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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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4. Das Kunstmuseum

»Dass es bei Ihnen besondere Museen für Kunstwerke gibt, hätte ich nicht gedacht«, sagte ich zu Enno, als wir am Morgen aufbrachen. »Ich hielt Skulpturen- und Gemäldegalerien für eine Besonderheit des Kapitalismus mit seiner Prunksucht und seinem Bestreben, Reichtümer anzuhäufen, und glaubte, in der sozialistischen Gesellschaft würde die Kunst überall anzutreffen sein und das Leben verschönen.«
»Hierin haben Sie recht«, antwortete Enno. »Die meisten unserer Kunstwerke sind für Gemeinschaftsgebäude bestimmt — Gebäude, in denen wir unsere Angelegenheiten beraten, in denen wir lernen, forschen und uns erholen. Unsere Fabriken schmücken wir kaum, die Ästhetik der riesigen Maschinen und ihrer harmonischen Bewegungen erfreut uns in ihrer reinen Form, es gibt sehr wenige Kunstwerke, die dazu passen würden, ohne den Gesamteindruck zu zerstören oder abzuschwächen. Am wenigsten schmücken wir unsere Häuser, in denen wir uns ohnehin selten aufhalten. Unsere Kunstmuseen sind wissenschaftlich-ästhetische Einrichtungen, sie sind Schulen, in denen man lernt, wie sich die Kunst entwickelt hat, oder genauer: wie sich die Menschheit mit ihrer künstlerischen Tätigkeit entwickelt hat.«
Das Museum lag mitten in einem See auf einer kleinen Insel, die durch eine kleine Brücke mit dem Ufer verbunden war. Ein Garten mit hohen Fontänen und vielen blauen, weißen, schwarzen und grünen Blumen umgab das rechteckige Gebäude. Die Außenwände waren geschmackvoll bemalt.
In den licht durchflutete n Räumen waren tatsächlich nicht Statuen und Bilder so wirr durcheinander angehäuft wie in unseren Museen. An mehreren hundert Beispielen wurde die Entwicklung der plastischen Kunst gezeigt, von den primitiven Skulpturen der vorhistorischen Zeit bis zu den technisch-idealen Werken des letzten Jahrhunderts. überall spürte man die lebendige innere Ganzheit, die wir »Genie« nennen. Offensichtlich waren hier die besten Werke aller Epochen beisammen.
Um die Schönheit einer anderen Welt voll zu begreifen, muss man ihr Leben genau kennen, und um anderen eine Vorstellung von dieser Schönheit zu vermitteln, muss man selbst an ihr teilhaben. Deshalb vermag ich nicht zu beschreiben, was ich dort gesehen habe, ich kann höchstens einiges andeuten, bruchstückhaft auf Dinge hinweisen, die mich am meisten erstaunen ließen.
Das Hauptmotiv der Marsbildhauer ist wie bei uns der schöne menschliche Körper. Die Unterschiede zwischen Mars- und Erdenmenschen sind nicht groß, von den Augen und der Schädelform abgesehen. Man könnte von zwei Rassen sprechen. Ich vermag die unterschiedlichen Merkmale nicht genau zu erklären, dazu weiß ich zu wenig über Anatomie, aber das Auge gewöhnt sich leicht an sie und empfindet sie nicht als hässlich, sondern als originell.
Ich bemerkte, dass die Körperformen von Mann und Frau einander mehr ähneln als bei den meisten irdischen Völkern: Die ziemlich breiten Schultern der Frauen und die wegen einer gewissen Korpulenz nicht so stark hervortretende Muskulatur der Männer sowie ihr weniger schmales Becken glätten den Unterschied. Das gilt hauptsächlich für die letzte Epoche, das Zeitalter der freien menschlichen Entwicklung. Bei Statuen aus der kapitalistischen Periode treten die Geschlechtsunterschiede stärker hervor. Die häusliche Sklaverei der Frau und der fieberhafte Existenzkampf des Mannes entstellen offenbar die Körper auf unterschiedliche Weise.
Keine Minute schwand in mir das mehr oder weniger deutliche Empfinden, dass ich Bilder einer fremden Welt sah; das gab allen Eindrücken einen seltsamen, halb gespenstischen Beigeschmack. Sogar der schöne weibliche Körper der Statuen und Bilder weckte in mir ein unklares Gefühl, der mir bekannten erotisch-ästhetischen Begeisterung völlig unähnlich und eher den undeutlichen Vorahnungen gleichend, die mich einst an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend bewegt hatten.
Die Statuen der frühen Epochen waren einfarbig wie auf der Erde, spätere Werke hatten natürliche Farben. Das wunderte mich nicht. Die Abweichung von der Wirklichkeit kann kein notwendiges Element der Kunst sein, sie ist sogar antikünstlerisch, wenn sie den Reichtum der Wahrnehmung verringert wie beispielsweise die Einfarbigkeit einer Skulptur. Sie trägt nicht zur künstlerischen Idealisierung bei, die das Leben in konzentrierter Form erfasst, sondern wirkt störend.
Bei den Statuen und Gemälden der älteren Epochen überwogen wie bei unseren antiken Skulpturen Darstellungen voller majestätischer Ruhe und friedvoller Harmonie, frei von jeglicher Spannung. In den mittleren Epochen, der übergangszeit, traten andere Züge hervor; heftiges Verlangen, Leidenschaft, Erregung, manchmal zu einem erotischen oder religiösen Traum gemildert, manchmal die aus dem Gleichgewicht geratenen Kräfte von Seele und Körper scharf hervorhebend. In der sozialistischen Epoche änderte sich der Grund Charakter der Kunst wiederum: harmonische Bewegungen, ruhige und sichere Kraft, eine Tätigkeit, der schmerzhafte Anstrengung fremd ist, ein Streben, frei von Erregung, lebendige Aktivität, vom Bewusstsein harmonischer Einheit und unbesiegbarer Vernunft durchdrungen.
Während die ideale weibliche Schönheit der Antike die grenzenlosen Möglichkeiten der Liebe ausdrückt und die ideale Schönheit des Mittelalters und der Renaissance das unstillbare mystische oder sinnliche Liebesverlangen, wird dort, in der idealen Schönheit einer anderen, uns vorausschreitenden Welt, die Liebe selbst in ihrem ruhigen und stolzen Selbstbewusstsein verkörpert, die Liebe an sich — klar, leuchtend, alles bezwingend.
Für die späteren wie für die frühesten Kunstwerke ist außerordentliche Einfachheit und Einheit der Motive kennzeichnend. Dargestellt werden sehr komplizierte menschliche Wesen mit reichem und harmonischem Lebensinhalt, wobei diejenigen Momente ihres Lebens ausgewählt werden, in denen sie sich ganz auf ein Gefühl oder Bestreben konzentrieren. Die Lieblingsthemen der modernsten Künstler sind die Ekstase des schöpferischen Denkens, der Liebe, des Naturgenusses und die Seelenruhe beim freiwilligen Tod — Sujets, die das Wesen einer großen Menschheit kennzeichnen, die in aller Fülle und Konzentration zu leben sowie bewusst und mit Würde zu sterben versteht.
Die Abteilung für Malerei und Plastik bildet eine Hälfte des Museums, die andere ist gänzlich der Architektur vorbehalten. Unter Architektur verstehen die Marsmenschen nicht nur die Baukunst, sondern auch die schöne Form von Möbeln, Werkzeugen und Maschinen, überhaupt die Ästhetik alles Nützlichen.
Welch gewaltige Rolle die Kunst in ihrem Leben spielt, vermag man an der Fülle und sorgsamen Auswahl der Sammlungen zu ermessen. Von primitiven Höhlenwohnungen mit grob verziertem Hausrat bis zu luxuriösen Gemeinschaftshäusern aus Glas und Aluminium mit einer Innenausstattung, die von den besten Künstlern geschaffen wurde, und zu gigantischen Fabriken mit drohend-schönen Maschinen, zu gewaltigen Kanälen mit Granitufern und gleichsam schwebenden Brücken — hier werden alle typischen Formen vorgestellt, und zwar als Bilder, Zeichnungen, Modelle und vor allem als Stereogramme in großen Stereoskopen, in denen alles als vollkommene Illusion der Wirklichkeit wiedergegeben wird. Einen besonderen Platz hat die Ästhetik von Gärten, Feldern und Parks; und wie ungewohnt die Natur des Planeten auch auf mich wirkte, selbst mir war die Schönheit dieser Farben und Formen verständlich, die von dem kollektiven Genius der Menschen mit den großen Augen geschaffen wurde.
Wie bei uns wurde in früheren Epochen Eleganz auf Kosten der Bequemlichkeit erreicht; die Verzierungen minderten die Stabilität, die Kunst übte Gewalt am nützlichen Zweck der Gegenstände. Bei den Werken1 der jüngsten Epoche sah ich nichts dergleichen — weder bei Möbeln oder Gerätschaften noch bei Bauwerken. Ich fragte Enno, ob ihre zeitgenössische Architektur um der Schönheit willen Abweichungen von der praktischen Vollkommenheit zulasse.
»Niemals«, antwortete Enno, »das wäre falsche Schönheit, gekünstelt, aber keine Kunst.«
In vorsozialistischen Zeiten errichteten die Marsmenschen ihren großen Persönlichkeiten Denkmäler, jetzt gedenken sie auf diese Weise nur noch großer Ereignisse. Der erste Flug zur Erde, der mit dem Tod der Forscher endete, die Ausmerzung einer tödlichen Seuche, die ersten Experimente, bei denen die Spaltung und Synthese chemischer Elemente gelang, sind solche Anlässe. Mehrere Denkmäler waren als Stereogramme in der Abteilung vertreten, wo sich die Grabmale und Tempel befanden. (Auf dem Mars gab es früher auch Religionen.) Eines der letzten Denkmäler für große Persönlichkeiten war das des Ingenieurs, von dem Menni mir erzählt hatte. Der Künstler hatte deutlich die Seelenstärke des Mannes dargestellt, der siegreich eine Arbeiterarmee im Kampf gegen die Natur geführt und stolz ein moralisches Urteil über seine Tat abgelehnt hatte. Als ich in unwillkürlicher Versonnenheit vor dem Stereoskop stand, sprach Enno leise einige Verse, welche die seelische Tragödie des Helden ausdrückten.
»Von wem stammen die Verse?« fragte ich.
»Von mir«, antwortete Enno, »ich habe sie für Menni geschrieben.«
Ich konnte die Schönheit der Verse in der fremden Sprache nicht richtig beurteilen, aber ihr Sinn war zweifellos klar, der Rhythmus harmonisch, der Reim klangvoll und reich. Das bewog mich zu der Frage: »Gelten in Ihrer Poesie noch Rhythmus und Reim in aller Strenge?«
»Natürlich«, erwiderte Enno leicht verwundert. »Kommt Ihnen das unschön vor?«
»Nein, durchaus nicht«, erklärte ich, »aber bei uns meinen viele, diese Formen entsprängen dem Geschmack der herrschenden Klassen und seien Ausdruck ihrer Launen und ihres Hangs zu Konventionen, welche die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks einschränken. Daraus zieht man den Schluss, dass die Poesie der Zukunft, die Poesie des Sozialismus diese einengenden Gesetze abschaffen und ablehnen müsse.«
»Das ist völlig falsch«, erwiderte Enno hitzig. »Das Regelmäßig-Rhythmische erscheint uns nicht als schön, weil es unserem Hang zum Konventionellen entspricht, sondern weil es gut mit der rhythmischen Regelmäßigkeit unserer Lebensprozesse und unseres Bewusstseins harmonisiert Und der Reim, der Vielfalt bei gleichartigen Schlussakkorden schafft, ist er nicht ebenfalls im Menschlichen verwurzelt, das seine innere Vielfalt mit dem gemeinsamen Liebesgenuss, einem gemeinsamen vernünftigen Ziel in der Arbeit oder gleicher Stimmung in der Kunst krönt? Ohne Rhythmus gibt es keine künstlerische Form. Wo es keinen Rhythmus von Tönen gibt, muss es unbedingt einen Rhythmus von Ideen geben. Und sollte der Reim tatsächlich feudaler Herkunft sein, so kann man das auch von vielen anderen guten und schönen Dingen sagen.«
»Aber der Reim engt doch tatsächlich den Ausdruck einer poetischen Idee ein und erschwert ihn!«
»Und was besagt das? Die Einengung ergibt sich aus dem Ziel, das sich der Künstler frei wählt. Der Reim erschwert zwar den Ausdruck einer poetischen Idee, aber er vervollkommnet ihn auch, und nur deshalb existiert er. Je komplizierter das Ziel, desto schwieriger der Weg dorthin, und folglich desto mehr Beschränkungen auf diesem Wege. Wer ein schönes Gebäude bauen will, muss viele Regeln von Technik und Harmonie beachten, die ihn >einengen<. Der Künstler ist frei bei der Wahl der Ziele - das ist die einzige menschliche Freiheit. Sobald er ein Ziel wählt, wählt er zugleich auch die Mittel, mit denen er es erreichen will.«
Wir gingen in den Garten, um uns von den vielen Eindrücken zu erholen. Es war ein klarer und milder Frühlingsabend. Die Blumen schlössen ihre Blüten und rollten die Blätter zusammen, um sie vor der kalten Nacht zu schützen. Das ist eine Besonderheit aller Marspflanzen. Ich kam auf unser Gespräch zurück.
»Welche Gattungen der schönen Literatur werden bei Ihnen jetzt gepflegt?«
»Dramen, besonders Tragödien, und Naturlyrik«, antwortete Enno.
»Worin besteht der Inhalt dieser Tragödien? Wo finden Sie in Ihrem glücklichen, friedlichen Leben die Stoffe?«
»Glücklich? Friedlich? Wie kommen Sie darauf? Bei uns herrscht Frieden unter den Menschen, das ist wahr, aber kein Frieden mit der elementaren Natur. Den kann es auch nicht geben. Die Natur ist ein Feind, der immer von neuem besiegt werden muss. In jüngster Zeit haben wir die Ausbeutung unserer Bodenschätze verzehnfacht; die Einwohnerzahl wächst, und noch unvergleichbar schneller wachsen die Bedürfnisse. Die Gefahr, dass die natürlichen Reserven versiegen, war auf manchen Gebieten schon akut. Bisher haben wir diese Gefahr überwinden können, ohne das Leben verkürzen zu müssen — unseres und das unserer Nachkommen —, aber jetzt wird dieser Kampf besonders ernst.«
»Bestehen denn bei Ihren technischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen solche Gefahren? Sie sagen, das hätte es in Ihrer Geschichte schon mehrmals gegeben?«
»Vor siebzig Jahren, als die Steinkohlenvorräte versiegten und der übergang zu Wasserkraft und elektrischer Energie längst nicht vollendet war, mussten wir einen großen Teil unserer Wälder abholzen, um die Maschinen umzurüsten. Das hat den Planeten auf Jahrzehnte verschandelt und das Klima verschlechtert. Als wir von dieser Krise genesen waren, gingen vor zwanzig Jahren die Eisenerze zur Neige. Eiligst wurden harte Aluminiumlegierungen erforscht, und ein Großteil der technischen Kräfte wurde für die Aluminiumgewinnung verwandt. Dazu brauchten wir viel elektrische Energie. Jetzt droht uns in dreißig Jahren ein Nahrungsmangel, wenn bis dahin die Eiweißsynthese nicht gelingt«
»Und andere Planeten?« wandte ich ein. »Können Sie dort nicht finden, was dem Mangel abhilft?«
»Wo? Die Venus ist uns offenbar noch unzugänglich. Die Erde? Sie hat ihre Menschheit, und bisher ist nicht geklärt, wieweit wir ihre Reserven nutzen könnten. Für den Flug dorthin verbrauchen wir jedes Mal viel Energie, und die Vorräte an radioaktivem Material, um sie zu erzeugen, sind auf dem Mars sehr gering. Das hat mir Menni neulich erklärt. Nein, die Schwierigkeiten sind überall bedeutend, und je enger unsere Menschheit ihre Reihen schließt, um die Natur zu besiegen, um so enger verbünden sich auch die Naturkräfte, um sich zu rächen.«
»Es würde doch genügen, die Geburtenzahl zu verringern«, entgegnete ich.
»Die Geburtenzahl verringern? Das wäre doch der Sieg der Naturkräfte. Das wäre die Absage an das grenzenlose Wachstum des Lebens, wir würden auf der nächsten Stufe stehen bleiben. Denn wir siegen, solange wir angreifen. Wenn wir auf ein Anwachsen unserer Armee verzichten, werden uns die Naturkräfte bald von allen Seiten belagern. Dann sinkt der Glaube an unsere kollektive Kraft, an unser großes gemeinsames Lebensziel. Und mit diesem Glauben wird auch der Lebenssinn jedes einzelnen verloren gehen, weil in jedem von uns, den kleinen Zellen eines großen Organismus, das Ganze lebt, und jeder lebt in diesem Ganzen. Nein! Die Geburtenzahl zu senken wäre das letzte, wozu wir uns entschlössen, und wenn das ohne unseren Willen geschieht, ist das der Anfang vom Ende.«
»Nun gut, ich verstehe, dass die Tragik des Ganzen stets existiert, wenigstens als drohende Möglichkeit. Vorläufig aber siegt noch die Menschheit, und der einzelne ist vor dieser Tragödie ausreichend geschützt; selbst wenn eine direkte Gefahr einträte, würden die gigantischen Anstrengungen und Leiden so gleichmäßig auf zahllose Personen verteilt, dass ihr ruhiges Glück nicht ernsthaft gestört würde. Und für ein solches Glück gibt es hier alles, was man dazu braucht.«
»Ruhiges Glück! Kann denn der einzelne nicht stark und tief die Erschütterungen des Ganzen spüren? Und entstehen nicht klaffende Widersprüche im Leben allein aus der Begrenztheit des Einzelwesens im Vergleich zum Ganzen, aus der Unmöglichkeit, völlig mit dem Ganzen zu verschmelzen, dieses Ganze mit seinem Bewusstsein vollständig zu erfassen? Sind Ihnen diese Widersprüche unverständlich? Das kommt daher, dass sie in Ihrer Welt von anderen, akuteren und gröberen Widersprüchen verdeckt werden. Der Kampf zwischen Klassen, Gruppen und Individuen zerstört auf der Erde die Idee des Ganzen und damit auch das Glück und die Leiden, die ihr innewohnen. Ich habe Ihre Welt gesehen und könnte nicht den zehnten Teil des Wahnsinns ertragen, in dem die Erdenmenschen leben. Aber gerade deshalb wage ich nicht zu entscheiden, wer von uns eher ein ruhiges Glück erreicht: Je geordneter und harmonischer ein Leben ist, um so qualvoller sind die unausbleiblichen Dissonanzen.«
»Sagen Sie, Enno, sind Sie etwa kein glücklicher Mensch? Jugend, Wissenschaft, Poesie, und sicherlich Liebe... Was haben Sie Schweres erdulden müssen, um so eifernd von der Tragödie des Lebens zu reden?«
»Das haben Sie sehr gut erkannt«, sagte Enno lachend, aber das Lachen klang unecht. »Sie wissen nicht, dass der fröhliche Enno schon einmal sterben wollte. Und hätte ihm Menni nur einen Tag später die fünf Worte geschrieben, die seine Pläne umwarfen — >Willst du zur Erde mitkommen?< —, dann hätten Sie auf den fröhlichen Reisegefährten Enno verzichten müssen. Aber jetzt mag ich Ihnen das nicht erklären. Sie werden später selbst sehen, dass es bei uns nicht nur das friedliche und ruhige Glück gibt, von dem Sie gesprochen haben.«
Wir erhoben uns und kehrten ins Museum zurück. Ich konnte jedoch die Sammlungen nicht mehr systematisch betrachten, meine Gedanken schweiften ab. In der Skulpturenabteilung blieb ich vor einer neueren Statue stehen, die einen wunderschönen Knaben darstellte. Seine Gesichtszüge erinnerten an Netti. Am meisten staunte ich über die Kunst, mit der der Bildhauer in dem Knabenkörper, in den unvollendeten Zügen, in den fragenden Kinderaugen die ihm innewohnende Genialität verkörpert hatte. Ich stand lange Zeit unbeweglich vor der Statue, alles andere wich aus meinen Gedanken, bis mich Enno zur Besinnung rief.
»Das sind Sie«, sagte er, auf den Jungen zeigend. »Das ist Ihre Welt. Es wird eine wunderbare Welt, aber sie ist noch im Kindesalter; und sehen Sie, welch verworrene Träume, welch beunruhigende Bilder sein Bewusstsein bewegen. Er ist im Halbschlaf, aber er wird erwachen, ich fühle das, ich glaube zutiefst daran!«
In das freudige Gefühl, das diese Worte in mir erweckten, mischte sich ein seltsames Bedauern: Warum hat das nicht Netti gesagt!

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