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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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3. Die Ereignisse in der Heimat

Werner schirmte mich von allen Eindrücken ab, die für meine Gesundheit »nicht nützlich« gewesen wären. Er erlaubte mir nicht, ihn in der Anstalt zu besuchen, und von allen Geisteskranken, die sich dort befanden, konnte ich nur die unheilbar Schwachsinnigen und Degenerierten beobachten, die frei umherliefen und sich mit verschiedenen Arbeiten auf dem Feld, im Park und im Garten beschäftigten. Sie interessierten mich nicht, denn — offen gesagt — ich mag nichts, was hoffnungslos, unnötig und unrettbar verloren ist. Ich wollte die frisch Erkrankten sehen und vor allem diejenigen, die gesunden konnten, besonders Gemütskranke und Menschen mit lustigen Manien. Werner versprach immer wieder, mir alle Kranken zu zeigen, wenn meine Genesung ausreichend fortgeschritten sei, aber er zögerte es ständig hinaus. So kam es nicht dazu.
Noch mehr bemühte sich Werner, mich vom politischen Leben meiner Heimat zu isolieren. Offensichtlich meinte er, die Erkrankung wäre auf Grund der schweren Erlebnisse während der Revolution im Jahre 1905 entstanden; er wollte nicht einmal hören, dass ich die ganze Zeit unter Marsmenschen gelebt hatte und gar nicht wissen konnte, was in der Heimat geschehen war. Meine völlige Unwissenheit hielt er einfach für Vergesslichkeit, durch meine Krankheit bedingt, und er fand, das wäre günstig für mich. Werner erzählte mir nichts über die politischen Geschehnisse, und er verbot es auch meinen Leibwächtern. In seiner Wohnung gab es keine einzige Zeitung und kein einziges Journal der letzten Jahre, alles wurde in seinem Zimmer in der Anstalt aufbewahrt. Ich sollte auf einer politisch keimfreien Insel leben.
Anfangs, als ich nur Ruhe und Stille brauchte, gefiel mir das. Aber als ich wieder zu Kräften kam, wurde es mir immer enger auf meiner Insel; ich bedrängte meine Begleiter mit Fragen, aber getreu der ärztlichen Anweisung lehnten sie es ab, mir zu antworten. Das war ärgerlich und traurig. Ich suchte nach Wegen, um mich aus meiner politischen Quarantäne zu befreien, und wollte Werner davon überzeugen, dass ich gesund genug sei, um Zeitungen zu lesen. Aber das war zwecklos: Werner erklärte, es sei zu früh, und er entscheide selber, wann meine geistige Diät abgesetzt werde.
Mir blieb nichts übrig, als zu einer List zu greifen. Ich musste in meiner Umgebung einen Helfer finden. Den Feldscher auf meine Seite zu ziehen wäre sehr schwierig gewesen: Er besaß eine zu hohe Vorstellung von: seinen beruflichen Pflichten. Also richtete ich meine Bemühungen auf den anderen Leibwächter, den Genossen Wladimir. Bei ihm traf ich nicht auf großen Widerstand.
Wladimir war Arbeiter gewesen. Wenig gebildet und fast noch ein Kind, war er ein einfacher Soldat der Revolution, aber schon ein erfahrener Kämpfer. Während eines berüchtigten Pogroms, bei dem viele Genossen im Kugelhagel und in den Flammen umkamen, hatte er sich einen Weg durch die mordende Soldateska gebahnt, wobei er mehrere Mann erschoss und rein durch Zufall selbst unversehrt blieb. Danach zog er lange illegal durch Städte und Dörfer, die bescheidene und gefährliche Aufgabe erfüllend, Waffen und Literatur zu transportieren. Schließlich wurde ihm der Boden zu heiß unter den Füßen, und er musste sich für eine Weile bei Werner verstecken. Das alles erfuhr ich natürlich später. Aber von Anfang an merkte ich, dass der Mangel an Bildung den Jungen sehr bedrückte, denn ohne wissenschaftliche Kenntnisse würde er nie selbständige Aufgaben übernehmen können. Ich begann, mich mit ihm zu beschäftigen, und sehr bald hatte ich sein Herz erobert. Das weitere war leicht, -medizinische Erwägungen waren Wladimir ohnehin wenig eingängig, und wir beide wurden zu Verschwörern, so dass Werners Strenge sinnlos war. Aus den Zeitungen, Journalen und politischen Broschüren, die mir Wladimir heimlich brachte, und aus seinen Berichten erfuhr ich bald, was in den Jahren meiner Abwesenheit in meiner Heimat geschehen war.
Die Revolution war ungleichmäßig verlaufen und hatte sich qualvoll hingeschleppt. Die Arbeiterklasse hatte angegriffen und dank ihrem heftigen Ansturm große Siege erzielt, aber als sie im entscheidenden Moment nicht von den bäuerlichen Massen unterstützt wurde, brachten ihr die vereinten Kräfte der Reaktion eine schwere Niederlage bei. Während die Arbeiterklasse Energie für einen erneuten Kampf sammelte und auf die bäuerliche Nachhut der Revolution wartete, begannen Verhandlungen zwischen der Gutsbesitzerklasse und der Bourgeoisie; man handelte und verhandelte, um die Revolution zu ersticken. Das Ganze fand in Form einer parlamentarischen Komödie statt; die Verhandlungen endeten ständig mit einem Misserfolg wegen der unversöhnlichen Haltung der reaktionären Gutsbesitzer. Ein Spielzeugparlament nach dem anderen wurde einberufen und wieder auseinandergejagt. Erschöpft von den Stürmen der Revolution, erschreckt vor dem selbständigen und energischen ersten Auftreten des Proletariats, schwenkte die Bourgeoisie immer weiter nach rechts. Die Bauernschaft, die überwiegend revolutionär gestimmt war, gewann langsam an politischer Erfahrung und erhellte ihren Weg zu höheren Formen des Kampfes mit der Fackel zahlloser Brandstiftungen. Die alten Machthaber versuchten einerseits, die Bauernschaft blutig zu unterdrücken, andererseits, einen Teil der Bauern durch Verkauf von Land zu ködern. Der Landverkauf wurde jedoch in so läppischen Ausmaßen und auf so plumpe Weise durchgeführt, dass die Angelegenheit keinen Erfolg hatte. Immer häufiger wurden von Einzelkämpfern und Partisanengruppen Gewaltakte verübt. Im Lande herrschte ein doppelter Terror — von oben und von unten —, wie ihn unser Land und die Welt nie gekannt hatten.
Das Land ging offenbar neuen entscheidenden Schlachten entgegen. Aber dieser Weg war so lang und voller Dornen, dass viele unterwegs ermüdeten und sogar verzweifelten. Seitens der radikalen Intelligenz, die mit dem Kampf sympathisiert hatte, war der Verrat fast allgemein. Das brauchte man natürlich nicht zu beklagen. Aber selbst einige meiner früheren Genossen waren von Schwermut und Hoffnungslosigkeit übermannt worden. Daran konnte ich ermessen, wie schwer und zehrend der revolutionäre Kampf in der letzten Zeit gewesen war. Selbst ich, ein Mann, der sich nur an die vorrevolutionäre Zeit und den Beginn des Kampfes erinnern konnte, aber nicht selber das Joch der letzten Niederlagen getragen hatte, sah deutlich, dass die Revolution fortgeführt werden musste. In diesen Jahren hatte sich alles verändert, viele neue Elemente, die für die Revolution sprachen, waren hinzugekommen, es war unmöglich, die Lage im Gleichgewicht zu halten. Eine neue Welle der Revolution war unausbleiblich und nicht fern.
Es galt jedoch zu warten. Ich begriff, wie qualvoll und schwer die Arbeit der Genossen unter diesen Umständen war. Aber ich beeilte mich nicht, sie zu unterstützen, sogar unabhängig von Werners Meinung. Vielmehr wollte ich Kräfte sammeln, damit ich dann, wenn ich unbedingt gebraucht würde, genügend gewappnet wäre.
Auf langen Spaziergängen erörterten Wladimir und ich die Chancen und Bedingungen des bevorstehenden Kampfes. Von Wladimirs naiv-heroischen Plänen und Träumen war ich zutiefst gerührt, er war ein liebes, edelherziges Kind, dem ein Kämpfertod beschieden sein sollte, so anspruchslos und schön, wie es sein junges Leben gewesen ist. Die Revolution sucht sich ruhmvolle Opfer und färbt ihr proletarisches Banner mit gutem Blut.
Aber nicht nur Wladimir kam mir wie ein Kind vor. Viel Naives und Kindliches, das ich früher nicht bemerkt und gespürt hatte, fand ich auch bei Werner, dem alten Parteiarbeiter, und bei anderen Genossen, an die ich mich erinnerte. Alle Menschen, die ich auf der Erde kannte, waren für mich noch halbe Kinder, die das Leben nur undeutlich wahrnehmen und sich unbewusst von innerer und äußerer Spontaneität leiten ließen. In diesem Gedanken lag kein Quäntchen Herablassung oder Verachtung, sondern vielmehr eine tiefe brüderliche Sympathie für diese Menschen-Embryos, die Kinder einer jungen Menschheit.

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