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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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8. Netti

»Das Leben im Universum ist ein einheitliches Ganzes, hat Sterni gesagt. Und was hat er uns vorgeschlagen?
Er will eine ganz eigenständige Form dieses Lebens, die wir dann niemals mehr wiederherstellen und ersetzen können, einfach vernichten, für immer ausrotten.
Viele hundert Millionen Jahre bestand ein herrlicher Planet, er hatte sein eigenes, besonderes Leben, das sich von anderen unterschied. Aus seinen Elementen bildete sich allmählich Bewusstsein heraus; indem dieses Leben in grausamen und schwierigen Kämpfen immer höhere Stufen erklomm, nahm es endlich uns verwandte menschliche Formen an. Aber diese Formen sind nicht mit unseren identisch: In ihnen spiegelt und konzentriert sich die Geschichte einer anderen Natur, eines anderen Kampfes, in ihnen sind andere Widersprüche enthalten, andere Entwicklungsmöglichkeiten. Die Zeit ist gekommen, wo zum ersten Mal zwei große Lebenslinien miteinander vereint werden können. Welch neue Vielfalt, welch höhere Harmonie muss aus dieser Verbindung entstehen! Man sagt uns: Das Leben im Universum ist ein einheitliches Ganzes. Und deshalb muss man es nicht vereinen, sondern vernichten?
Als Sterni dargelegt hat, wie sich die irdische Menschheit, ihre Geschichte, ihre Sitten, ihre Psyche von der unseren unterscheiden, hat er seine Idee beinahe besser widerlegt, als ich es tun könnte. Wenn sie uns in allem völlig ähnelten außer in ihrer Entwicklungsstufe, wenn sie das wären, was unsere Vorfahren in der Epoche unseres Kapitalismus gewesen sind, könnte man Sterni zustimmen: Eine niedere Form darf um einer höheren willen geopfert werden, eine schwache um einer starken willen. Aber die Erdenmenschen sind anders als wir und unsere Vorfahren, und wenn wir sie ausmerzen, werden sie in der universellen Entwicklung nicht durch uns ersetzt, sondern wir füllen die Lücke, die wir im Reich der Lebensformen aufgerissen haben, nur mit uns aus.
Nicht in der Barbarei, nicht in der Grausamkeit der irdischen Zivilisation Hegt der Unterschied zu uns. Barbarei und Grausamkeit sind nur übergangserscheinungen der allgemeinen Verschwendungssucht, durch die sich das Leben auf der Erde auszeichnet. Dort ist der Existenzkampf energischer und intensiver, die Natur schafft unaufhörlich weit mehr Formen als bei uns, aber weit mehr gehen auch als Opfer der Entwicklung zugrunde. Das kann gar nicht anders sein, weil die Erde von ihrer Lebensquelle — der Sonne — achtmal mehr Strahlenenergie erhält als unser Planet. Daher wird dort so viel Leben vergeudet, deshalb entstehen in der Vielfalt seiner Formen so viele Widersprüche, und der Weg zu ihrem Ausgleich ist so qualvoll kompliziert und katastrophenreich. Im Reich der Pflanzen und Tiere haben Millionen Arten erbittert gekämpft und einander verdrängt, durch ihr Leben und ihren Tod haben sie zur Entstehung neuer, höherer und harmonischerer Typen beigetragen. So war es auch im Reich des Menschen.
Im Vergleich mit der Geschichte der irdischen Menschheit ist unsere Geschichte erstaunlich einfach, frei von Irrwegen und geradlinig bis zum Schematismus. Ruhig und allmählich bildeten sich die Elemente des Sozialismus heraus — die kleinen Eigentümer verschwanden, das Proletariat stieg von Stufe zu Stufe, all das geschah ohne Rückschläge und Erschütterungen auf dem gesamten Territorium des Planeten, der politisch geeint war. Gekämpft wurde zwar, aber die Menschen verstanden einander irgendwie, das Proletariat brauchte nicht weit vorauszublicken, und die Bourgeoisie hat ihre Macht auch nicht um jeden Preis verteidigt; unterschiedliche Epochen und Gesellschaftsformationen haben sich nicht in dem Maße vermischt, wie das auf der Erde geschieht, wo es in einem hochkapitalistischen Lande zuweilen feudale Elemente und eine zahlenmäßig große Bauernschaft gibt, die eine ganze historische Periode zurückgeblieben ist und den oberen Klassen oft als Werkzeug zur Unterdrückung des Proletariats dient. Auf geradem und ebenem Wege sind wir vor einigen Generationen zu einer Gesellschaftsordnung gelangt, die alle Kräfte der sozialen Entwicklung befreit und vereint.
Der Weg, den unsere irdischen Brüder beschritten haben, war hingegen dornig, und er hatte viele Biegungen und Sackgassen. Manche von uns wissen das nicht, und niemand von uns ist imstande, sich klar vorzustellen, bis zu welchem Grade von Wahnsinn Kirche und Staat, die ideologischen und politischen Instrumente der herrschenden, oberen Klassen, die Fertigkeit entwickelt haben, Menschen zu quälen. Und was ist das Ergebnis? Hat sich die Entwicklung verlangsamt? Nein, wir haben keinen Grund, das zu behaupten, denn die ersten Stadien des Kapitalismus bis zum Entstehen eines sozialistischen proletarischen Bewusstseins sind inmitten dieser Wirren und grausamen Kämpfe unterschiedlicher Formationen nicht langsamer, sondern schneller verlaufen als bei uns. Die Härte und Unerbittlichkeit des Kampfes ließ jedoch in den Kämpfern Energie und Leidenschaft entstehen, sie gebar so viel Heroismus und solche Kraft zum Ertragen des Martyriums, wie sie der gemäßigtere und weniger tragische Kampf unserer Vorfahren nicht kannte. Darin ist der irdische Menschentyp dem unseren nicht unterlegen, sondern überlegen, obwohl wir auf einer viel höheren Stufe stehen, weil wir eine längere Entwicklung hinter uns haben.
Die irdische Menschheit ist zersplittert, die einzelnen Rassen und Völker sind mit ihren Territorien und ihren Traditionen eng verwachsen, sie sprechen unterschiedliche Sprachen, und tiefes gegenseitiges Misstrauen durchdringt alle ihre Lebensbereiche. Das alles ist richtig, und richtig ist auch, dass eine globale Vereinigung, die sich über diese Grenzen hinweg einen Weg bahnt, von unseren irdischen Brüdern viel1 später als bei uns erreicht werden wird. Aber man vergesse nicht die Ursachen und veranschlage die Folgen höher. Die Zersplitterung beruht auf der Größe des Erdballs, auf dem Reichtum und der Vielfalt seiner Natur. Das führt zu vielen unterschiedlichen Standpunkten in der Auffassung vom Universum. Sind deshalb die Erde und ihre Menschen etwa niedriger einzustufen als unsere Welt in analogen Epochen ihrer Geschichte? Ist es nicht gerade umgekehrt?
Selbst der Unterschied der irdischen Sprachen hat in vielem zur Entwicklung des Denkens beigetragen, indem es die Begriffe aus den ungenauen Worthüllen befreite, mit denen sie ausgedrückt werden. Vergleicht die Philosophie der Erdenmenschen mit der Philosophie unserer kapitalistischen Vorfahren! Die irdische Philosophie ist nicht nur mannigfaltiger, sondern auch diffiziler, sie geht nicht nur von komplizierterem Material aus, sondern die besten Schulen analysieren es auch umfassender, indem sie die Verbindung von Fakten und Begriffen richtiger bestimmen. Natürlich drückt jede Philosophie die Schwäche und Uneinheitlichkeit der Erkenntnis aus, sie ist ein Merkmal unzureichender wissenschaftlicher Entwicklung; Philosophie ist der Versuch, ein einheitliches Weltbild zu geben, indem die Lücken der wissenschaftlichen Erfahrung mit Hypothesen ausgefüllt werden; deshalb wird die Philosophie auf der Erde, wie das bei uns bereits geschehen ist, von einer Einheitslehre der Wissenschaft verdrängt werden. Man bedenke jedoch, wie viele Hypothesen, von den führenden Denkern hervorgebracht, in groben Zügen die Entdeckungen unserer Wissenschaft vorwegnehmen — das gilt für fast die gesamte Gesellschaftstheorie der Sozialisten. Menschen, die unsere Vorfahren im philosophischen Denken übertreffen, können uns auch später in der Wissenschaft vorauseilen.
Sterni will die irdische Menschheit an ihren Gerechten messen — den wenigen bewussten Sozialisten, die es jetzt gibt. Er will die Menschheit nach ihren heutigen Widersprüchen beurteilen und nicht nach den Elementen, aus denen diese Widersprüche hervorgegangen sind und zu ihrer Zeit gelöst werden. Er will diesen stürmischen, aber herrlichen Ozean des Lebens für immer trockenlegen!
Wir müssen ihm fest und entschlossen erwidern; Niemals!
Wir müssen einen künftigen Bund mit der irdischen Menschheit vorbereiten. Den übergang zu einer freien Ordnung können wir nicht merklich beschleunigen, aber das wenige, was wir dazu beitragen können, müssen wir tun. Und wenn wir den ersten Gesandten der Erde in unserer Welt nicht vor unnötigen Leiden und Krankheiten bewahren konnten, macht uns das wenig Ehre. Zum Glück wird er bald genesen sein, und selbst wenn ihn letzten Endes der zu schnelle Kontakt mit dem ihm fremden Leben töten sollte, kann er noch viel für den künftigen Bund zweier Welten tun.
Unsere eigenen Schwierigkeiten und Gefahren müssen wir auf andere Weise überwinden. Viel mehr Wissenschaftler als bisher müssen sich mit der Eiweißsynthese befassen, wir müssen die Kolonisation der Venus vorbereiten, soweit das möglich ist. Wenn wir diese Aufgaben nicht in der kurzen Frist lösen, die uns verbleibt, müssen wir vorübergehend das Bevölkerungswachstum bremsen. Welcher vernünftige Geburtshelfer opfert nicht das Leben eines ungeborenen Kindes, um das Leben der Mutter zu retten? Wenn es notwendig sein sollte, müssen wir ebenfalls auf einen Teil unseres ungeborenen Lebens verzichten, um das fremde irdische Leben zu retten, das vorhanden ist und sich entwickelt. Der künftige Bund zweier Welten wird uns dieses Opfer vielfach lohnen. . Die Einheit des Lebens ist das höchste Ziel, und die Liebe ist die höchste -Vernunft!« (Tiefes Schweigen. Dann ergreift Menni das Wort.)

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