glück und Stolz.
Rotarmisten mit roten Bändchen an den Feldblusen ritten ihr entgegen, und die Bändchen leuchteten von weitem wie Mohnblüten. Sie sah die Soldaten an und lachte, und sie winkten ihr mit den Armen, lachten auch und riefen: „Hurra, das rote Kopftuch! Die rote Frau, hurra!"

Erschüttert lag Gleb reglos auf Daschas Schoß und konnte lange kein Wort herausbringen. Das war sie also, seine Dascha. Saß hier bei ihm wie sein vertrautes Weib: dieselbe Stimme, dasselbe Gesicht, genauso wie früher schlug ihr Herz. Und war doch nicht die Dascha, die vor drei Jahren gelebt hatte — jene Dascha hatte ihn für immer verlassen.
Eine Welle unsäglicher Liebe zu ihr überflutete ihn. Mit zitternden Händen umarmte er sie, kämpfte gegen die Tränen an und stöhnte vor Wut, Hilflosigkeit und Liebe.
„Dascha, Liebste! Wäre ich nur hier gewesen in diesen Tagen! Wenn ich das gewusst hätte! Das Herz zerspringt mir, Dascha. Wozu hast du mir das gesagt? Was soll ich mit mir anfangen? Jetzt bin ich wie verwundet, Dascha. Wie kann ich das alles überleben? Ich und du ... und die Offiziere ... Dascha! Zwischen uns hat der Tod gestanden. Aber du bist am Leben geblieben. Du bist allein durchgekommen, und du hast deinen eigenen Weg des Kampfes hinter dir. Aber ich... ich werde verrückt. Hilf mir, das alles zu begreifen, Dascha." „Gleb, wie gut du bist! Wie lieb ich dich habe!"
Sie saßen bis in die Nacht hinein, so wie in den ersten Tagen nach ihrer Hochzeit.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur