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Fjodor Gladkow - Zement (1925)
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XV. Kesselstein

Alltag

Den ganzen Sommer gab es keinen Regen. Der Himmel über der Bucht war rostig, und hinter den Molen hingen über dem Meer irisierende Luftspiegelungen, in denen Segelboote, Feluken und ferne Sandbänke miteinander verschmolzen. An den Ufern war das Meer grün und durchsichtig. Leichte Wellen kräuselten seine Fläche, auf der Ölflecke in allen Regenbogenfarben schimmerten und unter der Medusen schwebten und sich Wasserpflanzen wanden. Eine schwache, nach Schwefelwasserstoff und Mollusken riechende Brise wehte auf die Stadt zu. Es gab keinen Horizont mehr: See und Himmel verschmolzen zu einem einzigen Luftozean. Die Berge dampften vor Hitze und glänzten im Grün der Waldschluchten. Grat und Hang waren in flimmernden, fliederfarbenen Dunst gehüllt und spiegelten sich nicht mehr im Meere. Der halbkreisförmige Strand wimmelte tagsüber von Menschen: sie tummelten sich im Wasser, krochen auf den Steinen, Kieseln und Muscheln umher.
In der Stadt herrschte eine unerträgliche Glut, die von Steinen und Metall, vom Pflaster der Straßen und Staub der Plätze ausströmte. Die Leute erstickten von der Schwüle und wurden vom Geflimmer der Bürgersteige, der Mauern und der erhitzten Luft geblendet. Selbst auf den schattigen Boulevards war einem der Mund wie ausgetrocknet, heißer Wind verbrannte einem das Gesicht, und die Blätter der Akazien rochen nach schwelendem Moder. Die Straßen
waren ausgestorben und vibrierten in spiegelnder Ferne. Die Menschen schienen vor dieser Höllenglut geflohen und das Leben mit seiner Geschäftigkeit und seinem Müßiggang stehen geblieben zu sein. Nur hier und da schlichen, Aktentaschen unterm Arm, halbnackte, sonnenverbrannte Schatten dahin, die erschöpft gegen die Schwere ihrer Beine ankämpften.
Die Geschäfte prunkten mit eleganten Auslagen. Aus den weitgeöffneten Türen der Cafes drang dumpfes Stimmengewirr, man vernahm das Geräusch rollender Würfel, den Gesang geisterhafter Geigen und das Seufzen des Klaviers.
Der Speisesaal der Volksküche im Hause der Sowjets roch in diesen Tagen zum ersten Mal wieder nach Borstsch mit Fleisch, nach Tomatensoße und Gemüse. Doch der abgestandene Geruch nach Graupen haftete immer noch trostlos und ekelerregend an Tischen, Wänden und Geschirr und vergiftete den Duft des Fleisches und der Bratkartoffeln mit Zwiebeln.
Um die Mittagsstunde versammelten sich dort im Speisesaal des Hauses der Sowjets alle leitenden Funktionäre der Stadt. Essengeruch, lebhafte Unterhaltung und das Geklapper von Tellern und Bestecken füllten den Raum. Durch die offenen Fenster brannte die Sonne, und die Luft innen war dunstig blau von Staub und Tabakrauch.
Badjin speiste immer an einem Tisch mit Schramm und dem Leiter der Abteilung Gesundheitswesen, dem dicken Doktor Suksin (hinter seinem Rücken wurde er „sukinsyn" — Hundesohn — genannt), einem schweigsamen Mann, immer schüchtern und verängstigt, geistesabwesend und zerstreut. Schmerbäuchig, unrasiert, mit borstigem Rosshaar auf dem Schädel, sah er Badjin verwirrt in die Augen und verstand nie, wovon der Vorsitzende des Exekutivkomitees oder die anderen Tischgenossen sprachen; beflissen pflichtete er allen bei, und seine Stimme schien nicht aus der Kehle, sondern aus dem Bauch zu kommen.
„Joo ... jo-joo."
Das Sprechen fiel ihm schwer, weil seine Zunge viel zu groß war: sie hatte keinen Platz im Munde und kroch bei jedem Wort wie eine Schnecke heraus.
Oft setzte sich der Kommissar für Versorgung Chapko an ihren Tisch, der einem Dorfkulaken ähnlich sah — rundlich, flink und aufgeweckt wie ein Spatz. Er aß lange, länger als die anderen, denn er fand einfach nicht Zeit dazu: dauernd warf er strenge, misstrauische Blicke um sich, beobachtete alle, passte auf, wie jeder aß, fuhr oft vom Tisch hoch und steckte überall seine Nase hinein, mal in die Küche, mal in den Spülraum, lief zu den Nachbarn, die unsauber gegessen hatten, oder zu den „sowjetischen Fräulein", die ihre Kavaliere mit Brotkrumen bewarfen.
Seine Stimme hatte einen Sprung; wie ein Messer auf dem Schleifstein kreischte er in der Küche: „He, ihr! Warum sind die Portionen so klein? Ihr klaut wohl zuviel! Gesindel! Ich mache kurzen Prozess mit euch! Immer feste! Gleich morgen schicke ich euch die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion auf den Hals."
Oder er kreischte vor den Tischen im Saal: „Immer feste, Genossen! Ihr meint wohl, das Versorgungskomitee ist dazu da, damit ihr das Brot auf Tisch und Fußboden werfen könnt? Bitte, meine Dämchen! Das ist hier kein Tingeltangel, und Separees haben wir auch nicht."
Sooft Chapko im Speisesaal erschien, gab es Zank und lärmende Skandalszenen wie auf dem Markt.
Zum Abendessen gingen einige nicht in den Speisesaal: da versammelten sie sich in Schramms Zimmer (einem Raum mit Teppichen, Fellen und weichen Polstermöbeln). Oft saßen sie bis zur Morgendämmerung zusammen; was sie aber in Schramms Zimmer trieben, erfuhr niemand. Morgens fanden die Putzfrauen vom Haus der Sowjets Flaschen unter dem Tisch, fegten Wurstpellen und Konservenbüchsen aus, und die Luft im Zimmer stank nach Zigarettenstummeln und Bier.
Da geschah es, dass einige Abende hintereinander sich ein Mann von kaukasischem Aussehen, mit vorquellenden rotgeäderten Augen und einer Hakennase vor Schramms Tür postierte. Das war Zcheladse. Er hatte einst tapfer bei den Partisanen mitgekämpft, und seine Abteilung war als erste in die Stadt eingerückt. Jetzt aber versauerte er in einem Büro des Versorgungskomitees. Barfuss, in seiner zerschlissenen Feldbluse, die noch aus der Partisanenzeit stammte, stand er stundenlang geduldig und schweigsam vor der Tür und lauschte den Stimmen dahinter. Wurden hinter der Wand Schritte laut, kehrte Zcheladse die krummen Schultern der Tür zu und trat beiseite. Wenn sich die Tür auftat und einer von den vieren mit verquollenen Augen zur Toilette ging, spähte Zcheladse durch den Spalt ins Zimmer und suchte gierig etwas von dem Geheimnis zu erhaschen, das Schramms behagliches Nest barg. Man beachtete ihn nicht, ging an ihm vorbei und machte sich keine Gedanken darüber, warum wohl Abend für Abend dieser Georgier hier stehen mochte. Es liefen ja so viele Menschen durch die Flure des Hauses der Sowjets; unterschied sich etwa Zcheladse in irgend etwas von all den anderen Leuten, die sich dort drängten?
Eines Abends jedoch wurde er vom Kommissar für Versorgung Chapko ertappt und zur Rede gestellt.
Zcheladse hatte nicht rasch genug zur Seite treten können (Chapko hatte einen Gang wie ein Spatz), und sie waren fast mit den Nasen zusammengestoßen. „Immer feste! Was machst du hier, du Affengesicht? Spionieren?"
Zcheladse begehrte auf, aus seinen Augen sprühte Hass. „Whas heißt — immer feste? Whas mhachst du hir?... Whas für Polietiek threibst?... Bitte sag ..."
Chapko krallte sich in Zcheladses Feldbluse und holte mit der Faust aus. Zcheladse verhedderte sich in der eigenen Hose, taumelte zur Seite und schlug mit dem Kopf an die Wand.
„He, du! Das ist hier kein Zarenregime, verfluchter Lump! Für diese Mätzchen schmeiß ich dich gleich morgen aus der Partei!"
Zcheladse klebte an der Wand, betäubt, mit ausgebreiteten Armen, und starrte voll ohnmächtiger Wut Chapko an. Badjin kam heraus.
„Was ist los?"
„Er spioniert, das Mistvieh! Denkst wohl, du Affengesicht, die Sowjetmacht sei dazu da, damit du ihre leitenden Funktionäre bespitzeln kannst? Nimm ihm sein Parteibuch ab, Vorsitzender! Ist doch nicht zu glauben!" Badjin sah Zcheladse aus übernächtigen Augen fest an.
„Ich kenne dich, Zcheladse. Chapko lügt. Na ja, wir haben eine kleine Sauferei gehabt. Er hat zuviel Schnaps getrunken und ist nicht mehr klar im Kopf."
Chapko quiekte verblüfft auf, verschluckte sich und klatschte sich mit der Hand auf den Hinterkopf.
„Immer feste, Vorsitzender! Bist du verrückt geworden?"
„Sprich, Zcheladse. Ich weiß im voraus, was du sagen wirst. Also sprich, offen, ehrlich und geradezu!"
Zcheladses Lippen zitterten, er schwitzte vor Anstrengung und Qual.
„Ja, ich rhumghangen... rhumghangen und gehorcht, ja!... Rhumghangen, ghucken, wie du threiben Arbheiterpolietiek... Whas mhachst du? Wharum der Lhump bei dir? Wie verstehst du Arbheiter? Whas khennst du Vherfall? Hunger khennst du? Blut khennst? Wharum du nicht schämst? Ach, Ghenosse!"
Badjin stand vor Zcheladse und hörte ihm aufmerksam und streng zu. Chapko lachte trunken.
Badjin legte Zcheladse die Hand auf die Schulter. „Geh nach Hause, Genosse Zcheladse. Morgen erhältst du eine Einweisung ins Sanatorium, du musst ein wenig zu Kräften kommen. Du siehst, ich mache kein Geheimnis aus dem, was ich tue, du brauchst die Genossen nicht zu beobachten.
Auf diesem Gebiet ist bei uns alles tadellos organisiert, und es braucht da keiner hineinzupfuschen. Geh! Du siehst, ich verheimliche es dir nicht: Wir haben wirklich gesündigt."
Er wandte sich ab und ging in Schramms Zimmer. Chapko musterte Zcheladse noch einmal finster von Kopf bis Fuß und steckte, Badjin nachahmend, die Hände in die Jackentaschen — dadurch sah er noch kleiner und runder aus.
„Gemach, Freundchen, dich werde ich mir schon kaufen." Erschöpft taumelte Zcheladse wie ein Kranker durch den Korridor und streifte mit der Schulter die Wände. Vor Shidkis Tür stockte er. Er wusste selbst nicht — hatte er die Tür aufgemacht oder war sie schon offen gewesen, er fühlte nur, wie eine Hand ihn am Arm nahm und ins Zimmer zog. Er blieb an der Schwelle stehen und sah einen verschwommenen Schatten, der die Glühbirne über dem Tisch verdeckte. Der Schatten ging schweigend vorbei, und die Glühbirne flammte wieder auf und beleuchtete ein schmutziges leeres Hotelzimmerchen mit Schimmelflecken an den Wänden.
„Na komm, setz dich, Zcheladse. Erzähl' mir, was da passiert ist."
Shidki fasste ihn wieder unter, führte ihn zum Tisch und drückte ihn auf einen Hocker nieder; er selbst setzte sich nicht, sondern blieb vor Zcheladse stehen, ein wenig erstaunt, seine Nasenflügel waren bleich, und seine Brauen zuckten vor unterdrücktem Lachen. Zcheladse blickte mit flehenden, wütenden Augen zu ihm auf. Er schlug sich mit der Faust aufs Knie, sprang auf, sah Shidki durch Tränen an und setzte sich wieder.
„Ghenosse Shidki! Schießen mhuß du... alles schießen, Ghenosse Shidki. Mhich schießen, dhich schießen. Sag mhir, whas ist Rhichtung jetzt in Lheben? Sag mhir, wie mhuß man Arbheitersache machen? Blut habe vergossen, zehn Whunden gehabt. Und whozu mein Blut? Whozu Hunger? Whozu — alles kaputt? Whozu ist Partei, Ghenosse Shidki? Khann nicht sehen so ein Schmutz und Ghemeinheit... khann nicht sehen."
Shidki ging schweigend vor Zcheladse auf und ab, erregt, mit eingefallenem Gesicht, müden Augen. Alle paar Sekunden fuhr er sich durch die Haare. Dann trat er zu Zcheladse und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er hätte ihn so gern durch seine stumme Anteilnahme beruhigt, aber er konnte sein Gefühl nicht ausdrücken; seine ungewohnte Zärtlichkeit machte ihn verlegen, und er lachte schüchtern und verschämt auf.
„Bist ein ulkiger Kauz, Zcheladse! Warum stimmst du wegen jeder Kleinigkeit ein Geheul an? Hol sie doch der Teufel! Tu deine Pflicht und denk daran, dass du der Republik mehr wert bist als sie alle zusammen. Pfeif darauf, wenn du sie nicht selbst beim Kragen nehmen kannst, oder schlag sie auf Parteiebene, ohne deine Kräfte dabei zu schonen."
Zcheladse hatte Shidki flehend und verzweifelt angestarrt, nun winkte er ab und stützte den Kopf auf die Hände.
Shidki aber ging im Zimmer auf und ab und sah Zcheladse nicht mehr an. Grübelnd kaute er an seinen Fingernägeln, bald an der einen, bald an der anderen Hand.
„Hier geht's um anderes, Zcheladse: nicht um dich. Du bist dabei belanglos. Wir sind hier in einen furchtbaren Strudel geraten. Es naht eine noch schrecklichere Heimsuchung als Bürgerkrieg, Zerrüttung, Hunger und Blockade. Ein verborgener Feind steht uns jetzt gegenüber, der nicht mit dem Gewehr gegen uns angeht, sondern mit allen Reizen und Verlockungen des kapitalistischen Krämertums. In unseren Händen befindet sich das ganze System der Volkswirtschaft. Das ist viel. Aber aus den Tiefen kriecht der Spießer wieder hervor, setzt wieder Fett an und tritt in verschiedener Gestalt auf. Auch in unseren eigenen Reihen baut er sich schon sein Nest und verschanzt sich fest und sicher hinter revolutionärer Phrase und allen möglichen Attributen des bolschewistischen Heldentums. Markt, Cafes, Schaufenster, Delikatessen, Gemütlichkeit, Alkohol.
Der Druck der Kriegsverhältnisse ist gewichen, und die Menschen sind drauf und dran, die Fesseln abzustreifen. Da kann schon Panik entstehen, Kurzschluss, Aufruhr. Und nicht etwa, weil man die Revolution satt hat — nein, aus gesundem revolutionärem Protest, stark entwickeltem Klasseninstinkt, Kampfesromantik. Aber gerade hier taugen die alten Kampfmethoden nicht mehr. Der Feind ist niederträchtig, verschlagen, ungreifbar. Es müssen neue Waffen geschmiedet werden für eine neue Strategie. Mit bloßer Empörung und Rebellion lässt sich hier nichts ausrichten — die gelten schon als Reaktion und Hysterie. Wir müssen uns völlig umkrempeln, müssen uns umschmelzen, den Bolschewiken in uns umschmieden und uns auf einen lang währenden Belagerungszustand einrichten. Die Romantik der stürmischen Frontzeit ist tot. Jetzt brauchen wir keine Romantik, jetzt brauchen wir nur besonnene, kühle, hartnäckige Menschen mit kräftigen Zähnen, Stiermuskeln und gesunden Nerven. Man muss Bolschewik sein bis zur letzten Konsequenz, Zcheladse. Beruhige dich, Genosse, lass uns gemeinsam über die eine oder andere Frage nachdenken, die eine angestrengte Gehirnarbeit erfordert."
Zcheladse hörte angespannt zu, seine niedrige Stirn unter den herabgerutschten Strähnen war tief gefurcht. Er gab sich alle Mühe, Shidkis Worte zu fassen und zu verdauen.
Schließlich raufte er sich wütend die schweißnassen Haare und schüttelte den Kopf.
„... N-nichts verstheh. Whas schwafelst? Mheine Sheele einfach und mheine Whorte einfach. Sag: wharum du Kopf verdrehst? Whas antwhortest du?... Ich ghelitten, ja? Ghrüner Partisan gewesen, ja? Wheiße gheschlagen, ja? Hab Arbheitersprache, Arbheiterblut, ja? Und who Blut,
he?... Hunde ghefressen. Sag — ist nicht so, ja? Ganz ghemeiner Mhensch gekhommen, Schuft. Du verstehst? Nichts mehr da... Ghenug!"
Er stand auf und ging rasch aus dem Zimmer. Shidki horchte noch lange Zcheladses Schritten nach, dann begann er wieder auf und ab zu gehen und an den Fingernägeln zu kauen, bald an der einen, bald an der anderen Hand.
Er konnte nicht verwinden, was geschehen war. Dabei hatte es sich, besah man den äußeren Ablauf der Dinge, um etwas gehandelt, was auch früher gang und gäbe gewesen war. Auch früher waren unangemeldet Genossen aus dem Büro des Gebietskomitees des ZK gekommen und hatten die Arbeit des Bezirkskomitees scharf kritisiert. Das war natürlich und notwendig gewesen. Genau wie früher hatten die leitenden Funktionäre den offiziell-kühlen Genossen aus dem Gebietskomitee mit konzentriertem Schweigen und achtungsvoller Aufmerksamkeit empfangen; und genauso unpersönlich hatte auch das Ritual der Sitzungen begonnen. „Werte Genossen!"
Doch dann hatte sich neulich unter der abgegriffenen Maske sachlichen Anstandes etwas abgespielt, was ganz unverhofft gekommen war und weh getan hatte.
Die berüchtigte Enteignungsgeschichte ... davon war am wenigsten die Rede gewesen. Jede Sitzung in Anwesenheit des weißblonden Intellektuellen vom Büro des Gebietskomitees hatte in einer Kette explosionsartiger Zusammenstöße zwischen ihm, Shidki (Luchawa griff auch ein) und Badjin bestanden. Vernichtende Kritik des weißblonden Genossen an der Arbeit des Bezirkskomitees, Gebietskontrollkommission, Anspielungen auf Versetzung in untergeordnete Organe.
Waren das Intrigen, oder bekämpften sich hier zwei entgegengesetzte Kräfte? Der Genosse vom ZK nannte es Intrige, und alle anderen nannten es ebenso. Das war ja
am einfachsten! Jedermann hockte in seinem Winkel und lauerte auf den Ausgang des Kampfes. Man klatschte. Man spaltete sich in feindliche Lager.
Als Besiegter aus diesem Kampf hervorgehen und sich dabei im Recht wissen — das wäre gar zu schmerzlich, dazu durfte es nicht kommen, das wäre das Ende. Wer versagt, wird zermalmt. Kampf bis zum Ende — unermüdlicher, verbissener, angespannter Kampf, bei dem jede Waffe recht sein, jeder Fehler und jede schwache Seite des Gegners ausgenutzt werden musste.
Badjin focht geschickt: virtuos führte er seinen bürokratischen Apparat ins Feld, seine administrative Erfahrung und sein Fingerspitzengefühl. Man musste ihm von einer anderen Seite beikommen. Wer sich auf die breiten Massen stützt, ist nicht immer stark. Die Massen sind ein zweischneidiges Schwert: Man kann Führer der Massen sein, kann aber auch ihr Opfer werden, ein Sklave der Masse und Demagoge. Er, Shidki, stand den Massen nahe. Badjin aber stand darüber, war losgerissen von den Massen. Dennoch war ihm vom Genossen des ZK Badjin als Vorbild hingestellt worden. Shidki wird die Worte nie vergessen.
„Sie sind noch ein verhältnismäßig junges Mitglied der Partei: Ihnen fehlt es noch an der nötigen Ausdauer, an klarer Einsicht in die jeweilige Forderung des Tages und an einer durchdachten Arbeitsmethode; und deshalb machen Sie oft Dummheiten. Genosse Badjin hat die Hohe Schule der Partei- und Sowjetarbeit durchlaufen, Sie könnten viel bei ihm lernen. Warum haben Sie es nicht verstanden, Ihre Handlungen aufeinander abzustimmen und die objektive Lage richtig zu analysieren? Warum haben Sie statt dessen die Geschehnisse forciert, die eigentlich in einer anderen Richtung und einer anderen Form hätten vor sich gehen müssen? Ich sage Ihnen das alles, weil das ZK Sie trotzdem als befähigten Mitarbeiter schätzt und Ihre Treue zur Partei kennt."
Trotzdem. Dieser weißblonde Intellektuelle nahm sich
eine zu verantwortungsvolle Rolle heraus, wenn er im Namen der Partei sein Mentor sein wollte. Alle diese Eintagshelden waren weniger bedeutend und nicht so gefährlich, wie es bisweilen schien.
Klar war aber eins: Romantik gab es nicht mehr. Die Romantik war gestorben und gehörte der Vergangenheit an. Die feierlichen Taten der Revolution waren Geschichte geworden, die aufrüttelnden Hymnen verklungen. Nicht Taten — sondern Tätigkeit! Man musste sich auf eine andere Stromstärke umschalten, um aus jeder Tatsache eine gefügige, verlässliche Waffe für den alltäglichen Kampf machen zu können.
Shidki wusste, was in Schramms Zimmer vorging, wusste, warum Schramms Zimmer voller Teppiche und Polstermöbel war, wusste, dass Schramm den Gaunereien in der Kreisforstverwaltung gegenüber die Augen zugedrückt hatte, Shidki wusste das, aber er schlug keinen Alarm, um die Parteiarbeit nicht zu desorganisieren. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit zu einem raschen, treffsicheren Schlag. Romantik gab es nicht, Romantik — das war gestern. Heute wurde kalt berechnet.
Aber warum eigentlich nicht heute schon den ganzen Dreck des Spießeralltags hervorkehren, der sich hinter Schramms Zimmertür verbarg? Warum nicht all die Anweisungen auf Wurst, Schinken, Konserven und Sprit, der der Abteilung Gesundheitswesen gehörte, ausgraben? Warum Schramm, diesen Feind, nicht an der Gurgel packen? Und mit ihm ...
Shidki trat auf den Korridor und ging nägelkauend auf den Lichtschein zu, der aus dem offenen Zimmer des Genossen Tschibis leuchtete.

Ein schwieriger Übergang

Gleb hatte es durchgesetzt, dass der Wirtschaftsrat ein Referat über die teilweise Inbetriebsetzung des Werkes in die Tagesordnung der Versammlung aufnahm. Die Lager standen leer. Der Vorrat an Daubenholz reichte mindestens für hunderttausend Fässer. Man konnte sofort mit dem Vermahlen des Klinkers beginnen und in einem der Öfen Zement brennen. Rohmaterial lag zu Tausenden von Quadern in den Steinbrüchen. Man brauchte nur eine zweite Bremsbergstrecke zu legen. Die erste sollte auch weiterhin dem Holztransport dienen.
Gleb hielt das Referat; Ingenieur Kleist war als Experte geladen.
Schramm widersprach kalt und tonlos, redete wieder von Produktionsplan, von festem Verwaltungsapparat, vom Industriebüro und von der Hauptverwaltung Zement. Badjin saß in gewohnter Positur da. Auf den Tisch gestützt, betrachtete er unter den Brauen hervor Gleb, Schramm und Kleist. Es ließ sich nicht erkennen, wie er zu dieser Frage stand: ob er für Gleb oder für Schramm war. Shidki und Luchawa sprachen kurz und entschieden für die Annahme des Antrags und schlugen eine Resolution vor: „Unverzüglich mit den Vorarbeiten zur Wiederaufnahme der Produktion beginnen."
Badjin lehnte sich im Sessel zurück, lächelte und warf Gleb zum ersten Mal einen kurzen, freundschaftlichen Blick zu.
„Andere Vorschläge sind nicht eingegangen. Über den Antrag des Genossen Luchawa brauchen wir nicht abzustimmen, da keine Einwände bestehen."
Schramm saß steif wie eine Wachsfigur und quarrte eigensinnig mit dumpfer Bauchrednerstimme: „Ich bleibe bei meiner kategorischen Ablehnung." „Der Antrag ist angenommen. Genosse Schramm hat nichts Wesentliches eingewendet."
Badjin sah an Schramm vorbei und sprach kühl und sachlich weiter: „Es hat sich zu erweisen, wie unter den Bedingungen der Neuen Ökonomischen Politik die Produktivkräfte unserer Republik wiedererstehen und wachsen. Die Inbetriebnahme des Werkes ist eine aktuelle Frage geworden. Es gilt jetzt, alle Kräfte für den wirtschaftlichen Wiederaufbau anzuspannen. Die Produktion unseres Werkes könnte selbst beim heutigen Stand der Produktivkräfte die bautechnischen Bedürfnisse der Großstädte und der Industriebezirke befriedigen. Die Frage ist entschieden. Erforderlich ist nur noch die Ausarbeitung der Details. Du willst etwas sagen, Genosse Tschibis?"
Tschibis saß in einem dunklen Winkel am Tisch. Gegen Schläfrigkeit und Langeweile ankämpfend, sah er durch halbgeschlossene Lider auf Schramm.
„Ja. Ich meine auch, Schramm hat nichts einzuwenden. Schramm kann gar keine Einwände machen; auch wenn's euch so scheint, als täte er's, glaubt euren Ohren nicht! Einen Schramm gibt's nicht mehr: Schramm, das ist ein Anachronismus."
Er erstarrte wieder in blinder Langeweile und Müdigkeit.
Gleb sah, wie Schramms wabbeliges Weibergesicht zuckte und plötzlich alt wurde und seine Augen sich trübten.
Luchawa brachte einen Antrag ein: „Genosse Tschumalow soll beauftragt werden, zum Industriebüro zu fahren; er soll dort auf schnellste Bestätigung unseres heutigen Beschlusses dringen und erwirken, dass unser Betrieb bevorzugt mit dem notwendigen Material beliefert wird."
Gleb trat zu Ingenieur Kleist, nahm seinen Arm und lachte. „Ich fahre — das ist so sicher, wie zwei mal zwei vier ist. Und einen Krach werde ich dort schlagen, im Industriebüro! Kommen Sie, Hermann Hermannowitsch! Genossen, das ist kein Ingenieur, sondern pures Gold. Ein hervorragender Spezialist unserer sozialistischen Sowjetrepublik. Tja, man muss es nur verstehen, die richtigen Leute zu finden!"
Am nächsten Tage fuhr Gleb ab; er hatte versprochen, in einer Woche wieder zurück zu sein.
Im Werk wurden Gebäude, Gleisanlagen, Maschinen und technische Einrichtungen verschiedener Hallen instand gesetzt. Vom frühen Morgen bis vier Uhr nachmittags war die glühende, mit Staub und Zikadengezirp gesättigte Luft zwischen Werk und Gebirge erfüllt vom Dröhnen des Metalls, vom Surren der Drehbänke, vom Kreischen der auf und ab sausenden Loren und vom Brummen, das aus den Fenstern des Kraftwerkes drang.
Auf dem Bremsberg kreisten nach wie vor tagaus, tagein die Loren, und die Stahlseile pfiffen über die Winden. Am Kai rollten Züge. Rangierloks schrieen, Holzklötze fielen wie Schüsse krachend in leere Waggons.
Im glitzernden Hafen lagen einsame, trübselige Dampfer und wussten wohl selbst nicht, worauf sie warteten.
Dascha verbrachte ihre Tage im Frauenausschuss, auf Sitzungen und Dienstreisen. Lisaweta versammelte einmal wöchentlich die Frauen im Theatersaal des Klubs, und dort diskutierten sie dann bei offenen Fenstern bis in die Nacht hinein, und das vielstimmige Geschrei störte die andachtsvolle Stille der bewaldeten Schluchten.
Wenn sie im Dunkeln nach Hause gingen, schrieen sie weiter aufeinander ein, und es hörte sich an, als zankten sie sich immer noch wie früher um Hühner, Eier und anderen häuslichen Kram.
„Lisaweta hat unrecht... unrecht hat sie, wenn ich's euch sage."
„Red keinen Blödsinn, Malaschka. Lisaweta hat recht. Wir Weiber sind alle dämlich."
„Na, wenn das so ist, ich will nicht dämlich sein ... Ich schneide mir die Haare kurz. Zöpfe, meine Lieben, sind für uns Weiber Stricke, sie sind nur dazu da, dass die Kerls uns damit festbinden wie das liebe Vieh."
„Hast du dir gedacht... Wir tun uns zusammen und organisieren uns, und dann werden wir's ihnen schon eintränken. Dann sind wir nämlich auch stark. Seht euch Dascha an — an der können wir uns alle ein Beispiel nehmen." „Schon! Aber schaut doch mal, was aus den Burschen geworden ist, und aus den Mädels erst — ich sage nur: Komsomol! ... Früher, da hatte man Angst vor der Sünde und vor den Menschen, und heutzutage — Komsomol!"
„Ja, ja, das sind Zeiten, meine Lieben! Man braucht nur vor die Tür zu gehen, da erlebt man schon sein blaues Wunder. Sie machen jetzt alles auf neue Art: Komsomol, Partei, Frauenausschuss. Man kommt gar nicht mehr mit." Mit Hilfe der Partei und des Klubs wurden zwei Gruppen zur Liquidierung des Analphabetentums auf die Beine gebracht, und als der Unterricht begann, saßen nur Frauen an den Tischen. Daschas Ansprache ging ihnen zu Herzen. Sie wies darauf hin, dass die Frauen, mit den Männern verglichen, die aktiveren Kämpfer für die Volksbildung seien und damit ihr proletarisches Bewusstsein bewiesen hätten. Es ging nicht allein darum, lesen und schreiben zu lernen; dies sei vielmehr erst der Beginn einer großen Selbsterziehungsarbeit, öffne ihnen nur die Tür, um für die Gesellschaft tätig zu sein. Das Wissen sei eine große Macht: ohne Wissen könne man das Land nicht regieren. Die Frauen klatschten Beifall und fühlten sich größer und besser als in ihren vier Wänden zu Hause, klüger und reicher als bei den Kindern und in der Küche.
Jeden Morgen und Abend besuchte Dascha im Krupskaja-Kinderheim ihre kleine Njurka; das Mädchen schmolz dahin wie eine Kerze. Ihr Gesichtchen war gelb und runzlig geworden wie bei einer alten Frau. Sie guckte die Mutter mit traurigen, abgrundtiefen Augen an, und Dascha hatte das Gefühl, diese Augen hätten etwas Gewaltiges und Unaussprechliches geschaut. Njurka schwieg jetzt meist, Gesichtchen und Augen waren nachdenklich, und wenn Dascha Abschied von ihr nahm, blieb sie gleichgültig.
Und zum ersten Mal in diesem Jahr drückte ein unerträglicher Schmerz Dascha das Herz ab; doch sie vergrub diesen Schmerz tief in der Brust. Niemand ahnte etwas davon, nur Polja musterte sie einmal mit einem langen, aufmerksamen Blick und fragte besorgt: „Was ist mit dir, Dascha? Dich quält doch etwas?" „Du siehst mehr als nötig, Polja."
Polja schwieg und sah sie wieder prüfend an. Und Dascha entdeckte in ihren Augen etwas, das dem traurigen Blick der kleinen Njurka ähnelte.
„Ich habe gar nicht gewusst, Dascha, dass du dich verstellen und lügen kannst."
„Na schön, mich quält etwas. Wozu musst du wissen, was? Das geht niemanden etwas an."
„Ja, das ist es eben, Dascha. Wir sind gut organisiert und fest zusammengeschweißt, aber im persönlichen Leben sind wir einander schrecklich fremd. Keiner kümmert sich um die Freuden und Leiden des anderen. Das ist das Entsetzliche. Aber Schluss, du hast es ja nicht gern, wenn man darüber spricht."
Njurka schmolz dahin wie eine Kerze — das einzige, geliebte Kind, und keiner konnte sagen, warum. Wozu waren die Ärzte da, wenn sie nicht fähig waren, einen klaren Spruch zu fällen, nicht imstande waren, das Übel auszumerzen, das an dem Kinde zehrte? Doch an den Ärzten lag es ja gar nicht. Dascha wusste besser als alle Ärzte der Welt, warum Njurka wie ein Sternlein am Morgenhimmel erlosch. Ein Kind braucht nicht nur Muttermilch: es braucht auch Herz und Zärtlichkeit der Mutter. Ein Kind verkümmert, wenn es nicht den Atem der Mutter über seinem Köpfchen spürt, wenn ihr Blut es nicht wärmt, ihre Seele, ihr Duft nicht sein Bettchen umwehen.
Die Schuld trug nur sie, Dascha, und diese Schuld würde ewig auf ihr lasten. Und doch — die Wurzeln dieser Schuld lagen nicht in ihr, sondern in der äußeren Notwendigkeit, in jener Macht, die über sie selbst Gewalt hatte, jener Macht, die den Tod verleugnete und sie, Dascha, durch Leiden und Kampf zum Leben erweckt hatte.
Das war die eine Seite: Njurka ging aus wie ein kleines Fünkchen. Njurka wird es nicht mehr geben. Einst hat sie auf Daschas Armen und an Daschas Brust mit den Beinchen gestrampelt, ist umhergekrabbelt, hat laufen gelernt und die ersten Worte gestammelt. Und ist gewachsen. Als Dascha dann zum ersten Mal die Todesangst kennen lernte, hatte eins ihre Qual unerträglich gemacht: sie hatte nicht die Kraft gehabt, Njurka zu opfern, sich über Njurka hinwegzusetzen. Die Mutter wäre bereit gewesen, die Revolutionärin zu verraten. Erst die Qualen der Genossen und Fimkas furchtbares und zugleich doch schönes Sterben hatten das Bild der Tochter in ihr ausgelöscht. Da erst hatte sie begriffen — nicht mit dem Verstand, sondern mit ihrem ganzen Wesen —, es gibt noch eine andere, viel stärkere Liebe als die der Mutter zum Kind, und diese Liebe offenbart sich dem Menschen in der Todesstunde.
Und jetzt sah sie Njurka mit dem welken Greisengesichtchen und den abgrundtiefen, todtraurigen Augen vor sich — und wieder, wie damals, konnte sie sich nicht über Njurka hinwegsetzen. Ja, Njurka, das war das Opfer ihres Lebens, und dieses Opfer war für sie ein tödlicher Vorwurf. An einem Morgen hatte sie folgendes Gespräch mit Njurka: „Njurkalein, tut dir etwas weh, Kleines, ja?"
Njurka schüttelte den Kopf. „Was möchtest du denn haben? Sag doch." „Nichts."
„Möchtest du vielleicht deinen Papa sehen?" „Ich möcht Weintrauben haben, Mama." „Es ist noch zu früh, Liebling, die Weintrauben sind noch nicht reif."
„Ich möcht bei dir sein... und dass du nie wieder weggehst, dass du da bist... und Weintrauben. Dich und Weintrauben möcht ich."
Sie saß auf Daschas Knien, warm, nahe, ein Teil von ihr.
Als Dascha sie dann ins Bettchen gelegt hatte, sah Njurka sie lange mit ihren tiefen Augen an und flüsterte traurig: „Mama! Meine Mama!"
„Was ist denn, mein Kleines?"
„Nur so, Mama! Geh nicht weg, Mama!" Dascha war vom Kinderheim nicht wie sonst in die Chaussee eingebogen, sondern in den dichten Büschen untergetaucht, wo es einsam war und still, wo es nach Erde und frischem Grün roch und Sonnenkringel den Boden streichelten; sie hatte sich ins Gras geworfen, mit den Nägeln die Erde aufgekratzt und lange geschluchzt.
Eines Nachts, während Gleb verreist war, fuhr Badjin im Auto bei Dascha vor. Sie hörte den Motor fauchen und ging hinaus. Auf der Schwelle prallte sie mit Badjin zusammen. Er wollte sie sogleich in die Arme nehmen, doch sie stieß ihn brüsk von sich.
„Genosse Badjin, du hast hier nichts zu suchen. Gib diese Taktik auf!"
Badjin ließ die Arme sinken und wurde schwer und schlaff. „Dascha! Ich habe gehofft, du empfängst mich etwas wärmer."
„Genosse Badjin, fahr sofort weiter. Hörst du, Genosse Badjin? Sonst wende ich mich an die Partei."
Sie schlug die Tür zu und schob den Riegel vor.

Alpdruck

Den Weg frühmorgens zum Frauenausschuss und den Heimweg nach vier Uhr suchte Polja in quälender Ungeduld so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Menschen kamen ihr entgegen, gingen vor ihr her, aber sie spiegelten sich in Poljas Augen nur als verwaschene Schatten; Polja sah keine Gesichter, sie sah nur Beine — in Stiefeln und ohne Stiefel, in Wickelgamaschen, Hosen und Röcken, in Sandalen und umgelegten Frauensöckchen — viele staubige Beine und Füße, die unermüdlich das Pflaster traten, hin und her eilten. Polja brachte es nicht über sich, die Augen aufzuschlagen und fest und ruhig die Schaufenster zu betrachten, die offenen Türen und die Passanten, die sich so verändert hatten. Die Frauen sahen anders aus als noch vor kurzem, im Frühjahr. Es wurde wieder Toilette gemacht — Hüte mit Blumensträußen, durchsichtiger Batist, moderne französische Stöckelschuhe. Die Männer trugen Chemisettes, Krawatten und Chevreauschuhe. Wieder wehte Parfüm durch die Straßen, und die Stimmen klangen voll und fröhlich. In den dämmrigen Cafes, im blaugrauen Tabaksdunst drängten sich Gespenster. Durch das dumpfe, ferne Stimmengetöse drang das Klirren von Geschirr, das Klappern der Würfel beim Glücksspiel, und aus der unergründlichen Tiefe des rauchigen Lokals flossen, kaum wahrnehmbar, die Klänge der Kapelle.
Wo kam das alles her? Und wie konnte es so rasch kommen und so unverschämt? Warum diese Beklemmung und Trauer im Herzen und diese Wirrnis im Kopf?
Ihr war, als sei sie in ein fremdes Land geraten und als habe ihre Seele etwas Kostbares, Unwiederbringliches verloren, ohne das man nicht leben könne. Sie empfand Scham und unklare Angst. Sie fürchtete, einer von den Arbeitern oder von jenen zerlumpten Hungersgestalten mit eitrigen Augen könnte an sie herantreten und sie auf den Kopf zu fragen: „Nun? Das also war es? Das also habt ihr gewollt? Schlagt sie nieder, die Schufte und Betrüger!"
Diese ständige Angst betäubte ihr Hirn bis zu Wahnvorstellungen.
Einmal, Ende August, erblickte sie eine große Ansammlung zerlumpter, zottiger Menschen am Ufer — auf den Schienen und im Kohlenstaub des Hafendamms. Sie lagen und saßen und wimmelten durcheinander: Männer, Frauen und Kinder. Säuglinge wimmerten, brüllten sich heiser, jemand stöhnte dumpf. Die Frauen lausten sich gegenseitig, die Männer suchten ihre Hemden und Hosengurte ab. Alle hatten wassersüchtige Gesichter.
Vorübergehende — vielbeschäftigte Leute — blieben neugierig und missbilligend stehen und schnupperten. „Was sind das für Hungerleider?"
Aus der staubigen, stinkenden Menge brüllte es dumpf: „Kohldampf, liebe Brüder! Gott hat uns vertrieben. Große Not haben wir gelitten. Vielleicht finden wir hier was, geb's Gott, vielleicht hilft man uns. Von der Wolga sind wir ... aus dem Hungerland."
Bis zum Bezirkskomitee war Polja diese zitternde, heisere Stimme, die in Stöhnen überging und sich in der Masse stinkender Leiber verlor, war sie das klägliche Säuglingsgewimmer nicht losgeworden. „Kohldampf..."
Bald sah man täglich diese verhungerten, schafgesichtigen Bauern durch die Straßen der Stadt irren, einzeln und familienweise, in grobgewebten Kleidern und Bastschuhen, Kinder auf den Armen. Sie winselten mit schwachen Stimmen: „Helft uns! Wir verhungern! Wir sterben!"
Nachts hatte Polja Alpträume, Schlaflosigkeit quälte sie; sie lag stundenlang wach und hörte in diesen Stunden das gleiche wie am Tage — klar, aufdringlich, peinigend: eine Kapelle spielte lockend in der Ferne. Würfel klapperten, und auf der Straße winselten kraftlose Stimmen kläglich: „Helft uns! Brüder! Kohldampf!"
Sie sprang aus dem Bett, wankte wild klopfenden Herzens, einen bohrenden Schmerz im Kopf, mit nackten Füßen zum Fenster und sah in die Nacht hinaus. Stille, leeres Dunkel, keine Menschenseele. Sie lauschte und kehrte wieder auf das dumpfe Lager zurück. Schlief ein. Von eigentümlichen, schüttelnden Stößen wachte sie wieder auf. Und hörte aufs neue ferne Geigen, klappernde Würfel, Gelächter, heiseres Flehen und das Wimmern von Säuglingen.
In einer dieser schwülen, schlaflosen Nächte geschah schließlich das, was sie schon längst als etwas Unvermeidliches erwartet hatte.
Eine Tür ging auf, gleichzeitig wurden Stimmen und Gelächter laut, und diese Stimmen rollten durch den Korridor, hallten weithin und verschmolzen zu einem unverständlichen Gerufe.
Dann zergingen Stimmen und Schritte schließlich in der nächtlichen Stille. In weiter Ferne fielen klingend Tropfen, und aus dem Dunkel flossen gespenstische Geigenklänge. Sie begriff: Es waren Telefondrähte vor dem Fenster, die ihr wehmütiges Lied sangen. „Liebe Brüder! Helft uns! Kohldampf!"
Sie konnte nicht einschlafen.
Singende Arbeitermassen, strudelnde, strömende Menschenmengen, rote Gesichter, rote Fahnen. Die Rote Garde im Funkenregen der Bajonette. Genosse Lenin auf dem Roten Platz. Von weitem sieht man, wie seine Zähne blitzen, wie er das Kinn vorreckt, wie er die Hand mit gespreizten Fingern vorstößt und wie sich unter den Ohrenklappen die Haut auf Wangen und Backenknochen runzelt, als lache er.
Nichts weiter blieb in ihrem Gedächtnis als diese aufrufende Hand, die blitzenden weißen Zähne, die Falten an den Wangen. Wie fern! Als wäre es ein Traum, als wären es Erinnerungen aus früher Kindheit. Der Nordost fegt auf den Straßen den Staub zusammen. Staub und Asche. Warum hat es früher keinen Staub gegeben? Warum ersticken jetzt die schwülen Tage und Nächte in Asche? In Sergejs Zimmer ist es still, aber in der Stille raschelt Papier. Hin und wieder sind nachdenkliche Schritte zu hören. Lieber Sergej — auch er schläft nicht. Seine Schlaflosigkeit misst er an gelesenen Seiten.
Es klopfte leise — an welcher Tür, war nicht zu unterscheiden. „Ja? Wer ist da?"
Badjins Stimme brummelte freundlich — man hörte ihr
an, dass er lächelte. „Poljalein, schläfst du? Zieh was über und komm für 'n Moment raus — wichtige Sache." „Ich kann nicht, Badjin. Morgen." „Unmöglich, Mädchen. Steh auf und komm raus."
Die Klinke schnappte, und die Tür ging auf. Trübes Licht fiel aus dem leeren Korridor herein. Warum hatte sie gerade in dieser Nacht vergessen, die Tür abzuschließen? Flüchtig sah sie, dass Badjin einen ungewohnten Anblick bot: halb weiß, halb schwarz. „Na also, um so besser. Du bist gar zu schwer beweglich."
Er schloss die Tür und drehte den Schlüssel um. Die Wände tauchten wieder ins Dunkel, und das Dunkel wurde bodenlos. Und mit der Dunkelheit, die Dunkelheit verdichtend, selbst dunkel, unerträglich schwer und wuchtig, kam er, der unvermeidlich hatte kommen müssen.
Atemlos vor Angst, streckte sie die Arme gegen die Dunkelheit aus und flüsterte: „Was willst du, Badjin? Was willst du?"
Sie hatte die Arme noch nicht fallen lassen, da stürzte er sich mit seinem ganzen furchtbaren Gewicht aufs Bett und presste sie ins Kissen. „Sei still, Poljalein ... still, still!"
Sie kämpfte nicht, erdrückt von der Dunkelheit — sie konnte nicht kämpfen; wozu auch, wenn dies doch unvermeidlich und unabwendbar war.
Bodenlose Finsternis ballte sich knisternd. In unergründlicher Ferne rauschte eine Menschenmenge, und weithin verhallte Donnerrollen. Ach so, das ist der Nordost. Kein Regen und kein Gewitter, das ist — der Nordost. Der Himmel war jetzt trocken und durchsichtig, und die Sterne blinkten hell und klar, und ihr Licht vereinigte sich zu blendenden Strahlenbündeln aus allen Regenbogenfarben. Ist Badjin dagewesen oder nicht? Vielleicht war das nur einer der gewohnten Alpträume? Alpträume wirken ja immer real. Sind sie nicht deshalb gerade so grässlich und aufwühlend? Ist Badjin dagewesen oder nicht?
Sie lag bewegungslos. Das Hemd war zu einem nassen Klumpen zusammengeknüllt. Lange fühlte sie ihren Körper nicht. Nur der Kopf schien vorhanden, aber kein Körper. Ringsum Leere und Unendlichkeit: schwarzer Abgrund. Sie existierte nicht, nur ihr Kopf existierte, und der Kopf wirbelte schwerelos in diesem bodenlosen Strudel. Aber dort im Dunkel und hinter dem Dunkel — dort war Gewitter und Sturmgeheul. Alles ist gut, es ist so ruhig, nichts existiert — auch die Zeit nicht.
Sergejs Schritte näherten sich ihrer Tür und hielten inne. Warum kam Sergej an ihre Tür? Polja hörte diese Schritte, und ihr Herz zog sich zusammen. Ihr Körper begann zu zittern und bäumte sich auf vor Entsetzen. Badjin... Ach ja, seine Tür ist an der anderen Seite, am Kopfende ihres Bettes. Er ist dagewesen und gegangen.
Im Herzen innen bohrte und stach es — Trauer, schrecklich wie Todesahnung. Was war das? Warum dieser unerträgliche Schmerz? „Ach! Ach!"
Sie krümmte sich im Bett, kroch auf den Boden und verstummte plötzlich vor Angst. Wieder verdichtete sich die Dunkelheit und stürzte auf sie nieder, entsetzlich schwer.
Barfuss, nur im Hemd lief sie auf den Flur hinaus, packte die Klinke von Sergejs Tür und rüttelte wie besessen daran, Rettung suchend vor einem unabwendbaren Unheil. „Sergej! Sergej!! Schnell... bitte! Serjosha!"
Sie kratzte an der Tür, stieß dagegen und fühlte wie im Traum, dass die Tür unter ihrem Druck stöhnte und sich nicht auftun konnte. Und als sie sich öffnete, fiel Polja Sergej um den Hals und schluchzte erstickt — klein, hilflos, schmächtig wie ein Kind.
Sergej war erschüttert, seine Hände zitterten, und sein Herz hämmerte. Er brachte sie zu Bett, deckte sie zu und
goss ein Glas Wasser ein. Ihre Zähne klapperten am Glas, und das Wasser floss ihr am Kinn herunter.
„Es ist ekelhaft, Sergej, ist entsetzlich. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber es ist etwas geschehen, was nicht wiedergutzumachen ist, Sergej."
Er setzte sich neben sie auf einen Stuhl, richtete ihr behutsam und schüchtern Kissen und Decke und streichelte ihre Hände, ihr Haar, ihre Wangen.
„Nicht doch. Beruhige dich, Polja. Ich weiß ja. Wenn du geschrieen hättest, ich hätte die Tür eingeschlagen und ihn erwürgt."
„Du weißt es nicht, Sergej ... du weißt es nicht. Mit ihm kann man nicht kämpfen, vor ihm gibt es keine Rettung."
„Sprechen wir nicht mehr darüber, Polja, trink noch einen Schluck Wasser und schlaf. Ich bleibe bei dir sitzen, und du schlaf: du musst unbedingt ausschlafen. Wir haben Nordost. Es hat lange schon kein Nordost geweht. Morgen wird es frisch und kühl sein."
„Sergej! Serjosha, du bist mir so nahe und vertraut! Ich habe gewusst, dass das kommen wird, Sergej... und habe nicht gekonnt... Ich weiß nicht, was werden soll, Sergej." Er saß neben ihr und zitterte noch immer. Das Zittern hatte begonnen, als er Badjins Stimme vorhin hörte. Der Boden unter ihm war ins Schwanken geraten, und beim ersten Stoß des Nordost schienen alle Sachen im Zimmer ihren Platz zu verlassen und umherzukreisen wie Vögel.
„Ich hab's gewusst, Serjosha, dass uns das nicht so durchgehen wird ... Hast du die Gesichter gesehen, die Stimmen gehört?... ,Brüder, helft uns! Kohldampf!' Und die Würfel und die Geigen in den Cafes, und die Schaufenster. Die in Schacher umgeschlagene Revolution. Und das hier ... Das gehört alles zusammen, Serjosha."
„Ja, Polja. Wir müssen diese schwere Zeit überstehen. Wir müssen sie überstehen, meine liebe Polja. Um jeden Preis. Kämpfend überstehen."
Sie schlief ein, ohne seine Hand loszulassen, er aber saß bis zum Morgengrauen über sie geneigt, rührte sich nicht und sah sie unverwandt voll trauriger Liebe an.

Die Arbeit stockt

Im Werk wurde nach Glebs Abreise mit Hochdruck an der Instandsetzung gearbeitet. Fenster und Dächer waren noch entzwei; in den Betonwänden klafften noch schwarze Löcher, aus denen verrostete Drähte hingen; doch in den dämmrigen Hallen pfiffen und trommelten unter den Sternen der Glühbirnen die Hämmer und Bohrer, kreischte, klirrte, ächzte Metall.
Eingesetzt waren alle verfügbaren Arbeitskräfte — zweihundert Mann. Die Reparatur des rotierenden Ofens erforderte besondere Sorgfalt. Die Stahlverkleidung musste aufgenietet und die feuerfeste Innenschicht erneuert werden. Kleinere Ersatzteile aus Metall für den Steinbrecher und die Mühle, für Hebel und komplizierte Transmissionen mussten gegossen werden. Stark beschädigt waren auch die Behälter für die Zementmasse; neue rotierende Rührhölzer waren anzubringen und das ganze System von Rohren, bizarren zylindrischen Sieben und allen möglichen ineinander greifenden und zu eigenartigen Mustern verwobenen Vorrichtungen aus Holz und Stahl auszutauschen. Am wenigsten gab es im Kraftwerk und in der Maschinenhalle zu tun. Dort war Brynsa. Solange Brynsa lebte, lebten auch die Maschinen.
Menschen, bläulich vom Staub, arbeiteten emsig, krochen vor den Öfen umher, sprangen über Rahmen, Querbalken, Stufen und Geländer, schraubten, schnitten, sägten Eisen und Kupfer, verhedderten sich in Leitungsdrähten, brüllten und schnappten nach Luft vor Staub, Hitze und plötzlich ausbrechender Arbeitswut.
Auf der zweiten Förderstrecke ging die Arbeit ruhiger und stiller vor sich. An verschiedenen Stellen wurden Schienen ausgewechselt, Viadukte repariert und die Gleise von Steinen und Schutt gesäubert.
Das Werk lag nach wie vor verstaubt und verlottert da, doch spürte man überall schon sein Atmen und das erste
Beben der Maschinen. Im Kraftwerk fauchten und knurrten Tag und Nacht die Dieselmotoren.
Tag für Tag machte Ingenieur Kleist, ganz in Weiß gekleidet, streng und gewichtig seine Runde — zum ersten Mal wieder zuckte in seinem Gesicht ein verhaltenes Lächeln, das seine innere Erregung verriet. Die alten Techniker und Vorarbeiter scharwenzelten wie früher um ihn herum, wie früher gab ihnen Kleist nachlässig Befehle, und sein Kopf zuckte im Takt seiner Worte. Den Arbeitern gegenüber war er weiterhin wortkarg und kurz angebunden und ging gleichgültig, fremd und blind an ihnen vorbei.
Gleb hatte für eine Woche verreisen wollen, blieb aber einen ganzen Monat weg. Schon nach der zweiten Woche seiner Abwesenheit traten Unterbrechungen in der Arbeit ein, und schließlich ruhte sie ganz. Die Werkverwaltung richtete sich nicht mehr nach dem bestätigten Plan und kümmerte sich nicht darum, das veranschlagte Material zu beschaffen; beim Volkswirtschaftsrat ließ sich nichts ausrichten, dort tönte wieder die alte Leier, Industriebüro, Hauptverwaltung Zement, Staatsplan.
In der Werkverwaltung nahmen die geschniegelten und gebügelten Spezialisten Kleist gegenüber kein Blatt vor den Mund: „Machen Sie keine Geschichten, Hermann Hermannowitsch. Das Werk kann nicht in Betrieb genommen werden. Verstehen Sie denn das nicht? Wozu brauchen die Leute überhaupt das Werk? Das ist doch lächerlich, Hermann Hermannowitsch. Angenommen, das Werk wäre in Betrieb und die Lager gefüllt. Und was dann? Auf den Markt damit? Aber den gibt's ja nicht. Unser Zement ist früher meist nach dem Ausland gegangen. Und jetzt? Aufbau? Aber den gibt's ja auch nicht und kann es gar nicht geben, weil weder Kapital noch Produktivkräfte vorhanden sind. Einen tüchtigen Anlauf haben die Leute freilich genommen — das muss man ihnen lassen. Aber es hapert eben an Kräften, an Erfahrungen, an Mitteln zur produktiven Arbeit. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn
Kapital und Privatinitiative ausgeschaltet sind. Auf nationalisiertem Gaul kommt man nicht weit. Nolens volens wird man sich wieder an die Waräger im Ausland wenden müssen."
Kleist hörte sich die Spezialisten kalt und gewichtig an, rauchte seine Zigarette, ließ sich in keine Erörterungen ein, sondern bemerkte nur kurz und nachdrücklich: „Ich bin nicht hergekommen, um Fragen der politischen Ökonomie und der russischen Staatswirtschaft im besonderen zu lösen. Ich habe eine ganz bescheidene Absicht — und zwar: von der Werkverwaltung die alsbaldige Erfüllung des Produktionsplanes zu fordern. Die Reparaturarbeiten mussten durch Schuld der Werkverwaltung eingestellt werden."
Die Spezialisten betrachteten ihre Hände und verbargen ihr Lächeln hinter höflicher Zuvorkommenheit.
„Die Werkverwaltung hat damit nichts zu tun, Hermann Hermannowitsch, sie erhält ihre Instruktionen vom Volkswirtschaftsrat. Wenden Sie sich unmittelbar dorthin."
Der Volkswirtschaftsrat hatte zwar neue Menschen eingesetzt, aber sie hatten nur das Mäntelchen der Loyalität umgehängt, drinnen wurzelte noch fest und zäh die Vergangenheit. Auch er, Kleist, trug noch diese Vergangenheit in sich, aber sie war fremd und tot, das Feuer der Gegenwart hatte sie verbrannt und nur verkohlte Reste übriggelassen.
Zwischen ihm und jenen gab es keine Verständigung mehr. Er sah, dass ihre Augen sich bei seinen unerwarteten Worten verschleierten und dass sich hinter ihrem Lächeln Spott, Misstrauen und Feigheit verbarg: Dieser sonderbare Kauz sei entweder raffiniert oder er habe aus Angst vor den Bolschewiki den Verstand verloren.
Kleist ging zum Volkswirtschaftsrat. Auch dort empfing man ihn ehrerbietig und liebenswürdig, als empfange man einen Gleichgesinnten; wie in der Werkverwaltung lächelte man ihm mit goldenen Zähnen vieldeutig und verständnisinnig zu.
Wieder erklärte er kalt und gewichtig den Zweck seines Besuches, und wieder gab man ihm hinter dem Schleier unterdrückten Spottes höflich unverbindliche Antworten. „Ja, die Verwirklichung Ihrer Voranschläge hat sich verzögert, Hermann Hermannowitsch, wahrscheinlich wird man sie noch einmal überprüfen. Sehen Sie, wir können nicht gegen die Verfügungen des Industriebüros und der Hauptverwaltung Zement an ... Und vorläufig fehlen noch notwendige Grundlagen ... Der Vorsitzende des Volkswirtschaftsrats, ein sachkundiger und umsichtiger Mann (die Augen des Sprechers lächelten spöttisch), verfolgt eine feste Linie. Er lässt nicht mit sich spaßen. Man hat alles zu sehr überstürzt. Was die Hauptverwaltung Zement dazu sagt... Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass diese ganze Angelegenheit mit dem Werk beim Industriebüro und vor allem bei der Hauptverwaltung keine Gegenliebe finden wird. Aber wir erwarten noch maßgebliche Weisungen."
Nun ging Kleist allein, ohne Techniker und Vorarbeiter, durch die Werkhallen und über die Gleisanlagen, sah lange auf die verödeten Arbeitsplätze, auf die Baustellen, die zerlegten Maschinen und auf den nicht weggeräumten Schutt und schlug mit seinem Stock ingrimmig nach Steinen, Scherben und liegen gebliebenem Baumaterial. Der einzige Mensch, dem er bei diesen schweigsamen Spaziergängen begegnete, war der Wächter Kljopka, dessen Brauen und Bart wie Zementflocken aussahen.

Schmutzig und abgespannt, den Helm in den Nacken geschoben, doch mit Augen, die durchsichtig und wie blank gewaschen wirkten, kehrte Gleb von seiner Reise zurück. Er ging nicht nach Hause, sondern eilte schnurstracks ins Werk, hielt sich dort kaum auf, sondern lief, bleich vor Wut, mit großen Schritten zum Bremsberg. Überall Leere, Dreck und Bruch, genau wie damals, als er von der Front nach Hause gekommen war.
Keuchend vor Wut, raste er zur Werkverwaltung.
Die blitzsauberen Spezialisten, betäubt von der prasselnden Schimpfkanonade, rissen Mund und Nase auf und erstarrten fassungslos auf ihren Plätzen. Wer gerade ging, blieb stehen, wer saß, stand auf, wer schrieb, hob den Kopf nicht vom Papier. Schon an der Schwelle legte Gleb aus voller Lunge los: „Ich möchte nur wissen, welches Dreckvieh uns diese Sauerei eingebrockt hat! Ich schlage allen die Fresse ein für diesen Verrat. Wo ist der Direktor? Ich werde euch Lumpenhunde alle sofort zur Tscheka befördern — wegen Sabotage und Konterrevolution. Ihr habt gedacht, wenn ich nicht da bin, könnt ihr euren dreckigen Streich landen? Verfluchte Blase, an den Galgen bringe ich euch alle!"
Er rannte von Zimmer zu Zimmer, suchte nach jemandem, sah niemanden, warf Stühle um, fegte Papiere von den Tischen, rempelte Leute an, die ihm im Wege standen. Die puppenhaft zierlichen Maschinenschreiberinnen duckten sich erschrocken auf ihren Stühlen und versteckten ihre Frisuren hinter den Tasten. Alle saßen oder standen sprachlos vor Schreck, und wenn Gleb vorbeigesaust war, wechselten sie verängstigte Blicke und hielten sich die Hände oder Papiere vor den Mund.
Als sein Wutanfall sich ein wenig gelegt hatte, warf Gleb in einem Zimmer Mantel und Tasche hin und brach in das Kabinett des Direktors ein. Direktor Müller — ein Mann mit silbrigen Borsten auf dem Schädel, einem silbrigen, gestutzten Schnurrbärtchen und einem goldenen Zwicker — empfing ihn innerlich ebenso beunruhigt und verdutzt wie die anderen, gab sich aber Mühe, ruhig zu bleiben. Er stand auf und streckte Gleb über den Tisch die Hand entgegen.
„Was machen Sie denn für einen Lärm, Genosse Tschumalow? Sie schimpfen ja, dass die Scheiben springen."
Gleb setzte sich nicht und übersah auch Müllers Hand. Er stellte sich neben den Tisch und fragte drohend: „Wer hat angeordnet, die Arbeiten im Werk einzustellen?"
Müller breitete hilflos, untertänig die Arme aus. „Spielen Sie nicht den Dummen, sondern sagen Sie geradeheraus : Welcher Lump hat die Arbeiten, die in vollem Gange waren, lahm gelegt?"
Müller zuckte zusammen, die Zwickergläser blitzten, und sein Gesicht wurde welk und rostig.
„Zunächst möchte ich Sie ersuchen, Genosse Tschumalow, Ihre Ausdrücke zu mäßigen. Die Werkverwaltung hat damit nichts zu schaffen. Wir haben die Arbeit eingestellt, weil es der Volkswirtschaftsrat bei dem Mangel an notwendigen Mitteln und ohne Sanktion höherer Wirtschaftsorgane für unmöglich hielt, die Reparaturen fortzusetzen." „Zeigen Sie mir die Anordnung des Volkswirtschaftsrates. Die ganze Korrespondenz ... auf der Stelle! Habt euch gesucht und gefunden, ihr und das Gesindel vom Volkswirtschaftsrat! Habt wohl gedacht, ihr könnt hinter meinem Rücken die Karten zinken? Habt euch wohl eingebildet, das Industriebüro stellt mich kalt und ihr könnt dann ungestört im trüben fischen? Irrtum, meine Lieben, ihr werdet mir noch gehörig schwitzen."
„Mit welcher Begründung erheben Sie so schwere Anschuldigungen gegen uns, Genosse Tschumalow? Ich protestiere ganz kategorisch: Sie sagen unbedacht beleidigende Dinge. Wir sind doch keine kleinen Kinder, wir können uns über die Instruktionen und Vorschriften von oben nicht hinwegsetzen. Wir waren in dieser Sache auch ganz ausgeschaltet: Alle Lager wurden vom Volkswirtschaftsrat versiegelt, und der Bevollmächtigte des Volkswirtschaftsrates hat sämtliche Unterlagen aus den Akten genommen. Seien Sie so liebenswürdig und machen Sie nicht uns, sondern dem Volkswirtschaftsrat Szenen."
Gleb ging auf Müller zu und hieb mit der Faust auf den
Tisch.
„Erzählen Sie mir bitte keine Märchen. Ich kenne alle Ihre Schliche ausgezeichnet. Ihr habt die Geschichte mit der Forstverwaltung vergessen, Freundchen. Ihr werdet am
eigenen Leibe erfahren, wie Halunken abgeknallt werden. Mich für einen Idioten halten und mich an der Nase herumführen! Aber ich werde euch Genick und Rippen brechen. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass ab morgen wieder gearbeitet wird. Die Reparaturen müssen in zwei Monaten beendet sein, und zum Herbst läuft das Werk auf vollen Touren, verstanden?"
Müller zuckte die Achseln, lächelte verlegen und wollte etwas sagen, verschluckte sich aber an seiner trockenen Zunge.
Draußen vor dem Betriebsgewerkschaftskomitee drängten sich die Arbeiter, standen müßig und gelangweilt, mit hängenden Schultern, in kleinen Gruppen zusammen, saßen im Schatten der Wand auf der Erde, gingen durch die Tür ein und aus. Rauchten, schwatzten laut und lachten. Gromada stand auf der obersten Stufe vor der offenen Bürotür, schwang die knochigen Fäuste und schrie erregt mit heiserer, schwindsüchtiger Stimme: „Das ist nur vorübergehend, Genossen! Wir als Arbeiterklasse haben die Pflicht, voller Bewusstsein dieser Sache gegenüber und so weiter... Wir haben auf der Parteiversammlung schon eine Resolution gefasst, und da Gewerkschaftskomitee und die Baugewerkschaft unsere eigenen Organisationen sind, werden wir somit unsere Interessen verteidigen können und die Sache an das Revolutionstribunal übergeben... und alles Dreckzeug und alle Hundesöhne an die Wand nageln..."
Die Menge war erregt, schrie und klatschte.
Sawtschuk in seinem zerfetzten Hemd schob sich durch die Masse, fuchtelte mit den Armen und brüllte wie am Spieß: „Totschlagen muss man sie, die Ketzerseelen! Warum seid ihr so zimperlich? Ich kann das nicht ausstehen."
Gleb kam die breite Betontreppe herabgelaufen und versank im nächsten Augenblick in der Masse der staubigen, verschwitzten Gesichter, in Geschrei und Durcheinander. „Da ist er ja, der Tschumalow! Ach, du Scheusal von
einem Hundesohn! Jetzt können die Brüder was erleben! Oho, dich hatte der Teufel zur unrechten Zeit auf Reisen geschickt."
Unter diese freudigen Ausrufe mischten sich auch andere, mürrische Stimmen: „Was soll denn nun werden, Genosse Tschumalow? Was ist los? Wenn wir so weitermachen wollen, können wir lieber gleich dem Teufel in den Hintern kriechen..."
„Jetzt hat der Spaß ein Ende. Wir wissen schon, wessen Streiche das sind."
„Ha, diese alten Halsabschneider träumen vom Zaren, wenn sie schlafen."
„Warten auf ihre Herrschaften, die Schweine." „Was sollen wir da lange fackeln? Wie Flöhe zerknacken — und fertig."
Es stank nach Machorka und Schweiß, das Gedränge und die Ausdünstungen der Leute benahmen Gleb den Atem. Er stieß die Menge auseinander und stieg die Treppe hinauf zu Gromada.
„Genossen, die Arbeit geht mit Hochdruck weiter. Wenn morgen die Sirene heult, begibt sich jeder an seinen Platz. Allen diesen Machenschaften werden wir im Nu auf den Grund kommen, und es soll uns nicht schwer fallen, den einen oder den anderen an die Wand zu stellen. Ich fahre zum Volkswirtschaftsrat. Wir werden schonungslose Abrechnung mit der Konterrevolution verlangen, Genossen. Im Industriebüro habe ich alles erreicht, was ich wollte. Ich habe Brennstoff mitgebracht. Wir werden ein paar Mann nach Daubenholz schicken. Als erstes bringen wir den Steinbrecher in Gang und fangen mit dem Vermahlen des Klinkers an."
Die Arbeiter stürmten zu Gleb, umarmten ihn, drückten ihn ab und brüllten ohrenbetäubend. Jemand packte ihn an den Beinen, ein anderer fasste ihn um den Leib, und plötzlich schleuderte ihn eine Unzahl schwieliger Hände in die Luft.
„Feste, Kumpels! Hoch mit ihm! Hopp! Höher! Hopp!"
„Hört doch auf, verflixte Bande! Aufhören, ihr Affen!" Gleb lachte, zappelte mit Armen und Beinen über den Köpfen der Arbeiter; doch man merkte ihm an, dass er sich freute und diese stürmische Huldigung für ganz natürlich und unumgänglich hielt.
Schließlich stand er wieder auf festem Boden, umdrängt von den erschöpften Genossen, und sogleich legte Sawtschuk los.
„Gleb! Alte Ketzerseele, du! Lass die Böttcherei endlich losgehen. Ich halt's nicht mehr aus. Ich schlage alles kurz und klein!"
Gleb zwinkerte einem Arbeiter zu und drohte jemand mit der Faust.
„Gromada! Wo steckt Gromada? Lasst ihn doch mal zu mir durch, Jungs. Fahren wir, Gromada!"
Gleb fuhr nicht zum Volkswirtschaftsrat, sondern stieg vor der Tür des Exekutivkomitees aus. Die Treppe zum ersten Stock hinauf musste er Gromada beinahe tragen. Gromada röchelte und keuchte und riss die Augen auf vor Erschöpfung.
„Bist aber ein krankes Huhn, Gromada! Altes Reff! Für einen Feldzug noch ebenso brauchbar wie ein kaputter Stiefel. Na, nun hol mal Luft für den Kampf."
„Du weißt doch, was mit mir los ist, wenn mir der Atem ausgeht, aber jedem Spezialisten geb ich immer noch vierzig Punkte vor."
„Jawohl, Berge werden wir versetzen! Hast recht!" Kaum hatte der zottige Türhüter Gleb entdeckt, da öffnete er schon die Tür und rückte samt seinem Stuhl zur Seite.
Badjin war nicht allein, bei ihm saßen Schramm, Tschibis und Dascha.
Dascha sah zu Gleb auf, ihre Augen wurden rund vor Überraschung, eine Flut von Kummer, zugleich aber auch Freude spiegelte sich in ihnen. Doch Gleb sah nicht die
Freude in ihnen, sondern etwas anderes, ganz Neues, das tief war wie ein Seufzer.
Badjin warf ihm einen zerstreuten, finsteren Blick zu und sah dann wieder auf die Papiere, in denen er mit seinen behaarten Fingern wühlte: er hörte Schramm zu.
Tschibis saß wie immer: halb gelangweilt und sich ausruhend, halb in eigene Gedanken versunken, die er nie und vor niemanden laut aussprechen würde.
Wieso ist Dascha hier? Dascha bei Badjin! Sollten ihre scherzhaften Anspielungen auf das gemeinsame Bett in der Staniza am Ende doch — Wahrheit sein? Ja oder nein? Warum sind ihre Augen verschleiert? Sie sind trocken, rund und glühen wie im Fieber. Wieder gleicht ihre Seele einem tiefen Brunnen, und wie das Wasser in einem tiefen Brunnen ist sie ihm fern und unerreichbar. Er musste an Motjas Worte denken, dass sie nie mehr so wie früher zusammenleben und kein gemeinsames Heim mehr haben würden.
Er trat nicht zu ihr, und sie blieb in ihrer Ecke sitzen, ohne ihn noch einmal anzusehen, wie eine Fremde.
Schramm sprach mit dumpfer Stimme: „Es ist auch nicht meine Schuld, dass in der Kreisforstverwaltung Korruption geherrscht hat. Ich habe die Instruktionen der leitenden Organe strikt befolgt. Warum hat die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion damals nichts Unnormales entdeckt, während sie heute ganze Berge von Kriminalakten auftürmt? Der Apparat unseres Volkswirtschaftsrates war bisher mustergültig, und die Arbeit lief wie am Schnürchen. Und nun soll alles plötzlich keine Arbeit gewesen sein, sondern ein einziges Kriminalverbrechen? Ich verstehe das nicht, und ich fordere eine unvoreingenommene Untersuchung." Badjin sah ihn kalt an und grinste.
„Du verstehst das nicht. Klar, warum du das nicht verstehst. Der Apparat des Volkswirtschaftsrates war mustergültig, das Schema funktionierte glänzend. Und weil dieser Apparat mustergültig war, bot er Verbrechern die beste Deckung. Du hast die ganze Arbeit fremden, uns feindlichen Elementen überlassen. Dank deinem mustergültigen Apparat vermochtest du nicht zu sehen, dass in der Forstverwaltung ununterbrochen gestohlen wurde, dass die Arbeiter kein Brot, keine Kleidung, keine Werkzeuge bekamen, dass Agenten auf Kosten des Staates ganz offen geschoben haben. Du verstehst nicht, weshalb vor deiner Nase alle möglichen Gaunereien gemacht werden zu dem Zweck, sich des Volksvermögens zu bemächtigen — wie, sagen wir, die kürzlich erfolgte Verpachtung der Lederfabrik an den früheren Besitzer. Du verstehst nicht, dass in einer deiner Abteilungen ein ganzer Plan über Konzessionen ausgearbeitet wurde, um das Zementwerk den Händen des Staates zu entreißen und den früheren Aktionären wiederzugeben. Du verstehst das nicht, aber ich sehe darin schwerste ökonomische Konterrevolution."
Schramm verharrte in seiner übermenschlich gespannten Haltung. Nur seine Augen trübten sich. Seine Stimme war heiser und brüchig vor Erschöpfung.
„Im letzten Fall habe ich mich nur dem Standpunkt der Sachverständigen anschließen können, die an Hand von Zahlen nachwiesen, dass in den nächsten Jahrzehnten die Inbetriebnahme des Werkes unmöglich sei. Alle Unterlagen zu dieser Frage sind in die Zentrale abgegangen: Ich war nicht berechtigt, ihre Lösung den hiesigen Organen zu überlassen. Die Sache mit der Lederfabrik wurde im positiven Sinne vom Exekutivkomitee geregelt."
Badjins breites Gebiss blitzte, und er wechselte einen Blick mit Tschibis.
„Ich weiß, wie das Exekutivkomitee darüber entschieden hat. Man hatte dort keine Ahnung, dass die Zahlen in deinem Bericht falsch und die genannten Personen Strohmänner waren. Darüber sprechen wir noch woanders."
Er nahm ein Blatt Papier vom Tisch und überflog es rasch.
„Da, Genossin Tschumalowa. Geh sofort zur Kommunalen Wirtschaft: man soll gleich heute die Räumung der vorgesehenen Häuser veranlassen und sie schleunigst als Kinderkrippen einrichten."
Dascha trat zum Tisch, sie sah weder Badjin noch Gleb an. Dieser aber bemerkte, wie Badjins Augen für eine Sekunde trunken aufleuchteten. Er biss die Zähne zusammen, dass ihm die Kiefer schmerzten und es in den Ohren knackte.
„Genosse Badjin!"
„Ah, endlich! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, zum Teufel? Na, berichte, berichte bitte! Sieh an, was für einen knallroten Kopf ... Man hat dir wohl tüchtig eingeheizt dort."
Er lächelte Gleb freundschaftlich zu. Finster und abweisend stand Gleb neben Gromada vor Badjin und schmetterte los: „Genosse Badjin, das Mitglied des Betriebsgewerkschaftskomitees Gromada und ich sind hergekommen/um folgendes zu erfahren: Auf wessen Weisung und aus welchem Grund sind die Arbeiten im Werk abgebrochen worden? Es herrschen dort völlige Desorganisation und Auflösung. Eine derartige Schweinerei kann man nicht auf sich beruhen lassen. Ich möchte gern wissen, welcher Schuft da Sabotage und Konterrevolution getrieben hat. Die Arbeiter murren. So eine böswillige Misswirtschaft ist schlimmer als ein Banditenüberfall. Hier sitzt Genosse Schramm. Er soll sagen, wie der Volkswirtschaftsrat ein solches Verbrechen zulassen konnte."
Badjins Zähne blitzten wieder, er lächelte freundschaftlich und merkwürdig heiter.
„Darüber weiß ich Bescheid. Die Hauptverwaltung Zement hat dem Volkswirtschaftsrat telegrafiert, die Arbeit einzustellen, bis sich erwiesen habe, ob es zweckmäßig sei, das Werk in Betrieb zu setzen."
„Ich kann mir schon denken, wer dahintersteckt, Genosse Badjin. Jedenfalls hat der Volkswirtschaftsrat vom Industriebüro die strenge Weisung erhalten, sofort alle Maß-
nahmen zur Organisierung der Arbeit zu treffen. Man hat dort über diese Frage beraten, und ich habe alle Dokumente in der Hand."
Schramms Stimme klang fremd und heiser. „Es gibt ein Industriebüro, es gibt aber auch eine Hauptverwaltung Zement."
Gleb rannte wutschnaubend vor dem Tisch auf und ab. Seine Wange zuckte krampfhaft.
„Genosse Vorsitzender, ich stelle mit aller Schärfe fest: so darf man nicht arbeiten. Und wenn Schramm den Teufel gefressen hätte, für solche Geschichten muss man ihm gehörig den Kopf waschen. Damit ist nicht zu spaßen, Genossen. Aber über diesen Piratenstreich werden wir uns noch unterhalten. Schramm passt nicht in unsere Ordnung. Das ist so sicher, wie zwei mal zwei vier ist. Wir werden dem Bezirkskomitee darüber berichten. Wir haben es hier mit einer direkten Bedrohung unserer gesamten Volkswirtschaft zu tun, Genossen. Genosse Badjin hat das richtige Wort gefunden: ökonomische Konterrevolution ... jawohl! Damit muss Schluss gemacht werden. Die Sache mit der Forstverwaltung ist nur eine faule Stelle gewesen. Hier handelt es sich um Zersetzung. Man muss allen, die in Frage kommen, an den Kragen, Genossen, In jeder Behörde muss ausgefegt werden. Lange genug haben wir diese ganze Weißgardistenbande mit Samthandschuhen angefasst: es wird Zeit, dass wir erbarmungslos zupacken. Ich muss noch berichten, Genosse Badjin: Alle unsere Resolutionen und Materialforderungen sind bestätigt und bewilligt. Morgen gehen die Arbeiter wieder ans Werk. Die versiegelten Materiallager werden geöffnet und das Inventar aufgenommen. Und noch eins, Genosse Badjin: Wir fordern die sofortige Umbesetzung der Werkverwaltung. Wir bringen auch Moskau auf die Beine, wenn's darauf ankommt."
Er zog einen Packen Papiere heraus und warf sie auf den Tisch. „Da habt ihr alle Unterlagen. Man hat uns mit dem Industriebüro geschlagen, nun schlagen wir mit demselben Industriebüro zurück."
Schramms Gesicht war totenblass geworden, und seine trüben Augen wirkten wie die eines Leichnams.
Tschibis erhob sich rasch und ging festen Schrittes, gar nicht mehr schwerfällig, hinaus.
Badjin sah Schramm unter gesenkter Stirn hervor an, und seine Augen lächelten wieder und funkelten fröhlich. „Na, Schramm? Da wird wohl der Volkswirtschaftsrat mit der Forstverwaltung auf dieselbe Anklagebank zu sitzen kommen, wie? Eine reizvolle Aussicht in Anbetracht der scharfen Wendung, die die Sache anscheinend nimmt."
Im Korridor stieß Gleb auf Dascha. Sie musste auf ihn gewartet haben. In ihren flackernden Augen zitterte ein qualvoller Schrei. Aber sie stand ruhig vor ihm wie immer und sagte leise mit gebrochener Stimme: „Du bist nun wieder da, Gleb, aber Njurka ist gestorben ... Sie ist schon begraben, du bist zu spät gekommen. Wir haben keine Njurka mehr, Gleb ... Mein Lieber ..."
Im ersten Augenblick war es für Gleb ein furchtbarer Stoß vor die Brust, dann wurde es um ihn still, als wäre er auf einmal taub geworden. Er versteinerte, nur die Beine schmolzen weg wie bei einem Sturz aus der Höhe. Er stierte Dascha an und konnte lange kein Wort hervorbringen.
„Wie? Das kann doch nicht sein! Wie? Njurka? Aber das kann doch nicht sein! Dascha! Was redest du da?"
Dascha stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und Gleb sah, dass sie lautlos weinte; sie rang nach Atem und schluckte an den Tränen, die ihr über die Wangen auf das zitternde Kinn liefen und auf die Brust fielen. Sie wischte sie nicht weg und schien zu lächeln vor Hilflosigkeit und Ergebenheit. Neben ihr lehnte Gromada an der Wand und hustete keuchend und heiser.

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