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Fjodor Gladkow - Zement (1925)
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XII. Signalfeuer

Auf Wacht

Tags, beim Exerzieren, hörte man fern im Gebirge Geschützdonner rollen; dort, hinter den dunstigen Gipfeln, wurde gekämpft.
Ein eben aufgestellter Sondertrupp bereitete sich darauf vor, zum Einsatz auszurücken. Nachts bezogen alle Mann Wachtposten in der Stadt.
Am Tage brütete Schweigen über den leeren Straßen, und nachts lagen sie in Todesstarre. Im Werk brannte kein elektrisches Licht mehr, und die Wohnungsfenster waren dicht verrammelt und verhängt. Wenn die Spießer einander in Behörden und auf der Straße begegneten, zwinkerten sie sich bedeutsam zu. Gerüchte und Klatschereien wirbelten mit den Staubwolken durch die Stadt, und der Wind trug unachtsame Reden in die Berge und Schluchten, wo unter jedem Strauch und hinter jedem Stein der unsichtbare Feind lauerte.
Ein Teil der Frauenorganisation war unter Daschas Leitung mit der Sanitätsabteilung in Stellung gegangen, der andere Teil, von Polja befehligt, betreute die Kommunisten in den Kasernen und traf emsig Vorbereitungen für den Fall, dass die Familien der Arbeiter evakuiert werden mussten.
Mehrmals täglich begegnete Gleb Polja. Sie lief unermüdlich von Gewerkschaft zu Gewerkschaft, von Betrieb zu Betrieb, von Behörde zu Behörde, setzte ihre Frauen an allen Ecken und Enden als Verbindungsleute ein, um die Sache in Fluss zu halten und bei entsprechendem Befehl mehrere tausend Frauen und Kinder evakuieren zu können.
Jeden Augenblick zur Abfahrt bereit, standen Züge vor dem Werk, am Kai und in den Vororten unter Dampf, und das Zischen der Lokomotiven verschmolz mit dem fernen Grollen der Geschütze.
Polja hatte schon zwei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen, ihre Augen glänzten fiebrig, und auf ihren Wangen brannte hektische Röte.
Heute hatte sie eine freie Minute benutzt, um zu Gleb in die Kaserne zu laufen.
Sie lachte mit trockenen Lippen.
„Endlich richtige Arbeit, Gleb! Was war das auch für ein Leben bisher — Thesen über Gewerkschaften und Neue Ökonomische Politik haben wir gepaukt, haben uns im grauen Karussell des Alltags gedreht, sind auf Sitzungen blind und taub geworden, haben Bürokratismus gezüchtet. Verknöchert sind wir, nach und nach Berufsbeamte geworden. Neue Ökonomische Politik. Einmal habe ich einen Taucher sagen hören: ,Diese Neue Ökonomische Politik ist schlau erdacht: Wein- und Bierausschank zum Trinken in der Kneipe oder auch über die Straße. Das befürworte ich, dafür gebe ich mit tausend Freuden meine Stimme.' Nein, Gleb, das wird nicht geschehen. Nein!" Gleb lachte. Poljas Art gefiel ihm.
„Nicht so hitzig, Genossin Mechowa. Noch ehe ein halbes Jahr um ist, kurbeln wir diese berühmte Neue Ökonomische Politik an. Und deinen Taucher stecken wir in die Kommunalwirtschaft. Dort mag er Kneipen aufziehen und Geld aus ihnen herausholen."
Polja fuhr entsetzt auf, und ihre Brauen zuckten vor Zorn.
„Das wird nie geschehen! Die Partei kann diese Frage nicht so behandeln, wie ihr es tut. Wir dürfen die Revolution nicht verraten — das wäre fürchterlicher als der Tod.
Die Intervention ist gescheitert, damit wird die Blockade ein sinnloses Unternehmen. Unsere Revolution hat die ganze Welt entzündet. In allen Ländern ist das Proletariat auf unserer Seite, die Reaktion ist machtlos. Aber wäre denn die Neue Ökonomische Politik nicht Reaktion, nicht Rückkehr zum Kapitalismus? Niemals! Das ist Unsinn, Gleb."
„Alle Wetter! Wieso denn Rückkehr, wenn sie doch ein Bündnis zwischen Arbeiter und Bauer ist."
„Wieso? Weil es wieder Märkte geben soll, wieder Bourgeoisie. Willst du denn, dass die Kapitalisten eine Konzession für unser Werk bekommen? Davon hat man heute im Exekutivkomitee gesprochen. Schramm hat wahrscheinlich einen Bericht an die Hauptverwaltung Zement geschickt. Dich freut das, ja? Wäre Reaktion nach deinem Geschmack?"
Ihr Gesicht war blass geworden, auf den Backenknochen brannten rote Flecke, und auf Stirn und Oberlippe glitzerten Schweißtröpfchen.
Glebs Gesicht wurde fahl, verstört beugte er sich zu Polja.
„Was denn, was denn, Genossin Mechowa? Eine Konzession? Was für eine Konzession? Heißt das, dass die Arbeiter ihr Werk an die Bourgeoisie weggeben sollen? Teufel noch mal! Ich werde der Aasbande zeigen, was eine Konzession ist."
„Aha, das hat gesessen! Da hast du deine Neue Ökonomische Politik. Nun kurble sie nur an! Konzessionen, Kneipen, Märkte. Kulaken, Spekulanten. Vielleicht kannst du etwas Tröstliches über Arbeiterkonsumgenossenschaften sagen ... über Naturalsteuer, über Konsumgenossenschaften. Vielleicht ist das alles notwendig. Aber nur keinen Rückzug, Gleb, nur das nicht, nur das nicht! Den Weltenbrand entfachen und schüren, die erkämpften Stellungen nicht aufgeben, sondern neue erobern! Das ist heute unsere Aufgabe!"
Polja lief fort, ihre Augen glühten. Gleb blieb fassungslos zurück und dachte aufgeregt über Poljas Worte nach.
In der Nacht stand Gleb mit seinem Trupp im Tal vor der Stadt. Seine Leute bildeten eine Kette von der Chaussee bis zu den Abhängen der Vorberge. Patrouillen streiften durch die Vororte und scheuchten dabei die Hunde auf, und am Gebell war festzustellen, wo die Patrouillen sich gerade befanden.
Gleb und Sergej standen am Waldrand und beobachteten die Signalfackeln in den Bergen.
Wie ein rotgefiederter Vogel flatterte an einer Stelle eine Flamme hoch und schwang sich empor. Der ausgestreckte Arm und die Schultern eines Menschen leuchteten auf.
Ziemlich fern in der Schlucht flog genauso eine flackernde Fackel hoch und fuhr wie eine Sternschnuppe durch die Dunkelheit. Weiter oben schoss eine dritte hoch und überschlug sich, ihr folgte noch eine und immer wieder eine.
Hinter ihnen war Wald, aber er war mit der Dunkelheit verschmolzen.
Nur die nahen Chausseebäume regten sich wie zottige Schatten.
Auch in dieser Nacht vergingen die Menschen genau wie gestern aus Entsetzen vor dem Tod, der von den Bergen stieg.
Ü ber der Stadt lag ein Schweigen voll Grauen. Sie fürchteten sich nachts vor ihrem eigenen Flüstern und hatten sich in die Keller verkrochen. Auch im Wald wuchs das Schweigen. Es wälzte sich aus dem Dickicht und roch nach Moor und Malz. Und eine ferne märchenhafte Kapelle erfüllte alles mit ihrem läutenden Hummelsummen.
Sergej erschien alles gespenstisch, fließend und grenzenlos. Als Kulturmensch kannte er die Nacht nur bei elektrischem Licht, und Berge und Sternenhimmel waren ihm vertraut und verständlich vorgekommen wie Steinhäuser, Boulevards und weite Plätze. Am Tage war das Gewehr leicht gewesen, jetzt aber zog es immer schwerer zur Erde.
Ein Flammenvogel fiel flatternd ins Gebüsch, ein Funkenfächer sprühte auf und erlosch. Fern und nah schwirrten Fackeln in Bergen und Schluchten.
Gleb setzte sich ins Gras und sah gleichmütig zu der Stelle hin, an der die Fackel erloschen war.
„Wir müssen ihn kriegen, den Schuft. Er verlangt geradezu nach einer Kugel. Setz dich, Serjosha!"
„Er muss doch ganz in der Nähe sein, Tschumalow. Er brennt englisches Pulver ab. Zweifellos weiß er, dass wir hier sind, weiß es und schert sich nicht darum. Jedenfalls sind wir zu spät gekommen. Gleb Iwanowitsch, er hat seine Aufgabe erfüllt. Du siehst — das Ding ist erloschen. Er wird nicht riskieren..."
Gleb steckte sich ruhig seine Pfeife an und sah auf die Irrlichter in den Bergen.
„Wenn er uns beide nicht für Dummköpfe und Feiglinge hielte, wäre er nicht hier vor unserer Nase herumgetanzt. Dieser Telegrafist wird uns noch ein Weilchen Spaß machen."
Sergej blickte die Chaussee hinunter. Sie war in aschgrauen Dunst gehüllt und löste sich im Dunkel auf. Dort, wo die Straße nicht mehr zu unterscheiden war, erhob sich wie eine schwarze zerklüftete Wolke ein riesiger Baum. Und Sergej kam es vor, als versuche jemand in den Ästen ein Streichholz anzuzünden, das nicht brennen wollte.
„Ü berall Feinde, Gleb Iwanowitsch. Kein Wunder, wenn sie auch hier unter uns wären."
Hinter dem Walde lag der Bahnhof. Aber auch dort war es still, und nur die Nacht schnaufte wie ein schläfriges, wiederkäuendes Tier.
Weit vorn auf der Chaussee knarrte ein Wagen, klirrten Räder.
Das alles sind nur unvermeidliche Episoden im Kampf. Auch in Zukunft wird sich noch manches ereignen: die Feinde werden noch lange im Lande ihr Unwesen treiben - immer neu maskiert als Freunde der Arbeiterklasse und der Partei. Der Kampf gegen sie wird hart sein und lange währen. Jetzt ist es schmerzlich, dass die mit soviel Kraftanspannung und Begeisterung begonnene Arbeit unterbrochen ist. Der Bremsberg ist zerstört, die Loren liegen von neuem zwischen Steinen und Sträuchern umher wie in den Tagen, da Gleb voll Grauen über den rostigen Schutt stieg. Wieder stehen die Dieselmotoren still, und die Werkhallen sind leer und kalt. Wieder hat man das Gewehr in der Hand. Vielleicht stehen ihm wieder Schützengraben und Marschieren bevor und rußiger Pulverrauch statt rauchender Schlote.
Hat er die Kräfte, um weiterzukämpfen und die Front der Arbeit zu organisieren, da doch alles, von den Maschinen bis zum Nagel, zerstört, geplündert, verrostet ist? Da es keinen Brennstoff gibt, kein Brot und keine Transportmittel? Da die Eisenbahnwagen sich wie Gräberberge auf den Schienen türmen und an rauchende Schiffe im Hafen noch lange nicht zu denken ist? Hat Badjin ihn nicht mit vollem Recht als Dummkopf angesehen, der selbst nicht weiß, was er auf sich nimmt? Naseweis, Tölpel, Phrasendrescher! Noch sind die Leute nicht imstande, das Geringste fest in der Hand zu behalten, noch bedroht der Feind die Arbeitermacht in ihrer bloßen Existenz — wie kann man da Pläne schmieden zur Wiederbelebung des Werkes? Darf man überhaupt an so etwas denken, wenn die Arbeiterklasse zu Hungerrationen verurteilt ist und, entkräftet, die Anstrengungen des Arbeitstages gar nicht aushalten könnte? Für wen produzieren, wenn das Wirtschaftsleben der Republik auf Jahre hinaus gelähmt ist und das Land vor Hunger ausstirbt?
Wieder flammte eine Fackel auf, diesmal aber weiter weg und höher. Die Sträucher glühten und traten wie lebendig aus dem Dunkel. Feurige Fledermäuse flatterten in den Bergen auf. Am neblig trüben Himmel hinter der Stadt begann es zu wetterleuchten, zuckten elektrische Entladungen. „Ich hab's dir ja gesagt, Serjosha. Schau!"
„Das ist großartig. Eine solche Illumination habe ich noch nie gesehen. Wir sitzen also in einem Kessel, wie es scheint."
„In einem Sack, lieber Freund. Spring in den Himmel!"
„In solchen Nachtstunden muss ich an die Zukunft denken, Gleb Iwanowitsch. Im Bewusstsein unserer Kinder werden wir als große Helden dastehen, und sie werden Legenden über uns dichten. Sogar unseren Alltag, unseren Hunger, unseren erzwungenen Müßiggang, auch unsere Nachtwache heute werden sie, wie die Mathematiker sagen, potenzieren. Alles das wird in ihrer Vorstellung zu einer Epoche heroischer Taten und titanischen Geschehens werden. Und wir beide, wir winzigen Staubkörnchen in einer großen Masse, wir werden ihnen gigantisch groß erscheinen. Vergangenes wird stets verallgemeinert und potenziert. Die Nachkommen werden nicht an unsere Fehler, Grausamkeiten, Unzulänglichkeiten und Schwächen denken, nicht an unsere einfachen menschlichen Leiden und verfluchten Probleme. Sie werden behaupten: Das sind Menschen gewesen, die vor Kraft strotzten und keine Hindernisse kannten. Menschen, denen es bestimmt war, die ganze Welt zu erobern. Sie werden zu unseren Gräbern pilgern wie zu Fanalen, die nie erlöschen. Und wenn ich mir das vorstelle, schäme und freue ich mich der Verantwortung, die wir der Menschheit gegenüber tragen ... Die Zukunft bedrückt mich, Tschumalow: Unsere Unsterblichkeit ist eine zu schwere Bürde."
„Die Geschichte tut, was sie zu tun hat, Sergej Iwanowitsch. Für mich ist jetzt das Wichtigste — die Arbeit organisieren. Na also, hatte ich gedacht, das Werk hätten wir bald in Gang — und nun kommen uns diese Banditenstückchen in die Quere. Sie hindern uns, die Lumpen. Das ist das Ekelhafte."
„Du denkst zu einfach, Tschumalow: Deine Gedanken schichten sich wie Ziegel in einer Mauer. Meine Gedanken dagegen sind wie Vögel im Bauer."
Die Nacht war abgrundtief, und aus der Dunkelheit brachen Unheil verkündende Lichter. Diese wie aufgescheuchte Eulen flatternden Feuer und die elektrischen Entladungen in den Wolken waren geheimnisvoll und schauerlich. Die große Stunde rückte heran. Dort, hinter den Bergen, wo die Fackeln wie feurige Messer hin und her sausten, dort nistete in engen Schluchten die noch nicht zur Strecke gebrachte Bestie. Unsichtbar kam sie aus den Kosakendörfern geschlichen; bärtige alte Familienväter erhoben sich, um in Horden mit lautem Feldgeschrei loszustürmen, die blutigen Säbel schwingend.
Die Stanizen spieen ganze Heuschreckenschwärme aus, und die Aufstände der reichen Kosaken überzogen die Felder und das Ried, die Hügel und die Steppe mit Rauch und Blut.
Berge und Wälder wimmelten von Menschen, die zu Bestien geworden waren. Am Tage verbargen sie sich im dunklen Dickicht und in Höhlen oder spazierten durch die Stadt, als Freunde der Revolution maskiert. Sie steckten überall: in den Reihen der Kämpfer, in den Büros der Sowjetbehörden, in den Häusern harmloser, friedlicher Bürger. Wer vermochte mit Fingern auf sie zu zeigen, sie bei Namen zu nennen und sie zu zertreten wie Geschmeiß? Brach aber die Nacht herein, dann krochen sie hervor und machten sich, in der Dunkelheit zerstreut, an ihr verräterisches Werk. Da zündeten sie ihre Signalfeuer an, und ihr Licht flog zu den Feldern der anderen Heuschrecken, rief, lockte und lachte.
Ein Wagen rasselte auf der Chaussee bergab. Deutlich hörte man die Hufschläge des müden Pferdes.
Gleb und Sergej gingen dem Wagen entgegen. Alles — Erde und Wald — war in Finsternis getaucht, und weil den Augen ein fester Anhaltspunkt fehlte, erschien Sergej alles geisterhaft-unkörperlich, und Himmel und Erde waren gleich nahe und bodenlos, als befände er sich im Leeren. Bei jedem Schritt schrak das Herz zusammen: vielleicht
trat man im nächsten Augenblick statt auf die festgewalzte Straße in den Sumpf oder den schwarzen Abgrund.
Das Pferd wurde sichtbar. Sein Kopf schimmerte matt im Schein des Wetterleuchtens und der Lichter in den Bergen. Auf dem Wagen hockten schwarze Schatten. Es waren ihrer sehr viele, der Wagen erschien riesig und aufgeplustert.
„Halt! Wer da?" Gleb trat in die Mitte der Straße und stellte sich mit schussbereitem Gewehr dicht vor das Pferd.
„Verwundete."
„Parole?"
„Zum Teufel mit deiner Parole! Siehst du nicht die verbundenen Schädel?"
„Wie steht unsere Sache, Genossen?"
„Geh selbst hin, Kleiner, dann wirst du's sehen. Die Ratten sitzen in ihren Löchern, und wir geben ihnen Zunder. Uns segnen sie mit Schrapnellen. Tolle Sache, so ein halbes Hundert Offiziere haben wir fertiggemacht."
„Und wie ist's mit Verstärkung? Wartet ihr darauf?"
„Wozu denn? Wir kriegen sie auch so klein. Unsere Verluste an Toten sind nicht der Rede wert. Und Verwundete — da, wir sind die ersten. Die anderen stecken in den Schützengräben. Wir sitzen oben — sie unten, eingeklemmt... können nicht hin und nicht her, die reinste Zwickmühle — geschieht ihnen recht, den Schweinehunden!"
„Ihr seid in Ordnung, Jungs! Fahrt weiter!"

Der einarmige Gefangene

Die Berge waren ein Garten mit Flammenblüten. Über dem Meer zuckte Wetterleuchten.
Sergej und Gleb, die Gewehre in der Hand, stiegen wie stumme Schatten durch die Sträucher den Hang hinauf. Funkensprühende Feuerflocken wirbelten, erloschen und schwangen sich wieder auf wie brennende Vögel.
Sie gingen am Schlachthof vorbei. Der Zaun fehlte — er war zerstört. Wer weiß — vielleicht hockten auch dort Feinde und nahmen einen gerade aufs Korn? „Geh weiter, Serjosha, streif nicht die Büsche, pack das Gewehr fester. Wir schnappen ihn lebend."
Gleb spannte sich, straffte sich wie eine Saite und schlich mit der Gewandtheit eines Hundes voran. Von einer ihm selbst unverständlichen Freude war Sergej wie trunken. Er wandte den Blick nicht von dem Licht und lächelte unbewusst. Seine Hände und Beine zitterten, ihm war, als flöge er mit ausgebreiteten Schwingen in den Raum. Klebrige Spinnweben legten sich über sein Gesicht und zerrissen hinter den Ohren. Auf den Wimpern glitzerten Perlmutttröpfchen. Warmer Malzbrodem stieg aus den Sträuchern — der Atem der erkalteten Steine und die Ausdünstung der jungen Birken- und Kornelkirschblätter.
Die Nacht war trügerisch und ließ Nahes oft fern erscheinen und Fernes nah; aber der Mann im Fackelschein war deutlich zu erkennen. Er lief über den Hang, schlug Haken, drehte sich im Kreise, schwenkte den rechten Arm über den Kopf und beugte sich zur Seite. Feldbluse und Mütze schienen von einem Strahlensaum umgeben. Der linke Ärmel baumelte wie ein Fetzen. „Unbedingt lebend, Tschumalow, um jeden Preis."
Es gab so viele Einarmige, man begegnete ihnen jetzt auf Schritt und Tritt. Ihr Anblick weckte in Sergej immer Unruhe, jeder leere Ärmel war eine Drohung für ihn und ein versteckter Schlag. Auch sein Bruder hatte einen leeren Ärmel. Auch er strich auf geheimen Pfaden umher wie ein Gespenst.
Der Einarmige blieb stehen und horchte angespannt. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, und man sah sein Gesicht nur im Profil. In diesem Profil glaubte Sergej den bekannten Raubvogelschnabel zu erkennen.
Eine Flammenschlange schoss empor und flog ins Gebüsch. Die Dunkelheit wurde dickflüssig und klebrig wie
Morast. Schritte setzten aus, knirschten wieder. Die Sträucher raschelten, als habe ein Windstoß sie bewegt.
„Zum Teufel, du entwischst uns nicht! Vorwärts, Serjosha! Ohne Rücksicht auf Verluste! Den müssen wir kriegen!"
Gleb sprang ins Gebüsch, die Finsternis verschluckte ihn. Steine und Schotter knirschten unter seinen Füßen und spritzten wie Glasscherben auseinander. Sergej rannte hinterher; wieder meinte er, er sei leicht wie Luft und fliege wie ein Vogel auf das zuckende Wetterleuchten und die Bergfeuer zu.
„Halt! Ich schieße dich nieder, Halunke! Halt!" Sergej hörte weder das Stampfen noch die Rufe und Schüsse. Er lief leicht, schwerelos dahin; der Wind pfiff ihm um die Ohren — er merkte es nicht, Kreuzdorngeäst zerkratzte sein Gesicht — er fühlte keinen Schmerz.
Ein wild gewordenes Pferd galoppierte an ihm vorbei, schlug aus, schnaubte und verschwand in der Dunkelheit.
Sergej blieb stehen und lauschte. Das Hufgetrappel entfernte sich; man hörte Steine splittern; Glebs Rufen war verstummt.
Das Wetterleuchten zuckte, der Nebel phosphoreszierte. Man konnte Meer und Himmel nicht voneinander unterscheiden.
Sergej sah sich um — hinter ihm irrlichterten die Fackeln. Auf der anderen Seite waren die Berge noch höher; Zacken, Pässe, Gipfel und auch wieder solche flatternden Sternbilder. Sie loderten auf, erloschen, entzündeten sich abermals, brannten lichterloh, und ihr Schein flutete in glühenden Strömen von den Gipfeln herab, ergoss sich über Bergrücken und Schluchten.
Unten in der Talmulde keuchten und murmelten Menschen; vielleicht waren es auch Hunde, die um eine Beute
rauften. Von den beiden Gegnern musste einer unterliegen ...
Es gab so viele Einarmige. Warum sollte der da, den die Finsternis verschluckt hatte, Sergej beunruhigen? Er sprang den Abhang hinunter.
Irgendwo in der Nähe rang Gleb knurrend mit dem Gegner.
Unvermutet stieß Sergej auf ihn; Gleb kniete auf der Brust eines Mannes, der ausgestreckt dalag, und umkrallte mit beiden Händen dessen Hals.
„Nein, du Gauner, du kommst mir nicht davon! Mit dir ist's aus, Schurke! Hilf mir, Serjosha! Durchsuch ihn, den Hund! Kehr seine Taschen um. Fix!"
Mit zitternden Händen und fieberhafter Eile durchstöberte Sergej Hosen- und Rocktaschen. Er fand nur eine Tabakschachtel, Streichhölzer und eine Brotrinde. Als er den Stumpf des linken Armes berührte, stockte ihm das Blut in den Adern.
„Ich hab's gewusst, Tschumalow. Das ist mein Bruder... mein Bruder! Ich schlag ihn tot. Ich schieß ihn nieder, Tschumalow!"
„Spiel nicht verrückt! Heb sein Gewehr auf, es liegt unter meinem Fuß. So, Freundchen, nun bring dich wieder ein bisschen in Ordnung! Stell dich neben ihn, Serjosha, und halt das Gewehr schussbereit. Übrigens, wenn er dein Bruder ist, sollte man ihn vielleicht freilassen — dir zuliebe. Nun? Was könntest du zu seiner Verteidigung sagen?"
Sergej empfand es als schmerzlich, dass Feindseligkeit in diesem Spott lag.
„Lass die Scherze, Tschumalow! Entweder du führst ihn schleunigst ab, oder ich bringe ihn auf der Stelle um. Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen." „Na, na, sei nicht gleich so böse!" Sergej zitterten Hände und Füße.
Dmitri stand auf, wollte sich abklopfen, doch Glebs Finger hielten seinen Arm mit eisernem Griff umschlossen.
„Wieder mal ein ungewöhnliches Zusammentreffen, Serjosha. Trotzdem bist du nicht den kleinen Finger dieses
braven Haudegens hier wert. Regimentskommissar Gleb Tschumalow! Ich hatte die Ehre, Ihnen im Hause meines lustigen Vaters zu begegnen, zu der Stunde, als Sie bei ihm plünderten. Ich bedaure, dass mein Bruder Sergej damals nicht dabei war. Ich hätte ihm eine Kugel durch den Schädel gejagt. Meine Hand kann noch Wunder verrichten."
Gleb sah dem Einarmigen ins Gesicht. „Ja, eine unerwartete Begegnung, mein Heldenoberst. Im Garten, bei dem Alten, habe ich eine große Dummheit gemacht. Ich hätte Sie mir damals gleich angeln sollen — Sie saßen ja schon am Haken. Los, gehen wir! Solchen Besuch liebt Genosse Tschibis."
Dmitri wollte etwas sagen, war jedoch zu erregt. Er kämpfte mit sich und versuchte zu scherzen: „Wie schmeichelhaft für mich, dass ich mitgehen darf, Freunde. Besonders mit Ihnen, tapferer Regimentskommissar. Meinen Arm können Sie aber ruhig loslassen: ich bin kein Kind und keine junge Dame, ich brauche keine so rührende Fürsorge. Der besiegte Feind wird ebenso stolz und fest gehen wie ihr, die Sieger. Halten Sie mir nur meinen leiblichen Bruder Serjosha ein wenig vom Leibe; ich glaube nämlich, er leidet im Moment an einer sehr bösartigen weibischen Hysterie. Beruhige dich, Serjosha; du regst dich zu sehr auf, mein Freund."
Sergej kostete es übermenschliche Anstrengung, nicht aufzuschreien und sich in einem Wutanfall auf seinen Bruder zu stürzen.
Dmitri aber stichelte weiter: „So einen vergnüglichen Spaziergang wie heute haben wir beide noch nie zusammen gemacht, nicht wahr, Serjosha? Solche Augenblicke muss man zu schätzen wissen, um so mehr, als es die letzten im Leben sind. Du widerst mich an mit deiner braven Kämpfermiene. Man muss so etwas leichter nehmen. Du bist ja ein so armseliger Sklave deiner Partei, dass du in der Stunde eures blöden Erfolgs gar nicht frei über dich verfügen kannst."
Sie stiegen aus der Mulde und gingen die Bergstraße entlang.
Weit in der Ferne flackerte das Wetterleuchten am trüben Himmel über den Bergen.
„Trotz allem steht es dreckig um eure Sache, und ihr seid elende Pfuscher. Schon morgen wird euer Hirn das Straßenpflaster bekleckern. Schade, dass ich es nicht mehr sehen werde. Dich, Serjosha, hätte ich vor versammeltem Volk am Tor unseres Hauses aufgehängt."
Sergej lachte auf und stutzte im selben Moment: Wie konnte er in einem solchen Augenblick lachen?
„Ja, Dmitri, hättest du je gedacht, dass ich dich in den Tod führe? Und nun ist es doch so gekommen. Wie man dich erschießt, werde ich nicht sehen. Aber dass man dich gefangen hat, mit meiner Hilfe gefangen hat, das allein schon gibt mir Befriedigung. Mein Gewehr hält dich in Schach."
Dmitri lachte ironisch. „Ich kann nicht mehr, Serjosha. Du bist ein unvergleichlicher Komiker, bei Gott."
Gleb ließ Dmitri los und klemmte sich das Gewehr unter den Arm.
„Nun, Oberst? Unser Spaziergang passt gut zu dieser Höllennacht. Wenn uns die Leute so sähen, würden sie bestimmt sagen: ,Guckt euch mal die Jungs an! Wie einträchtig sie zusammen gehen!'"
Dmitri lachte, aber seine Stimme klang wie geborsten. Er lacht ja gar nicht, dachte Sergej, er zittert vor Verzweiflung und möchte etwas sagen, was Worte nicht ausdrücken können.
„Ja, ja, das ist sehr lustig! Es tut mir leid, Serjosha, dass du bei dem ergötzlichen Spiel, Erschießung genannt, nicht mitspielen wirst. Ich sähe es gern, sehr gern, Serjosha. Wir könnten Kindheitserinnerungen austauschen. Erinnerst du dich noch an unsere Kinderzeit? Ich hätte mir gewünscht, dass du selbst die Gewehrmündung auf mich richtest, wenn es soweit ist. Aber vielleicht tust du es jetzt gleich? Eure Folterkammern sind schlimmer als stockfinstere Nächte,
vor denen ich als kleines Kind solche Angst hatte. Ich möchte nicht, dass man mir dort die Seele entweiht. Geh mit mir, Serjosha, bis zum Ende. Das wäre sehr schön, wie? Lockt dich das nicht? Ist das nicht romantisch?"
Eine Stadtpatrouille, die Gewehre schussbereit unterm Arm, kam ihnen entgegen.

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