Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Fjodor Gladkow - Zement (1925)
http://nemesis.marxists.org

XVII. Vorstoß in die Zukunft

Weiter geht's!

Die Inbetriebnahme des Werkes wurde auf den Jahrestag der Oktoberrevolution gelegt. Die Festversammlung des Stadtsowjets sollte im Klubhaus „Komintern" stattfinden, um die Feier des Roten Oktobers mit der Feier des ersten großen Sieges auf dem Felde der Arbeit zu verbinden.
Die Parteiüberprüfung war abgeschlossen; aber die Korridore im Palast der Arbeit waren noch immer voller Menschen, voll feuchten, braunen Qualms, taumeliger Verwirrung, krampfhafter und demütiger Erwartung. Die Menschen standen in Gruppen, sprachen gedämpft aufeinander ein, und doch war jeder für sich allein, und alle glichen sie Kranken.
Beim Volkswirtschaftsrat und bei der Werkverwaltung wurde schon seit mehreren Tagen von der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion unauffällig und in aller Ruhe Revision vorgenommen.
Schramm saß wie seit eh und je in seinem Arbeitszimmer hinter fest verschlossenen Türen und empfing von elf bis zwei. Dort, hinter der Tür, herrschte strenge Ruhe. Der Apparat arbeitete ebenso kompliziert, machtvoll und geräuschlos wie in früheren Tagen. Auch der Aufwand an Menschen war nicht geringer geworden. Nur die geschniegelten Spezialisten waren etwas blass, hatten trübe Augen und einen unruhigen, gespannten Blick. Bei den Angestellten aber, die über ihre Bücher und Akten gebeugt saßen, sah man weder Aufregung noch Angst — als wäre gar keine
Arbeiter-und-Bauern-Inspektion in der Nähe, als wüsste man nicht, was sie bedeute und was eine Revision sei.
Gleb pendelte zwischen Werkverwaltung und Werk hin und her. Er raste von Gebäude zu Gebäude, von Halle zu Halle, versank im Staub und zwischen Bergen von Material und konnte einfach nicht anders, als selbst nach dem Werkzeug zu greifen und sich an die Arbeit zu machen. In der Schlosserei hatte er Krach mit dem Schlosser Saweljew. Dieser alte Arbeiter war ein verdrossener, ungeselliger, schweigsamer Mann. Er unterbrach seine Arbeit oft, keuchte vor Husten und spie dicken schwarzen Schleim aus. In einem solchen Augenblick riss Gleb ihm einmal das Werkzeug aus der Hand und schnauzte ihn an: „Was trödelst du hier! Arbeitest wohl für fremde Herrschaften, wie?" Saweljew glotzte ihn verblüfft an und hustete keuchend. „Du hast hier nicht zu spucken und mit den Augen zu klappern, sondern zu arbeiten. Jede Minute ist kostbarer für uns als das Leben."
Gleb klapperte mit Eisenstücken, spielte mit dem Schraubstock und fieberte am ganzen Körper.
Saweljew schubste ihn mit der Schulter und schüttelte seinen Bart.
„Was weißt du denn? Wie viel Jahre arbeite ich schon — als Dreher, als Schlosser, als weiß der Henker was. Du hast noch nicht mal an Mutters Zitzen gelutscht, da hatte ich schon die Brust voll Stahlspäne. Kehr hier bloß nicht den Befehlshaber raus, du ..."
„Auf deinen Bart pfeif ich! Solche wie dich gibt's viele, die Löcher in die Luft gucken und dabei auf ihre Erfahrungen pochen. Dir ist nur deine Haut wichtig, aber die allgemeine Arbeitersache und die Produktion sind für dich ein Katzendreck."
Die anderen lachten, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, und johlten vor Vergnügen.
„Los, Tschumalow! Immer feste! Bekehr den alten Knaster zum rechten Glauben."
Gleb kam zu sich, warf das Werkzeug hin und lachte. „Pfui Teufel noch mal! Was bin ich doch für ein Rindvieh! Nicht böse sein, Freund. Mir jucken bloß die Hände, darum werd ich so tollwütig ... vor Neid, Saweljew. Entschuldige, Bruderherz, wenn ich dich gekränkt habe."
Und er lief in die nächste Abteilung.
Die Reparatur des Ofens und des Steinbrechers ging ihrem Ende zu. Der Bremsberg war schon in Betrieb, mehrmals täglich drehten sich munter die Räder der elektrischen Förderbahn, und die Rollen ratterten wie ferne Schmiedehämmer. Nur die Schwebebahn zum Hafen mit den im Fluge erstarrten Laufkörben schwieg noch immer, und das Sicherungsnetz war stumpf vom roten Rost. Die Turmuhr mit dem riesigen weißen Zifferblatt, die drei Jahre stillgestanden hatte, bewegte ihre Zeiger; von Bogenlampen angestrahlt, zeigte sie nachts bis auf eine Werst Entfernung die Zeit an.
Auch die Böttcherei wurde wieder flott gemacht. Man richtete die Werkbänke, entfernte Schutt und Schmutz und fuhr auf Loren Daubenholz heran. Sawtschuk, von Kopf bis Fuß verschwitzt und staubig, grölte, fluchte wunder wie saftig (die Böttcher waren die besten Sänger und konnten am saftigsten fluchen) und watete mit den anderen durch Haufen von Müll und Hobelspänen, stolperte über Daubenholz und Reifenbündel.
Jeden Tag besuchte Gleb die Maschinenhalle, wo er sich wie ein anderer Mensch fühlte. Hier war sattes blaues Licht. Hier strahlte alles vor Sauberkeit: die Fensterscheiben, die Fliesen, die schwarzglänzenden Dieselmotoren mit ihren Nickel- und Messingbeschlägen. Hier klingelten zart und melodisch Hebel, Hämmerchen und Kolbenrohre. Diese strenge und jugendfrische Metallmusik rückte einem behutsam und unwiderstehlich das Herz auf den rechten Fleck. Und auch in der Brust schien dieses zarte Klingeln zu schwingen und zu singen. Gleb stand lange am Messinggeländer und sah dem schwebenden Gleiten der gigantischen Schwungräder und den geschmeidigen rotbraunen Treibriemen zu, die eilig hinter den Schwungrädern herflogen, bebend und zuckend wie Lebewesen. Er fühlte sich nicht mehr einsam. Von den Schwungrädern, deren schnelle Umdrehung kaum wahrzunehmen war und durch ihre Lautlosigkeit beunruhigend wirkte, strömten ihm feuchte heiße Wellen ins Gesicht, gegen Hände und Brust und bannten ihn mit ihrem elementaren Atem. Verzaubert löste er sich in dem ehernen Wirbel, in den heißen Luftwellen und stand da ohne Gedanken, ohne Schwere, ohne Raumgefühl.
Meist war es Brynsa, der ihn wieder zur Besinnung brachte. Er nahm ihn beim Arm und führte ihn wortlos zur Glaswand, hinter der zwischen fernen, dunstigen Bergrücken die endlose Weite von Luft und Meer blaute.
Brynsa war nicht mehr derselbe, der Gleb im Frühjahr empfangen hatte. Die speckige, fladenähnliche Mütze über der Nase war wohl die alte geblieben, auch die schmutzigen, scharfen Backenknochen, das Kinn und der graubraune Schnurrbart hatten sich nicht verändert. Doch seine Augen waren kalt und starr geworden und schimmerten golden und silbrig wie die Dieselmotoren. Er schrie nicht mehr und regte sich nicht auf, sondern lauschte aufmerksam auf den Klang und das Wispern der Maschinen. Ihr Gespräch fing häufig so an:
„Na, Heerführer?"
„Na, lieber Freund?"
„Weiter?"
„Weiter geht's, Brynsa!"
„Brechen wir uns nicht das Genick?"
„Was fällt dir ein? Verrückt geworden? In die Partei musst du eintreten, mein Lieber, damit du etwas mehr siehst als nur deine Dieselmotoren."
„Nee, Heerführer, damit bleib mir bloß vom Leibe. Was soll mir die Partei, wenn für mich nur die Maschinen existieren? Es gibt die Partei, und es gibt Maschinen. Was
die Partei ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, wie Maschinen leben. Sind Maschinen einmal da, so müssen sie auch arbeiten. Schwätzer mag ich nicht."
Er brach unvermittelt ab und ging, ein wenig gebückt, mit festen Schritten davon, tauchte in einem der dämmerigen Gänge zwischen den Maschinen unter.
Eines Tages, als Gleb wieder die Reparaturarbeiten in den von Zementstaub grauen Fabrikräumen inspizierte, begegnete er — inmitten lärmender, hastender, schreiender Arbeiter — Ingenieur Kleist. Über dessen erwartungsvollen Blick hatte Gleb sich schon oft gewundert. Kleists müde Augen brannten vor Erregung, und eine besorgte Frage flackerte in ihnen. Er fasste Gleb sacht unter, und sie gingen schweigend zum Viadukt. Schulter an Schulter stiegen sie auf die Plattform des Förderturms, wo sie einander an jenem unvergesslichen Abend begegnet waren. Rechts unten schmatzten die Dieselmotoren, brummten wie Basssaiten die in der Tiefe verborgenen Dynamos. Auf den Dächern krochen puppenhaft winzige gebückte Gestalten umher. Die Sägeblätter kreischten wie ein Dohlenschwarm, dumpf trommelten die Hämmer. Die Fenster waren keine schwarz gähnenden Löcher mehr mit herausgerissenen Rahmen und zerbrochenen Scheiben: sie leuchteten in sattem Himmelblau, schimmerten matt oder waren voller Spiegelbilder.
Die Luft war herbstlich klar und klingend, wie im Sommer durchsonnt und grün durchwoben; über der glitzernden Bucht flatterten Möwen wie weiße Flocken. Und alles — die Luft, der Boden unter den Füßen, das Gestein — dröhnte von einem unbestimmten unterirdischen Grollen. In nächster Nähe kreischte durchdringend eine verrostete Winde.
„Nun, Hermann Hermannowitsch! Was meinen Sie? Wenn ein Narr sagt ,Ich bin die Kraft', so ist er kein Narr mehr. Wir Kommunisten träumen gar nicht übel, Genosse Technischer Leiter. Am Jahrestag der Oktoberrevolution
werden wir — Sie und wir alle — diese ganze Maschinerie in Gang setzen. Lassen Sie sich als frischgebackenen Werkdirektor beglückwünschen. Gestern nacht wurde Ihre Kandidatur bestätigt und die Zentrale telegraphisch benachrichtigt."
Kleist lächelte mit zuckendem Gesicht. Ohne seine würdevolle Haltung aufzugeben, drückte er Gleb fest die Hand.
„Gleb Iwanowitsch, ich bitte Sie, vergessen Sie das schwere Verbrechen, das ich an Ihnen und an den anderen Arbeitern begangen habe. Das Bewusstsein, an den Qualen und am Tod von Menschen schuld zu sein, lässt mir keine Ruhe. Ich glaube, ich kann diese entsetzliche Last nicht mehr tragen."
Kleist sah Gleb hoffnungsvoll ins Gesicht und konnte das Zittern seiner Hände nicht unterdrücken.
Glebs Wangen fielen ein, sein Gesicht wurde hart und furchterregend. Aber nur für einen Augenblick.
„Hermann Hermannowitsch, was gewesen ist, ist gewesen. Damals sprang eben jeder jedem an die Gurgel. Vergessen Sie etwas anderes nicht: Wenn Sie meine Frau nicht gerettet hätten, wären nicht einmal die Knochen von ihr übrig geblieben. Nun sind Sie unser Mitarbeiter, unser klügster Kopf, ein Mann mit goldenen Händen. Ohne Sie hätten wir das alles nicht geschafft. Sehen Sie sich doch an, was wir unter Ihrer Leitung alles zustande gebracht haben."
„Lieber Gleb Iwanowitsch, ich werde all mein Wissen, all meine Erfahrung, mein ganzes Leben in den Dienst unseres Landes stellen. Ich kenne kein anderes Leben mehr, ich kenne nichts als den Kampf um unsere Zukunft." Zum ersten Mal sah Gleb Tränen in Kleists Augen. Er drückte ihm die Hand und lachte. „Na also, Hermann Hermannowitsch, werden wir Freunde."
„Ja, werden wir Freunde, Gleb Iwanowitsch." Auf seinen Stock gestützt, ging Kleist mit festem Schritt davon.

Die Brandstätte

Kurz nach der Parteiüberprüfung siedelte Dascha ins Haus der Sowjets über. Sie zog zu Polja, denn sie hatte folgenden Brief von ihr bekommen.
„Ich fühle mich sehr krank, Dascha, obwohl ich herumlaufe, esse und rede und überhaupt sich äußerlich nichts verändert hat. Aber ich sehe nichts mehr, empfinde nichts. Am Tage bin ich ein gehetztes Tier, und die Nächte sind ein einziger Alpdruck. Noch ein einziger solcher Tag, und ich halte es, glaube ich, nicht mehr aus. Ich bin zweifellos krank. Nur Du kannst mich stützen und aufrichten. Ich bitte Dich als Freundin, komm zu mir, wohne bei mir, hilf mir, mich wieder zusammenzuflicken und auf die Beine zu kommen. Ich sitze jetzt bei Sergej (Mitternacht) — ich sitze jede Nacht bei ihm. Er ist sehr müde, aber wie immer guten Mutes, sanft und zart, und er umsorgt mich, als wäre ich ein kleines Kind. Er wäre bereit, meinetwegen die ganze Nacht wach zu bleiben. Ich fürchte, er übernimmt sich noch und bricht zusammen. In meiner Seele bereitet sich eine Umwälzung vor. Was für eine, weiß ich nicht; aber eins weiß ich: Du brauchst nur ein paar Tage bei mir zu sein, und alles wird wieder gut, alles rückt wieder auf den rechten Platz."
Am selben Abend noch machte sich Dascha mit einem Bündel unter dem Arm in die Stadt auf, eiligen Schrittes, wie sie gewöhnlich ging, wenn sie in Sachen des Frauenausschusses unterwegs war. Nach Hause ging sie nur, um ihr Bettzeug zu holen. „So, Gleb, wirtschafte ein Weilchen allein ..."
Gleb stand verdutzt vom Hocker auf. „Was soll denn das nun? Schon wieder was Neues? Sag mir wenigstens, wohin du fährst. Eine Dienstreise?"
„Wenn du mal in der Stadt bist, komm bei Polja vorbei. Sie bittet mich, eine Zeitlang bei ihr zu wohnen. Sie fühlt sich sehr schlecht."
„Und wie lange willst du an ihr rumdoktern?" „Weiß nicht. Man muss alles tun, um sie wieder in die Partei zu bekommen."
„Ja, das ist richtig. Bei dieser Überprüfung ist das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden."
„So, ich geh jetzt! Allzu bald solltest du mich aber nicht zurückerwarten, Lieber. Ich weiß nicht, wie alles werden wird. Vielleicht ist es auch für uns beide besser so."
Sie schwieg verlegen, und in ihrem Lächeln zitterten unausgesprochene Worte.
„So ... ich gehe. Auf Wiedersehen einstweilen." „Meinetwegen, geh nur, wenn's sein muss." Er begleitete sie bis zur Pforte und nahm dort ihre Hand. Dascha reckte sich zu ihm. Er umarmte und küsste sie. Er fühlte, dass dies für Dascha kein gewöhnlicher Abschied war wie etwa vor dem täglichen Weg zur Arbeit oder vor einer Dienstreise: diesmal nahm sie alle vergangenen Jahre mit sich. Vielleicht würde sie nie zurückkehren, vielleicht lag in ihrem Abschiedsblick ein Bedauern des Vergangenen und ein Freuen auf den neuen Weg.
Er konnte kein Machtwort mehr sprechen — etwa: Ich verbiete dir, von zu Hause fortzugehen. Ich habe es satt! Bist du meine Frau oder eine Herumtreiberin? Ich habe ein Recht auf dich. Warum ziehst du die Mechowa mir vor? Überhaupt halst du dir viel zuviel auf. Deine Freiheit ist nicht unbegrenzt; du hast Pflichten deinem Mann gegenüber. Es genügt schon, dass du Njurka geopfert hast. Deine Vergangenheit steht wie ein Fluch zwischen uns, und alle diese Badjins und wie sie sonst noch heißen, die kann ich nicht ertragen, die sind meine Feinde. Lass es nicht zum Skandal kommen. Du kannst auch im Werk Arbeit finden.
Er hatte keine Macht mehr, ihr solche Worte zu sagen, denn diese Macht hatte Dascha ihm längst genommen. Vor ihm stand nicht nur sein Weib, sondern ein Mensch, der ihm an Stärke ebenbürtig war, der all die Mühsal der letzten Jahre auf eigene Schultern genommen hatte. Sie war nicht nur sein Weib, sondern ein unabhängiger Mensch. Sie ging jetzt, sie würde vielleicht nie zurückkehren und ihm ebenso fremd werden wie alle anderen Frauen. Wennschon!
Sie hatten bisher in einem Zimmer zusammen gewohnt, hatten zuerst getrennt geschlafen und dann in ein und demselben Bett. Doch keinen Augenblick hatte Gleb das Wichtigste vergessen können: Die Dascha von früher war nicht mehr, eine neue Dascha war an ihren Platz getreten, eine, die jederzeit für immer fortgehen konnte.
Das letzte Band ihrer Ehe war gerissen — Njurka. Das Töchterchen war tot. Es hatte Tage gegeben, da brachte das gemeinsame Leid sie einander nahe. Dann war die Parteiüberprüfung, waren Tage voll schwerer Sorgen gekommen: für ihn im Werk, für sie im Frauenausschuss. Wenn sie sich nachts in ihrem Zimmer trafen, fühlten beide, dass der Traum vom persönlichen Glück Illusion war. Nach der Überprüfung erkrankte die Mechowa, und Dascha wurde vorübergehend die Leitung des Frauenausschusses übertragen.
Im Parteikomitee meinte jeder, der ihr begegnete: „Na also. Jetzt ist Dascha am richtigen Platz. Als wenn sie schon immer den Frauenausschuss geleitet hätte."
Ihr und allen anderen wurde klar, dass sie sich aus einer „i. V." bald in eine richtige „Leiterin" verwandeln werde.
Zum Abschied wollte Gleb ihr noch etwas ganz Wichtiges sagen, aus tiefster Seele, brachte es aber nicht fertig; er fand keine Worte, und doch musste es gesagt werden! Geschah es jetzt nicht, würde es nie mehr geschehen. Dascha verstand, ihm zuzuhören, war taktvoll und aufmerksam, aber sie mochte ihn nicht so hinnehmen, wie er war, er hatte noch zu viel vom alten Ehemann an sich: übermäßiges Zärtlichkeitsbedürfnis, verzehrende Eifersucht und das hartnäckige Verlangen, sie an den häuslichen Herd zu binden.
„Nun, Dascha... Aus unserem Eheleben werd einer schlau. Es ist wie verhext. Ich habe mich völlig aufgerieben."
Dascha sah auf ihre Füße und bemühte sich, mit dem Absatz ein glattes Steinchen zu zerdrücken, das ihr jedes Mal, wenn sie zutrat, entglitt.
„Ich weiß nicht, wer sich mehr aufgerieben hat, Gleb. Wie ich früher war, kann ich nicht mehr sein. Und zu einer Frau nur fürs Bett tauge ich nicht. Warum sich unnütz quälen? Lass uns ein wenig ausruhen voneinander... ein wenig nachdenken."
„Sag's doch einfach, Dascha: du liebst mich nicht mehr, kannst dich nicht mehr an mich gewöhnen. Ohne Mann lebt sich's angenehmer."
Dascha sah Gleb an und wurde dunkelrot. „Und wenn das so wäre, Gleb?" Gleb begriff, dass er sie verletzt hatte. „Dann find ich's auch an der Zeit, Schluss zu machen. Dann kann uns niemand und nichts mehr helfen."
„Ja. Jedes Band ist gerissen, alles hat sich verwirrt. Man müsste an die Liebe ganz anders herangehen. Wie, weiß ich selbst noch nicht. Ich muss darüber nachdenken. Denken wir beide nach, und dann sprechen wir uns aus. Eins ist vor allem wichtig: Man muss sich gegenseitig achten und darf dem anderen keine Ketten anlegen. Doch wir haben die Fesseln an, Gleb. Ich liebe dich, aber du musst dich erst mal selber überwinden ... dann kommt alles wieder." Sie seufzte und lächelte dann wieder verlegen. „So gehe ich jetzt."
Gleb wurde blass, stöhnte auf und presste sich die Faust gegen die Stirn. Und sein Herz brannte vor Sehnsucht.
Kaum hatte Dascha ein paar Schritte getan, da war Motja aus ihrer Pforte getreten.
Sie watschelte wie eine Ente, mit riesigem Bauch und prallen Brüsten, hatte braune Flecken im Gesicht und blaue Ringe unter den Augen — demütigen, vor Müdigkeit strengen Augen. Schon von weitem winkte sie und lächelte.
„Sieh an! Wie sie rennt, die Junggesellin. Ach du, am liebsten würde ich dir die Ohren lang ziehen! Ein Weib hat Kinder zu kriegen, und sie rennt rum wie angestochen. Brennt ihrem Mann durch mit ihren Siebensachen. Wenn's nach mir ginge, würde ich all dieses Weibsgelichter mit Stricken ans Ehebett binden und ihnen befehlen: Bring Kinder zur Welt, verdammte Zicke! Was brauchst du denn weiter zu tun auf der Welt als mit deinem Mann zu schlafen und Kinder zu kriegen? Da, guckt euch meinen Bauch an. Jetzt gibt's bei mir jedes Jahr eins — damit ihr's wisst. Ich werde Mutter sein, und ihr — ihr seid elende Krähen."
Dascha trat zu ihr, legte den freien Arm um sie und lachte. „Uff, bist du ein Satansweib, Motja! Wenn man dich so ansieht, kann einen der Neid packen: das ganze Weib nichts als Bauch."
Sie klopfte ihr mit der flachen Hand sacht auf den Leib. „Aha, siehst du wohl! Ich komm noch mal in deinen verfluchten Frauenausschuss, zieh mich splitternackt aus, stell mich in die Mitte und brülle: Ran, ihr Weiber, verneigt euch, küsst mich — ich bin die Mutter Gottes!"
Beide Frauen lachten; auch Gleb lachte.
Dascha ging weiter; ihr Bettzeug unterm Arm, ging sie auf den Mauerdurchbruch zu. Gleb hoffte, sie werde sich umdrehen und ihm zuwinken. Zweimal leuchtete ihr rotes Kopftuch im Durchbruch auf und erlosch dann hinter der Betonmauer.
Jeden Tag war Dascha diesen Weg gegangen. Jeden Tag erst spät am Abend heimgekommen. War oft auf Dienstreisen gewesen und tage- und nächtelang weggeblieben. In den Kosakendörfern gärte es noch, Räuberbanden strichen in den Bergen und im Schilfdickicht der Schluchten umher; so hatte er immer beklommenen Herzens auf Daschas Rückkehr gewartet. Nun aber war mit einem Schlage alles kahl, öde und fremd geworden — das Zimmer, die
Gasse mit ihren Vorgärten und diese Betonmauer, die ihn stets von Dascha getrennt hatte. Was sollte er jetzt mit dem leeren Zimmer, dem Gärtchen und den fünf Quadratmetern Hof? Sie hatte eine sonderbare, fremde Sprache mit ihm gesprochen. Jetzt war sie von ihm gegangen und würde vielleicht nicht wiederkommen. Njurka war tot. Dascha nicht da, Njurka nicht da - allein geblieben. Verfluchtes Leben! Wie eine Dampfwalze zermalmte es alles — Schicksal, Gewohnheiten, Liebe.
Motja sah ihn von der Seite an, und in ihren Augen, die schon voll sorgender Mütterlichkeit waren, zitterten Tränen.
„Ach, Gleb! Wie leid ihr mir beide tut! Was habt ihr für ein unglückliches Los! Euer Töchterchen Njurka ist zugrunde gegangen. Du bist wie ein herrenloser Köter... ohne Familie, ohne einen warmen Winkel. Aber du darfst dich nicht beklagen, Gleb. Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt selbst darin. Auch eure kleine Njurka ist wie ein Stäubchen zwischen euch verbrannt. Ihr macht einen ganz traurig, Gleb!" Er wandte sich ab und stopfte sich die Pfeife.
„Lass nur, Motja. Durchs Feuer ist kein schlechter Weg. Wenn man weiß, wohin die Beine gehen und die Augen schauen, kann man da Angst haben vor großen und kleinen Verbrennungen? Wir stehen im Kampf und bauen ein neues Leben. Alles ist gut, Motja — weine nicht! So schön werden wir alles aufbauen, dass wir selbst über unser Werk staunen werden!"
„Ach, Gleb! Ach, Gleb! Dein eigenes Heim hast du aber zuschanden gewirtschaftet."
„Macht nichts, Motja, wir bauen uns ein neues. Was ist schon dabei? Wahrscheinlich hat das alte nichts getaugt. Na, wie steht's denn? Ist es bei dir bald soweit?"
Motja lachte nur mit den Augen; ihr Gesicht zitterte vor Glück.
„Ja doch! In einem Monat, Gleb. Du bist Pate, das steht fest."
„Einverstanden, Motja. Nur eine Bedingung: Wenn ich einen Popen entdecke, setze ich ihn in eine Lore und lass ihn den Bremsberg runter zum Holzlager sausen. Ach, Motja, eine Feier werde ich dir hinlegen, dass sich die Balken biegen!"
Motja lachte froh. Gleb ging nicht nach Hause, sondern die Gasse hinunter zu den Werkgebäuden.

Nordost

Ende Oktober jagte ein Ereignis das andere.
In der Nacht zum achtundzwanzigsten wurde Schramm festgenommen und in die Gebietsstadt geschafft. In der gleichen Nacht wurden auch unter den Spezialisten des Volkswirtschaftsrates und der Werkverwaltung Verhaftungen vorgenommen. Am dreißigsten gab es große Aufregung unter den Parteifunktionären: Shidki wurde ins Gebietssekretariat des ZK abberufen. Badjin wurde zum Vorsitzenden des Gebietsvolkswirtschaftsrates ernannt und der Tschekavorsitzende Tschibis weit ins Innere Sibiriens versetzt.
Man hatte diese Ereignisse schon längst vorausgesehen, hatte in vertraulichen Gesprächen davon geredet, obskure Gerüchte weitergetragen und sich aufgeregt. Jeder Tag war mit unbestimmter Erwartung geladen gewesen. Trotzdem waren nun alle erschüttert, weil diese Ereignisse so plötzlich und weil sie überhaupt eingetreten waren.
Täglich zur gewohnten Stunde ging Sergej mit seiner abgeschabten Aktentasche ins Bezirkskomitee — bedächtigen Schritts, leicht gebückt, eine nie verlöschende Frage in den Augen. Täglich führte er exakt und pünktlich die Parteiaufträge aus, arbeitete im Agitprop bei der Politischen Erziehung, versäumte keine Sitzung, auch wenn er nicht zur Teilnahme verpflichtet war, und sprach mit keinem
Menschen über sein eigenes Geschick — über die Parteiüberprüfung, über seinen Ausschluss, über seine Bemühungen wieder aufgenommen zu werden, als wäre dies alles ganz unwichtig, als wäre nur seine Arbeit, die nach vorgezeichnetem Plan erledigt werden musste, wichtig und unaufschiebbar.
Er ließ sich nie wieder bei der Überprüfungskommission blicken, bat keinen leitenden Genossen um Hilfe, regte sich nicht auf und klagte nicht. Nur sein Kopf mit den langen Locken schien größer und schwerer geworden, nur seine fieberhaft brennenden Augen verrieten das nicht verwundene Leid.
Er erhielt einen kurzen Auszug aus dem Protokoll der Kommission, den er ebenso aufmerksam durchlas wie jedes andere Papier.
Ü berprüft:
Iwagin, Sergej Iwanowitsch
Mitglied der KPR seit 1920
Ausweis-Nr...
Intellektueller.
Beschluss:
Ausschließen, da typischer Intellektueller mit zersetzender Wirkung auf die Parteiorganisation.
Den Auszug hatte Dascha gebracht. Er hatte an seinem Tisch im Agitprop gesessen und sorgfältig Leitsätze zu Vorträgen ausgearbeitet, die er in den Parteizellen über die Arbeiterkonsumgenossenschaft halten sollte.
Dascha sah ihn an und wunderte sich: Warum war er so ruhig und unbekümmert? Warum schwieg er und dachte an ganz andere, fern liegende Dinge?
„Genosse Iwagin, du musst gegen den Kommissionsbeschluss schleunigst Berufung einlegen. Lass die Taktik des Achselzuckens."
Er lächelte ihr mit feuchten Augen zu und holte ein eng beschriebenes Blatt aus seiner Aktentasche.
„Schon geschehen, Genossin Tschumalowa. Das hier ist
eine Abschrift, die hebe ich mir zum Andenken auf. Das Original habe ich Shidki gegeben. Das Parteikomitee bemüht sich seinerseits."
„Wenn du eine Beurteilung brauchst, ich schreibe sie dir sofort, Genosse Iwagin. Das war eine Fehlentscheidung, dich hätte man nicht ausschließen dürfen."
„Wenn du es für nötig hältst, Genossin Tschumalowa, setz eine auf und gib sie Shidki."
Er erhob sich und reichte Dascha, verschämt lächelnd, die Hand.
„Aber ich vergesse keinen Augenblick, Genossin Tschumalowa, dass ich Kommunist bin, Mitglied der Partei, das seine Arbeit ohne Unterbrechung fortzusetzen hat."
„Gewiss, Genosse Iwagin, aber du musst Krach machen und nicht auf deinem Stuhl hocken."
„Vorläufig ist das noch nicht notwendig. Wenn's darauf ankommt, steh ich schon auf und geh überallhin, wo es sein muss."
Dascha sah ihn wieder aufmerksam an, und ihre Brauen zuckten vor Verwunderung. Sie lächelte und ging rasch aus dem Zimmer.
Vor wenigen Tagen hatte man Polja ins Sanatorium geschickt. Seit Dascha bei ihr wohnte, war Sergej nicht mehr zu ihr gekommen. Sie hatte ihn nicht mehr gerufen und die Verbindungstür nicht mehr geöffnet. Sie hatte ihn vergessen, und seine schlaflosen Nächte waren aus ihrem Gedächtnis fortgewischt. Er hörte oft ihr altes Lachen und ihre klingende Stimme, die sich mit Daschas Stimme verflocht. Einsam schritt er von einer Ecke zur anderen, und es stimmte ihn traurig, allein zu sein, und doch zitterte er vor Freude, weil in Poljas Zimmer wieder die Glöckchen klangen.
Notwendig waren also einzig und allein die Partei und die Arbeit für die Partei. Nichts Persönliches. Was bedeutete schon seine Liebe, die in unabsehbaren Tiefen verborgen war? Was bedeuteten die Fragen und Gedanken,
die sein Hirn zermarterten? Das alles waren Überbleibsel der verfluchten Vergangenheit. Väterliches Erbe, Rückstände aus den Jugendjahren, Reste der intellektuellen Romantik. Das alles musste mit der Wurzel ausgemerzt werden. All diese kranken Zellen des Gehirns musste man abtöten. Es gab nur eins — die Partei. Ob er wieder aufgenommen wurde oder nicht — das änderte nichts an der Sache: einen Sergej Iwagin als Einzelpersönlichkeit gab es nicht. Es gab nur die Partei, und er — er war nur ein winziges Teilchen in ihrem gewaltigen Organismus.
Und dann sollte er an diesem Tage noch einmal die alten Schmerzen durchleiden.
In Shidkis Zimmer war es ungewöhnlich still und schwül. Dort saßen Badjin, Gleb, Dascha, Luchawa und Tschibis.
Shidki sprach beherrscht.
„Hat jemand Einwände gegen den Plan? Also angenommen. Der endgültige Plan der Feier ist demnach folgender: Am Morgen sammeln sich die Demonstranten in ihren Stadtbezirken..."
Luchawa unterbrach ihn grob: „Hör auf! Das kennen wir alle schon auswendig. Weiter."
Gleb stand auf und streckte den Arm gegen Shidki aus. „Lass das, Tschumalow. Die Frage ist erledigt. Es gibt da nichts mehr zu sagen. Schluss!"
„Was heißt Schluss? Ich protestiere trotzdem gegen den Punkt ,Ehrung der Helden der Arbeit'. Der muss gestrichen werden. Was für Helden der Arbeit? Was für Taten haben wir denn vollbracht, um zu Helden der Arbeit ernannt zu werden? Unsinn! Ich spreche nicht nur von mir. Ich bitte, meine Sondermeinung ins Protokoll aufzunehmen."
Er lief aufgeregt im Zimmer hin und her.
„Tschumalow, Sondermeinungen gibt's nicht. Was redest du da für Blödsinn? Alter Dussel!"
Tschibis saß wie immer dabei. Man wusste nicht: döste
er, ruhte er sich gelangweilt aus oder hing er Gedanken nach, die er niemals und niemandem verriet.
Badjin hatte die Brust gegen den Tischrand gestemmt und schwieg, dumpf und lastend. Stieße man ihn an — er schwankte nicht, schlüge man ihn — er verspürte den Schlag nicht. Dascha aber lächelte, und ihr Gesicht glühte.
Badjin, dessen glänzende Jacke in den Falten knisterte, tastete Gleb mit den Augen ab und lehnte sich dann im Stuhl zurück.
„Und was ist das hier?" Er tippte mit dem Finger auf Glebs Rotbannerorden. „Das ist... das habe ich ..."
„Na, nun spiel mal nicht den strengen Spartaner. Wenn du, sagen wir, Sergej Iwagin wärst, ein verschämter Intellektueller, dann wäre das einleuchtend und glaubhaft. Aber zu dir passt es überhaupt nicht."
Gleb stieg das Blut zu Kopf, seine Augen wurden feucht. Er trat von Badjin zurück und steckte beide Hände tief in die Taschen.
„Ich bitte gefälligst, Genosse Vorsitzender, mach mir keine Vorschriften. Ich widerspreche dem Vorschlag des Genossen Badjin, und ich bleibe dabei. Wenn es sein muss, dekoriert ihn selbst als Helden der Arbeit: soll er dann in diesem neuen Schmuck rumfahren und weiterkommandieren."
Shidki klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch und blähte die Nasenflügel, als müsse er sich das Lachen verbeißen. „Schluss jetzt, Genossen! Erledigt!" Luchawa sah Gleb und Badjin mit funkelnden Augen scharf an und lachte vergnügt.
Und zum ersten Mal bemerkte Gleb den tödlichen Hass in Badjins Augen. Auch damals, im Frühjahr, hatte so eine trübe, schwere Welle dessen Augen überflutet, doch das war etwas anderes gewesen. Argwohn, Neugier und noch etwas, das Gleb nicht verstehen konnte. Doch heute wie
damals stieg Gleb das Blut zu Kopf, mit einer Gewalt, dass es in den Ohren brauste. „Gleb! Komm zu dir! Bist du verrückt geworden?"
Dascha blickte ihn streng an, ihre Lider zitterten. Und als Gleb diese Augen sah und das blasse Gesicht, zog sich sein Herz vor Schmerz und Wut zusammen. Dascha... Badjin ... Dascha, seine Frau. Sie ist damals mit Badjin in der Staniza gewesen. Nachts ... ein Zimmer ... ein Bett. Daschas Worte damals waren kein Scherz.
Shidki klopfte wieder mit dem Bleistift auf den Tisch und schrie: „Schluss damit! Hol euch der Teufel! Beruhige dich, Tschumalow! Alles ist entschieden und erledigt."
Tschibis kniff die Augen ein.
„Setz dich, Tschumalow! Bist ein erprobtes Mitglied der Partei und treibst Unfug. Setz dich!"
Badjin stierte nach wie vor mit trüben Augen Gleb an und saß regungslos und klobig auf seinem Stuhl. „Was ist los, Genosse Tschumalow?"
Gleb keuchte. Sein Herz schlug bis zum Hals. Er hatte keine Gewalt mehr über sich, und so schwang er die Faust und brüllte mit Genuss aus voller Kehle: „Schürzenjäger! Lausiger Hengst!" „Gleb! Du bist wahnsinnig, Gleb!"
Alle waren plötzlich ganz klein, verwirrt, betäubt. Nur Tschibis saß da wie früher, teilnahmslos, ein verstohlenes Lächeln hinter den Wimpern.
Badjin sagte ruhig und kalt, als wäre er in seinem Arbeitszimmer: „Ach, das war's nur? Schade, dass nicht auch du mir nachspioniert hast wie der selige Zcheladse. Dann wüsstest du nämlich einiges. Sogar Sergej Iwagin weiß mehr als du. Da ist Sergej Iwagin: er kann interessante Dinge erzählen. Aber aus Schamhaftigkeit bringt er's nicht über sich, einen Skandal zu machen. Du siehst, Eifersucht ist immer kurzsichtig."
Sergej starrte wie gebannt auf Badjin, erschüttert und geschlagen; wollte schneidende, unwiderlegbare Worte herausschreien. Er machte einen Schritt auf Badjin zu, stürzte aber im nächsten Augenblick zu Shidki hin. Seine Lippen bebten, er winkte ab und lief aus dem Zimmer.
Von den Bergen blies der Nordost, und die Luft zwischen Bergen und Meer war sehr durchsichtig, voll Himmelsblau und Sonnengold. Über der Bucht wälzten sich riesige, zottige Wolken, zerrissen über der Stadt zu Fetzen und schwammen in ungeordneten Haufen zum fernen Gebirge. Die Hänge oberhalb der Stadt lagen in dichtem Herbstnebel. Nur einzelne Lichtflecke glitten über die Matten, flogen den Grat entlang, erloschen in den Schluchten und flammten an den steilen Kalkwänden wieder auf. Das Meer dampfte wie im Schneegestöber, lag ohne Wellenschlag, wie ein uferloser Fluss; zwischen Molen und Landungsbrücken und am Kai schimmerte die Luft in allen Regenbogenfarben.
Sergej ging, barhaupt wie immer, die Uferstraße entlang; seine Locken flatterten und schlugen ihm ins Gesicht. Der Wind trieb ihn heulend und pfeifend der Stadt zu, es ging sich leicht, mühelos, ohne Schwere in den Beinen. Vereinzelte Gestalten schlichen ihm entgegen, gegen den Ansturm gebückt, und er sah kein Gesicht, sondern nur zerknitterte Mützen und mit warmen Tüchern fest umwickelte Frauenköpfe.
An den steinernen Kaimauern schaukelten türkische Feluken und Fischerboote und zeichneten mit ihren Mastpindeln feine Muster in die Luft.
Wozu war er ins Parteikomitee gegangen? Nur um Badjin furchtbare Worte ins Gesicht zu schleudern, die er dann noch nicht herausbrachte? Was brauchte es schließlich seiner Worte?
Was hätte er nach Tschumalow zu Badjin überhaupt noch sagen können? Hatte ihn das aus der Stadt ins Hafenviertel getrieben, in den Kampf mit dem Nordost? Nein, er dachte an seinen Vater. In den letzten Tagen hatte er ihn überall voller Angst gesucht. In der Bibliothek war der Alte
nicht mehr, und wo er wohnte, wusste er auch nicht. Unlängst hatte Werotschka Sergej ausfindig gemacht. Als sie mit ihm sprach, hatte sie gezittert und den Blick nicht von ihm gewandt; ihre Augen waren voll Tränen gewesen.
„Sergej Iwanowitsch! Wenn Sie wüssten! Ich kann nicht... Er ist ein so wunderbarer Mensch! Er ist krank, Sergej Iwanowitsch, sehr krank. Er liegt auf dem blanken Fußboden. Ich habe ihm ein Bett besorgt... aber er will nicht."
Ist es nicht ganz gleich, was aus dem Vater wird? Das Leben trifft eine unfehlbare Auswahl, und der Prozess dieser Auswahl ist unabwendbar. Wo ist sein, Sergejs, Platz bei dieser großen Arbeit der Geschichte? Vielleicht wird er zermalmt? Vielleicht wird auch seine Seele wie die Badjins? Die Schläge dieser Jahre sind so schwer, jeder Tag ist so erbarmungslos grausam, dass die alten Wunden nicht verheilen können und jede Stunde neue schlägt. Ist es nicht gleich, was aus ihm wird, da doch jeder Augenblick ihn ganz, restlos braucht? Arbeiten — nur arbeiten. Grauer Alltag — gut, sei's drum; ist doch dieser Alltag der in beharrliche Pflichterfüllung umgesetzte Traum. Ob man ihn wieder in die Partei aufnimmt oder nicht — das ist unwichtig: das ändert nichts an seiner Bestimmung. Er muss arbeiten — nur arbeiten. Unlösbare Bande verknüpfen ihn mit der ganzen Welt, der ganzen Menschheit.
Das Mädchen an der Reling ist durch seine Seele gegangen und für immer in seinem Herzen geblieben. Wo ist sie? Auch das ist gleich. Polja Mechowa? Sie ist in ihn hineingewachsen mit ihrer Frische und ihrer Erregbarkeit, mit jenen nächtlichen Stunden, da er schlaflos an ihrem Bett gesessen hatte. Wenn auch Shidki, Tschibis, Badjin nicht mehr neben ihm gehen werden — auch einmal Luchawa und Dascha nicht mehr —, Gleb wird als Vollstrecker der Geschichte, als Sieger in die Zukunft schreiten. Doch auch er, Sergej, ist eine Kraft, auch er ist ein unentbehrliches Glied in der Kette der großen Ereignisse.
Unten an der Steinmauer plätscherten und schwappten
die Wellen und schossen hoch auf wie lärmende grüne Fontänen. Dort unten war eine hochgelegene Anlegestelle für Motorboote, und die anprallenden Wellen wuschen und schliffen den Beton. Auf der Anlegestelle, unmittelbar an der Wand aufgehäuft, lagen Wasserpflanzen, Schutt, Muscheln und Medusen. An einem Steg, wo Staubwirbel im Winde kreisten, blickte Sergej hinunter und blieb stehen.
Am Fuße der Wand, von Abfall und Wasserpflanzen überspült, lag die Leiche eines Säuglings. Um das Köpfchen war ein weißes Taschentuch gebunden, die Beinchen steckten in Strümpfen, die Ärmchen waren nicht zu sehen: sie waren fürsorglich mit eingewickelt in weißes Leinentuch. Das Kind war noch nicht lange tot, sein wachsbleiches Gesichtchen war glatt, wie lebendig, wie im Schlaf. Hier zwischen den Anlegestellen war es still, die Wellen brachen sich, vom Sturm zurückgeschlagen, aneinander. Warum war die Leiche so sorgsam auf Wasserpflanzen gebettet? Wessen Kind war es? Die warme Mutterhand war noch zu spüren: am Kopftuch, den eingewickelten Ärmchen, den winzigen Strümpfchen, die stramm über die prallen Beinchen gezogen waren. Sergej konnte den Blick nicht von der Leiche wenden. Ihm schien, das Kind müsste in der nächsten Sekunde die Augen aufschlagen, ihn anschauen und ihm zulächeln. Woher kam dieses Kind, dieses so erbarmungswürdige geopferte Menschlein? Von einem zerschellten Schiff? Oder hatte es eine wahnsinnige Mutter ins Meer geworfen?
Sergej beugte sich zu der Leiche hinab und konnte sich nicht losreißen. Vorübergehende traten neugierig hinzu, sahen auf das Kind hinunter und gingen sogleich weiter. Sie murmelten etwas, fragten, doch Sergej sah und hörte nichts. Er stand und sah gedankenlos hinunter, Schmerz, Staunen, Trauer in den Augen. Er hörte selbst nicht, wie er vor sich hin sprach: „So muss es auch sein. Tragödie des Kampfes. Um von neuem geboren zu werden, muss man sterben."

Wellen

Außer Gleb standen auf dem offenen Gerüst Shidki und Badjin, die Mitglieder des Betriebsgewerkschaftskomitees und Direktor Kleist. Aber Gleb fühlte sich allein, weil überall, so weit das Auge reichte, Menschenmassen wogten und brodelten und wie Sonnenblumenfelder leuchteten.
Wie Flammen flackerten rechts und links um den Fuß des Gerüsts rote Fahnen. Auch das Gerüst selbst loderte in rotem Stoff. Die Fahne der Parteizelle wehte in schweren Falten von der Brüstung auf die Menge herab, während von der anderen Seite, auf der Badjin und Shidki standen, die Fahne der Bauarbeitergewerkschaft herabfloss. Unterhalb der Brüstung zog sich ein breites hochrotes Tuch wie ein mächtiger Strom um den Turm herum, und riesige weiße Buchstaben leuchteten darauf wie Frühlingsblumen. „Wir haben an den Fronten des Bürgerkriegs gesiegt,
wir werden auch an der Wirtschaftsfront siegen."
Die Massen brodelten und wogten, rote Kopftücher flammten auf, dazwischen sonngebräunte und bleiche Gesichter, dann wieder Schirmmützen und Käppis, und überall winkten wie rote Schwingen Transparente, hinter denen die Menschen nicht zu sehen waren; aber etwas weiter war sie dann wieder da, die wallende, sich bewegende Menge. Direkt über dem Abhang, auf dem Felsen, genau solche Massen. Sie schoben sich schwankend den Hang des Berges immer höher hinauf; und auch dort oben leuchteten Fahnen und Transparente wie im Mohnfeld. Von unten aber, aus der Schlucht strömten ohne Ende neue Massen herauf. Dort in der Ferne spielte eine Kapelle einen Marsch, während hier gewaltige Bewegung und unermessliches Getöse vorherrschten.
Es war ein strahlend klarer Tag, herbstlich frisch und würzig, die Luft voll herber Kraft und die flimmernde Ferne zum Greifen nahe. Gleb blickte zu den Bergen und
zum Himmel hinauf: Dort oben zog, von hier aus nicht sichtbar, mit singendem Propeller ein Flugzeug seine Bahn; seidige Spinnwebfäden tanzten in der Bläue und blitzten wie Perlenstaub.
Glebs Hände umkrallten die Eisenstange des Geländers, die Beine zitterten ihm vor Schwäche. Wo kam diese ungeheure Menge her? Etwa zwanzigtausend waren es schon, und immer war noch kein Ende der Kolonnen abzusehen. Mindestens eine halbe Werst breit strömte es über den braunen Abhang, über Geröll und Sträucher, mündete in das allgemeine Menschenmeer und kroch immer höher und höher.
Rechts hinter dem Gerüst stand Gewehr bei Fuß ein Regiment Rotarmisten. So hat auch er, Gleb, einmal gestanden. Ist das schon lange her? Jetzt aber steht er hier: wieder als Arbeiter des Werks. Ja, des Werks! Wie viel Kraft hat es geschluckt, und wie viel Kampf hat es gekostet! Da ist es nun, das Werk: ein Mordsding und ein Schmuckstück! Vor noch gar nicht langer Zeit ein Leichnam, ein Müllhaufen, eine Ruine, ein Schlupfwinkel für Ratten, und jetzt singen die Dieselmotoren, summen die elektrischen Leitungen, spielen auf den Bremsbergen die Trossen in den Flaschen, donnern die Loren hinauf und herab. Und morgen wird die erste riesenhafte Drehofentrommel aufkreischen und sich in ihren Achsen zu drehen beginnen, und aus jenem imposanten Schornstein dort werden graue Wolken von Staub und Dampf aufsteigen.
Ist das etwa nicht Grund genug, dass diese unübersehbaren Volksmassen herkommen, um sich an dem allgemeinen Sieg zu freuen?
Was ist denn er, Gleb, in diesem Meer von Menschen? Nein, kein Meer ist es, ein lebender Berg! Was ist das für eine ungeheure Kraft! Da sind sie, die mit Spaten, Hacken und Hämmern die Berge für den Bau des Bremsberges durchstoßen haben, im Frühling, an einem ebenso klaren Sonnentag wie heute. Damals ist Blut vergossen worden.
Jetzt ist die Stadt mit Holz versorgt, und hier ist alles bereit, um das Werk in Betrieb zu setzen. Wie viel Blut fließt in dieser gewaltigen Arbeiterarmee! Das reicht auf lange Zeit hinaus. Der Verkehr funktioniert. Und bald wird auch das Werk Schiffsstahl die Arbeit aufnehmen. Die Dampfmühlen werden zischen. Und sind nicht genügend Gebirgsflüsse da, um auch Turbinen zu treiben?
Es hat einmal todbringende Nächte und Tage des Kampfes gegeben und eine Zeit, da er um sein Leben gezittert und an Dascha gedacht hat. Wie lange ist das alles her, wie fern und unwichtig! Dascha ist nicht da: sie ist in der Masse versunken, unauffindbar. Es gibt nur noch die festlich erregte Menge. Und mit seinem Herzen fühlt er Tausende von Herzen... die Arbeiterklasse, die Republik, den großen Aufbau des Lebens. Zum Teufel, ja, wir verstehen zu leiden, aber wir verstehen auch, uns zu freuen. „Tschumalow!"
Kleist stand neben Gleb, blass, streng, mit trockenen Augen. „Hermann Hermannowitsch! Lieber Freund!"
Kleist wendete sich ab und ging mit zuckenden Schultern zum anderen Ende der Plattform.
Fahnen und Transparente wehten, sich bauschend, im Winde. Lieder und Stimmengebraus erschütterten die Luft, und der Bretterboden unter Glebs Füßen schwankte. Sprechgesang tönte, und wo zum Takt klatschender Hände getanzt wurde, sah man Steine und Geröll den Hang hinabrieseln.
Loschak mit seinem Buckel, seinem rußigen Gesicht und dem ölig-speckigen Käppi war die Verkörperung des Schlossers. Gromada, der unter Schüttelfrösten litt, krümmte sich gerade in einem Anfall. Er hatte ein gelbes, fiebriges Gesicht mit scharf hervortretenden Backenknochen. Er zog Rücken und Schultern bis zu den Ohren herauf und bäumte sich vor Husten. Loschak drückte sein Käppi tief ins Gesicht und schlug Gleb mit der Hand auf den Rücken.
„Wir schaffen's, Junge ... bestimmt! Das Ding haben wir sauber hingekriegt."
Und Gromada nahm, völlig außer Atem, alle Kraft zusammen, um laut und sehr nachdrücklich zu schreien: „Also, Genossen! Wie haben wir diese einzigartige Leistung hingelegt, mich haut es fast um. Genosse Tschumalow ... ja, wenn ... na ja! Genossen ... nun — alles und überall... na, und so weiter."
Gleb konnte nicht mehr still stehen. Es zog ihn hinunter in dieses Meer von Köpfen, es drängte ihn, aus voller Kehle zu schreien — was, war gleich! War das noch auszuhalten? Dafür hatte er in all diesen Monaten gelebt. Hier war es, zusammengefasst in einer einzigen Kraft.
Er trat zu Badjin und Shidki und fragte: „Na, sollen wir anfangen, Jungs?"
Badjin streifte Gleb mit einem kalten Blick und wandte sich ab.
„Ja, wir müssen anfangen, Tschumalow. Ich werde gleich loslegen... eine Viertelstunde lang, und dann bist du dran ... irgend etwas, was besonders einschlägt... und dann gib gleich das Zeichen."
Shidki packte Gleb an den Schultern. „Ach, Tschumalow! Freund! Schade, dass wir uns trennen müssen."
„Hör auf davon — es ist schon schwer genug. Wie gut haben wir uns verstanden! Und was haben wir alles geschafft! Ich kann dich unmöglich fortlassen, Shidki, unter gar keinen Umständen. Ich fahre noch mal hin und lege ein Wort ein."
Badjin ging mit verschlossenem und kaltem Gesicht auf die Brüstung zu, und Gleb spürte wieder schmerzhaft deutlich, dass er sein unversöhnlicher Feind war.
Unten auf der Chaussee marschierten noch immer dichte Kolonnen mit Fahnen, und hinter ihnen dröhnten die Orchester, Stampfen und Lieder erschütterten die Luft.
Da stand der Mensch, mit dem er nicht auf demselben Fleck Erde zusammen leben konnte! Badjin stützte sich mit den Händen auf das Geländer. Dabei schoben sich seine Schultern bis über den Nacken hinauf. Er blickte aufmerksam auf die Massen hinab, und aus seinen Muskeln, aus jeder Kopfbewegung und aus seinem geringschätzigen Sichabsondern sprach deutlich das Bewusstsein seiner Kraft und der besonderen Bedeutung, die er sich beimaß. „Karrierist!" Gleb biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte.
Bis jetzt hatte er sich noch nicht beruhigen können über das, was im Hause der Sowjets geschehen war.
Bald nachdem Dascha von ihm fortgegangen war, hatte er eines Abends mal sehen wollen, wie es Polja und ihr ging. Der Korridor war leer und in schläfriges Halbdunkel getaucht (die Uhr auf der Treppe über der Tür zeigte elf Uhr nachts). Gedämpft drangen Stimmen aus dem Innern der Zimmer. Irgendwo klirrte Teegeschirr, und Spirituskocher summten ihr monotones Lied.
Am Ende des Korridors leuchtete matt ein helles Viereck. Das war die weit geöffnete Zimmertür von Tschibis.
In Poljas Zimmer war es still. Gleb hatte noch nicht angeklopft, als schon schnelle erschrockene Schritte auf die Tür zuschlürften (wahrscheinlich war Polja barfuss). „Hallo, wer ist da?"
Die Tür wurde mit voller Wucht weit aufgestoßen und schlug ihm schmerzhaft gegen die Schulter.
„Mensch, so was Ungeschicktes! Du kannst einen ja zum Krüppel machen. Na, guten Tag, Polja!"
Polja stand blass und außer sich vor Angst auf der Schwelle. „Gleb!"
„Was hast du denn, Mädchen? Ich will dich besuchen, und du siehst mich an wie ein wildes Tier. Nun, wie geht's? Hab dich lange nicht gesehen. Wo ist denn Dascha?"
Er trat auf sie zu und streckte die Hand aus, um sie zärtlich zu umarmen. Sie fiel zusammen, lehnte sich an den Türpfosten und lächelte kläglich.
Gleb! Ich habe mich so erschrocken! Dascha kommt gleich. Nach dem, was ich durchgemacht habe, Gleb, bin ich wirklich ... Ich habe mich ganz verloren. Es wäre besser gewesen, du wärst nicht gekommen. Weshalb hast du mir nicht früher geholfen? Warum hat alles so sinnlos und schrecklich kommen müssen? Ich bin krank, Gleb. Komm nicht mehr hierher, es quält mich. Ach, wäre ich bei einer Katastrophe dabei gewesen und die Trümmer hätten mich erdrückt."
Gleb sah sie bestürzt an und wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte weder die alte Zärtlichkeit noch Anteilnahme für sie; sie war zu hilflos. Von der früheren Lebensfreude des Lockenkopfes war nichts mehr zu spüren.
„Ich muss fort von hier, Gleb — muss ausruhen und Kräfte sammeln. Männer haben so viel Schreckliches, Gleb. Mir kommt es jetzt vor, als sei jeder von euch ein Badjin. Bitte, Gleb, geh. Jetzt nicht, später. In einer anderen Umgebung. Warum hast du mir damals nicht gegeben, was ich wollte? Vielleicht wäre mir dann das nicht passiert."
Sie lächelte verloren, erschrocken, und in ihren Augen glänzten Tränen. „Da ist Dascha! Da ist sie ja! Bitte, Dascha, nimm ihn und bring ihn möglichst weit fort."
Dascha fasste Gleb an den Schultern und zog ihn von der Tür, die sie dann gleich sorgfältig hinter Polja schloss.
„Na, du alter Krieger, komm! Lass uns ein wenig Spazierengehen und schwatzen. Es ist nett, dass du vorbeigekommen bist."
Im stillen fühlte er sich bitter gekränkt, konnte aber die Freude, in Daschas Nähe zu sein, nicht verbergen. Er presste ihre Finger und lächelte.
„Na, wann kommst du nach Hause, Dascha? Sonst brenn ich noch meine Bude ab und siedele hierher über."
Sie antwortete nicht sofort, und an diesem kurzen Schweigen merkte Gleb, dass ein schwerer Kampf und Aufruhr in ihrem Innern tobte. „Sprich vorläufig noch nicht davon, Gleb."
Sein Herz zog sich schmerzlich zusammen, und er konnte ein Stöhnen kaum zurückhalten.
„So. Das habe ich schon geahnt. Ihr habt mich bloß vertröstet und zum Narren gehalten. Und Badjin ist ein Schuft und ein Bandit. Den werde ich schon noch stellen bei passender Gelegenheit. Er hat dich und die Mechowa kaputt gemacht."
„Gleb, begreif doch endlich, dass wir so nicht weitermachen können. Weshalb sollen wir uns unser Leben vergiften? Denk doch daran: durch dich sind alle unsere Nächte zur Qual geworden. Aber ich kann so nicht. Ich möchte auf neue Art leben. Nimm mich so, wie ich bin. Nur so eine Liebe kann ich brauchen. Du bist mir lieb als der, den ich kenne, und ich pfeife auf das, was du ohne mich erlebt hast. Aber du achtest mich nicht, du trittst auf mir herum. Ich kann so nicht. Und Badjin lass aus dem Spiel, er hat damit nichts zu tun."
„Dascha, ich bin jetzt wie ein herrenloser Hund. Meine ganze Seele habe ich in das Werk gelegt. Ich werde in die Armee gehen."
Dascha streichelte zärtlich lächelnd seine Brust.
„Na, Gleb, wir werden eben noch ein wenig leiden und uns ein bisschen quälen müssen. Was können wir tun, da alles so gekommen ist? Einmal wird es eine Zeit geben, in der wir uns ein neues Leben aufbauen werden. Alles wird in Ordnung kommen, inzwischen werden wir darüber nachdenken, wie wir zueinander stehen und wie wir neue Beziehungen zueinander anknüpfen können. Wir gehen ja nicht auseinander, Gleb. Wir behalten einander im Auge ... und werden zusammen sein ..."
Rasend vor Sehnsucht, stieß er ihre Hand von sich und ging auf den Ausgang zu. Dabei prallte er fast auf Badjin, der in seiner Zimmertür stand und Gleb ansah. In seiner glänzenden Lederjacke, die Hände tief in den Taschen vergraben, stand er da.
„Komm rein, Tschumalow! Du bist noch nicht ein einziges Mal bei mir gewesen. Ich hätte Lust, mal ganz offen mit dir zu sprechen."
Gleb blieb vor ihm stehen und starrte ihn an. Seine Finger glitten nervös und fahrig über das Koppel, über die Hüfte, über die Revolvertasche und konnten nirgends einen Halt finden.
„Du suchst am unrechten Ort. Der Revolver ist an seinem Platz. Du brauchst dich nicht zu beunruhigen, die Revolvertasche ist gut verschlossen."
In dem letzten Blick, den Gleb von Badjin auffing, sah er einen Funken von unauslöschlichem Hass. Badjin drehte sich langsam um und ging mit schweren Schritten in sein Zimmer. Auf seinem ausrasierten Nacken bewegten sich bei jedem Schritt geschmeidig dicke Muskelstränge.
Da hatte Dascha Gleb sanft am Arm genommen und ihn den Korridor entlanggeführt.
„Geh, Gleb, geh, Lieber. Ich komme zu dir ... ich komme bestimmt... morgen komme ich. Geh, beruhige dich."

Und auch jetzt spürte Gleb in dem glattrasierten Genick Badjins unter der flachen Pelzmütze eine Herausforderung. Dieses Genick schrie geradezu nach einer Kugel.
Shidki stand vor Gleb und blähte die Nasenflügel vor verhaltenem Lachen. „Was ist mit dir? Hat's dir die Sprache verschlagen?"
Er zog ihn zur Brüstung.
Es dauerte lange, bis sich die Massen geordnet hatten und bis das wie in Wellen versiegende Stimmengewirr völlig verebbt war. Auch Gesang und Musik verstummten.
Dann sprach Badjin, kalt, prägnant und routiniert.
Lässt sich überhaupt wiedergeben, was Badjin sagte? Er erwähnte alles, was zu einem Feiertag gehört: die Sowjetmacht und die Neue Ökonomische Politik, den sozialistischen Aufbau und den Genossen Lenin, die Kommunistische Partei Russlands und die Arbeiterklasse. Und dann kam er zum Wichtigsten. Etwa folgendermaßen:
„... Und einer unserer Siege ist der Sieg an der Wirtschaftsfront, ein gewaltiger, übermenschlicher Sieg ist die Inbetriebnahme unseres Werkes, dieses Giganten der Republik. Ihr wisst, Genossen, wie wir unseren Kampf begonnen haben. Im Frühjahr sind wir in organisierter Kraft zum ersten Mal mit Hacken und Hämmern dem Berg hier zu Leibe gegangen. Dieser unser erster Schlag brachte uns den Bremsberg und Brennmaterial. Die Arbeiter der Baugewerkschaft haben dann den Hammer nicht mehr aus der Hand gelegt, und so haben sie, Schlag für Schlag, unser Leben und das ganze komplizierte System dieser kolossalen Anlage geschmiedet. Am heutigen Tag, dem vierten Jahrestag der Oktoberrevolution, feiern wir einen neuen Sieg an der Front der proletarischen Revolution. Im Kampf bringt die Arbeiterklasse ihre Organisatoren und Helden hervor. Können unsere Arbeitermassen jemals den Namen des Kämpfers, des roten Soldaten, der sein Leben selbstlos der Revolution widmete, den Namen des Genossen Tschumalow vergessen? Auch hier, an der Front der Arbeit, ist er der gleiche aufopfernde Held, der er auf den Schlachtfeldern gewesen..."
Mehr war nicht zu verstehen, alles andere ging im Getöse unter. Der Berg schien sich von seinem Platz zu bewegen und mit schrecklichem Gepolter auf Gleb niederzustürzen. Brüllen, Heulen und gewaltiges Getöse, dass die Erde bebte.
Das Gerüst zitterte und schwankte, als wäre es aus Draht. An verschiedenen Stellen dröhnten die Blechorchester.
Gleb stammelte, blass und erschüttert, zusammenhanglose Worte, geriet außer Atem, fuchtelte mit den Händen und musste unaufhaltsam lachen. „Los, sprich. Du hast das Wort, Tschumalow!"
Wozu sollte er reden, da doch alles auch ohne Worte klar war? Er brauchte nichts. Was lag an seinem Leben, das doch nur ein Wasserstäubchen in diesem Meer von menschlichem Leben war? Wozu denn sprechen, da doch seine Zunge und seine Stimme hier gar nicht vonnöten waren? Er hatte keine Worte, hatte kein eigenes Leben außerhalb dieser Massen. Er wusste nicht, was er sprach, Seine Stimme kam ihm schwach, verkrampft und klanglos vor, aber in Wirklichkeit wurden seine Worte, vom Echo verstärkt, laut hallend über den ganzen Berghang getragen.
„Es bedarf keiner Anerkennung, Genossen, dass wir uns mit dem Aufbau unserer proletarischen Wirtschaft herumschlagen. Das ist unser Wille ... unser Kampf. Darin sind wir ... sind wir alle ... uns einig. Wenn ich ein Held bin, dann sind wir alle Helden. Und wenn wir unsere Kräfte nicht bis zum Heldentum steigern, dann gehören wir alle am Glockenturm aufgehängt. Aber eins will ich sagen, Genossen: Wir werden alles tun und schaffen, weil uns die Partei und unser Lenin dazu aufgerufen haben. Und wenn wir noch ein paar mehr solcher technischen Leiter hätten wie unseren Ingenieur Kleist und von einigem anderen noch ein bisschen mehr, dann würden wir wahre Weltwunder schaffen. Wir haben uns mit unserem Blut eingesetzt und mit unserem Blut die ganze Erdkugel entflammt. Nachdem wir nun im Feuer gestählt sind, müssen wir uns der Arbeit zuwenden. Unsere Hirne und Hände zittern. Aber nicht vor Anstrengung, sondern weil sie nach neuer Arbeit dürsten. Wir bauen den Sozialismus, Genossen, und unsere proletarische Kultur. Vorwärts zum Sieg, Genossen!"
Gleb ergriff eine rote Fahne und schwenkte sie über der Menge. Und zugleich seufzte es in den Bergen auf, und die Luft füllte sich blitzschnell mit metallischem Brüllen. Sirenen sangen — eine, zwei, drei. Gleichzeitig und einander übertönend, rissen sie am Trommelfell. Und nicht die Sirenen, sondern die Berge, die Felsen, die Menschen, die Gebäude und die Schlote des Werkes schienen zu singen.
1922—1924

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur