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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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5. Im Krankenhaus

Ich kehrte erschöpft nach Hause zurück, und nach zwei durchwachten Nächten und einem ganzen Tag völliger Arbeitsunfähigkeit beschloss ich, mich zu Netti zu begeben, weil ich mich nicht an einen Arzt des Chemiestädtchens wenden wollte. Netti arbeitete seit dem Morgen im Krankenhaus.
Als er mich im Wartezimmer erblickte, kam er sogleich zu mir und betrachtete aufmerksam mein Gesicht. Dann nahm er mich an der Hand und führte mich in einen abgelegenen kleinen Raum, wo sich ein feiner Duft mit sanftem blauem Licht mischte; die Stille wurde durch nichts gestört. Netti hieß mich in einen bequemen Sessel setzen und sagte: »Denken Sie an nichts, machen Sie sich keine Sorgen! Die nehme ich heute auf mich. Ruhen Sie sich aus, ich komme bald wieder.«
Er ging fort, und ich dachte an nichts, sorgte mich um nichts, weil Netti all meine Gedanken und Sorgen auf sich genommen hatte. Das war sehr angenehm, und nach wenigen Minuten schlief ich ein. Als ich erwachte, stand Netti vor mir und sah mich lächelnd an.
»Ist Ihnen jetzt besser?« fragte er.
»Ich bin völlig gesund, Sie sind ein genialer Arzt«, antwortete ich. »Gehen Sie zu Ihren Kranken und kümmern Sie sich nicht um mich.«
»Meine Arbeit ist für heute beendet. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen unser Krankenhaus«, schlug Netti vor.
Das interessierte mich sehr, und wir begaben uns auf einen Rundgang durch das weitläufige Gebäude.
Die chirurgische und die neurologische Klinik waren die weitaus größten Abteilungen. Viele Patienten lagen in der chirurgischen Klinik als Opfer von Arbeitsunfällen.
»Gibt es denn in den Fabriken nicht genügend Schutzvorrichtungen?« fragte ich Netti.
»Schutzvorrichtungen, die Unfälle völlig ausschließen, dürfte es kaum geben. Aber hier sind alle Patienten aus einem Gebiet mit einer Bevölkerung von mehr als zwei Millionen beisammen, da sind ein paar Dutzend Unfälle nicht viel. Meist sind es Neulinge, die sich mit den Maschinen noch nicht auskennen. Schließlich wechseln alle gern von einem Produktionszweig zum anderen. Spezialisten und Künstler werden besonders oft Opfer ihrer Zerstreutheit: Sie denken an andere Dinge oder grübeln über Probleme.«
»Die Nervenkranken sind wohl vor allem wegen überanstrengung hier?«
»Ja, nicht wenige. Aber viele haben auch Krankheiten, die aus Ärgernissen und Krisen in Partnerschaften herrühren; auch andere seelische Erschütterungen, zum Beispiel der Tod eines geliebten Menschen, können eine Krankheit hervorrufen.«
»Sind hier auch Geisteskranke mit getrübtem oder verwirrtem Verstand?«
»Nein, hier nicht, dafür haben wir eigene Heilanstalten. Dort sind besondere Vorkehrungen getroffen, weil ein solcher Patient sich oder anderen Schaden zufügen könnte.«
»Wendet man in solchen Fällen auch Gewalt an?«
»Wenn es unbedingt notwendig ist, natürlich.«
»Schon zum zweiten Male begegne ich Gewalt in Ihrer Welt. Das erste Mal war es in der Kinderstadt. Gelingt es Ihnen nicht, in Ihrem Leben völlig ohne Gewalt auszukommen? Müssen Sie die Gewalt zulassen?«
»Ja, wie wir Krankheit und Tod dulden oder eine bittere Medizin nehmen müssen. Welches vernünftige Wesen würde auf Gewalt zur Selbstverteidigung verzichten?«
»Das verringert die Kluft zwischen unseren Welten beträchtlich.«
»Der Hauptunterschied liegt gar nicht darin, dass es auf der Erde viel Gewalt und Zwang gibt auf dem Mars wenig. Vielmehr geht es darum, dass bei Ihnen Gewalt und Zwang in Gesetze gekleidet werden, in äußere und innere Gesetze, in Rechtsnormen und moralische Regeln, die über dem Menschen stehen und ständig auf ihm lasten. Bei uns gibt es Gewalt entweder als Erscheinung einer Krankheit oder als vernünftiges Vorgehen eines vernünftigen Wesens. In keinem Falle werden daraus verbindliche Gesetze und Normen abgeleitet, niemand kann über einen anderen Menschen verfügen.«
»Aber man hat doch Regeln geschaffen, um die Freiheit von Geisteskranken oder Kindern einzuschränken.«
»Ja, rein wissenschaftliche Regeln über den Umgang mit Kranken und Kindern. Freilich sind in diesen Regeln nicht alle Fälle von unvermeidlicher Gewalt erfasst. Das hängt von den Umständen ab.«
»Dann ist trotzdem echte Willkür von seiten der Erzieher, Ärzte und Krankenpfleger möglich.«
»Was bedeutet das Wort Willkür? Wenn es unnötige, überflüssige Gewalt bedeutet, ist sie nur seitens eines kranken Menschen möglich, der selber einer Behandlung bedarf. Ein vernünftiger und bewusst handelnder Mensch ist dazu natürlich unfähig.«
Nachdem wir Krankenzimmer, Operationssäle, Medikamentenräume und Wohnungen des Pflegepersonals besichtigt hatten, begaben wir uns in das obere Stockwerk und gelangten in einen großen schönen Saal, dessen durchsichtige Wände den Blick auf den See, die Wälder und die fernen Berge freigaben. Der Raum war von herrlichen Statuen und Bildern geschmückt, die Einrichtung war kostbar und erlesen.
»Das ist das Sterbezimmer«, sagte Netti.
»Bringen Sie alle Sterbenden hierher?«
»Ja, oder sie kommen selber her.«
»Können denn Ihre Sterbenden noch laufen?« wunderte ich mich.
»Wenn sie körperlich gesund sind, natürlich.«
Ich begriff, dass es sich um Selbstmörder handelte.
»Sie stellen Selbstmördern diesen Raum zur Verfügung, damit sie ihre Tat ausführen können?«
»Ja, und alle Mittel für einen friedlichen, schmerzlosen Tod.«
»Und das lassen Sie ohne weiteres zu?«
»Warum sollten wir das nicht zulassen, wenn das Bewusstsein des Patienten klar und die Entscheidung unumstößlich ist? Ein Arzt schlägt dem Sterbewilligen natürlich vor, mit ihm zu sprechen. Manche gehen darauf ein, andere nicht.«
»Ist Selbstmord sehr häufig?«
»Ja, besonders unter alten Menschen. Wenn die Erlebnisfähigkeit abnimmt und abstumpft, ziehen es viele vor, nicht auf das natürliche Ende zu warten.«
»Es dürfte doch auch vorkommen, dass unter den Selbstmördern junge Menschen voller Kraft und Gesundheit sind?«
»Ja, das kommt vor, aber nicht häufig. Solange ich im Krankenhaus bin, gab es nur zwei solche Fälle. Beim dritten ist es gelungen, die Tat abzuwenden.«
»Wer waren diese Unglücklichen, und was hat sie zu dieser Tat getrieben?«
»Der erste war mein Lehrer, ein bedeutender Arzt, der die medizinische Wissenschaft sehr vorangebracht hat. Seine Fähigkeit, die Leiden anderer Menschen mitzuempfinden, war übermäßig entwickelt. Deshalb ist er Arzt geworden, und das hat ihn auch umgebracht. Er hat seinen Seelenzustand so gut vor allen verborgen, dass die Katastrophe völlig überraschend kam. Sie geschah nach einer schweren Epidemie, die beim Trockenlegen einer Meeresbucht ausgebrochen war. Ursache der Epidemie waren Millionen Fische, die umgekommen und verwest waren. Die Krankheit war qualvoll wie die Cholera auf der Erde, aber weitaus gefährlicher, und in neun von zehn Fällen endete sie mit dem Tode. Die Ärzte konnten nicht einmal die Bitten ihrer Kranken um einen schnellen und leichten Tod erfüllen: Ein Mensch, der von einer schlimmen fieberhaften Erkrankung heimgesucht wird, ist schließlich nicht bei klarem Verstand, um frei eine solche Entscheidung zu treffen. Mein Lehrer arbeitete wie ein Besessener, und er fand ziemlich bald ein Mittel gegen diese Epidemie. Danach wollte er nicht weiterleben.«
»Wie alt war er?«
»Auf der Erde wäre er ungefähr fünfzig Jahre alt gewesen. Bei uns ist ein Fünfzigjähriger noch ein junger Mensch.«
»Und der zweite Fall?«
»Das war eine Frau, die Mann und Kind zugleich verloren hatte.«
»Und der dritte?«
»Das könnte Ihnen nur der Betroffene selber sagen.«
»Das ist wahr«, pflichtete ich ihm bei. »Aber erklären Sie mir etwas anderes: Warum bleiben die Marsmenschen so lange jung? Ist das eine Besonderheit Ihrer Menschen, die Folge besserer Lebensbedingungen? Oder hat das einen anderen Grund?«
»Eine Besonderheit der Menschen unseres Planeten ist es nicht; Vor zweihundert Jahren haben wir nur halb so lange gelebt. Bessere Lebensbedingungen? Ja, in hohem Maße wohl. Aber nicht nur. Das Wichtigste ist unsere Lebenserneuerung.«
»Was ist das?«
»Eigentlich eine ganz einfache Sache, doch Ihnen wird sie merkwürdig vorkommen. Dabei könnte sie auch auf der Erde schon angewandt werden. Um die Lebensfähigkeit der Zellen oder der Organismen zu erhöhen, ergänzt die Natur bekanntlich ein Individuum durch ein anderes. Zu dem Zweck verschmelzen zwei einzellige Lebewesen, wenn ihre Lebenskraft abnimmt, und nur auf diesem Wege gewinnen sie ihre Vermehrungsfähigkeit in vollem Maße wieder — das ist die >Unsterblichkeit< ihres Protoplasmas. Denselben Sinn hat auch die geschlechtliche Vermehrung höherer Pflanzen und Tiere: Hier vereinigen sich ebenfalls Elemente zweier Lebewesen, um den vollkommeneren Keim eines dritten Lebewesens zu erzeugen. Auf der Erde kennt man schon die Anwendung von Blutserum, um bestimmte Eigenschaften von einem Lebewesen auf ein anderes zu übertragen — beispielsweise erhöhte Widerstandskraft gegen bestimmte Krankheiten. Wir gehen weiter und nehmen einen Blutaustausch zwischen zwei Menschen vor. Jeder überträgt auf den anderen Eigenschaften, die seine Lebenskraft fördern. Dabei werden einfach die Venen beider Menschen an entsprechende Geräte angeschlossen. Wenn man alle Vorsichtsmaßnahmen beachtet, ist das völlig ungefährlich. Das Blut des einen Menschen lebt im Organismus des anderen weiter, wobei es sich mit dem vorhandenen Blut mischt und bewirkt, dass alle Gewebe regeneriert werden.«
»Kann man auf diese Weise auch Greisen die Jugend wiedergeben, indem man junges Blut in ihre Adern gießt?«
»Zum Teil ja, aber nicht vollständig, denn das Blut ist schließlich nicht alles im Organismus, und es wird ständig erneuert. Deshalb altert ein junger Mensch nicht vom Blut eines Älteren: Das Schwache, Greisenhafte wird vom jungen Organismus schnell überwunden, gleichzeitig aber eignet er sich vieles an, was ihm fehlt. Die Energie und Anpassungsfähigkeit seiner Lebensfunktionen erhöhen sich ebenfalls.«
»Warum nutzt unsere Medizin dieses Mittel nicht, wenn es so einfach ist? Sie kennt doch die Blutübertragung seit mehreren hundert Jahren.«
»Ich weiß es nicht, vielleicht gibt es besondere organische Bedingungen, so dass dieses Mittel bei Ihnen nicht wirkt. Oder Ihre Auffassung vom Individuum ist schuld daran, denn auf der Erde ist ein Mensch von anderen stark abgegrenzt, und der Gedanke an eine lebendige Vereinigung ist Ihren Gelehrten bisher fremd. Außerdem gibt es auf der Erde viele Krankheiten, die das Bioit vergiften, Krankheiten, von denen die Kranken oft selbst nichts wissen und die sie manchmal sogar verheimlichen. Die in Ihrer Medizin praktizierte — übrigens sehr selten praktizierte — Blutübertragung hat mehr philanthropischen Charakter: Wer viel hat, gibt einem anderen, der beispielsweise infolge einer Verletzung Blut verloren hat, etwas ab. Das wird natürlich auch bei uns gemacht, aber jeder hat Anspruch auf das, was unserer gesamten Ordnung entspricht: den kameradschaftlichen Austausch des Lebens nicht nur geistig, sondern auch körperlich.«

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