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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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5. Bei Nella

Enno war schon in früher Jugend Nettis engste Freundin gewesen, sie erzählte mir viel von ihr. Einmal vernahm ich eine seltsame Verbindung der Namen Netti und Sterni, die mich stutzig machte. Als ich Enno danach fragte, wurde sie verlegen.
»Netti ist Sternis Frau gewesen. Wenn sie Ihnen das nicht gesagt hat, hätte ich schweigen sollen. Ich habe offenbar einen Fehler gemacht, fragen Sie mich nicht weiter danach.«
Von diesen Worten wurde ich merkwürdig erregt. Mir war jedoch, als hätte ich nichts Neues erfahren. Ich hatte niemals angenommen, Nettis erster Mann zu sein. Es wäre ein unsinniger Gedanke gewesen, dass eine Frau voller Leben und Gesundheit, schön an Körper und Seele, das Kind einer freien, hoch entwickelten Gesellschaft, bis zu unserer Begegnung auf Liebe hätte verzichten sollen. Woher rührte also meine Fassungslosigkeit? Ich wusste es nicht, sondern spürte nur eines, dass ich alles erfahren müsste, alles ohne irgendeinen Rest. Enno danach zu fragen war offenbar unmöglich. Da kam mir Nella in den Sinn.
Netti hatte beim Abschied gesagt: »Vergiss Nella nicht, sie liebt dich meinetwegen. Nella ist klug und erfahren, sie wird dir in schweren Stunden beistehen!« Mehrmals wollte ich sie schon besuchen, aber teils hielt mich die Arbeit davon ab, teils die Scheu vor den vielen neugierigen Kinderaugen. Nun war alle Unschlüssigkeit verflogen, noch am selben Tage war ich in der Kinderstadt.
Nella bat eine andere Erzieherin, sie zu vertreten, und führte mich in ihr Zimmer, wo uns die Kinder nicht stören konnten.
Ich hatte beschlossen, ihr nicht sogleich den Zweck meines Besuches zu offenbaren, da mir dieser Zweck weder besonders vernünftig noch besonders edel erschien. Es war natürlich, dass wir von dem Menschen sprechen würden, der uns beiden der nächste war, und dann brauchte ich nur einen passenden Moment für meine Frage abzuwarten. Nella erzählte mir mit mütterlicher Begeisterung viel von Nettis Kindheit und Jugend.
Die ersten Lebensjahre hatte Netti bei ihrer Mutter verbracht, wie das bei den meisten Marsmenschen üblich ist. Als man Netti in die Kinderstadt bringen musste, um ihr nicht den erzieherischen Einfluss anderer Kinder vorzuenthalten, konnte sich Nella nicht von ihrer Tochter trennen. Sie wohnte anfangs im selben Haus, dann blieb sie für immer als Erzieherin in der Kinderstadt. Bei ihrem Beruf als Psychologin bot sich das ohnehin an.
Netti war ein lebhaftes Kind, das energisch nach Kenntnissen und einer Tätigkeit verlangte. Die geheininisvolle Welt außerhalb des Planeten zog sie besonders an. Die Erde, die damals noch unerreichbar war, und die unbekannten Menschen dort waren Nettis liebstes Thema, darüber sprach sie oft mit anderen Kindern und mit den Erziehern.
Als Mennis Bericht von der ersten gelungenen Erdexpedition veröffentlicht wurde, war das Mädchen vor Freude und Begeisterung außer sich. Sie lernte Mennis Bericht auswendig und quälte Nella und die Erzieher damit, ihr jeden unbekannten Begriff zu erklären. Netti schwärmte für Menni, ohne ihn zu kennen, und schrieb ihm einen verzückten Brief. Darin flehte sie ihn unter anderem an, von der Erde ein Waisenkind mitzubringen, das sie dann erziehen wollte. Die Wände in ihrem Zimmer behängte sie mit Ansichten von der Erde und mit Porträts von Erdenmenschen, und sobald Wörterbücher irdischer Sprachen gedruckt waren, lernte sie die fremden Idiome. Netti entrüstete sich darüber, dass Menni und seine Begleiter beim ersten Erdenmenschen, dem sie begegnet waren, Gewalt angewandt hatten: Sie hatten ihn gefangen genommen, damit er ihnen helfe, sie mit den irdischen Sprachen bekannt zu machen. Zugleich bedauerte sie zutiefst, dass sie ihn wieder freigelassen und nicht auf den Mars mitgebracht hatten. Netti beschloss, einmal auf die Erde zu fliegen, und als Antwort auf die scherzhafte Bemerkung ihrer Mutter, sie werde einmal einen Erdenmann heiraten, erklärte sie nach kurzem Nachdenken: »Das ist durchaus möglich.«
All das hatte mir Netti nie erzählt, in ihren Gesprächen hatte sie stets vermieden, die Vergangenheit zu erwähnen. Wie hell die mütterliche Liebe in Nellas Schilderungen strahlte! Minutenlang vergaß ich alles und sah das Mädchen mit den leuchtenden großen Augen und dem rätselhaften Hang zu der fernen irdischen Welt lebhaft vor mir. Aber das verging bald, die Gegenwart war stärker, ich erinnerte mich an den Zweck meines Besuchs, und mir wurde wieder kalt ums Herz.
Endlich, als das Gespräch auf spätere Lebensjahre kam, entschloss ich mich zu fragen, wie sich Netti und Sterni kennen gelernt hätten. Dabei gab ich mich möglichst ruhig und ungezwungen.
»Ach, das ist es!« sagte Nella. »Deshalb sind Sie zu mir gekommen. Warum haben Sie mich nicht gleich danach gefragt?«
In ihrer Stimme klang ungewohnte Strenge. Ich schwieg.
»Natürlich kann ich Ihnen das erzählen«, fuhr Nella fort. »Es ist eine ganz einfache Geschichte. Sterni war Nettis Lehrer, er hielt Vorlesungen über Mathematik und Astronomie. Nachdem er von seiner ersten Reise zur Erde zurückgekommen war — es war wohl Mennis zweite Expedition —, sprach er mehrmals über unseren Nachbarplaneten und seine Bewohner. Dabei war Netti eine eifrige Zuhörerin. Die Geduld, mit der Sterni auf ihre endlosen Fragen einging, beeindruckte sie. Die nähere Bekanntschaft führte zur Ehe. Zwei sehr unterschiedliche, in vielem gegensätzliche Naturen zogen einander an. Später, in ihrem gemeinsamen Leben, erwiesen sich die Gegensätze als stärker, das Verhältnis kühlte sich ab, schließlich haben sie sich getrennt. Das ist alles.«
»Wann haben sie sich getrennt?«
»Endgültig nach Lettas Tod. Es begann damit, dass Netti Letta kennen lernte. Netti litt unter Sternis analytisch-kühlem Verstand, er zerstörte zu systematisch und hartnäckig alle ihre Luftschlösser und Träume. Unbewusst suchte sie einen Menschen, der das anders, sehen würde. Der alte Letta besaß ein sehr verständnisvolles Herz und viel naiven Enthusiasmus. Netti fand in ihm den Freund, den sie brauchte. Er hörte sich ihre Schwärmereien nicht nur geduldig an, sondern sie begeisterten sich gemeinsam an vielen Dingen. Bei Letta erholte sich Nettis Seele von der rauhen, alles abtötenden Kritik Sternis. Letta träumte ebenfalls von einem künftigen Bund zwischen Erde und Mars, einem Bund zweier Welten, aus dem ein Leben voller Poesie hervorgehen würde. Und als Netti erfuhr, dass ein Mann mit einer solchen Seele niemals die Liebe und Zärtlichkeit einer Frau kennen gelernt hatte, wurde aus der Freundschaft eine Ehe.«
»Einen Augenblick«, unterbrach ich Nella. »Habe ich Sie richtig verstanden? Netti war Lettas Frau?« »Ja, richtig.«
»Sie haben doch eben gesagt, Netti hätte sich erst nach Lettas Tod endgültig von Sterni getrennt.« »Das stimmt. Was ist daran unverständlich?« »Gar nichts. Das habe ich nur nicht gewusst.« Da wurden wir unterbrochen. Ein Kind hatte einen Nervenanfall, und Nella wurde zu ihm gerufen. Einige Minuten blieb ich allein. Mir schwindelte leicht, ich fühlte mich so seltsam, dass sich mein Zustand nicht beschreiben lässt. Was war geschehen? Nichts Besonderes. Netti war ein freier Mensch und verhielt sich wie ein freier Mensch. Letta war ihr Mann gewesen? Ich hatte ihn stets geachtet, und ich empfand für ihn größte Sympathie, selbst wenn er nicht sein Leben für mich geopfert hätte. Netti war gleichzeitig die Frau zweier Männer gewesen? Ich hatte doch immer gemeint, die Monogamie entspringe nur den ökonomischen Bedingungen, die den Menschen überall einengen und fesseln. Auf dem Mars gab es diese Bedingungen nicht, folglich konnten sich persönliche Gefühle und persönliche Bindungen frei entfalten. Woher kam dann mein Befremden, woher rührte der Schmerz, von dem ich am liebsten aufgeschrieen oder aufgelacht hätte? Oder vermochte ich nicht so zu fühlen, wie ich dachte? Das war es wohl. Und meine Beziehung zu Enno? Wo blieb da die Logik? Was für ein absurder Zustand!
Warum hatte mir Netti das nicht gesagt? Wie viel Heimlichkeiten gab es noch? Welche Täuschungen hatte ich noch zu gewärtigen? Falsch! Man hatte mir wohl etwas verheimlicht, aber man hatte mich nicht getäuscht. War in dem Falle eine Heimlichkeit keine Täuschung?
Diese Gedanken wirbelten in meinem Kopf umher, als Nella wieder das Zimmer betrat. Sie las offenbar in meinem Gesicht, wie schwer mir zumute war. Als sie sich an mich wandte, klang ihre Stimme nicht mehr streng.
»Natürlich ist es nicht leicht, sich an völlig fremdartige Lebensbedingungen und Gebräuche zu gewöhnen. Lenni, Sie haben schon viele Hindernisse überwunden — finden Sie sich auch damit ab. Netti glaubt an Sie, und sie hat wohl recht. Ist etwa Ihr Vertrauen zu ihr erschüttert worden?«
»Warum hat sie mir das verheimlicht? Wo bleibt ihr Vertrauen zu mir? Ich kann sie nicht begreifen.«
»Warum sie das getan hat, weiß ich nicht. Aber sie muss dafür ernste und gute und gewiss keine kleinlichen Gründe gehabt haben. Vielleicht erklärt Ihnen dieser Brief alles. Ich sollte ihn aufbewahren und Ihnen geben, falls es zu einem solchen Gespräch käme.«
Der Brief war in meiner Muttersprache geschrieben, die Netti vortrefflich beherrschte.
»Mein Lenni! Ich habe mit Dir niemals über meine früheren persönlichen Bindungen gesprochen, aber nicht deshalb, um etwas vor Dir zu verbergen. Ich verlasse mich auf meinen klaren Kopf und vertraue Deinem edlen Herzen, am Ende wirst Du alles richtig verstehen und gerecht bewerten, so fremd und ungewohnt Dir auch manche unserer Sitten sein mögen.
Ich befürchtete eines... Nach Deiner Krankheit hattest Du schnell Kräfte gesammelt, um Deine Arbeit fortzusetzen, aber das seelische Gleichgewicht, von dem in jeder Minute und bei jedem Erlebnis die Selbstbeherrschung in Wort und Tat abhängt, hattest Du noch nicht völlig wiedererlangt. Wenn Du Dich mir gegenüber, als Frau, aus einer Gefühlsaufwallung heraus, unter dem Einfluss elementarer Kräfte der Vergangenheit, die immer in der Tiefe der menschlichen Seele stecken, auch nur für eine Sekunde so verhalten hättest, wie das bei Euch in der alten Welt üblich ist, wo das unschöne Verhältnis zwischen Mann und Frau aus Gewalt und Sklaverei entstanden ist — hättest Du Dir das nie verziehen. Ja, mein Lieber, ich weiß, Du bist streng, oft sogar grausam zu Dir selbst — Du hast diesen Zug aus Eurer rohen Schule des ewigen Kampfes mitgebracht.
Ein unbedachtes Wort von Dir wäre für immer ein dunkler Fleck auf unserer Liebe geblieben.
Mein Lenni, ich will und kann Dich beruhigen. Das hässliche Gefühl, das mit der Liebe zu einem Menschen die Besorgnis um ihn als sein Eigentum verknüpft, möge schlafen und niemals in Deiner Seele erwachen. Ich werde keine anderen Beziehungen haben. Das kann ich Dir leicht und fest versprechen, weil angesichts meiner Liebe zu Dir, bei dem leidenschaftlichen Verlangen, Dir bei Deiner großen Lebensaufgabe beizustehen, alles andere für mich belanglos wird. Ich liebe Dich nicht nur als Frau, ich liebe Dich wie eine Mutter, die ihr Kind in ein neues und fremdes Leben führt. Dieses Leben ist voller Mühen und Gefahren. Meine Liebe ist stärker und tiefer als jede Liebe, die ein Mensch für einen anderen empfinden kann. Und deshalb liegt in meinem Versprechen kein Opfer.
Auf Wiedersehen, mein teures, geliebtes Kind.
Deine Netti.«
Als ich den Brief gelesen hatte, sah mich Nella fragend an.
»Sie hatten recht«, sagte ich und küsste ihre Hand.

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