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Larissa Reisner - Oktober (1924)
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KASAN-SARAPUL

I

Das nächtliche Schlagen der Schiffsuhr auf dem Deck des Minenschiffes klingt dem Glockenspiel in der Peter-Pauls-Festung erstaunlich ähnlich. Aber statt der Newa, statt des majestätisch ruhenden nordischen Stroms, statt des trübe schimmernden Granits und der goldenen Turmspitzen umspielt ihr klarer Ton die unbewohnten Ufer, die klaren, angenehmen Gewässer der Kama, die verlorenen Inseln kleiner Dörfer. Auf der Kommandobrücke ist es dunkel. Der Mond erleuchtet kaum die langen, schmalen, ungestümen Körper der Kampfschiffe. Leicht flattern Funken aus den Schornsteinen, der milchweiße Rauch neigt seine krause Mähne zum Wasser, und die Schiffe selbst, mit ihren stolz erhobenen Steven, erscheinen in dieser ursprünglichen Weite nicht als die letzte Errungenschaft der Kultur, sondern als kriegerische, unerreichbare Seerosse.
Ein seltsames Licht: einzelne Gesichter sind sichtbar und wie am Tage deutlich zu erkennen. Die Bewegungen sind geräuschlos und doch exakt. Episch, durch Jahre anerzogen und daher ungezwungen wie in einem Ballett sind die Bewegungen des Matrosen, der die schwere Hülle vom Geschütz zieht, mit einem Ruck, wie man den Schleier von einem verzauberten, furchtbaren Kopf zieht. Schwingende Hände des Signalmaates mit seinen roten, kleinen Flaggen tanzen ausdrucksvoll und lakonisch im nächtlichen Wind den rituellen Tanz der Befehle und Antworten.
Und über der verhaltenen Unruhe der sich auf den Kampf vorbereitenden Schiffe, über dem Abglanz der glühenden Feuerung, die ihren Rauch und ihre Hitze in der Tiefe des Schiffsrumpfs versteckt - geht über der Kommandobrücke und den Masten zwischen leise zitternden Rahen der grüne Morgenstern auf.
Der vorgeschobene Posten, den wir sonst einnehmen, liegt weit zurück. Das Schiff ist dicht am Ufer, sein Kommandeur - Owtschinnikow -, der immer gelassene, bestimmte, präzise und wortkarge Mann, ist einer aus der ruhmreichen Schar der Asinschen 28. Division, die unter Kämpfen ganz Russland, von der kalten Kama bis zu dem von gelben Winden versengten Baku, durchschritten hat. Irgendwo rechts flammte und verschwand ein tückisches Feuerchen - vielleicht sind es die Weißen, aber es kann auch eine Abteilung Koshewnikows sein, der im tiefen Hinterlande der Weißen herumstöbert und zuweilen, ganz unerwartet, aus dem undurchdringlichen, das Kama-Ufer versteckenden Dickicht auftaucht.
Bei den ersten Strahlen des Morgens sind diese Ufer ungewöhnlich schön. Bei Sarapul ist die Kama breit und tief, sie fließt zwischen lehmigen, gelben Abhängen, umspült Inseln, trägt auf ihrer glatten, öligen Oberfläche Spiegelungen der Zedern. Und so fließt sie, frei und ruhig. Die geräuschlosen Minenschiffe unterbrechen nicht die zauberhafte Ruhe des Flusses.
Tagsüber spreizen auf den Sandbänken Hunderte von Schwänen ihre weißen, von den letzten Strahlen der Oktobersonne durchschimmerten Schwingen. Eine Schar kleiner Schrotpunkte - die Enten - zieht über dem Wasser dahin, und in der Ferne, über der weißen Kirche, schwebt kreisend ein Adler. Und obwohl das gegenüberliegende Wiesenufer vom Feinde besetzt ist, hört man im niedrigen Gestrüpp drüben keinen einzigen Schuss fallen. Offenbar hat man uns in dieser Gegend nicht erwartet und ist auf unser Kommen nicht vorbereitet.
Aus dem Maschinenraum taucht bis zum Gürtel ein bleicher, verrußter Mechaniker empor, wischt sich Schweiß und Ruß vom Gesicht und atmet mit Vergnügen die scharfe Morgenluft ein, die über Nacht herbstlich und nordisch geworden ist.
Der Lotse auf der Kommandobrücke - zerzaust und stämmig, mit seinem grauen Haar und Schafpelz einem Waldteufel nicht unähnlich - prophezeit frühes Frostwetter. „Es riecht nach Schnee, man spürt's, die Luft riecht nach Schnee" - und wieder beginnt er schweigend den schmalen Weg der Schiffe durch den Nebel und das verräterische Gekräusel der Sandbänke, der Steine zu suchen. Wir haben diese Nacht über 100 Werst zurückgelegt -jetzt zeigen sich in der Ferne das feine Spitzengewebe einer Eisenbahnbrücke und die weißen Kuppeln von Sarapul. Die Mannschaft ruht sich aus, planscht am Wasserhahn, ärgert zwei schwarze junge Hunde, die unter Geschützdonner und schweren Fahrten mit großer Liebe aufgezogen wurden.
Ein scharfer Ruf des Beobachters: „Menschen am linken Ufer!" Und wieder - gespannte Erwartung. Aber jene am Ufer haben uns schon erkannt: Rote Tuchstreifen flattern lustig im Wind. Auch weiter am Ufer und auf der Brücke und hinter dem Sandwall flimmern jetzt rote Fähnchen auf. Kleine Figürchen der Infanteristen in grauen Mänteln rennen am Ufer entlang, schreien unverständliche, segnende Begrüßungsworte zu den Minenschiffen herüber. Wir passieren die Brücke, biegen nach links ein - da knattert schon hinter dem letzten Schiff der Kielwasserkolonne Gewehrfeuer auf. Es sind die Weißen, die die Schutzwache der Brücke beschießen, denn diese stürzte ans Ufer, um einen Dampfer unserer Flottille aus der Nähe zu sehen. Mit dem Fernglas war deutlich der ganze Kai von Sarapul sichtbar, das, von der Asinschen Division besetzt, von allen Seiten von den Weißen belagert, nun endlich, dank der Ankunft unserer Flottille, mit den tiefer liegenden Armeen verbunden war.
Wir kommen näher. Auf den Pontons, Geländern und Wegen - überall Rotarmisten, Tücher, Bärte - die freundschaftlichen, froh erstaunten Gesichter der Unseren. Das Orchester auf der Anhöhe spielt dröhnend die Marseillaise, der Trommler starrt die Schiffe an und legt mit seinem Getöse eine Bresche in die Melodie, das Horn überholt den ärgerlichen Dirigenten, schmettert rollende Klänge in die Luft, unbändig wie ein Ross, das den Reiter abgeworfen hat. Die Taue sind schon aufgenommen, der Bordrand legt sich sacht an die Anlegestelle, Matrosen zerstreuen sich auf dem Ufer - die Unterhaltung ist im vollen Gange.
„Wie seid ihr denn durchgekommen? Habt ihr ihre Schiffe kaputt geschlagen?"
„Freilich, Väterchen, vernichtet und in den Weißen Fluss getrieben." „Du lügst." „Ich lüge aber nicht."
Eine noch junge Frau, tränenüberströmt, drängt sich durch die Menge. Eine „Matrosenfrau", sagen die Umstehenden. Und es beginnt ein neues Klagen und Jammern. Das Weinen der Mutter und der Frau - ein durchdringendes, monotones Heulen: „Man hat ihn mir genommen, auf einem Schleppkahn fortgebracht. Matrose war er, genau wie ihr."
Das Tüchlein der Frau flattert von einem Matrosen zum andern, das Gesicht ist tränennass, sie streichelt den blauen Stoff der Jacken, diese ihre letzte Erinnerung. Ja, jeder Krieg ist eine grausame Sache, aber der Bürgerkrieg ist entsetzlich. Wie viel bewusste, ausgeklügelte kalte Bestialitäten haben die sich zurückziehenden Feinde schon begangen.
Tschistopol, Jelabug, Tschelny und Sarapul - alle diese Flecken sind von Blut überschwemmt, mit glühenden Lettern stehen die Namen bescheidener Dörfer in der Geschichte. In einem Ort warf man Frauen und Kinder der Rotarmisten in die Kama, auch Säuglinge verschonte man nicht. In einem andern: noch immer sind dort die Dorfstraßen mit schwarzen geronnenen Blutpfützen bedeckt, selbst das herrliche Rot des herbstlichen Ahorns ringsherum scheint die Spuren der Metzelei zu tragen.
Die Frauen und Kinder dieser Erschlagenen flüchten nicht ins Ausland, schreiben keine Memoiren, in denen sie von dem Brand ihres uralten Landhauses mit seinen Rembrandts und Bücherschätzen und von den Grausamkeiten der Tscheka berichten. Niemand wird es je erfahren, niemand wird es dem empfindsamen Europa in die Ohren schreien: wie Tausende Soldaten auf dem hohen Kama-Ufer erschlagen, von dem Strom in zähen Sümpfen vergraben oder an unbewohnte Ufer gespült wurden. Hat es auch nur einen einzigen Tag gegeben - erinnert euch, ihr, die ihr an Bord des „Rastoropny", „Prytki" und „Retiwy", auf der Batterie „Serjosha", auf „Wanja, dem Kommunisten", auf allen unsern ungefügen, eisengepanzerten Schildkröten waret -, hat es auch nur einen einzigen Tag gegeben, an dem an eurem Bordrand nicht ein schweigsamer Rücken, ein Soldatennacken mit spärlichem Haar (nach dem Typhus!) und mit über den Wellen tanzendem Arm aus der Tiefe aufgetaucht wäre? Hat es auch nur einen Flecken an der Kama gegeben, wo man bei eurer Ankunft nicht aufgeheult hätte, wo man am Ufer unter den Glücklichen, Aufgeregten, die eure grauen „Pferdchen" so ungeschickt einfingen (es waren ja Arbeiter, keine Seeleute), nicht ein Dutzend verwaiste Weiber und schmutzige, ausgehungerte Arbeiterkinder gesehen hätte? Erinnert euch an das Heulen, an das herzzerreißende Schluchzen, das sogar das Rasseln der Schiffsketten, das wütende Herzklopfen, ja sogar die überanstrengte Stimme des Vorsitzenden der Exekutive nicht übertönen konnte, der euch schon von weitem aus einer Entfernung von einem halben Kilometer zurief: Samara ist von den Roten eingenommen... "
Inzwischen war zu der ersten Frau eine andere getreten, eine kleine, dürre Alte. Auch über ihr Gesicht zogen sich Furchen des bittersten Kummers. „Weine nicht, erzähl vernünftig."
Und das Mütterchen erzählt, aber ihre Worte verlieren sich in Wehklagen, man kann nichts verstehen. Es handelte sich um folgendes: Beim Rückzug luden die Weißen 600 unserer Leute auf einen Kahn und schafften sie fort - keiner weiß, wohin -, man sagt nach Ufa, vielleicht auch noch weiter. -
Eine Stunde später sammelt eine durchdringende Sirene die am Ufer verstreuten Matrosen, und der Kommandierende erteilt den Befehl: Die Flottille geht stromaufwärts auf die Suche nach dem Schleppkahn mit den Gefangenen. Und die Mannschaft anfeuernd, klingen betont seine Worte: „Sechshundert Mann, Genossen!"


II

Sie haben uns nicht erwartet: Schützengräben, Drahtverhau, Vorposten - alles war von der Flussseite aus ungeschützt und sichtbar wie auf einem Präsentierteller. Langsam längs des Ufers gleitend, nahmen die Minenschiffe bequeme Stellungen ein - die Richtkanoniere richteten die Geschütze. In der Messe öffnete man die Luken zur Munitionskammer, von wo aus eilig die Granaten heraufgereicht wurden. Das Kommando ertönt: „Feuer!"
Die Mündungen schleudern Feuerstrahlen, mit leichtem, metallischem Klang fällt die leere Hülse, und nach 10 bis 15 Sekunden steigt inmitten der fliehenden Schützenketten des Gegners eine aschgraue und schwarz dampfende Fontäne auf. Der Richtmeister ändert das Ziel. „Visier zwei, eins nach links - Feuer!" Auch das Minenschiff „Retiwy" eröffnete das Feuer; „Protschny" setzt mit seinem Heckgeschütz die Kirche in Brand. Die allgemeine Verwirrung ausnützend, werden wir wohl noch bei Tage in Galjany sein (35 Werst oberhalb Sarapul). -
Noch eine Strecke von 10 Werst, und wir sind am Ziel. Die roten Flaggen sind eingezogen - man beschloss, den Gegner zu überraschen und die Flottille für jene weißgardistische - des Admirals Stark - auszugeben, die von den Weißen mit Ungeduld erwartet wurde. Die Schiffe schießen hinter einer Insel und einer Biegung der Kama in voller Fahrt vor, passieren die Anlegestelle von Galjany, und das Dorf selbst, das sich über einen Hügel hinbreitet, und hinter ihm machen sie eine Wendung und schwärmen aus - ein Manöver, das auf dieser seichten und schmalen Stelle sehr schwierig ist. „Nur auf Befehl schießen!" meldet der Signalmaat von einem Minenschiff zum andern.
Die Situation ist die folgende: Etwa 70 Meter vom Ufer entfernt sieht man neben der Kirche deutlich ein schweres, sechszölliges Geschütz. Dahinter auf der Anhöhe viele neugierige Bauern und zwischen ihnen Häuflein bewaffneter Soldaten. Auf dem Kirchturm ein zweites Geschütz - vielleicht ein Maschinengewehr. Am linken Ufer ein Schleppkahn mit Weißgardisten. Zwischen den Sträuchern schimmern weiße Lagerzelte hervor. Feldküchen rauchen, Soldaten liegen am Ufer und verfolgen neugierig die Manöver der Minenschiffe. Mitten im Fluss aber - von Posten bewacht - ein schwimmendes Grab, regungslos und unbeweglich.
Rupor vom „Prytki" gibt mit halblauter Stimme den Aktionsplan an die anderen Schiffe weiter. „Retiwy" nähert sich dem Schleppkahn und überzeugt sich, ohne sich zu verraten, dass die kostbare lebende Fracht an Bord ist. „Prytki" richtet seine Geschütze auf die sechszöllige Kanone des Gegners, um sie bei der ersten Bewegung des Feindes zu vernichten. Gleichzeitig beobachtet er die Infanterie. Aber wie soll man den schweren Schleppkahn von seinen Ankern befreien, wie ihn aus der engen Falle fortschaffen, die von den Sandbänken und Inseln gebildet wird? Glücklicherweise dampft an der Landungsbrücke der feindliche Schlepper „Morgenröte". Unser Offizier - in seiner goldbetressten Marinemütze natürlich - erteilt dem Kapitän des Schleppers den kategorischen Befehl: „Im Namen des Kommandierenden der Flotte des Admirals Stark befehle ich Ihnen, den Kahn mit den Gefangenen ins Schlepptau zu nehmen und uns nach Ufa zu folgen!"
Von den Weißen zum sklavischen Gehorsam erzogen, führt der Kapitän der „Morgenröte" den Befehl sofort aus, nähert sich dem Kahn und nimmt ihn ins Schlepptau. Unendlich langsam ziehen sich diese Minuten hin, bis der schwerfällige Dampfer die Stahltrosse befestigt hat und alle Vorbereitungen zur Fahrt trifft. Unsere Mannschaft steht regungslos da, die Gesichter sind leichenblass, man glaubt und wagt doch nicht daran zu glauben, dass dieses Märchen sich verwirklichen werde. Dieser dem Tode geweihte Kahn ist so nah und noch so endlos weit. Flüsternd fragt einer den anderen:
„Nun, was ist, rührt er sich endlich? Ach, er steht ja noch immer..."
Aber durch den scharfen Befehl unseres Befehlshabers eingeschüchtert, führt die „Morgenröte" ihre Rolle glänzend aus. Auf dem Kahn herrscht lebhafte Bewegung. Das Begleitkommando und sogar sein Offizier selbst legen ihre Gewehre nieder und helfen, den Anker hochzuziehen. Und nach und nach gibt das schwere Ungetüm seine hoffnungslose Regungslosigkeit auf, wendet den Steven, die straff gespannten Seile hängen eine Weile schlaff da, bis sein eigensinniger Reisegefährte ihn aufs neue hinter sich herzieht. Der Befehlshaber des „Prytki" beruhigt die ratlosen Gefangenenwächter endgültig.
„Ich befehle euch im Namen des Admirals, volle Ruhe zu bewahren und uns zu folgen - wir werden euch begleiten." „Wir haben wenig Holz", versucht man von der „Morgenröte" zu protestieren.
„Das macht nichts, unterwegs gibt es Holz genug", antwortet der Kommandeur der Flottille, und die Minenschiffe schlagen langsam, ohne Übereilung, um die Leute am Ufer nicht misstrauisch zu machen, die Richtung auf Sarapul ein.
Aber dort, im Innern des Kahns, beginnt schon die Unruhe: „Wohin schleppen sie uns, warum und wer?" Auf dem ekelhaften, schmutzigen Boden drängt sich einer der Gefangenen, ein Matrose, zum Heck des Schleppkahns durch: dort, in ein dickes Brett ist mit einem Taschenmesser ein Loch geschnitten worden - die einzige kleine Öffnung, durch die man ein Stück Himmel und Wasser sehen kann. Lange und aufmerksam beobachtet er die geheimnisvollen Schiffe und ihre schweigsame Besatzung. Jede Spur von Hoffnung oder Gefahr an seinem Gesicht ablesend, umdrängen ihn die entstellten Gesichter - ein einheitliches, allgemeines Gesicht, leblos, unbeweglich. „Sie sind alle gleich, lang, grau." „Sind's Weißgardisten, wie? Sieh genauer hin!" „Aber nein doch ... " „Was - nein? So red doch, zum Teufel!" Der Beobachter wird von seinem Posten gerissen. „Mir scheint, es sind die Unsrigen, aus der Baltischen Flotte."
Aber die Unglücklichen, die drei Wochen in dieser Pesthöhle verbracht, die inmitten ihrer eigenen Exkremente geschlafen und gegessen haben, nackt und nur mit Sackleinen bedeckt, sie wagen nicht zu hoffen. Sogar in Sarapul, als das Volk sie an den Anlegestellen begrüßte, schrie und weinte, als die Matrosen die weißgardistische Wache verhafteten und - da sie nicht wagten, in die Hölle hinabzusteigen - die Gefangenen herausriefen, antworteten diese mit Flüchen und Stöhnen. Keiner von den 430 Menschen glaubte an die Möglichkeit einer Rettung. Gestern noch haben die Wachsoldaten sich für eine Brotrinde das letzte Hemd geben lassen; gestern noch, am Morgen war es, zerrten sieben Bajonette die zerfetzten Körper der drei Brüder Krasnopjorow und noch 27 Menschen heraus. Seit 24 Stunden wurde durch die Luke kein Brot mehr hinabgeworfen (ein Viertelpfund je Tag und Mann war das einzige, was sie seit drei Wochen erhielten).
Man hörte auf, sie zu ernähren, das bedeutete, es lohnte sich nicht mehr, die Verurteilten zu füttern, das bedeutet: eines Nachts oder in einer grauen, blutlosen Morgenstunde wird für alle das Ende da sein, ein schweres Ende. Und plötzlich verschleppt man sie, öffnet blaue und silberne Löcher im nächtlichen Himmel und ruft sie alle herauf - mit seltsam klingenden, erregten Stimmen, spricht das verbotene und verfemte Wort: „Genossen!" Ist das nicht ein Verrat, eine Falle, eine neue Tücke? Und sie kamen doch, in Tränen, kriechend; einer hinter dem andern krochen sie aus ihrer Gruft heraus. Was spielte sich da auf dem Deck ab! Einige Chinesen, die in dieser kalten Gegend niemand hatten, fielen zu den Füßen eines Matrosen nieder und drückten in unserer Sprache fremden Lauten ihre grenzenlose Verehrung aus für die Verbrüderung der Unterdrückten, die füreinander zu sterben verstehen.
Am Morgen empfingen Stadt und Truppen die Gefangenen. Man brachte das schwimmende Gefängnis ans Ufer, legte einen Landesteg zum „Rasin", einer mächtigen eisernen Barke, bestückt mit weittragenden Geschützen. Und durch die lebendige Gasse der Seeleute schritten die 430 wankenden, bleichen, verwildert aussehenden Menschen. Sie glichen einer langen Kette von Bastpuppen, mit abenteuerlichen Kopfbedeckungen, mit aus Stroh geflochtenen, phantastischen Mützen, und sahen aus wie eine Prozession aus einer anderen Welt. Jedoch in der von diesem Schauspiel noch erschütterten Menge erwachte bereits ein prachtvoller Humor.
„Wer hat euch denn so aufgeputzt, Genossen?" „Seht, seht, das ist die Uniform der Konstituierenden Versammlung - jeder hat ein Basthemd und einen Strick um den Hals."
„Tritt mir nicht auf den Schuh, siehst du nicht - die Zehen gucken hervor." Und er hebt seinen in schmutzige Lappen gewickelten Fuß.
Auf dem Weg zum Ufer begannen sie mit Stimmen, die von den langen Qualen in der dunklen Pesthöhle gepresst klangen, die Marseillaise zu singen. Und der Gesang hörte bis zum Stadtplatz nicht auf. Hier begrüßte der Vertreter der Gefangenen die Seeleute der Wolgaflottille, ihren Kommandierenden und die Sowjetmacht... Unbeschreibliche Gesichter, Worte, Tränen, es war, als wenn eine ganze Familie, die ihren Vater, Bruder oder Sohn gefunden hat, neben dem Verlorengeglaubten sitzt und ihm zusieht, während er isst und von der Gefangenschaft erzählt, und dann, sich verabschiedend, zu den Genossen Seeleuten geht, um für die Rettung zu danken. In der Menge der Matrosen und Soldaten sieht man ab und zu goldbetresste Mützen jener wenigen Offiziere, die den ganzen drei Monate langen Feldzug von Kasan bis Sarapul mitgemacht haben. Ich denke, dass man sie schon lange nicht mit dieser grenzenlosen Achtung und dieser brüderlichen Liebe begrüßt hat, wie gerade an diesem Tage. Und wenn es zwischen der Intelligenz und den Massen eine Einheit im Geiste, in der Heldentat und im Opfer gibt, so entstand sie in jenem Augenblick, als die Mütter der Arbeiter, ihre Frauen und Kinder die Matrosen und Offiziere dafür segneten, dass sie ihre Väter, Brüder und Kinder vor den Qualen der Hinrichtung bewahrt haben.

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