8. Die Annäherung 
  Die Erde entfernte sich immer mehr, und als ob sie vor  Trennungsschmerz abmagerte, verwandelte sie sich in eine mondartige  Sichel, die von der winzigen Sichel des echten Mondes begleitet wurde.  Gleichzeitig wurden wir alle im Sternschiff zu phantastischen  Akrobaten, die ohne Flügel bequem im Raum umherfliegen konnten, in  waagerechter, senkrechter oder schräger Lage, ganz nach Belieben.  Allmählich wurde ich mit meinen neuen Kameraden näher bekannt, und ich  fühlte mich freier. 
    Schon am zweiten Tag nach dem Abflug (wir behielten diese Zeitrechnung           bei, obwohl es für uns 
    keine echten Tage und Nächte mehr gab) zog ich mir aus eigenem Antrieb  einen Marsanzug an, um weniger aufzufallen. Allerdings gefiel mir  dieser Anzug auch, er war einfach, bequem, ohne alle nutzlosen  konventionellen Teile wie Krawatte und Manschetten, und er bot größte  Bewegungsfreiheit. Die einzelnen Teile waren durch Verschlüsse  miteinander verbunden, so dass sich die Ärmel oder das Oberteil leicht  abknöpfen und ausziehen ließen, wenn man das wollte. Die Manieren  meiner Mitreisenden ähnelten diesem Anzug: Einfachheit, Verzicht auf  alles überflüssige und Konventionelle. Sie begrüßten und  verabschiedeten sich niemals, dankten nicht, zogen ein Gespräch nicht  aus Höflichkeit in die Länge, wenn das Wesentliche gesagt war, zugleich  gaben sie mit großer Geduld jede gewünschte Erklärung, wobei sie sich  meinem Auffassungsvermögen anpassten und meine Mentalität  berücksichtigten, wie fremd sie ihnen auch sein mochte. 
    Selbstverständlich begann ich vom ersten Tage an, die Marssprache zu  erlernen, und alle übernahmen mit größter Bereitwilligkeit die Rolle  eines Lehrers, am häufigsten von allen Netti. Die Sprache ist sehr  originell, und trotz der einfachen Grammatik und Wortbildung gibt es in  ihr Besonderheiten, die mir schwer eingingen. Die Regeln kennen  überhaupt keine Ausnahme, man unterscheidet keine männlichen,  weiblichen und sächlichen Substantive, alle Bezeichnungen von  Gegenständen und Eigenschaften aber werden nach Zeitformen abgewandelt. 
    »Welchen Sinn haben diese Formen?« fragte ich Netti. 
    »Begreifen Sie das nicht? In Ihren Sprachen kennzeichnen Sie  Substantive als männlich und weiblich, was sehr unwichtig ist und bei  unbelebten Gegenständen sogar ziemlich komisch wirkt. Um wie viel  wichtiger ist der Unterschied zwischen Gegenständen, die existieren,  und anderen, die es nicht mehr gibt oder die erst entstehen sollen. Die  Russen halten ein Haus für einen Mann, und ein Boot für eine Frau, bei  den Franzosen ist es umgekehrt — und der Gegenstand selbst ändert sich  nicht im mindesten. Aber wenn Sie von einem Haus sprechen, das  abgebrannt ist oder das Sie bauen wollen, gebrauchen Sie das Wort in  derselben Form, in der Sie von dem Haus sprechen, in dem Sie wohnen.  Gibt es denn einen größeren Unterschied als zwischen einem Menschen,  der lebt, und einem Menschen, der gestorben ist? Sie brauchen Wörter  und ganze Sätze, um diesen Unterschied auszudrücken — ist es nicht  besser, das einfach zu kennzeichnen, indem man einen Buchstaben an das  Wort anfügt?« 
    Mit meinem Gedächtnis war Netti zufrieden, und da die Lehrmethode  meiner Mentoren vorzüglich war, verstand ich bald die Marssprache. Das  half mir, meinen Reisegefährten näher zu kommen — ich bewegte mich mit  immer größerer Sicherheit im Sternschiff, ging in die Kajüten und  Laboratorien und fragte nach allem, was mich bewegte. 
    Sternis Gehilfe, der junge Astronom Enno, ein munterer und fröhlicher  Bursche, war fast noch ein Kind. Er zeigte mir viele interessante  Dinge, wobei er sich nicht so sehr an den Messungen und Formeln  begeisterte, die er wie ein echter Meister beherrschte, als vielmehr an  der Schönheit der beobachteten Himmelskörper. Mir war wohl ums Herz bei  dem jugendlichen Astronomen und Poeten, und das natürliche Bedürfnis,  sich im Weltraum zu orientieren, ließ mich viel Zeit bei Enno und  seinen Teleskopen verbringen. 
    Einmal zeigte mir Enno den winzigen Planeten Eros, dessen Umlaufbahn  teils zwischen Erde und Mars verläuft und teils im Gebiet der  Asteroiden liegt. Obwohl der Eros einhundertfünfzig Millionen Kilometer  von uns entfernt war, ähnelte die Photographie unter dem Mikroskop  einer Mondkarte. Natürlich ist der Eros ebenso öde wie der Mond. 
    Ein andermal photographierte Enno einen Meteoritenschwarm, der mehrere  Millionen Kilometer entfernt an uns vorbeizog. Die Aufnahme zeigte  verständlicherweise nur ein Nebelgebilde. Bei der Gelegenheit erzählte  mir Enno, dass ein Sternschiff, das zur Erde fliegen wollte, in einen  solchen Schwärm geraten war. Die Astronomen, die das Sternschiff durch  die stärksten Teleskope verfolgten, hatten nur gesehen, wie sein  elektrisches Licht erlosch. 
    »Wahrscheinlich haben mehrere Meteoriten mit riesiger Geschwindigkeit  die Wände des Sternschiffs durchbohrt. Die Luft ist ausgeströmt, und  die Weltraumkälte hat die bereits toten Körper der Besatzung gefroren.  Jetzt fliegt dieses Sternschiff auf einer Kometenumlaufbahn, es  entfernt sich von der Sonne, und das Ende dieses Gespensterschiffs  voller Leichen ist ungewiss.« 
    Bei diesen Worten drang die Kälte der ätherischen Wüsten bis in mein  Herz. Mir wurde bewusst, dass unser Sternschiff eine winzige bewohnte  Insel inmitten eines grenzenlosen toten Ozeans war. Ohne jeglichen Halt  bewegte sie sich mit schwindelerregender Schnelligkeit durch die  schwarze Leere. Enno erriet meine Gedanken. 
    »Menni ist ein verlässlicher Steuermann«, sagte er, »und Sterni macht  keine Fehler. Und der Tod... Sie sind ihm in Ihrem Leben wahrscheinlich  schon begegnet... ist nur der Tod, nicht mehr.« 
    Sehr bald sollte die Stunde kommen, in der ich mich unter quälendem  seelischem Schmerz an diese Worte erinnern würde. 
    Der Chemiker Letta war ein besonders sanfter und feinsinniger Mensch.  Wie Netti gesagt hatte, besaß er enorme Kenntnisse auf einem Gebiet,  das mich fesselte — dem Bau der Materie. Allein Menni war noch  kompetenter als Letta, aber ich bemühte mich, diesen großen Mann nicht  zu behelligen, da seine Zeit zu kostbar für die Wissenschaft wie für  die Expedition war, als dass ich das Recht besessen hätte, ihn von  seiner Arbeit abzuhalten. Der gutmütige alte Letta zeigte angesichts  meiner Unwissenheit eine schier unerschöpfliche Geduld; mit größter  Liebenswürdigkeit und sogar sichtbarer Zufriedenheit erklärte er mir  die Anfangsgründe seines Fachs, so dass ich mich niemals geniert fühlte. 
    Letta hielt für mich als einzigen Hörer eine Reihe von Vorlesungen, in  denen er den Bau der Materie behandelte. Die Ausführungen wurden stets  mit Experimenten illustriert. Viele hierher gehörende Versuche musste  er jedoch auslassen, da sie in Form einer Explosion verlaufen wären. 
    Einmal kam Menni während eines solchen Vortrags ins Laboratorium. Letta  hatte gerade ein sehr interessantes Experiment beschrieben und wollte  es nun demonstrieren. 
    »Seien Sie vorsichtig«, warnte ihn Menni. »Dieses Experiment hat bei  mir einmal ungut geendet. Wenn der Stoff, den Sie zerlegen, nur die  kleinste Unreinheit aufweist, kann er beim Erhitzen explodieren.« 
    Letta wollte auf das Experiment verzichten, aber Menni, der mir  gegenüber stets entgegenkommend war, bot seine Hilfe an. Beide prüften  sorgfältig den Stoff, und das Experiment gelang vortrefflich. 
    Am nächsten Tag wollte Letta mit dem gleichen Stoff experimentieren. Er  nahm ihn aus einem anderen Behälter. Als er die Retorte ins Elektrobad  stellte, sagte ich ihm das. Beunruhigt ging er zu dem Schrank mit den  Reagenzien, schaltete jedoch das Etektrobad nicht aus. Es stand auf  einem Tisch an der Wand, die gleichzeitig die Außenwand des  Sternschiffs war. 
    Plötzlich ertönte ein betäubendes Krachen, gefolgt von einem  durchdringenden Pfeifen und metallischem Klirren. Wir wurden beide an  die Schranktür geschleudert. Die gewaltige Kraft eines Hurrikans zog  mich zur Außenwand. Automatisch packte ich einen Griff, der am Schrank  befestigt war, und hing nun, vom Luftstrom gehalten, waagerecht. Letta  erging es ebenso. 
    »Halten Sie sich fest«, rief er mir zu. In dem Rauschen hörte ich seine  Stimme kaum. Schneidende Kälte durchdrang meinen Körper. 
    Letta blickte sich schnell um. Sein Gesicht war totenbleich, aber die  Fassungslosigkeit verwandelte sich rasch in klares Denken und feste  Entschlossenheit. Er sagte nur zwei Worte — ich konnte sie nicht hören,  erriet aber, dass das ein Abschied für immer war —, und seine Hände  lösten sich vom Griff. 
    Ein dumpfer Schlag, und das Heulen des Hurrikans verstummte. Ich  spürte, dass ich den Griff loslassen konnte, und blickte mich um. Der  Tisch war zertrümmert, und Letta stand steif da, den Rücken an die Wand  gepresst. Seine Augen waren weit geöffnet, das Gesicht war erstarrt.  Ich sprang zur Tür und öffnete sie. Ein Schwall warmer Luft warf mich  zurück. Eine Sekunde später kam Menni ins Laboratorium und ging schnell  zu Letta. 
    Bald war der Raum voller Menschen. Netti schob alle beiseite und  stürzte zu Letta. Alle umringten uns in aufgeregtem Schweigen. 
    »Letta ist tot«, sagte Menni. »Durch die Explosion wurde die Außenwand  durchschlagen, und Letta hat das Loch mit seinem Körper abgedeckt. Der  Luftdruck hat die Lungen zerrissen, der Tod ist sofort eingetreten.  Letta hat unseren Gast gerettet - sonst wären beide gestorben.« Netti  schluchzte leise.  | 
  
    
    Hinweis:      Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität              der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen.              Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist              nicht gestattet. 
     
    |   |