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Larissa Reisner - Oktober (1924)
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MARKIN

Jeden Morgen berichtet der Bootsmann des Flaggschiffs „Meshen" mit zufriedener, lachender Miene von dem Fallen der Temperatur in der Kama. Heute steht das Thermometer im Wasser ein halbes Grad über Null und in der Luft auf dem Gefrierpunkt. Einsame Eisschollen schwimmen im Strom, das Wasser ist dick und träge geworden, auf der Oberfläche dampfen stete Nebel - ein sicheres Vorzeichen des Frostes. Die Mannschaften der Schiffe, die den ganzen schweren Feldzug von Kasan bis Sarapul mitgemacht haben, bereiten sich auf die Überwinterung vor, im Vorgenuss der kommenden Ruhe heitern sich die Gesichter auf. Noch ein, zwei Tage, und die Flottille wird die Kama bis zum nächsten Frühjahr verlassen müssen.
Und erst jetzt, da die Stunde des unfreiwilligen Rückzugs nahe ist, beginnen alle auf einmal zu fühlen, wie unvergesslich und teuer diese dem Feinde genommenen Ufer sind, jede Wendung des Flusses, jede zottige Fichte über dem steilen Abhang.
Wie viel schwere Stunden der Erwartung, wie viel Hoffnungen und Leiden - nicht um sein Leben natürlich, sondern um das große Jahr 1918, dessen Schicksal oft von der Treffsicherheit eines Schusses, von dem Mut eines Kundschafters abhing! Wie viel freudige Stunden des Sieges bleiben hier an der Kama zurück! Das Eis wird die rauen, von Geschossen durchfurchten, von den Schiffen unzählige Male durchkreuzten Wogen überziehen, für lange Zeit die Tiefen verhüllen, die zu Gräbern unserer besten Kameraden und erbittertsten Feinde geworden sind.
Wer weiß, gegen wen und in welchen Gewässern der Kampf übers Jahr beginnen wird, welche Genossen die Kommandobrücken der Schiffe, die jedem von uns so teuer und vertraut geworden, besteigen werden. Schwer mit den Radspeichen stampfend, mit leise pendelnder Signallaterne oben am Mast, geht eins der Transportschiffe nach Nishni.
Die zurückbleibenden Fahrzeuge begleiten den sich entfernenden Kameraden mit einem Konzert aufheulender Sirenen, das lange anhält: jede ihrer Stimmen ist uns bekannt wie die Stimme eines Freundes. Das ist der scharfe Schrei des „Roschal", dies der durchdringende, kurze Pfiff des „Wolodarski", und das ist „Genosse Markin" mit seinem sonoren, drohenden Brustton.
Die schwersten Erinnerungen verbinden sich mit diesem Abschiedsgruß der Seeleute. Zu ihnen nehmen die Schiffe ihre Zuflucht, wenn sie in äußerster Not sind. So rief der unglückliche „Kommunist Wanja" um Hilfe, als er, von einem feindlichen Geschoß in Brand gesetzt, auf eisigen Wellen, von herabregnenden Projektilen bedroht, mit gebrochenem Steuer und zerstörtem Telegraf umhertrieb. Wie lange, wie unendlich lange schrie seine Sirene.
Immer dichter stiegen ringsum die Fontänen aus dem Wasser, schon sah man schwarze Punkte - Menschen, die schwimmend das Ufer zu erreichen suchten - verkohltes Gerümpel, Eimer, Hocker schwammen den Strom hinab, und noch immer verstummte die Sirene nicht - in Dampf gehüllt, vom Feuer umlodert -, eine verzweifelte, schreckliche Sirene des Todes. Seltsam und unerwartet kam dieses Unglück.
Noch am Tage vorher errangen wir einen bedeutenden Sieg über die weißgardistische Flottille: nach einer zweitägigen Schlacht bei dem Dorfe Bitki musste die letztere flüchten, und unsere Fahrzeuge brachen sich Bahn in das Hinterland der Weißen, die damals beide Ufer besetzt hielten. Die Verfolgung dauerte noch ganze 24 Stunden, und erst am Morgen des dritten Tages ging die Flottille vor Anker - es war ein herrlicher, klarer/Novembertag, das Wasser war durchsichtig blau, stellenweise mit bernsteinfarbenen Flecken. Es wurde beschlossen, eine Weile haltzumachen und unsere Truppentransporte abzuwarten, da unsere Patrouillen beunruhigende Nachrichten über starke Befestigungen am Ufer vor dem Dorfe „Pjany Bor" gemeldet hatten; ohne die Unterstützung unserer Infanterie konnte man diese Befestigungen nicht nehmen, zudem waren unsere Munitionsvorräte vollkommen aufgebraucht - die Schiffe und der Schleppkahn hatten nur noch je 18 bis 50 Schüsse. In Erwartung der Infanterie, die sich immer sehr verspätete, unternahmen unsere Motorkutter Patrouillenfahrten, und die Matrosen beobachteten von weitem mit Vergnügen, wie die raschen, in Schaumwolken kaum sichtbaren, pfeilschnellen Körper, gegen die die Weißen ein wütendes Feuer eröffneten, hin- und herschossen.
In den hohen Wassersäulen spielten feurige Regenbogenfarben, und fortwährend bäumten sich schneeweiße, schaumige Fontänen über der Oberfläche auf und verschwanden wieder. Eine Schar erschreckter Schwäne erhob sich von der Sandbank, ein Wasserflugzeug dröhnte an ihr vorüber, und die Luft füllte sich mit dem Schrei der Schwäne, mit dem Rascheln der weißen Flügel und dem summenden Knattern des Propellers. Und Markin hielt es nicht mehr aus. Markin, der das beste Schiff - „Kommunist Wanja" - befehligte, an die Gefahren gewöhnt und in sie wie ein Knabe verliebt war, konnte das kriegerische Spiel dieses Morgens nicht mehr untätig beobachten. Ihn reizte der hohe Uferabhang, das schweigsame Dorf „Pjany Bor" und diese Batterie am Ufer, die irgendwo versteckt lag und geduldig wartete. Wie der Anker hochgezogen wurde, wie das Schiff an geheimnisvollen Ufern vorbeiglitt, wie er es fertig brachte, sich so weit von seinem Standort zu entfernen, niemand erinnert sich mehr genau. Und plötzlich bemerkte Markin fast unmittelbar vor sich die regungslosen gegen ihn gerichteten Mündungen.
Ein Schiff allein ist nicht imstande, mit einer Batterie am Ufer zu kämpfen. Aber dieser Morgen nach dem Siege war so berauschend, so unvernünftig, dass der „Kommunist" sich nicht zurückzog, sondern sich dem Ufer noch mehr näherte und mit Maschinengewehrfeuer die Mannschaft an den Geschützen zu vertreiben suchte. Der Tollkühnheit der Mutigen singen wir unser Lob. Aber diesmal war Markins Untergang vom Schicksal beschlossen. Dem „Kommunisten", der sich schon weit entfernt hatte, eilte das Minenschiff „Prytki" zu Hilfe. Man braucht nicht an Vorahnungen zu glauben, und doch waren alle, die damals auf der Kommandobrücke des „Prytki" standen, von qualvoller Unruhe erfüllt. Es war keine Angst - dieser gemeinen Krankheit war keiner unterworfen -, sondern eine eigentümliche, nagende Erwartung, die auch ich empfand, als das Minenschiff sich ahnungslos dem „Kommunisten" näherte.
Das kurze Gespräch von Schiff zu Schiff war für Markin das letzte. Der Kommandeur der Flottille fragte durch das Megaphon:
„Markin, was beschießen Sie?" „Die Batterie." „Welche Batterie?"
„Dort hinter den Bäumen, man sieht die Mündung glänzen."
„Ziehen Sie sich unverzüglich mit Volldampf zurück." Aber es war schon zu spät. Kaum machte die Maschine des Minenschiffs einen wilden Sprung nach rückwärts, kaum war der „Kommunist" ihm gefolgt - als die Weißen am Ufer, fühlend, dass die Beute ihnen entgehe, ein mörderisches Feuer eröffneten. Die Geschosse hagelten nur so nieder. Hinter dem Heck, vor dem Steven, backbord und steuerbord. Mit saugendem Geheul jagten sie über die Kommandobrücke, dass die Luft erzitterte. Und nach einigen weiteren Minuten hüllte sich der „Kommunist" in eine Dampfwolke, aus der tanzend eine goldene Zunge hervorsprang - mit gebrochenem Steuer irrte das Schiff von Ufer zu Ufer. Da begann die Sirene um Hilfe zu schreien.
Trotz des furchtbaren Artilleriefeuers kehrten wir zu dem Untergehenden zurück, in der Hoffnung, ihn ins Schlepptau zu nehmen - wie es bei Kasan war, als es uns gelang, das Schiff „Taschkent" auf diese Weise aus der Feuerlinie herauszubringen.
Aber es gibt Fälle, wo jeder Mut vergeblich ist: gleich der erste Schuss zerstörte das Steuerreep und den Telegraf des „Kommunisten". Das Fahrzeug begann sich im Kreise zu drehen, und dem Minenschiff, das sich ihm mit der größten Gefahr genähert hatte, gelang es nicht, das sterbende Schiff ins Schlepptau zu nehmen. „Prytki" machte eine scharfe Wendung und musste sich zurückziehen. Wie die Weißen uns damals entwischen ließen, ist einfach unverständlich. Man schoss aus unmittelbarer Nähe. Nur die ungeheuerliche Schnelligkeit des Minenschiffs und das Feuer seiner Geschütze retteten es aus dieser Falle. Und seltsam, zwei große Möwen flogen lange Zeit furchtlos unmittelbar vor unserem Steven, jeden Augenblick im weißen Gischt verschwindend.
Unter jenen, die gerettet werden konnten, war auch Genosse Poplewin, Markins Gehilfe. Dieser schweigsame, auffallend bescheidene und mutige Mensch, einer der besten unserer Flottille, behielt noch lange die bläuliche Blässe auf seinem Gesicht; diese Todesspuren traten gerade dann besonders deutlich hervor, wenn der Herbsthimmel wolkenlos leuchtete und das Wasser an den goldenen Ufern der Koma friedlich rauschte. Er rächte sich für den Tod seines Freundes und den Untergang seines Schiffes. Des Nachts, wenn die Stärksten müde wurden, stieg Poplewin geräuschlos auf die Kommandobrücke und horchte, einsam unter dem dunklen Sternenhimmel, auf die geringsten Bewegungen der Nacht und des Feindes, und niemals ermüdete seine heilige Rache. Man wartete die ganze Nacht auf Markin. Markin kehrte nicht zurück. Um ihn trauerten die Kanoniere an den Geschützen, die Wachen am Steuer und die Beobachter vor ihren Ferngläsern, die auf einmal von den unvergossenen Tränen wassertrübe geworden schienen.
Markin ist gefallen, Markin mit seinem feurigen Temperament, mit seinem erstaunlichen Instinkt für den Feind, seinem grausamen Willen und Stolz, seinen blauen Augen, kräftigen Flüchen, mit seiner Güte und seinem Heroismus. Der „Kommunist Wanja" ist untergegangen; die Minenschiffe hatten fast keine Munition mehr und der versprochene Truppentransport kam noch immer nicht. Als es Abend wurde, entfernte man auf einem Motorkutter das Segeltuch von vier dunklen, länglichen Gegenständen, die nebeneinander lagen.
Es fand eine lange Beratung beim Kommandeur statt. Lange neigten sie sich über die Karten, und als sie aus der Kajüte herauskamen, waren sie schweigsam und drückten fest die Hände des Offiziers und der vier Matrosen, die eine Minute darauf auf einem mit Minen beladenen Zerstörer hinter der nächsten Insel verschwanden. Das Schiff kam am folgenden Morgen zurück, im Heck sah man nicht mehr die vier langen, dunklen Minen. Jetzt blieb nur das eine: ruhig abwarten. Und in der Tat, die Weißen gingen am zweiten Tag, nachdem sie den Untergang des „Kommunisten" mit einem großen Trinkgelage gefeiert hatten, zum Angriff über.
Sie zogen feierlich in Kiellinie, wie zur Parade, heran. Sogar Admiral Stark, der Kommandeur der weißgardistischen Flottille, nahm zum ersten Mal persönlich an einer Schlacht teil. Seine Flagge war auf dem „Orjol" gehisst. Aber kaum hatte die feierliche Prozession die „Grüne Insel" erreicht, als sie Halt machen musste. Der Dampfer „Trud", der als Kopffahrzeug voranging, wurde buchstäblich in zwei Teile gerissen: die Minen haben ihr Werk getan. Jetzt sieht man auf den vereisten Ufern der Kama die Gerippe der beiden zerstörten und verbrannten Schiffe fast nebeneinander liegen: den „Kommunist Wanja" und den weißgardistischen „Trud". Und wer weiß, vielleicht hat die Strömung unter der undurchdringlichen Oberfläche des Flusses auf seinem dunklen Grunde Markin und jene Verachtungswürdigen zusammengetrieben, die Markins Mannschaft mit Maschinengewehren niederschossen.
Als die Seeleute die Kama verließen, vielleicht für immer, verabschiedeten sie sich endlos lange und schwer voneinander. Nichts bringt die Menschen so nahe wie gemeinsam erlebte Gefahren, schlaflose Nächte auf der Kommandobrücke, und jene langen, äußerlich unmerklichen aber doch qualvollen Anstrengungen des Willens und des Geistes, die einen Sieg möglich machen und vorbereiten. Keinerlei Geschichtsschreibung wird imstande sein, die täglich vollbrachten großen und kleinen Heldentaten der Seeleute der Wolgakriegsflottille nach Gebühr einzuschätzen; sogar kaum die Namen jener, deren freiwillige Disziplin, Unerschrockenheit und Bescheidenheit an der Entstehung der neuen Flotte mitgeholfen haben, werden
bekannt sein.
Natürlich, die Geschichte wird nicht von einzelnen Personen gemacht. Aber bei uns in Russland gab es damals überhaupt sehr wenig Persönlichkeiten und Charaktere, es kostete eine ungeheure Mühe, durch die Schicht der alten und neuen Bürokratie durchzudringen, für seine Kampffähigkeit das rechte Betätigungsfeld zu finden. Und doch hat die Revolution viele solche Menschen hervorgebracht, Menschen im besten Sinne des Wortes, und das ist ein Zeichen dafür, dass Russland gesundet und wächst. In der Schicht, die zu beobachten ich Gelegenheit hatte, gab es viele solche Charaktere. In den entscheidenden Situationen traten sie von selbst aus der allgemeinen Masse hervor, und das Gewicht, das sie mit ihrer Person in die Waagschale warfen, erwies sich als entscheidend; sie beherrschten ihr heroisches Handwerk und hoben die schwankende, nachgiebige Masse auf ihr Niveau. Da ist zum Beispiel der wortkarge Jelisejew, ein prachtvoller Richtkanonier, der in einer Entfernung von 12 Werst aus weittragenden Geschützen ein Boot in den Grund schießen konnte, der leuchtend blaue Augen ohne Wimpern hatte - ohne Wimpern, weil sie ihm bei der Explosion eines Geschützes verbrannt waren. Immer strebte er irgendwohin, weit voraus. Da ist Babkin, der immer krank ist, immer fiebert und brennende Augen hat, der nicht mehr lange leben wird und die Schätze seines sorglosen, gütigen und erstaunlich festen Geistes königlich vergeudet.
Er war es gewesen, der das Minenfeld gelegt hatte, auf dem der stärkste Dampfer der Weißen, „Trud", seinen Untergang fand.
Da ist Nikolai Nikolajewitsch Strujski, Steuermann des Flaggschiffs und Chef der operativen Verwaltung der Flottille in der zweiten Hälfte des Kama-Feldzugs. Er war einer der besten Fachleute und gebildetsten Seeleute, der der Sowjetmacht während des ganzen Bürgerkrieges treu ergeben war. Und doch war er seinerzeit gemeinsam mit einigen jüngeren Offizieren geradezu gewaltsam mobilisiert und fast unter Eskorte an die Front gebracht worden. Als er auf das Torpedoboot „Meshen" kam, hasste er die Revolution und war aufrichtig davon überzeugt, dass die Bolschewiki deutsche Spione seien, und glaubte den reaktionären Zeitungen „Retsch" und „Birshewka" jedes Wort.
Gleich am nächsten Morgen nach ihrer Ankunft nahm diese Gruppe von Offizieren an einem Kampf teil. Anfangs - finsteres Misstrauen und kalte Korrektheit von Menschen, die an einer fremden, verhassten und ungerechten Sache gezwungen teilnehmen. Aber schon nach den ersten Schüssen änderte sich das: Man kann eine Sache nicht halb machen, wenn das Leben von Dutzenden, die jedem Befehl blind folgen, von einem Kommando abhängt - und nicht nur das Leben dieser Menschen, sondern auch des Minenschiffs, dieser herrlichen Kampfmaschine. Von einem jeden Matrosen zieht sich ein stählerner Faden zu der Kommandobrücke hin, zu der Stimme, die die Maschinen, die Geschwindigkeit, das Feuer der Geschütze und das unter den besorgten Händen des Steuermanns kreisende Steuerrad beherrscht. Ein guter Seemann kann im Kampf nicht sabotieren. Jede Politik vergessend, beantwortet er das Feuer des Gegners mit dem Feuer seiner Geschütze; er wird hartnäckig angreifen, sich glänzend verteidigen und seine Berufspflicht kaltblütig erfüllen. Und hat er einmal einen Kampf mitgemacht, dann ist er schon nicht mehr frei. Starke Bande binden ihn an den Kommissar, an die Mannschaft, an die rote Flagge am Mast - der Stolz des Siegers -, dazu das ehrgeizige Bewusstsein seiner Unentbehrlichkeit und jener absoluten Macht, die man gerade ihm, dem geschulten Offizier, im Augenblick der Gefahr gibt.
Nach zehn Tagen der Teilnahme am Feldzug, nach dem ersten Sieg, dem ersten feierlichen Empfang, bei dem die Arbeiter irgendeines befreiten Städtchens unter Musikklängen an die Landungsstelle marschieren und gleich herzlich die Hand jenes Matrosen drücken, der als erster ans Ufer springt, und die verwöhnten aristokratischen Hände eines „roten Offiziers", der, unentschlossen um sich blickend, das „fremde" Ufer betritt, noch immer nicht glaubend, dass auch er ein Genosse, dass auch er ein Mitglied jener „großen Armee der Arbeit" ist, von der das heisere Provinzorchester mit der Internationale so erregt freudig und ungefügig verkündet.
Und auf einmal bemerkt dieser Spezialist, dieser „Marine-Kapitän I. Klasse" aus dem alten kaiserlichen Dienst, mit Entsetzen, dass Tränen in seine Augen steigen, dass um ihn herum nicht eine „Bande von deutschen Spionen", sondern das echte Russland ist, das seine Erfahrung, seine akademischen Kenntnisse, sein durch hartnäckige Arbeit erzogenes Gehirn unendlich nötig hat. Jemand hält eine Rede -ach, diese Rede eines ungeschlachten, ungebildeten Mannes, die noch vor einer Woche nur ein schiefes Lächeln bei ihm hervorgerufen hätte -, aber der „Kapitän I. Klasse" hört sie mit Herzklopfen an, mit zitternden Händen sich vor dem Geständnis fürchtend, dass das Russland dieser Weiber, dieser Deserteure und Bengel, dieses Agitators, dieses Genossen Abram, dieser Bauern und Sowjets -sein Russland ist, für das er gekämpft hat und bis an sein Lebensende kämpfen wird, ohne sich der Läuse, des Hungers und der Fehler zu schämen. Er weiß es noch nicht, fühlt jedoch schon, dass auf der Seite dieses Russlands Recht, Leben und Zukunft sind.
Noch eine Woche später wäscht sich Genosse Strujski den Kohlen- und Pulverrauch vom Gesicht, legt sich einen reinen Kragen um, schließt alle goldenen, beadlerten Knöpfe seines Kittels, dessen von den abgetrennten Achselklappen und Abzeichen übrig gebliebene dunkle Spuren noch nicht ausgeblichen sind - und richtet seine Schritte zu der bolschewistischen Obrigkeit. Er spricht - und hält sich mit beiden Händen fest an die Armlehne - als wanke das ganze Zimmer unter ihm:
„Erstens glaube ich nicht, dass Sie und Lenin und die übrigen im ,plombierten Wagen' von den Deutschen Geld genommen haben."
Eine Atempause - wie nach einer Salve. Irgendwo in der Ferne die adlige Kadettenschule, die kaiserliche Tafel auf „S. M. S. - Standarte" und die goldenen Waffen für den Weltkrieg... Dann - Explosion, Zusammenbruch. Ein verspäteter Oktober.
„Zweitens: Mit euch ist Russland, und auch wir wollen mit euch sein. Allen jüngeren Kameraden, die meine Ansicht erfahren wollen, werde ich das gleiche sagen. Und drittens: Gestern haben wir Jelabug eingenommen. Wie Sie wissen, hat man am Ufer an die hundert Bauernmützen gefunden. Alle Steine sind mit Gehirn und Blut bespritzt. Sie haben es selbst gesehen - Bastschuhe, Fußlappen, Blut. Wir kamen eine halbe Stunde zu spät. Das darf nicht mehr vorkommen. Man kann auch des Nachts fahren. Freilich -gefährliches Fahrwasser, Batterien können im Hinterhalt sein... , aber..."
Und aus der Tasche wird ein zerlesenes Bändchen herausgeholt: „Operationen der Flussflottillen im Kriege zwischen den Nord- und Südstaaten."

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