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Larissa Reisner - Oktober (1924)
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BAKU-ENSELI

I

In Baku wurde die Flotte repariert, sie trank sich dort satt an Naphtha, füllte ihre kargen Vorräte auf und verhätschelte sich in den herrlichen Werften und weitläufigen Werkstätten wie ein Verwundeter, der endlich in ein reiches Etappenlazarett geraten ist.
Die alten, in ärmeren Zeiten notdürftig gedichteten Lecks traten alle zutage, man renovierte den Schaden, wie es sich gehört, ohne Nieten und Eisen zu sparen, ohne jeden Tropfen Naphtha zu zählen.
Gewohnt, in Astrachans ärmlichen Verhältnissen zu arbeiten, erholte sich die Flotte in den zwei Wochen ihres Aufenthalts in Baku vollständig und bereitete sich auf die Fahrt nach Enseli vor.
Am Morgen des 17. Mai sah die neugierige Menge in der Bucht keine pfeilschnellen Minenschiffe mehr, die noch am Tage vorher so sorglos und majestätisch das gläserne Meer furchten.
Sie zogen des Nachts ab, eins nach dem andern, mit abgeblendeten Lichtern, um hinter der Insel Nargin eine geordnete Schlachtflotte zu bilden und, kleinen grauen Gespenstern gleich, sich nach Süden zu wenden. Zwei Tage darauf verbreitete sich die Nachricht von der Gefangennahme der gesamten weißen Flotte, die im persischen Hafen Enseli interniert war, von der Kapitulation der diesen Hafen besetzt haltenden englischen Truppen - mit einem Wort, von der endgültigen Befreiung des Kaspischen Meeres, das von nun an ein von befreundeten Republiken umgrenztes, freies Sowjetmeer geworden ist. So endete der dreijährige Feldzug, der bei Kasan und Swijashsk begann und sich auf Tausende von Kilometern erstreckte - von den schroffen Abhängen und düsteren Fichten der Kama bis zu den glühenden kaspischen Salzmorästen, von den tiefen Gewässern der Wolga bis zur seichten, unruhigen, launischen Reede von Astrachan, wo die Schiffe mitten in einer unendlichen Meeresweite alle Hände voll zu tun hatten, um zwischen Sandbänken und Minenfeldern durch einen künstlichen Kanal das freie Fahrwasser zu erreichen.
Vor einem Jahr wurde die Wolga-Kama-Flottille zu einer starken Kaspischen Flotte, und jetzt - nachdem Enseli genommen und damit die letzte militärische Aufgabe gelöst war - konnten die alten Kampfschiffe demobilisiert werden. Die Geschütze begannen von den eisenbeschlagenen Decks zu verschwinden; die Schiffsräume entledigten sich der Munition und Waffen und öffneten ihre Tiefen Strömen von Naphtha und Reis. Einer nach dem andern warfen die alten Kämpfer ihr schweres Panzerhemd ab und gingen zurück nach Astrachan, aber nicht mehr als schreckenverbreitende „Dreadnoughts", sondern als starke Arbeitsfahrzeuge, als mächtige Schlepper, als Führer der trägen, überlasteten Kähne, die in langen Karawanen stromaufwärts dem ausgehungerten Fabrikherz Russlands zustrebten. Aber ehe die alten Seewölfe, die all diese Jahre schwere Geschütze auf ihren friedlichen Decks geschleppt und sich durch das ihre Maschinen erschütternde Artilleriefeuer einen Herzfehler zugezogen hatten, die Reede von Baku verließen, wo sie sich mit ihren dunklen, stählernen Farben, inmitten der heftigen Geschäftigkeit der Bucht sonderbar abhoben, führten sie noch eine große, wichtige Aufgabe durch: mit eisengepanzerter Faust versetzten sie einen dröhnenden Schlag gegen das festverschlossene Tor des Ostens.
Bei Enseli stieß die englische Kolonialpolitik mit den realen Kräften des Arbeiterstaates zusammen und erlitt eine Niederlage. Am 18. Mai 1920 wurden die regulären Truppen Britanniens - zum ersten Male im Osten - im offenen Kampf geschlagen; sie zogen sich zurück, nachdem sie sich gerade noch von einer schmachvollen Gefangenschaft losgekauft hatten. Und das geschah nicht irgendwo sonst auf der Welt, sondern in Persien, das durch alle möglichen erpresserischen Verträge niedergehalten, verarmt, geschwächt und zu einem Bunde mit England gezwungen war. Als sie die Ufer des Kaspischen Meeres verließen, konnten die Engländer die komischen und kläglichen Seiten ihrer skandalösen Niederlage vor den schadenfrohen Blicken der Eingeborenen nicht verbergen. Am Schwanz des Trains humpelten auf den Wagen verschiedene Badewannen (Privateigentum eines Majors), Klaviere und überhaupt das verschiedenartigste kulturelle Zubehör. Die Bevölkerung der ganzen Stadt ließ ihre gewohnten Geschäfte im Stich, saß am Kai, warf Apfelsinenschalen ins Wasser und beobachtete, wie die gestern noch hochmütigen Herren, heute der ersten Forderung des russischen Kommandeurs sofort Folge leistend, demütig in einen Kutter stiegen und zum Kriegsschiff „Karl Liebknecht" fuhren, um sich eine einigermaßen ehrenvolle Kapitulation zu erbetteln.
Der ganze sonnendurchflutete Basar weiß es heute, dass die Engländer auf dem russischen Minenschiff seekrank wurden, dass sie ihre Köpfe mitten in den Verhandlungen über Bord neigen mussten und genötigt waren, die Frage: „Wie können die Offiziere der stärksten Seemacht der Welt unter Seekrankheit leiden?" mit unartikulierten und durchaus nicht wohlanständigen Kehllauten und Bewegungen zu beantworten. Ach, die Völker des Ostens haben eine scharfe Beobachtungsgabe, und wenn sie an ihrem gestrigen Herrscher Züge der Angst und Schwäche bemerken, sie werden das niemals vergessen. Schon gehen endlose, spöttische Gerüchte durch den Rauch der wohlduftenden Zigaretten. Gestern noch demütig wie ein Hund - blickt der Perser heute offen und selbstbewusst in das Gesicht der Ausländer und weicht nicht vom Wege, wenn er ihnen begegnet.
Und dann noch ein Umstand, der die persische arme Bevölkerung zunächst verblüffte und dann fest mit Sowjetrussland verbündete: nachdem die Russen Enseli besetzt hatten, schonten sie die Inder und Turkossen, diese Menschen „niederer Rasse", die in den Reihen der britischen Okkupationstruppen gekämpft hatten. Kein europäisches Parlament, kein Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten hätte sich um das Verschwinden von einigen hundert „Farbigen" gekümmert. Man musste das Entsetzen dieser Soldaten gesehen haben, als sie sich der Gewalt der furchtbaren Bolschewiki ausgeliefert sahen. Groß, schlank, mit dem bronzenen Profil eines Gottes - und einer armen, verprügelten Waldseele -, weinten sie wie Kinder und hofften auf kein Erbarmen. Und plötzlich - nicht nur Freiheit und Leben, sondern darüber hinaus eine ruhige, brüderliche Behandlung, wie sie das von den Engländern verachtete Indien niemals gekannt hat.
Viele von diesen Menschen, die sich an dem Bajonettangriff gegen unsere landenden Matrosen beteiligt hatten, zogen als unsere Freunde von dannen und brachten die Kunde von der neuen, die Welt verändernden brüderlichen Solidarität in ihre ferne Heimat. Der listige und dicke Gouverneur von Enseli, liebenswürdig bis zum Erbrechen und vorsichtig wie die Sünde, erkannte sofort und sehr richtig die veränderte Lage: er machte „the Bolsheviks" eine offizielle Visite, entrichtete dem Seesturm - ebenso wie die englischen Offiziere - gewissenhaft seinen Tribut und erkundigte sich mit Hilfe eines gewandten Dolmetschers, ob die teuren Gäste die persischen Gewässer bald verlassen würden oder ob sie das Land mit einem längeren Aufenthalt zu beglücken gedächten...
Der Dolmetscher verbeugt sich, der Gouverneur lutscht an einer Zitrone, kämpft tapfer mit einem Schwächeanfall und verbeugt sich ebenfalls mit einem gezuckerten Lächeln; es verbeugt sich der glänzende Kommandeur des Flaggschiffs „Sinizyn", Tschirikow, in seinem öligen Kittel, mit dem ruhigen Ausdruck eines alten Seebären, der sich niemals und über nichts wundert, der seine Minenschiffe drei Jahre lang tadellos geführt hat - und auch die Mündungen der Geschütze und die spöttischen Mastspitzen verbeugen sich.
„Nein!" antwortet der Kommandeur. „Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Gouverneur. Der begeisterte Empfang, den das persische Volk meinen Seeleuten bereitet hat, wird mir nicht gestatten, dieses gastfreundliche Ufer so bald zu verlassen."
Wieder endlose Verbeugungen, und der liebenswürdige Gouverneur, von dar Seekrankheit und „gastfreundlichen" Gefühlen grün im Gesicht, verschwindet hinter dem Bordrand.
„Und außerdem", tönt die Stimme des Kommandeurs hinter ihm drein, „erwarte ich ja den Besuch ihres Nationalhelden - Kutschek-Chan."
Am Ufer lauscht man schon dem ersten Redner - einem Perser. Die Aufmerksamkeit macht die Gesichter starr, wie aus Bronze gegossen. In lebhaften, ungezwungenen Stellungen legen sich die vordersten Reihen in den weichen Staub zu den Füßen des Redners. Bronzefarbene, dünne, abgemagerte Arme, dürre Schultern, die eckig aus den Fetzen hervorschauen, staubiges Haar der Bettler, von uralten Glasperlenschnüren umwunden, sogar herrliche Bärte, nach Art der längst verstorbenen Könige feuerrot gefärbt - alle in steinerner Regungslosigkeit, in fortwährender Spannung. Sie überhören und vergessen kein Wort. Mit der klaren Einfachheit ihrer halbkindlichen Sprache werden sie das Gehörte von Nachbar zu Nachbar, von einem mickrig bewachsenen, krausen Gärtchen zum nächsten tragen; von Brunnen zu Brunnen, durch Hochgebirge und Sandwüsten wird es die Grenzen Indiens und Mesopotamiens erreichen. Man weiß hier schon ohne Radio und Telegraf von den geheimnisvollen und zahlreichen Versammlungen an den Grenzen Afghanistans, die keine Macht des kolonialen Englands verhindern konnte, von dem fruchtlosen, blutigen Kriege, den Großbritannien in Ägypten führen muss, und nach und nach beginnt der Iran in seiner engen sklavischen Kleidung aufzuleben, zu atmen und zu denken.
Das Schwerste ist vollbracht: der große Glaube des Ostens an die Unbesiegbarkeit Englands ist zerstört, der Zauber seines Goldes, seiner Waffen und seines unerhörten Hochmuts sind für immer gebrochen.
Im Osten kommt die Revolution wie eine Frau - mit verschleiertem Gesicht, von unten bis oben in bunte Gewebe der Vorurteile und einengenden Gesetzesvorschriften eingehüllt. Die östliche Stadt glimmt lange und geräuschlos, ihr Zorn braucht wie der Wein Zeit zum Reifen und wie der Wein gedeiht er im Dunkeln, in tiefer Ruhe. Der arme Perser beobachtet träge und spöttisch den bunten Strom des Lebens. Es muss etwas Außerordentliches geschehen, um ihn aus der toten Apathie herauszureißen. Das erste Wunder, das den nördlichen Iran aufgerüttelt hat, war die Niederlage der Engländer, das zweite - das Erscheinen Kutschek-Chans in Enseli und sein Besuch auf dem russischen Kriegsschiff. Lange vor seiner Ankunft war die ganze Stadt von diesem Namen erfüllt. Und als alle und alles plötzlich elektrisiert aufsprang, als die Händler ihre Buden im Stich ließen und die Fanatiker ihre Gebetsteppiche; als Arme und Bettler einen großen, die tausendköpfige Menge überragenden Mann umdrängten; als sogar der Stiefelputzer mit seinen braunen, nackten Füßen auf seine rote Kiste sprang, um besser sehen zu können; als aus allen Ritzen und Winkeln das elende Bettlervolk herbeiströmte - da wussten es alle, dass Kutschek-Chan da war. Greise fielen in den Staub, um seine unbestechlichen, gerechten Hände zu küssen.
Die letzten drei Jahre versteckte sich Kutschek-Chan mit seinen Getreuen in den Bergen, und vergeblich versprachen die Engländer einen Sack voll Gold für seinen Kopf. Nun ist er da, dieser kostbare Kopf! In dieser blendenden Lichtfülle erscheint er sehr dunkel. Einer schwarzen Aureole gleich, umgibt ihn das Haar, das sich wie auf alten persischen Münzen von selbst in gelockte Strähnen legt. Die Augen sind ernst und einfach, mit allen
lebendigen Schattierungen des Metalls und des Wassers. Die Bewegungen sind langsam und feierlich: Kutschek-Chan betete drei Stunden zu seinem Gott und bat ihn um Rat, ehe er nach Enseli kam und seinen Namen für immer mit der nationalen Revolution in Persien verband. Aber die Stimme dieses von treuen Kurden in Wolfsmützen umgebenen Waldmenschen ist unerwartet ruhig, weich und elastisch. Und als er, nachdem der Dolmetscher gesprochen, seine bronzene Stirn über den europäischen Tisch neigt - mit leichtem Lächeln über die konventionelle Feierlichkeit dieser Begegnung -, hätte man aus dem Ton seiner frauenweichen Stimme niemals erraten können, dass es sich um die Empfangnahme von Waffen, um den Ruhm Persiens und um seine Wiedergeburt handelte.

II

So nah ist dieses herrliche Land, dieses ungewöhnliche, uns verwandte Volk.
Man braucht sich nur von dem Meere abzuwenden, seinem Emailglanz, der wie eine blaue Stirn zwischen zwei Sandhügeln über einem Schaumteppich leuchtet, linker Hand zu lassen; man braucht nur der Bucht Enseli mit ihren japanischen verdeckten Booten und giftigem Wasser den Rücken zu kehren, und in den Feldern voller Feuchtigkeit und Üppigkeit atmet und entfaltet sich Persien. Welche geheimnisvollen, tiefen Düfte strömen schon von den ersten Granatbüschen aus, von den ersten Akazien, die die Weideplätze umgeben. Das Auto verscheucht eine Herde herrlicher schwarzer Stiere vom Wege, die bucklig, glänzend, mit einem braunen Zeichen zwischen den kleinen, gleich Augenbrauen gebogenen Hörnern, mit großen Sätzen flüchten.
Ein trüber Bach, wie aus flüssigem Lehm, nähert sich bald der Chaussee, bald tritt er zurück, um die trockenen, gierigen Wurzeln eines Fruchtbaums, eine Hecke aus lebenden Schilfstauden oder ein Reisfeld zu nähren.
Wie ein smaragdgrünes Schachbrett liegen diese Felder in der Tiefe. Abends scheinen sie unheildrohend. In den stehenden Sümpfen erlischt die glühende, tropische Dämmerung, und die gebückten, in den klebrigen Schmutz hineingewachsenen Gestalten der Frauen, die bis zum Knie im Schlamm arbeiten, treten hässlich, wie Schatten einer unbekannten Tierart, hervor. Am Tage ist es anders. Das Wasser sickert fast ganz ab, und grüne Reisnadeln durchstechen es wie Glas. So hilflos erscheinen die mageren Füßchen der persischen Mädchen, die behutsam von Stengel zu Stengel schreiten und nicht wagen, ihre verschleierten Augen und schmutzigen Hände von dem Sumpf zu erheben. Und die Sonne brütet gleichmäßig, leicht, wie mit einem Lächeln; die mächtigen Baumwipfel knistern leise, atmen Wohlgerüche ein und aus, die mit einem kaum merklichen, kühlen Hauch der Malaria durchmengt sind.
An der Biegung der Straße stehen die ersten persischen Bauten aus Lehm, mit gewaltigem Schilfdach, wie Pfahlbauten auf einem hohen Untergestell. Am Wegrande kehren Bauern im Gänsemarsch nach Hause zurück. Auf biegsamen Latten tragen sie Bündel von Heu; auf den Schultern - längliche Tongefäße, Ruder, Netze und feuchte Segel. Die Gesichter wie aus Gold mit dunklen Augen, beschattet von dunklem, bis zu den Schultern reichendem Haar. Fremde Sprache, dunkle Haut, der Gang der nackten Füße - anders wie unserer - federnd und leicht, aber die Gesichter kommen einem vertraut vor. Ohne im Gehen innezuhalten, wenden sich die wie blütenbestaubten, goldenen Köpfe noch lange dem Auto nach. Es sind Bauern, sie sind wie der Reis, den sie lieben: schlank von ewiger Arbeit, Armut und Glut, elastisch wie Bronzestatuetten - sie haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem fetten, weißen, schwarzhaarigen Typ des persischen Krämers, der um die Mittagszeit, im Schatten des gestreiften Vordachs, auf seinen Warenbündeln schläft. Und dann - die Kamele, eine ganze Karawane: mit kleinen Köpfen, vom Kinn an mit bunten Quasten behängt, mit langen, nackten Hälsen, mit Teppichen bedeckt. Maultiere mit zögernd auftretenden, eisenharten kleinen Hufen unter der Last symmetrisch verteilter Ballen. Rosige Gärten, Reissümpfe, ein rosiger Wind - dann das Zollamt und endlich - Rescht.


III

Die Platanen strecken ihre Äste in das Fenster hinein. Vogelstimmen, bunt und grell, wie man sie bei uns im Norden nicht kennt. Tausende von Rosen dampfen in der Sonne, brennen in süßer, schwüler Glut. Das Haus des ehemaligen Gouverneurs versinkt in ihnen. Die nach Norden geöffneten Fenster atmen Morgenschatten ein. An den Wänden einige Teppiche, Schreibtisch, der Fußboden aus hellem, lackiertem Holz, das ist das Arbeitszimmer des Statthalters von Rescht, ruhig und geräumig ist es. Am Tisch sitzt Kutschek-Chan. Heute nimmt er Abschied von uns, und sein Antlitz dem Lichte zuwendend, versucht er nicht einmal, seine erstaunlichen Augen vor uns zu verbergen, wie er es gewöhnlich, der instinktiven Vorsicht des östlichen Fürsten folgend, tut.
Der Morgen ist kraftvoll, trotz der Glut kühl - der Tau und das Aroma der Nacht ruhen noch in seinem feuchten Kranz. Und Kutschek-Chan ist ruhig wie der nahende Mittag. Er hat ein bescheidenes, braunes Gewand an, weißes Leinen an Handgelenken und Hals, das den herrlichen Kopf noch dunkler färbt. Wie ist er heute traurig - man weiß nicht, warum sein Anblick so ergreifend wirkt -, als ob es dieser einzige persische Revolutionär aus irgendeinem Grunde ahnt, dass er im Kampf mit den Engländern, zeitweilig auf die Waffen der bestechlichen Chans angewiesen, dem sicheren Untergang geweiht ist. Der Dolmetscher übermittelt die letzten Grüße - da sieht man plötzlich, im Gegensatz zu den tragischen Masken mit dem Hintergrund eines blutroten Teppichs, eine komische, vertraute Gestalt in der Luft: die alte Freundin der Kaspischen Flotte, die „Geschwollene Wurst" - den Fesselballon. Wie oft erhob sich ihr dicker Leib, ein Schmetterling mit täppischen Flügeln, über den Ufern der Wolga, über Zarizyn und Astrachan, beobachtete und übermittelte uns Warnungen und lenkte das Feuer der Schiffe. Sie war eine Freundin der Matrosen - diese „Wurst": man fürchtete sich nicht unter ihr, sie hatte für alles ein gutes Auge. Und da erhebt sich nun dieses liebe Ungetüm auf dem emailgrünen Himmel Persiens und betrachtet von oben die tropische Wildnis, die smaragdenen Wege und Straßen -weißer als Milch. Der Basar ist ein Opfer panischen Schreckens: Buben und Mullahs laufen; Kamele, von ihren Führern im Stich gelassen, von der Menge erschreckt, versperren die Brücke. Die „Wurst" übt eine betäubende Wirkung aus: die ganze Autorität der Revolution, mit einer dünnen Stahltrosse an die Erde gekettet, bewegt sich unter den Wolken, schwankt gewichtig im Winde, macht einen Fleck in den reinen Himmel, und es ist, als wenn ihre lustige Physiognomie unsern „Verbündeten" die Zunge zeigt. Kutschek-Chan ist glücklich. Er sieht aus dem Fenster den erregten Basar, wo mitten unter Turbans und Wolfsmützen Matrosenbänder flattern, und darüber - den weißen Fesselballon.
Der stärkste Glaube des Ostens - ist der Glaube an die Maschine, an die technische Überlegenheit des Westens -mit diesem Glauben haben die Engländer Hunderte von Jahren ihre Kolonien in Schach gehalten. Und nun kommt auf einmal der Tag, an dem die Technik in die Hände des persischen Revolutionärs gelangt und sich gegen die schmachvoll fliehenden Engländer wendet. Das Telefon klirrt. 15 Werst von Rescht entfernt ist ein Scharmützel im Gange. Kutschek-Chan verabschiedet sich. Seine Kampfgenossen folgen ihm: der kleine, dicke und kluge Armeekommandeur, der radikalste und tapferste Mann im Lager, und der Finanzkommissar - bebrillt und mit einem Gewehr auf der Schulter, besorgt wegen der rechtzeitigen Löhnung der Truppen und wegen der riesigen Bettlermenge, die Kutschek-Chan gierig umdrängt.
Eine halbe Stunde später saust das Auto nach Enseli zurück. Verhallt ist die weiche, metallisch klingende Stimme Kutschek-Chans, vorübergegangen dieses uralte persische Heldengesicht. - Wann werden wir uns wieder sehen und wo?
Am Schlagbaum - der letzte Matrose, sonnenverbrannt, halbnackt, in einem weiten, blauen Hemde; er schreit uns nach - ein munteres, freches, unüberwindliches: „Her mit Taurien!"
Auf halbem Wege begegnen uns zwei Reiter: Inder, die den Engländern davongelaufen sind. Unendlich erfreute Gesichter, und strahlend wie ihre Zähne beim Lächeln ihr Gruß: „Für die Sowjetmacht!" - und vorbei auf den wilden Pferden.
Auf der dicksten Buche, dort, wo der Weg die Sümpfe verlässt und sich den Hügeln zuwendet, sitzt ein Mann mit einem Kleistertopf, ganz in Schweiß gebadet, mit der Mütze im Nacken, und bekleistert die Rinde des uralten Giganten: das erste Sowjetplakat entfaltet seine rote Fläche in der tropischen Wildnis.
Es ist still. Dichte, duftende Luft, zirpende Insekten, breite Landstraßen, über die satte Stiere und Kamele träge kriechen - und am Stamme dieses uralten Waldriesen dieses Feuermal der Weltrevolution.

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