Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Fjodor Gladkow - Zement (1925)
http://nemesis.marxists.org

III. Das Bezirkskomitee der Partei

Genosse Shuk, der Quengler

Der Palast der Arbeit, eine klobige, einstöckige Backsteinkaserne, stand am Kai dicht bei dem langen, durchsichtigen Steg, der mit seinen schwarzen Pfählen weit in die Bucht hinausreichte. Eine Betonmauer ging wie ein durchbrochenes Band an beiden Seiten von der Fassade ab und trennte den Kai vom Eisenbahngelände. Durch die Breschen und Spalten der Mauer sah man die rostigen ausgefahrenen Gleise wie eiserne Nervenstränge sich hinziehen und verzweigen. Lagerschuppen schoben sich bis zum Bahnhof, und in der Ferne schauten wie altertümliche Türme von den Abhängen der Vorberge die moosbewachsenen Aufbauten des Getreidespeichers herunter. Sein wuchtiger Unterbau am Fuß des Gebirges glich einem gigantischen Tempel.
Auf der Fahrstraße längs der Mauer polterten Fuhrwerke. Die grauen Anlegekais mit den zyklopischen Ringen zum Vertäuen der Frachter, mit den unter Schrott und Wagenskeletten glitzernd hervorschimmernden Schienenwegen sowie die verödeten Landzungen und Molen teilten die Bucht in verschiedene Becken. Weiter draußen aber spielten im Frühlingsnebel regenbogenfarbene Schleier über dem Hafen, und die weißen Segel von Fischerbooten blitzten wie Möwen. Delphine furchten das Wasser mit ihrem Stiernacken, und eine Meeräsche tummelte sich silbersprühend in der Sonne.
Verlassener Hafen, verlassenes Meer. Auf welchen Ge-
wässern, vor wessen Küsten kreuzen unsere einstigen Schiffe jetzt?
Vor dem Palast der Arbeit mit seiner Pyramide von Stufen vor dem Portal waren einst Blumenrabatten und große Kastanien gewesen. Jetzt gab es keine Blumen mehr, die Einfriedung war zerstört, und die Kastanien hatte man umgehauen und verheizt.
Auf dem wehenden Rot der Fahne hoch über dem Dach leuchteten immer von neuem wie weiße Kamillen die Buchstaben RSFSR auf und erloschen wieder.
Gleb betrat den Korridor. Geradeaus, im Sitzungssaal, waren Fahnen und Transparente zu sehen. Ein anderer Korridor — dunkel und staubig — kreuzte den ersten; rechts war das Bezirkskomitee, links das Gewerkschaftskomitee untergebracht.
Die Luft war mit Tabaksqualm verpestet. Die Wände waren dreckig, voller Flecken, und an manchen Stellen war der Putz abgebröckelt. Überall lungerten Arbeiter mit verhungerten Gesichtern herum, verbittert oder demütig, und dazwischen flitzten sehr beschäftigte Leute hin und her.
Von nebenan und von weiter her, aus allen Räumen, drangen Stimmengewirr und Gelächter, Schreibmaschinen klapperten, Gewehrschlösser knackten — letzteres wahrscheinlich bei der Abteilung zur besonderen Verwendung.
Gleb bog rechts ein.
Hinter der Glastür zum Bezirkskomitee standen zwei Männer. Auf den quadratischen Milchglasscheiben zeichneten sich die Umrisse ihrer Gesichter scharf ab. Der eine war glatzköpfig und hatte eine türkische Nase. Seine Oberlippe war kurz, der Mund in einem Lächeln halb geöffnet. Der andere war stupsnasig mit niedriger Stirn und dickem Kinn.
„Schimpf und Schande, liebe Genossen! Schimpf und Schande, eine Schmach!"
Das sagte der Stupsnasige in anklagendem Ton.
„Der Amtsschimmel hat uns aufgefressen, der Bürokratismus."
„Sie irren sich, Genosse Shuk. Nicht das ist wichtig, durchaus nicht das. Wir haben viele Feinde, Genosse Shuk. Erbarmungsloser Terror ist nötig, sonst schwebt die Republik zwischen Leben und Tod. Das ist es, was man bedenken sollte. Ich verstehe Sie, Genosse Shuk, aber die Sowjetmacht braucht einen stabilen, bewährten Apparat, meinetwegen einen bürokratischen Apparat... aber er muss verlässlich arbeiten!"
„Auch du ... Alle durch die Bank — alle neigt ihr dahin. Und wo bleibt die Arbeiterklasse? Ach, lieber Genosse Serjosha! Es tut einem in der Seele weh."
„Jetzt gibt's nur eins, Genosse Shuk: die Arbeit unter den Massen, Arbeit, Arbeit. Die Massen müssen unverzüglich den ganzen Apparat der Republik durchdringen, bis in die oberste Spitze. Das geflügelte Wort des Genossen Lenin von der Köchin, die den Staat lenken soll, muss zu einer alltäglichen Tatsache werden. Darauf kommt es an — nur darauf. Und Sie haben unrecht."
„Ach, Serjosha! Bist ein der Sache ergebener Kommunist, wie man so sagt, aber ein blinder. Man muss mehr Herz haben für die Arbeiterklasse, und was die Feinde angeht — hol sie der Teufel —, haben wir sie verdroschen, werden wir sie weiter verdreschen."
Gleb erkannte in dem stupsnasigen Quengler seinen alten Freund, den Dreher Shuk aus dem Werk „Schiffsstahl". Der hatte sich also nicht verändert, zeterte und beschwerte sich wie vor drei Jahren.
Gleb trat ins Zimmer und schlug Shuk auf die Schulter. „Grüß dich, Freund! Keifst du? Entlarvst du? Immer noch die alte Leier? Wann hörst du endlich damit auf? Kommandieren muss man, und du — du flennst, du Stupsnase."
Shuk quollen vor Verblüffung die Augen aus den Höhlen. Pfeifend zog er die Luft ein und stieß sie wieder aus.
„Lieber Genosse ... Gleb! Verdammter Kerl! Alter Haudegen! Verflucht und zugenäht!" Er warf sich auf Gleb und umarmte ihn.
„Ja, bist du das wirklich? Freund! Na, jetzt werden wir zwei es allen zeigen! Werden jeden an seinen Platz stellen. Von welchem Planeten bist du denn runtergefallen, he? Serjosha, sieh ihn dir an — das ist mein allerbester Freund, mein Bluts- und Leidensbruder."
Gleb und Sergej reichten sich flüchtig die Hand, schoben zögernd ihre Finger ineinander, wie Menschen, die sich fremd sind. Sergejs Händedruck verriet Weichheit und mädchenhafte Scheu. Um seine Glatze kräuselten sich rotblonde Locken, und aus seinen Augen strahlte ein Lächeln. Man wusste nicht recht, war es spöttisch oder verlegen.
„Ich kenne Sie schon, Genosse Tschumalow. Als Sie sich neulich registrieren ließen, habe ich Sie gesehen. Im Bezirkskomitee wurde von Ihnen gesprochen. Sie kommen wie gerufen. Gehen Sie zum Sekretär, Genosse Tschumalow. Dort findet zwar eine Sitzung statt, aber der Sekretär hat angeordnet, Sie unverzüglich herzubestellen. Gehen Sie. Er heißt Shidki."
„Bring ihn doch hin, Serjosha, auf so was verstehst du dich. Ich komme auch mit — will sehen, wie sie mit ihm fertig werden."
„Ich habe keine Zeit, Genosse Shuk. Gleich haben wir Besprechung in der Agitprop, dann ist Sitzung in der Abteilung Volksbildung, und dann muss ich noch ein Referat halten."
„Ach, Serjosha! Bist ein gebildeter Mensch, aber schlimmer als ein Mönch — vor lauter Demut und Gehorsam."
Am Tisch direkt vorm Fenster saß die Genossin Mechowa, Vorsitzende des Frauenausschusses, den Bleistift in der Hand. Sie trug ein blaues Russenhemd. Unter ihrem roten Kopftuch guckte lockiges Haar hervor und schimmerte in der Sonne. Über der Oberlippe war wie bei einem jungen Mann leichter Flaum, ihre Brauen glänzten und die Augen sprühten Fünkchen. Sie richtete die großen, langbewimperten Augen auf Gleb, und ihre Brauen zuckten in einem Lächeln.
Neben ihr am Tisch stand Dascha und sprach lebhaft und laut. Sie warf Gleb nur einen kurzen Blick zu. Frauen standen um sie gedrängt. Sie hörten sich Daschas Bericht an.
Shuk lachte auf und packte Gleb am Ärmel. „Heißer Boden, Freund Gleb — die Frauenfront: Das Weibszeug beißt und kratzt. Nimm dich in acht!"
Sergej lächelte verlegen.
Dascha warf den Kopf zurück, hörte auf zu sprechen und verschränkte die Arme auf der Brust, in Erwartung, dass die Männer weggingen.
Genossin Mechowa machte eine abwehrende Handbewegung, lächelte und kommandierte dann ärgerlich: „Geht, Genossen, stört uns nicht. Red weiter, Dascha."
Gleich darauf aber unterbrach sie Dascha: „Genosse Tschumalow, kommen Sie auf dem Rückweg bei mir vorbei. Ich möchte mit Ihnen sprechen."
Gleb hob die Hand an den Helm und antwortete forsch: „Zu Befehl!"
Dascha berichtete über die Kinderkrippen in der Stadt.

Ein konkreter Vorschlag

Als Gleb die Tür zu Shidkis Zimmer öffnete, schlug ihm stickige Luft und Tabaksqualm entgegen. Grünliche Rauchschwaden flimmerten in der Sonne. Stäubchen stiebten wie feiner Regen.
Shidki war frisch rasiert und hatte seine Lederjacke über den Schultern hängen. Ihm gegenüber saß zurückgelehnt der Tschekavorsitzende Tschibis, ebenfalls glattrasiert. Shidkis Wangen waren von vertikalen Falten durchfurcht, er hatte eine asiatische Nase mit weiten Nasenlöchern.
Auf dem Fensterbrett, die Füße gegen den Fensterpfosten gestemmt, saß ein junger Mann mit dunkelbraunem Gesicht; er war sehr mager und trug ein schwarzes Hemd. Das war Luchawa, der Vorsitzende des Gewerkschaftskomitees. Das Kinn auf die Knie gestützt, hörte er schweigend zu.
Gleb legte die Hand an den Helm, Shidki jedoch beachtete ihn nicht. Es kamen zu viele Genossen zu ihm — er hatte keine Zeit, jeden zu begrüßen.
„Holzschläge hätten wir, schön! Eine Kreisforstverwaltung auch, schön! Holzplätze auch! Und weiter?"
Er klopfte nach jedem Satz mit dem Bleistift auf den Tisch.
„Und weiter? Es dreht sich doch darum, das Holz heranzuschaffen. Es liegt hinterm Pass, es liegt längs der Küste. Mit der Gespannpflicht kommen wir nicht weiter. Wir müssen ein sicheres, rasches Verfahren finden, um das Holz vor dem Winter heranzukriegen. Zum Teufel mit der Handwerkelei und dem Flickwerk: man muss den Stier bei den Hörnern packen, und zwar gründlich. Das erfordert ein gewaltiges Maß an Anspannung, dazu müssen alle Kräfte aufgeboten werden. Die Kreisforstverwaltung hat ihre Aufgaben nicht erfüllt, dort hat sich alles mögliche Gesindel eingenistet — Hamsterer, Aasgeier, die man erschießen sollte. Die Holzfäller werden bald meutern, weil sie vor Hunger krepieren. Sorgt für Holz, sonst müssen wir noch statt Holz die Leichen unserer Arbeiterkinder stapeln. Eine Sackgasse, Freunde. In einer Woche tagt der Wirtschaftsrat: wir müssen vorbereitet sein. Sprich, Luchawa!"
Tschibis sah niemanden an, und es ließ sich nicht erkennen, ob er nachdachte oder sich gelangweilt ausruhte.
Luchawa drückte die Knie mit den Händen an die Brust und betrachtete Shidki mit selbstbewusst spöttischem Lächeln. „Es gibt keine Sackgassen, Shidki, darf keine geben. Es gibt bloß Aufgaben. Du hast den Kopf verloren, mein Lieber."
Shidkis Nasenflügel blähten sich, es sah aus, als lache er. „Wir müssen die maschinelle Kraft des Werkes ausnutzen."
Sergej hob den Arm und bat ums Wort. „Ich möchte dazu ... zu dem Vorschlag von Luchawa ..."
Die Falten in Shidkis Wangen bebten unter einem Lächeln; Gleb sah, dass es voll herablassendem, gönnerhaftem Spott war.
„Serjosha hat einen konkreten Vorschlag zu machen, Genossen. Sag ihn."
„Ich möchte im Zusammenhang mit dem Vorschlag des Genossen Luchawa auf den Genossen Tschumalow hinweisen. Wir kämen in dieser Frage rascher zum Schluss, wenn Genosse Tschumalow, als Arbeiter des Werkes, seine Meinung sagte. Ich muss aber jetzt..."
Shidki schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Halt, halt! Serjosha deklamiert wie immer mit Gefühl, und seine Glatze glüht."
„Ich muss zu einer Besprechung in die Agitprop, dann ins Volksbildungsamt, und dann..."
Tschibis grinste, sah Sergej durchdringend an und sagte träge: „Der typische Intellektuelle ... Dieses ,dann' klingt in seinem Munde wie ein Gebet. Und die verfluchten Probleme lassen ihn nachts nicht schlafen... Intellektuelle fühlen sich immer bedrückt und schuldig."
Sergej wurde tiefrot und verlor die Fassung. „Aber Sie sind doch auch ein Intellektueller, Genosse Tschibis." „Ja, ich bin auch ein Intellektueller."
Shidki rief Gleb an den Tisch heran: „Na, Genosse Tschumalow, nun komm mal näher. Musst allerdings stehen — Stühle haben wir keine."
Gleb trat zum Tisch und nahm Haltung an. „Demobilisiert als qualifizierter Arbeiter. Stehe dem Bezirkskomitee zur Verfügung."
Ohne den Blick von Glebs Gesicht zu wenden, reichte Shidki ihm die Hand. „Genosse Tschumalow, du wirst hiermit zum Sekretär eurer Betriebsparteizelle ernannt. Sie ist desorganisiert. Lauter Hamsterer und Spekulanten. Sind verrückt nach Ziegen und Feuerzeugen. Das Werk wird am helllichten Tage ausgeplündert. Du weißt wahrscheinlich schon Bescheid. Greif auf militärische Art durch."
„Werde mir Mühe geben. Aber jede Disziplin braucht eine Basis, Genosse Shidki." „Sehr richtig; schaff sie, diese Basis!"
Luchawa stützte wieder das Kinn auf die Knie, zog an der Zigarette, die ihm im Mundwinkel hing, und fixierte Gleb mit eingekniffenen Augen. Sie funkelten wie Kohlen, herausfordernd und unverblümt forschend.
Als Antwort auf Glebs Worte bemerkte er nachlässig zu Shidki: „Schickt den Genossen in die Abteilung Organisation und Instruktion. Wir können die Sitzung nicht wegen nebensächlicher Kleinigkeiten unterbrechen."
Gleb fing Luchawas Blick auf, sagte aber nichts.
Tschibis betrachtete ihn durch die Wimpern. „Du bist ein qualifizierter Arbeiter. Und warst Kommissar. Warum hast du dich demobilisieren lassen, wo das Werk doch auf Jahre hinaus stilliegt?"
Gleb lächelte und musterte Tschibis aufmerksam. „Stilliegt? — Viel schlimmer, verdammt noch mal! Zur Sau gemacht ist es, 'ne Müllgrube, 'n Viehhof. Sprechen wir offen, Genossen! Ihr wollt die Arbeiter am Schlafittchen nehmen und die Ziegen davonjagen — aber wo bleibt die Produktion? Ihr verlangt eine straffe Organisation — aber wo habt ihr die Voraussetzungen dazu? Gebt die Losung aus, dass das Werk in Betrieb gesetzt wird, und alles wird in Butter sein. Bis dahin sind die Arbeiter keine Arbeiter, sondern Schweinehirten."
Luchawa prustete verächtlich.
„Die Helden des Roten Banners — ihre Tapferkeit in Ehren — sollten die Dinge realistisch sehen lernen."
Tschibis saß, im Stuhl zurückgelehnt, kühl und verschlossen dabei, und hinter der Staubschicht auf seinem Gesicht war nicht zu erkennen, ob er dem Gespräch folgte oder gelangweilt vor sich hin döste.
Shidki lächelte, die Falten in seinen Wangen zuckten. „Also fahren wir fort mit der Beratung der Brennstofffrage."
Luchawas Worte, ebenso herausfordernd wie sein Grinsen, hatten Gleb bis zum äußersten gereizt, er konnte sich kaum noch beherrschen. Nun fiel Shidki über ihn her: „Genosse Tschumalow, wir besitzen kein einziges Scheit Holz. Wir krepieren vor Hunger. In den Heimen sterben uns die Kinder. Die Arbeiter sind desorganisiert. Was soll uns jetzt das Werk, zum Teufel? Schwatz doch nicht solchen Unsinn! Es geht jetzt um ganz andere Dinge. Wie lässt sich deiner Meinung nach das Holz von den Holzschlägen ranschaffen? Kann man das Werk dafür nutzen?" „Ohne Brennstoff, ohne Maschinen und Elektrizität ist da nichts zu machen — so viel steht fest."
„Dann sag uns, wie man die Sache praktisch anpacken soll."
Gleb schwieg eine Weile, sah in Gedanken versunken zum Fenster hinaus. „Ich denke, es geht nur so: Wir müssen einen Bremsberg bis zum Gipfel bauen. Die Gewerkschaft sollte dazu Sonntagseinsätze organisieren. Rund zwei Wochen werden wir dazu brauchen. Sind die Loren erst einmal in Betrieb, können wir Holz heranschaffen, soviel wir wollen."
Shuk umklammerte Glebs Schultern und bleckte die Zähne vor Freude. „Ihr sitzt da, ihr Holzköpfe, quasselt und quasselt. Und er — er trifft's auf den ersten Hieb, nach Arbeiterart."
Keiner beachtete ihn, man war an ihn gewöhnt, er gehörte zum Alltag und ging darin unter. Man hatte ihn immer vor Augen, sah ihn aber nicht, und sein Geschrei rauschte an den Ohren vorbei.
Shidki zog mit dem Bleistift gerade und krumme Linien auf ein Blatt Papier und teilte sie durch Querstriche. Sein Gesicht war zur Ruhe gekommen und hatte einen gelangweilten Ausdruck angenommen, dadurch wirkte es plötzlich gealtert und verfallen.
„Dasselbe, glaub ich, hast du sagen wollen, Luchawa?" Luchawa sprang vom Fensterbrett, lief an Gleb vorbei und kehrte wieder zum Fenster zurück.
„Genosse Tschumalow kommt meinem Gedanken sehr nahe. Er hat ihn nur besser formuliert als ich. Nehmen wir seinen Vorschlag ohne Diskussion an, und beauftragen wir ihn, dem Wirtschaftsrat darüber zu berichten!"
Shidki stand auf und warf den Bleistift auf den Tisch. Der Bleistift rollte in Glebs Richtung und fiel ihm vor die Füße.
„Utopie, Genosse Tschumalow. Verlier kein Wort weiter über das Werk, das Werk ist ein steinerner Sarg. Uns interessiert nicht das Werk, sondern Holz. Es gibt kein Werk, nur einen verlassenen Steinbruch. Das Werk ist für uns Vergangenheit oder Zukunft. Wir wollen von der Gegenwart sprechen — wie wir Holz beschaffen."
„Ich weiß nicht, was Sie Utopie nennen, Genosse Shidki. ,Werk' lautet das erste Wort — wenn Sie es nicht aussprechen, werden es die Arbeiter tun. Was reden Sie da? Das Werk ist Zukunft oder Vergangenheit? Sind Sie im Werk gewesen? Wissen Sie, was die Arbeiter brauchen? Warum sie das Werk ausplündern? Warum Regen und Wind an Beton und Eisen nagen? Warum alles verfällt und zu einem Schutthaufen wird? Der Arbeiter hat keine Lust, sich mit unnützen Dingen abzugeben. Er pfeift auf den Krempel, der ohne Ziel und Zweck herumliegt. Ihr hier redet ihm ein, das Werk sei kein Werk, sondern ein verlassener Steinbruch. Was soll er also machen? Tut er nicht sogar gut daran, wenn er die Maschinen abbaut, da sowieso alles zum Teufel geht? Ihr selbst treibt ihn ja dazu. Weshalb soll er denn das Werk schützen? Welche begeisternde Idee hat
er denn von euch bekommen, damit er nicht mehr an die eigene Haut denkt, sondern zum klassenbewussten Proletarier wird?"
Shidki hörte Gleb mit lebhaftem Interesse zu und blähte spöttisch die Nasenflügel.
„Du machst das Werk zu deinem Götzen, Genosse Tschumalow. Was, zum Teufel, soll uns das Werk, wenn Banditentum und Hunger herrschen und es in den Sowjetbehörden von Verrätern und Verschwörern wimmelt? Wer braucht denn jetzt Zement und die ganzen Werkhallen? Um Massengräber zu bauen? Ihr agitiert, die Arbeiter sollen die Industrie meistern lernen, und die Bauern fallen wie Tatarenhorden in die Städte ein."
„Genosse Shidki, ich sehe das ebenso gut wie Sie. Man kann nicht ohne konkretes Ziel an die Arbeit gehen und nicht mit bloßen Menschen aufbauen wollen. Zum Teufel mit eurer Kleinigkeitskrämerei! Jetzt muss man für den Wiederaufbau der Wirtschaft kämpfen. Die Kanonen schweigen endlich. Die Leute gehen nach Hause und an die Arbeit. Die Gewerkschaften und die Neue Ökonomische Politik — darüber kommt die Diskussion immer mehr in Gang. Diese Frage muss man ernsthaft behandeln. Es will überlegt sein, von welcher Seite die Sache anzupacken ist und wie die Vorarbeiten organisiert werden. Kronstadt haben wir hinter uns gebracht. Aber die Machno-Banden? Und die Konterrevolution der Kosaken?! Die Weißen haben nur den einen Wunsch, uns Schlappschwänze zu überrumpeln."
Tschibis erhob sich und ging zur Tür. Dort blieb er stehen und sagte bedeutungsvoll: „Unsere Abteilung zur besonderen Verwendung taugt nichts. Wenn man vom Wiederaufbau des Werkes spricht, warum sollte man da nicht auch die Kasernierungsfrage auf die Tagesordnung setzen?"
Er öffnete die Tür und ging ohne Eile hinaus. Shidki sah ihm nach und lächelte verständnisvoll.
„Wir wollen nicht streiten, Genosse Tschumalow. Hauptsache ist die Idee und die Organisierung der Massen. Das stimmt."
Er drückte Gleb fest die Hand.
„Bring übrigens auch Shuk Vernunft bei, Genosse Tschumalow, er sieht ja aus wie eine gierige Ratte."
Gleb fasste Shuk unter und ging mit ihm zur Tür. „Lieber Genosse! Gleb! Jawohl, wir beide, Freund, wir versetzen Berge, wir lassen alle Minen springen. Tatsache!"
Shidki rief ihm freundschaftlich nach: „Genosse Tschumalow, es kann nicht schaden, wenn du mit Badjin, dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees, ein Wörtchen sprichst."
An der Tür presste Luchawa Glebs Ellenbogen. „Dascha hat mir von Ihnen erzählt. Ihren Plan werden wir gemeinsam beraten und ihn zur Grundlage unserer Arbeit machen. Nicht auf Worte kommt es an, sondern auf Tatsachen. Die Zukunft ist im Hirn — Gegenwart wird sie in den Muskeln."
Sie sahen einander in die Augen und gingen auseinander.
Dascha. Luchawa. Warum sollte nicht Luchawa die dritte Person in seinem Drama sein? Könnte das nicht möglich sein? Nein, das wäre zu dumm.

Die Frau mit den Locken

Gleb ging zur Mechowa. Versehentlich stieß er einen Stuhl um, der im Wege stand. Sie verbiss sich, das Lachen und musterte wohlgefällig Glebs Gestalt.
„Mäßigen Sie Ihre Angriffslust, Genosse Tschumalow. Wir arbeiten hier unter Friedensverhältnissen."
„Verzeihung! Ich hab mich noch nicht an Ihre Maßstäbe gewöhnt."
„Werden Sie müssen. Hier setzt man Sie bald an einen Schreibtisch, damit Sie wie alle hübsch brav die Verwaltungsmühle treten. Pulvergeruch und Heldenromantik werden Sie sehr rasch vergessen. Sie werden bald schlaff und blass werden, werter Genosse. Man hat Sie, glaub ich, zum Sekretär der Betriebszelle ernannt. Na, wollen mal sehen, wie Sie mit Ihrer Horde fertig werden. Die Frauen dort riechen nach Schweinen, Ziegen und Mist. In jedem Haus finden Sie eine Hehlerbude und ein Lager von Diebesgut. Noch ein halbes Jahr, und vom Werk ist nichts übrig als Schutt und Trümmer. Und von was für einem Werk!"
„Ich habe gerade lang und breit von Bremsbergen, flüssigem Brennstoff und Elektrizität geredet. Komische Leute, sprechen von nichts anderem als vom Holztransport mittels maschineller Kraft und kommen gar nicht darauf, dass dies ja der erste Schritt ist, das Werk in Gang zu setzen. Einen Bremsberg bauen oder die Maschinen anlassen — das ist ein und dasselbe."
„Ihr drescht alle die gleichen Phrasen. Mit dem Mund seid ihr Helden, aber in Wirklichkeit seht ihr nur zu, wie ihr euch am wärmsten betten und in Sowjetbourgeois verwandeln könnt. Der Alltag hier ist sehr langweilig, Genosse Tschumalow. Bei der Armee ist es schöner. Ich wollte hin, aber man hat mich nicht fortgelassen. Nur Ihre Frau da merkt nichts von Alltag und findet in jeder Kleinigkeit etwas Großes."
Dascha stand an der Wand und lächelte spöttisch. Sie wehrte ungeduldig ab.
„Dieser Held ruht sich jetzt auf der faulen Bärenhaut aus, Genossin Mechowa. Freut sich über jede Gelegenheit, wo er den Schnabel aufreißen kann. Schmeiß ihn hier achtkantig raus! Man darf ihn nicht noch verwöhnen."
„Sehen Sie? Eine sachliche und strenge Frau."
„Stimmt. Fragen Sie sie mal, wie sie ihren Mann behandelt. Einfach nicht zum Aushalten. Ich weiß nicht, wie ihr beizukommen ist."
„Erfüllt sie ihre ehelichen Pflichten nicht? Was für ein Jammer! Die Revolution hat das Weib verdorben!"
Nun lachte auch Dascha, aber es war nicht mehr das liebe, mädchenhafte Lachen von früher.
Die Frauen stießen Shuk mit den Fäusten aus dem Zimmer und schrieen ihm nach: „Mit eurer Macht ist es vorbei, ihr rasierten Böcke! Die Bärte hat man euch abgeschnitten, und nun seht ihr aus wie Weiber."
Erneut musterte die Mechowa aufmerksam Glebs Gestalt, und es kam ihm vor, als beschnuppere sie ihn gierig.
„Sie haben sich noch nicht recht akklimatisiert bei uns, Genosse Tschumalow. Sie sehen noch ganz nach Armee und Krieg aus. Man hat das Gefühl, Sie dampfen schon morgen wieder zu Ihrem Regiment ab. Erzählen Sie mir von Ihren Heldentaten. Wann haben Sie den Rotbannerorden bekommen? Wenn Sie wüssten, wie ich die Armee liebe! Ich habe ja auch eine Zeitlang im Schützengraben gelegen ... bei Manytsch ..."
Sie lächelte vor sich hin. In ihren Augen glitzerten Funken verstohlener Freude.
„Herrlich ist es gewesen! Unvergessliche Tage! Wie die Moskauer Oktobertage. Fürs ganze Leben. Das war Heldentum!"
„Alles richtig, Genossin Mechowa. Aber hier, an der Front der Arbeit, ist Heldentum ebenso nötig. Es ist schwer hier — Verwüstung, Durcheinander, Dreck, Hunger. Da heißt es alle Kräfte anspannen, sich nicht schonen! Der Berg ist umgekippt — richte ihn wieder auf. Unmöglich? Das ist es eben. Heldentum ist das scheinbar Unmögliche."
„Ja, ja! Mit Ihnen möchte ich mich unterhalten, Genosse Tschumalow. Ich meine: Heldentum bedeutet — mit vereinten Kräften an einem Strang ziehen, dann gibt es nichts Unmögliches." Sie lachte, und die Fünkchen in Brauen und Augen leuchteten auf. „Ja, Sie haben recht. Kämpfen, siegen. Darin liegt alles. Besuchen Sie mich einmal, Genosse Tschumalow. Ich wohne im Hause der Sowjets."
Dascha lächelte und blickte forschend von der Mechowa zu Gleb. Dann trat sie zu ihm, nahm ihn bei der Schulter, drehte ihn um und schob ihn zur Tür. „Na, nun geh, verschwinde, du Krieger! Hier hast du nichts verloren. Marsch! Wir haben auch ohne dich eine Masse dringender Arbeit."
Er wandte sich schnell um und hob sie hoch. Die Frauen lachten schallend, auch die Mechowa. Überrumpelt von seiner Zärtlichkeit vor aller Augen, schrie Dascha auf und klammerte sich mit beiden Armen an ihm fest. Für einen Augenblick spürte Gleb, dass ihr Herz noch für ihn schlug, und hörte ihr vertrautes Lachen.
„Genosse Tschumalow, wissen Sie überhaupt, wer Ihre Dascha ist? Hat sie Ihnen von ihren Abenteuern erzählt? Hier haben sich Dinge abgespielt, so was haben vielleicht nicht einmal Sie erlebt."
Dascha zuckte zusammen und befreite sich aus Glebs Armen.
„Ich bitte dich, Genossin Mechowa, lass mich aus dem Spiel! Ist alles längst vorbei. Ich werde mich nicht vor ihm brüsten, und dass andere davon schwatzen, verbitte ich mir. Das gilt sogar für dich."
Die Mechowa wurde verlegen und errötete. „Ach so? Ich habe nicht gewusst, dass das ein Geheimnis ist."

Warum war sie erschrocken und verbot der Mechowa den Mund? Warum kannten alle ihre Strohwitwenjahre, und ihm erzählte sie kein Wort davon?
Auf dem Korridor holte ihn die Mechowa ein.
„Warten Sie mal, Genosse Tschumalow. Sie haben mir nicht gesagt, was Sie bei Shidki ausgeheckt haben. Ich will auf dem laufenden sein. In diesem Loch verschimmelt man, und der Alltagskram macht einen zum Maulwurf.
Der Revolution ist das nicht zuträglich. Wenn Sie vorhaben, unseren Sowjet- und Parteialltag umzukrempeln, müssen Sie feste Zähne haben. Ich stehe zu Ihnen, Genosse Tschumalow. Was Sie auch tun, ich stehe zu Ihnen. Ich fühle es, Sie können nicht im Alltag versinken: Sie kommen von der Armee. Noch etwas: Lassen Sie Dascha vorläufig in Ruhe. Ich habe mich vorhin dumm benommen. Sie kommt von selbst zu Ihnen. Sie werden sehen. — Sagen Sie mir, was haben Sie beschlossen?"
„Alles zu tun, damit das Werk wieder läuft, und wenn wir uns dabei die Knochen brechen."
„Dann können Sie gehen — mehr brauche ich nicht. Ich stehe zu Ihnen, Genosse Tschumalow."
Sie lächelte bedauernd und froh zugleich und ging zurück.
Auf der Straße empfing ihn Shuk und schwenkte den Arm. „Na, wie viel Trümpfe haben wir in der Hand? Pass auf, Bruder! Die nehme ich mir jetzt alle vor. In allen Ecken und Winkeln wird der böse Geist aufgestöbert und ausgetrieben. Die sollen mich noch kennen lernen, die Holzköpfe, ich suche sie jeden Tag heim, ich mache ihnen die Hölle heiß, Ehrenwort. Jetzt heben wir beide die ganze Bürokratie aus den Fugen."

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur