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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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Teil I

1. Die Trennung

Die Ereignisse haben sich zugetragen, als in unserem Lande der große Umbruch gerade anhob, jener Umbruch, der bis in die Gegenwart fortwährt und sich nun wohl seinem unabwendbaren schrecklichen Ende nähert.
Die ersten, blutigen Tage hatten das gesellschaftliche Bewusstsein so tief aufgewühlt, dass alle einen schnellen und klaren Ausgang des Kampfes erwarteten: Das Schlimmste schien vorüber zu sein, und schlimmer konnte es nicht kommen. Niemand vermochte sich vorzustellen, wie hartnäckig die knochigen Hände eines Toten einen Lebenden krampfhaft umklammern und würgen können.
Kämpferischer Enthusiasmus bemächtigte sich der Massen. Die Menschen öffneten ihre Herzen, grenzenlos auf die Zukunft vertrauend; die Gegenwart verschwamm in rosigem Nebel, die Vergangenheit entrückte in die Ferne. Alle Beziehungen zwischen den Menschen wurden wankend und brüchig wie nie zuvor.
In diesen Tagen geschah, was mein Leben völlig veränderte und mich aus dem Strom der Volkserhebung riss.
Ungeachtet meiner siebenundzwanzig Jahre war ich ein »alter« Parteiarbeiter. Ich hatte sechs Jahre revolutionäre Tätigkeit aufzuweisen, lediglich unterbrochen von einem Jahr Festungshaft. Eher als viele andere spürte ich das Nahen des Sturms, und gelassener als sie begegnete ich ihm. Arbeiten musste ich mehr als früher, dennoch gab ich weder meine wissenschaftliche Betätigung auf— mich interessierte besonders der Aufbau der Materie —, noch beendete ich meine literarischen Versuche: Ich schrieb für Kinderzeitschriften, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Zu der Zeit liebte ich... oder glaubte zu lieben.
Ihr Parteiname war Anna Nikolajewna.
Sie gehörte zum anderen, gemäßigteren Flügel unserer Partei. Ich erklärte das mit ihrer Sanftmut und der allgemeinen Verworrenheit der politischen Verhältnisse in unserem Land; obwohl Anna Nikolajewna älter war als ich, hielt ich sie nicht für einen innerlich gefestigten Menschen. Darin irrte ich mich.
Sehr bald, nachdem wir uns vereinigt hatten, trat der Unterschied unserer Naturen immer merklicher und schmerzlicher zutage. Wir hatten stets gegensätzliche Ansichten über unser Verhältnis zur revolutionären Arbeit und den Sinn unserer Verbindung.
Anna Nikolajewna beschritt unter dem Banner von Pflicht und Opfer den Weg in die Revolution, ich marschierte unter dem Banner meines freien Willens. Der großen Bewegung des Proletariats hatte sie sich als Moralistin angeschlossen, die in der höheren Sittlichkeit der Arbeiterklasse ihre Befriedigung findet, ich hingegen als Amoralist, der einfach das Leben liebt. Dieses Leben sollte erblühen, und deshalb hatte ich mich in den Zug eingereiht, der sich auf der Hauptstraße der Geschichte bewegte und dieses Erblühen des Lebens verkörperte. Für Anna Nikolajewna war die proletarische Ethik an sich geheiligt, ich hielt sie für eine nützliche Richtschnur, der Arbeiterklasse in ihrem Kampfe unabdingbar, aber vergänglich wie dieser Kampf selbst und die Lebensordnung, die sie hervorgebracht hatte. Nach Anna Nikolajewnas Meinung sollte in der sozialistischen Gesellschaft die Klassenmoral des Proletariats in eine allgemein verbindliche Moral umgewandelt werden, während ich meinte, das Proletariat würde schon jetzt mit der Abschaffung jedweder Moral beginnen und das soziale Empfinden, das die Menschen bei der Arbeit wie bei Freude und Leid zu Genossen werden lässt, könne sich erst dann frei entwickeln, wenn es die fetischistische Hülle der Sittlichkeit ablege. Aus diesen unterschiedlichen Ansichten erwuchsen nicht selten widersprüchliche Bewertungen von politischen und sozialen Tatsachen. Diese Widersprüche waren offensichtlich nicht miteinander zu versöhnen.
Noch schärfer klafften die Ansichten über unsere privaten Beziehungen auseinander. Anna Nikolajewna meinte, die Liebe verpflichte zu Zugeständnissen, zu Opfern und vor allem zur Treue, solange die Ehe währe. Ich dachte wahrhaftig nicht daran, neue Bindungen einzugehen, dennoch konnte ich die Verpflichtung zur Treue nicht gelten lassen, eben weil es eine Verpflichtung war. Ich hielt sogar die Polygamie für prinzipiell höher stehend als die Monogamie, weil sie dem Menschen einen größeren Reichtum persönlichen Lebens und größere Vielfalt bei der Vererbung von Anlagen zu geben vermag. Meiner Ansicht nach machen nur die Widersprüche der bürgerlichen Ordnung die Polygamie in unserer Zeit teils unrealisierbar und teils zu einem Privileg von Ausbeutern und Parasiten, die mit ihrer dekadenten Geistesart alles besudeln; die Zukunft müsste auch hier eine tiefe Umwandlung bringen. Anna Nikolajewna war über solche Worte empört; sie sah darin einen Versuch, ein grob sinnliches Verhältnis zum Leben in ein ideologisches Gewand zu kleiden.
Trotzdem habe ich die unausbleibliche Trennung nicht vorhergesehen und gespürt. Äußere Ereignisse beschleunigten die Auflösung unserer Verbindung.
Zu jener Zeit kam ein junger Mann in die Hauptstadt, der den ungewöhnlichen Decknamen Menni trug. Er brachte aus dem Süden Nachrichten und Aufträge, an denen zu erkennen war, dass er das volle Vertrauen der Genossen besaß. Nachdem er seine Mission erfüllt hatte, blieb er noch einige Zeit in der Hauptstadt und besuchte uns zuweilen, wobei er die lebhafte Neigung äußerte, mit mir näher bekannt zu werden.
Menni war in vielem ein origineller Mann, angefangen bei seinem Äußeren. Eine dunkle Brille maskierte seine Augen so, dass ich nicht einmal ihre Farbe kannte. Sein Kopf war unproportional groß; seine Gesichtszüge, ebenmäßig, aber erstaunlich starr, wollten durchaus nicht zu der sanften und ausdrucksvollen Stimme passen, und ebenso wenig zu seiner harmonischen, jünglingshaft federnden Gestalt. Er sprach zwanglos und flüssig, seine Rede war stets gehaltvoll. Mennis wissenschaftliche Bildung kam mir sehr einseitig vor; offensichtlich hatte er ein Ingenieurstudium absolviert.
Im Gespräch neigte Menni dazu, spezielle und praktische Fragen auf allgemeine Ideen zurückzuführen. Wenn er bei uns weilte, traten die Gegensätze zwischen mir und Anna Nikolajewna sehr bald so deutlich und klar hervor, dass wir qualvoll die Aussichtslosigkeit unserer Verbindung empfanden. Mennis Ansichten ähnelten offensichtlich den meinigen, er äußerte sich zwar sehr behutsam und vorsichtig in der Form, aber scharf und entschieden dem Inhalt nach. Die politischen Differenzen zwischen Anna Nikolajewna und mir wusste er so kunstvoll mit grundlegenden Unterschieden in unserer Weltanschauung zu verknüpfen, dass diese Unterschiede als psychologisch unausweichliche, fast logische Schlüsse daraus erschienen, und es schwand jegliche Hoffnung, aufeinander einzuwirken, die Gegensätze zu ebnen, eine übereinkunft zu erzielen. Anna Nikolajewna empfand Menni gegenüber beinahe Hass, verbunden mit lebhaftem Interesse. Mir flößte er große Achtung und undeutliches Misstrauen ein: Ich spürte, dass er einen Zweck verfolgte, wusste jedoch nicht, welchen.
An einem Januartag — es war schon Ende des Monats — sollte in den Leitungen beider Parteiflügel über eine geplante Massendemonstration beraten werden, bei der es zu bewaffneten Zusammenstößen kommen konnte. Am Abend zuvor erschien Menni bei uns und fragte, ob die leitenden Funktionäre der Partei an dieser Demonstration teilnehmen würden. Der Streit, der zwischen uns entbrannte, wurde bald heftig.
Anna Nikolajewna erklärte, dass jeder, der für die Demonstration stimme, moralisch verpflichtet sei, in den ersten Reihen zu marschieren. Ich hielt das durchaus nicht für verbindlich, teilnehmen sollten vielmehr diejenigen, die dort vonnöten wären und wirklich nützlich sein könnten, wobei ich mich im Sinn hatte, da ich bereits einige diesbezügliche Erfahrungen besaß. Menni ging noch weiter und behauptete, bei dem offenbar unvermeidlichen Zusammenstoß mit dem Militär müssten sich die Straßenagitatoren und Kampf Organisatoren auf dem Handlungsfeld befinden, dagegen hätten die politischen Leiter dort nichts zu suchen und nervöse oder körperlich schwache Menschen könnten der Sache sogar schaden. Anna Nikolajewna war wegen dieser Erwägungen, die sie als Affront gegen sich auffasste, geradezu beleidigt. Sie brach die Unterhaltung ab und begab sich in ihr Zimmer. Bald verabschiedete sich auch Menni.
Tags darauf musste ich früh aufstehen. Ich ging fort, ohne Anna Nikolajewna gesehen zu haben, und kam erst abends heim. Der Plan zu der Demonstration war verworfen worden, sowohl von unserem Komitee wie von der Leitung des anderen Flügels. Ich war es zufrieden, weil ich wusste, wie unzureichend vorbereitet wir für einen bewaffneten Konflikt waren; bei einem solchen Zusammenstoß hätten wir nur fruchtlos unsere Kräfte vergeudet. In der Hoffnung, der Beschluss würde Anna Nikolajewna besänftigen, betrat ich das Zimmer. Auf dem Tisch fand ich einen Zettel.
»Ich fahre fort. Je mehr ich über uns nachdenke, um so klarer wird mir, dass wir auf verschiedenen Wegen gehen und dass wir uns beide geirrt haben. Es ist besser, wenn wir uns nicht wieder sehen. Verzeih mir.«
Ich irrte lange durch die Straßen, im Kopf ein Gefühl der Leere, das Herz verkrampft. Als ich heimkam, fand ich einen unvermuteten Gast vor. An meinem Tisch saß Menni und schrieb.

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