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Larissa Reisner - Oktober (1924)
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ASTRACHAN

I

Die ersten Tage.
Die Nächte sind dunkel und blau und endlos die Steppen. Am Bahndamm - ruhen, wie Raubvögel kauernd, Tataren, sogar beim Schein der fernen schmalen Mondsichel sieht man das Braun ihrer Gesichter.
So sahen sie auch vor Urzeiten unter dem Fürsten Igor aus - in ihren gesteppten Mützen auf der Erde kauernd, Steinen am Wegrand gleich. Und wie vor Hunderten von Jahren zieht Russland kämpfend an ihnen vorüber, nach Süden.
In der Dämmerung knarren und rasseln Militärzüge, aber die Menschen in den einsamen, kleinen Steppenstationen fühlen sich ruhiger, stärker, sicherer als auf den furchtbaren Bahnhöfen der Hauptstadt, wo Krankenhaus und Lager, Obdachlosenasyl und Biwak sich widerwärtig durcheinander mengen. Der reine Wind trägt die letzten von uns mitgenommenen Spuren des Stadtstaubs über die unermesslichen Weiten, sogar der Rauch der Lokomotive riecht jetzt ein wenig nach Wermut.
Hier tritt schon der Krieg in seine Rechte. Mit dem ersten Verwundeten, dem man über die hohen Trittbretter in den Wagen hilft, tritt er in unser Leben, um es bis zu Ende zu beherrschen.
Dieser Verwundete ist ein Mann von etwa 40 Jahren, mit einer knotigen Haut und einem kurzgeschorenen Kopf und kleinen Augen, aus denen der ebene Goldgrund seiner Seele unentwegt hervorleuchtet. Hohe, gebräunte Stirn, voller Spuren der sengenden Südsonne, auf der aber nicht der leiseste Zweifel das kleinste Fältchen hinterlassen hat. Sein Arm ist am Ellbogen von einem Kosakenpallasch zerhauen, noch immer sieht man die Blutspuren auf dem grauen, hausgewebten Tuch des Hemds. Den Vater begleitet der dreizehnjährige Sohn, ein schon großer, schöner, seine Schönheit nicht ahnender Jüngling, fast noch ein Kind und doch schon ein Krieger - im Profil an die kriegerischen Cherubinen des alten Byzanz erinnernd. Wie lange und klar bleibt das Gesicht dieses Knaben im Gedächtnis haften! Es ist jenem Land voll und ganz zugewendet, aus dem ein starker Sturmwind zu wehen scheint; der Abglanz der Revolution, deren flammende Schwingen seine Kindheit so nahe gestreift, leuchtet aus diesem Gesicht.
Vielleicht wird er die reifen Jahre, die Mannbarkeit niemals erleben, niemals ein Buch lesen, niemals ein Weib berühren. Diese schnell vorüberziehende Zeit wird ihn in irgendeine grüne Steppe tragen, die plötzlich von Kalmücken umzingelt sein wird. Er wird sich lange verteidigen, Schulter an Schulter mit seinen Brüdern und Vätern, wird wahrscheinlich fallen, und im unendlichen Blau über seinem Kopf wird ein Raubvogel langsam konzentrische Kreise ziehen. Die Todesangst, die auf den Gesichtern schwacher Menschen wie Fett auf kalten Tellern erstarrt, wird auf diesem lieben, kühnen Gesicht nicht erscheinen; es werden sich die schönsten Frostblumen zeichnen, märchenhaft, unergründlich und regungslos freudig. So sterben die Kinder der Revolution.


II

Astrachan ist bedrückend. Astrachan ist hoffnungslos.
Wie ein glühender, gelber Stein liegt es inmitten der aus den Ufern getretenen Wolga. Zu der Stadt führen durch überschwemmte Felder schmale Eisenbahndämme: braungoldene Fäden in einem weiten Meer trüben, salzigen, unruhigen Wassers.
Es riecht nach Meer, die Sonne brennt, und die Stadt besteht aus nie trocknendem Schmutz, niedrigen Häusern ohne Gesicht und Alter, aus Stein und Staub und üblem Dunst, aus Dunst und Trümmern. - Es ist schwer, in dieser Stadt zu atmen.
Erst nachts beginnt das Leben. Die Gesichter, von Fieber und Tagesglut entkräftet, sind so seltsam bleich bei dem elektrischen Licht in dem einzigen Park, dessen wenige alte Bäume schwarz und aus dem Urwald hierher gebracht scheinen. In der Mitte, im Schatten der Ahornzweige, strahlt, von innen erleuchtet, ein großer, gläserner Sarg, bis zum Rande gefüllt mit Blumen. Es ist, als ob die seltsamen Rosen, Lilien von ungeahnter Größe, Mohn und Levkojen diesen Glanz ausstrahlen. Dies ist das Grab der Revolutionäre, das genialste von allen, das ich bisher gesehen.


III

In der salzigen Wüste, die Astrachan umgibt und die von Flugsand beherrscht ist, gibt es vereinzelte Oasen: Das sind uralte tatarische Gärten. Dort blüht der Wein, dort riecht es nach Honig, Wein und Pfefferminz. Ein träger Stier setzt, endlose Kreise ziehend, eine knarrende, vorsintflutliche Vorrichtung in Bewegung und hebt das Wasser aus dem salzigen Sumpf zu den Gärten hinauf.
Die weißen Rosen sind bleich und unbeweglich und verschwenden ihren schweren, kostbaren Atem. Sie erinnern an die kühlen, niedrigen Lehmkapellen in den Steppen, wo auf einem Ebenholzaltar Asiens Götterbilder herrschen - die feinen, langen Hände und Pantöffelchen gekreuzt und der Sonne ein goldenes Lächeln spendend. Auf den grünen, seidigen Rasen fallen von tief herabhängenden Ästen Aprikosen geräuschlos herab; die flammenden Tomaten über dem dürren Geäst sind herrlich, man hat den Eindruck, zu prunkvoll, wie am frühen Morgen in kostbare Gewänder gehüllte Schätze. Und die glühenden Pflaumen: Unter ihrem bernsteinfarbenen, dünnen Häutchen gärt der warme Saft.
Hoch in der Luft, über den trunkenen Gärten hört man ein fernes Summen. Es wird lauter - aber ringsum flüstert das Paradies, und man möchte die Augen nicht aufschlagen. Es werden wohl Bienen sein, die im Wein summen, es klingt wie fernes Glockengeläut des reifenden Sommers. Und plötzlich - Erwachen: erschreckte Gärtner lassen ihre Spaliere und Beete im Stich, drängen sich zusammen, alle Gesichter sind zum Himmel gerichtet. Dort fliegen drei feindliche Vögel der Stadt zu - jetzt tauchen sie im Dreieck aus dem krausen Wölkchen hervor -, und in der Sonne, bei jeder Wendung, schimmern ihre Schwingen silbern auf; ruhig und selbstsicher, fast nichts riskierend, denn sie treibt echt englisches Benzin. Den drei tieffliegenden Raubvögeln entgegen, erhebt sich hinter dem Walde einsam unser schwerfälliger Aeroplan. Er fühlt in den Adern seines zarten, empfindlichen Mechanismus das giftige „Ersatz"benzin fließen, das in den feinen Adern gerinnt, sie nur notdürftig speist und jede Sekunde zu verraten droht. Es ist ein hoffnungsloser Aufstieg. Der Flieger verzichtet auf den Schutz der im Luftmeer gleich einer Halbinsel schwimmenden, faserigen Wolke und steigt, ohne zu kreisen, steil und lärmend wie ein Krieger in voller Rüstung zur Spitze des unsichtbaren Berges auf.
Wer ist er, dieser Unbekannte, welcher Könige Herz klopft in seiner Brust, welcher Helden Blut gibt ihm diese verzweifelt tollkühne, unvergleichliche Gradheit seines Fluges ein?
Dort unten liegt eine schutzlose Stadt: Sie aber mit ihren schmutzigen Straßen und ihren bösen, überflüssigen Menschen, die jeden Augenblick bereit sind, die Revolution und alle rotblühenden Schösslinge des Lebens zu ersticken, konnte niemand zu solcher Heldentat begeistern.
Und doch steigt er empor. Schon hört man das Knattern der Maschinengewehre, und weiße Rauchknäuel tauchen über den feindlichen Flugzeugen auf: es ist die einzige Kanone am Ufer, die, ihr zyklopisches Auge schwerfällig wendend, das ferne Ziel gefunden hat und nun den Tod in den Raum schickt.
Sie ziehen sich zurück. Diese unmittelbare Berührung können sie nicht vertragen. Dort, schon fern, funkeln noch ihre silbrig geschuppten Rücken; das feindliche Summen ist kaum noch zu hören. In einem breiten, freudigen Bogen schwebt unser Aero nach Hause. Das Gesicht des Fliegers unter der Maske wird jetzt gewiss ganz weiß sein; jeder seiner Züge ist vollendet und groß geprägt, und die Blicke sind scharf und glänzend: die Blicke längst verschwundener kriegerischer Vögel.


IV

„Wo goldgestickte Wespen, Blumen, Drachen prangen... "

In rosafarbenem Feuer sinkt die Sonne. Eine leichte Arbe, ein zweirädriger Wagen, eilt schnell zur Stadt, irgendwo in der Ferne bleiben die Gärten und der Luftkampf über ihnen zurück. Niedrige, schmutzige Vorstädte ziehen sich bis zum Kreml. An Türen und Toren des tatarischen Viertels sitzen würdige Greise in sauberen seidenen Kaftans und weißen Strümpfen. Auf ihren Gesichtern breitet sich rosafarbener Widerschein der Sonne -älter als der Purpur unserer Banner. Sie sitzen und träumen schweigend - vielleicht von alten buddhistischen Heiligenbildern, die unsere Kundschafter aus den Steppendörfern mitbringen. Hier ist eins dieser Bildnisse: auf einem Hintergrund, dunkelgrün wie der sinnliche, triumphierende südliche Frühling, leuchtet rosa der Halbkreis des Morgens, unter dessen Schatten, die überfeinen Glieder gekreuzt, die Morgengottheit thront. Ihr Gesicht ist von der gleichen dunkelgrünen Farbe, und wie ein blühender Ast inmitten der Zweige lächelt der gewölbte, scharfgeschnittene Mund. In der einen Hand ein purpurnes Glöckchen, in der andern die Sanduhr: aber nicht jene einsame Sanduhr der Dürerschen Melancholie, deren Körner die Verzweiflung messen, es ist die Uhr des Erwachens und ewigen Lebens. Über dem Kopf der Gottheit, den smaragdgrünen Himmel teilend, stehen freundschaftlich nebeneinander - rechts die Sonne, links der Mond. Beide Himmelskörper sind von dampfenden Wolken umgeben - etwas weicher getönt als der purpurne Nimbus, in den sie übergehen. Hinter ihnen ist Unendlichkeit. Ungewöhnlich sind die Augen dieser asiatischen Aurora, leicht geschrägt, mit dem Morgenstern zwischen den achatnen Brauen. Das sind die Augen der rätselhaften Bildnisse der Renaissance, aber ohne deren zweideutige Schwäche und künstlerische Lüge. Weise, kalt, in sich versenkt, trotz des süßen Lächelns. An den fast weiblichen Armen rote Armbänder. Aber die Brust dieser grünpurpurnen Eos ist mit keinem einzigen Strich angedeutet. Somit ist sie, die herrlichste unter den Göttern und Menschen der Urzeit - unbefleckt, mit dem Torso der Jugend -, eine lachende Morgenröte, aus deren Augen die ganze Freude und die ganze Trauer des noch nicht angebrochenen Tages leuchtet. Zu ihren Füßen liegt die Erde, dunkel, waldbedeckt, mit einer hellen, sonnig erwachten Wiese in der Mitte.
Wir trafen mit Behrens, mit dem Kommandeur aller Seekräfte der Republik, zusammen. Er kam zur Front, liebenswürdig, klug, wie immer durch die Unhöflichkeit der Revolution verletzt, die er in einer Weise behandelte wie ein alter, ergebener Würdenträger die oft schweren Launen seines jungen Königs.
Sein europäischer Intellekt fand die unwiderlegliche Logik der stürmischen Ereignisse heraus, und von dieser fast gegen seinen Willen überzeugt, zog er freiwillig alle Fol-


V

gerungen aus jener ungeheuren, barbarischen Wahrheit, die die gewundenen Galerien, Paradesäle, Gärten und Kapellen seiner halb höfischen, halb philosophischen Seele ins Wanken brachte. Und obwohl über seinem Kopf die jahrhundertealten Mauern und Wappen seines Geschlechtes lustig flammend zusammenbrachen und das spiegelnde Parkett der Admiralität unter seinen Füßen zu schwanken begann, triumphierte doch der helle Kopf des Rationalisten und verbot ihm auch dann die Wahrheit zu verschweigen oder zu entstellen, wenn sein Herz getroffen um Schonung flehte.
Eines Tages kam die neue Macht an sein verfallenes Haus, verschaffte sich Eingang und forderte von ihm Eid und Treue. Er empfing sie erregt, aber mit aller Höflichkeit der Courtoisie des 18. Jahrhunderts und eines alternden Edelmanns und Voltairianers, der viel erlebt und im Erleben müde geworden, an der Neige seiner Tage noch einmal besiegt von seiner Leidenschaft: von der letzten, zärtlichen Liebe zum Leben, zur Jugend und ihrer schöpferischen Arbeit, zu dem grausamen und herrlichen Engel, der, von B!ut und Tränen eines ganzen Volkes besprengt, endlich gekommen war, die Welt zu richten. Die Revolution zwang Behrens - diesen Theoretiker und Sybariten -, seine Spitzenmanschetten aufzukrempeln und mit eigenen Händen seiner sterbenden Vergangenheit und seiner besiegten Klasse das Grab zu graben. Behrens kämpft gegen die Restauration, er bewaffnet Schiffe und glaubt allen Dogmen zum Trotz, dass seine kleinen, mit Mut und Opferwillen befrachteten Flottillen siegen können und müssen. Nach dem Fall von Zarizyn saß Behrens in seiner Kajüte, und seine Augen bekamen plötzlich jenen Ausdruck, wie ihn Greise haben, wenn sie über Nacht ihren einzigen Sohn verlieren.


VI

Der 10. Juli 1919.
„Genosse Kommandeur, die Leute von der Exekutive wollen ans andere Ufer - erlauben Sie, sie hinüberzubringen?" „Es geht nicht, wir müssen sie mitnehmen, damit sie uns jene Dörfer zeigen, die von Kosaken besetzt sind." Es tritt ein stämmiger, sonnenverbrannter Mann mit lebhaften, lachenden Augen vor, es ist der Vorsitzende irgendeines Landkomitees, der nach der Ankunft der Kadetten aus seiner Steppenresidenz geflüchtet ist und daher sehr interessante Nachrichten mitteilen kann. Es stellt sich heraus, dass das 25 Werst flussaufwärts am Ufer liegende Dorf schon von zwei Kosakenregimentern besetzt ist; auf dem Platz hinter der Kirche sind vier Geschütze aufgestellt. Beim Morgengrauen sollten diese gesamten Streitkräfte gegen unsern Stab in P, geworfen werden. „Und wo sind sie jetzt?"
„Wer? Die Kosaken? Sie baden. Sie haben bis heute Abend Ruhetag. Pferde und Menschen, alle sind im Wasser. Es ist heiß."
In der Tat, der Tag ist siedend heiß. Der Fluss lagert träge in den goldenen Sandufern. Es dampft. Ab und zu glänzt ein schwerer Fisch auf der Wasserfläche auf. Wenn die Uterbatterien nicht wären, könnte man schon jetzt über das schläfrige, erhitzte Wasser an das andere Ufer fahren, wo die ganze wilde Horde im Wasser ist, wo die breiten Rücken der Reiter zwischen auffunkelndem Wasser in der Sonne glänzen - ganz wie bei Leonardo in seinen „Badenden Kriegern". Der Angriff wird auf die Nacht festgesetzt. Eine herrliche Nacht. Wieder dieser tiefhängende rosige Mond, metallisch, perlenfarbig, gewaltig, der einen Geruch verbreitet, bitter wie Wermut und zart wie die Blüten des Weins. Die Minenschiffe fahren schweigend gegen den Strom, die Zeit vergeht, die Rahen zittern wie Netze auf dem Blau des Himmels, ihre Maschen sind voller Sterne. Wir kommen an Dörfern vorbei, wo Hunderte von Feinden schlafen oder nur ruhen und an den morgigen Angriff denken. Die Schiffe wählen einen Standort, richten die Geschütze, und die ungeheuren Körper speien nach einem leisen Kommandowort Feuerstrahlen aus. Dort am Ufer stirbt man schon.
Der kleine Bauer, der Vorsitzende des Dorfsowjets, steht auf der Kommandobrücke und hält sich die Ohren zu. Im magischen Schein der Salven sieht man einen Augenblick lang sein Gesicht mit dem spärlichen roten Bärtchen, sein weißes Hemd und die nackten Füße. Er ist betäubt, aber nach jeder Detonation huscht über dieses Gesicht ein seltsames, majestätisches Lächeln, ein verlegenes, unbewusstes, fast kindliches Machtgefühl. Da steht er, dieser russische Bauer in Bastschuhen, auf dem gepanzerten Deck des Kriegsschiffs, und dieser ganze schnellaufende, geräuschlose Riese mit seinem gehorsamen Mechanismus, seiner Antenne an den Masten, mit seinem berühmten Richtkanonier am Telemeter - alles das gehört ihm und dient seinem obersten Willen, ihm, dem Iwan Iwanowitsch aus dem Dorfe Solodniki. Noch niemals und nirgends in der Welt standen Bauernbastschuhe auf dieser hohen, stolzen Kommandobrücke, über den 100-Millimeter-Geschützen und Minenapparaten, hoch über ganz Russland, über der ganzen Menschheit, deren Leben von der Revolution von neuem aufgebaut wird.
Die Watte aus dem Ohr nehmend, neigt sich die Leuchte der Marineakademie - Wegmann - zu dem regungslosen und feierlichen Iwan Iwanowitsch und fragt ihn in der Dunkelheit:
„Genosse Vorsitzender - oberhalb oder unterhalb des Glockenturms? Zielen wir richtig?"
Iwan Iwanowitsch antwortet nichts, aber man sieht es seinen glänzenden Augen an, dass sehr wohl richtig geschossen wird. Es tagt.
Dicht am Ufer explodiert ein Geschoß. „Das wird wohl das Haus von Mikita sein! Ein reicher Bauer, zehn Kühe - auch die Offiziere nehmen bei ihm Quartier."
Die Weißen beantworten unser Feuer nicht, aber man fühlt in der Dunkelheit ihre verzweifelte Flucht. Kaum bekleidet, werden sie auf ihren wilden Pferden diese ganze heiße und lange Nacht durch die Steppen jagen, verfolgt von dem wiedererstandenen Gespenst der uralten mongolischen Angst. Mikitas Haus brennt, die Geschütze schweigen schon längst.
Das Minenschiff holt die Anker ein und treibt langsam den Strom hinab.


VII

Prachtvoll sind die Veteranen der Revolution. Prachtvoll sind die Menschen, die das gewöhnliche menschliche Leben schon längst hinter sich haben und die plötzlich zu dem Zeitpunkt, an dem der Vorhang fallen und Dunkelheit und Schlaf zu beginnen pflegen, gegen alle Regel beginnen, jugendfrischen Lebensmut zu trinken. Da ist zum Beispiel Saburow, Alexander Wassiljewitsch. Sein ältester Sohn ist im Kriege gefallen, seine Frau hat sich unmerklich zu einem Bündel leichter, weicher, aschgrauer, alternder Gefühle und Gedanken zusammengerollt. Er selbst durchlief die ganze Skala des Lebens eines Revolutionärs: von den goldenen Leutnantsepauletten bis zur Emigration in Paris - noch zur Zeit des rebellischen Leutnants Schmidt, in dessen Prozess er verwickelt war. In der Emigration lebte Saburow wie Tausende anderer politischer Verbannter: vom einfachen Schlosser einer Fabrik diente er sich bis zum Verwalter herauf. Die große Teufelsuhr des Lebens zeigte für Saburow 58 Jahre auf, als die Revolution ausbrach, und alles im Stich lassend, kehrte er sofort nach Russland zurück, um als Seeoffizier an die Front zu gehen.
Noch als er das graue Baltische Meer durchquerte, saß er wahrscheinlich irgendwo auf dem Deck, hörte, wie die schweren Wellen an Bord schlagen, wie die Matrosen eilig über Deck liefen, wie das Meer atmete und dampfte; hier zählte er seine verlorenen Jahre und sah sein neues, unendlich junges Leben vor sich.
Er kam zur Wolga, als der tschechoslowakische Aufstand seinen Höhepunkt erreichte. Man gab ihm in Kasan einen langsamen, schwerfälligen, eisengepanzerten Kahn, der mit weittragenden Geschützen armiert war. Wie glänzend beherrschte er seine Batterie! Klein, mit einem vollen Bart, aus dem ewig der schwarze Kopf der Pfeife hervorlugte, mit seinen etwas schräg stehenden tatarischen Äuglein und französischen Sprüchlein - neigt sich Alexander Wassiijewitsch zum Geschütz, pfeift ein wenig, blinzelt, wirft einen Blick auf den uralten bunten Turm Sumbeki, der ebenso alt, ehrwürdig und im Innern anmutig ist wie er selbst, und eröffnet eine wilde Kanonade. Nach dem dritten Schuss beginnt in Kasan etwas zu brennen, der Feind antwortet, und der kleine Schlepper faucht los und strengt sich aus Leibeskräften an, den „Serjoscha", den schwerfälligen Kahn, so schnei! wie möglich aus dem Hagel der explodierenden Geschosse herauszubringen. O diese Kontraste: das schwerfällige Ungetüm und sein zielsicheres Feuer, diese kolossalen Geschütze und der sie lenkende gutmütige, kleine, lebhafte Alexander Wassiljewitsch, der einer Fliege nichts zuleide tun konnte, der aber in den schwersten Minuten schweigsam, kalt wie Stein wurde, an dem der Tod jeden Tag vorüberging, blind, mit gespreizten Schwingen, inmitten sprühender Fontänen des vergifteten, brodelnden Wassers.
Und der Tod ging immer an ihm vorüber, er wagte es nicht, den sechs Jahrzehnten dieses königlichen Alters ein Ende zu machen.


VIII

„Le jour de gloire est arrivé Formes vos bataillons... "
Schwarz und rot sind die Farben unserer Fahnen. Schwarz - an den Tagen der Begräbnisse.
Durch die glühende Stadt zieht ein Matrosenorchester. Das Messing der Instrumente funkelt, Schritte dröhnen über dos tote Pflaster, und die Flaggen scheinen aus schwarzem Stein modelliert - so schwer und hart wirken sie. Wie im' Halbschlaf bewegen sich kaum merklich die Falten - sie träumen von tiefer Kühle des Himmels, von dem frühen nordischen Frühling, von den ersten Möwen über Kronstadt, vom ersten Tauen des Schnees im April. Astrachan stickt.
Nur die leichten Masten der Fischerboote draußen auf dem Wasser atmen leichter. Die Stadt liegt mit geschlossenen Augen da, von Schweiß und Staub bedeckt; sie findet keine Kühlung durch die Kanäle, in denen die Hitze, von Malaria getränkt, noch stärker brennt. Gleichmäßig und rhythmisch schreiten die Matrosen durch die Stadt. Über öden Bauplätzen und Trümmern, über dieser ganzen langweiligen Wüste aus Steinen und hässlichen Dächern schwebt und ruft die Marseillaise. Sie hat jene hohen, gelassenen Töne erreicht, die alle Schmerzen über den Gefallenen ausdrücken. Sie erreicht den Gipfel. Dort, dicht unter dem Himmel, verharrt das Lied und sieht gleichsam das ganze Leben, wie es sich tief unten ohne Anfang und Ende ausbreitet.
Und es sieht: einen breiten, blauen Fluss, der zwischen salzigen Sandhügeln zum Meere fließt. Die Marseillaise erstarkt und schwingt sich höher hinauf. Der Sarg wankt leise, die Fußgänger betrachten die kleine Prozession, die Gesichter der Seeleute, die in die Musik gehüllt, um sich blicken und doch nichts sehen.
Aber von dem Kupfer des Horns und der breiten Brust der Pauke getragen, begrüßt das Lied ein lang gestrecktes Schiff, das den öden, durchglühten Fluss stromaufwärts zieht. Auf den Flügeln der Erinnerung folgt ihm das Trauermotiv.
Das Banner erwacht und zittert. Es ist, als wenn eine frische Brise vom Meer, von Kohlenstaub der drei breiten, grauen Schornsteine durchtränkt, es berührt hätte. Die Seeleute richten ihre Blicke nicht auf, und als sie zur Vorstadt abbiegen, erinnert sich einer von ihnen: „Ja, das war auf dem ,Rastoropny'."
Eine Sekunde lang tönt aus der mächtigen Kehle der Instrumente tränendurchfeuchtete Heiserkeit, aber sie bezwingen sich, und wieder schwebt der revolutionäre Hymnus durch den klaren Himmel des Mutes und Stolzes. Das war auf dem „Rastoropny".
Er befindet sich auf einer Patrouillenfahrt, weit von seiner Flottille entfernt, da bemerkt er am Ufer eine Batterie im Hinterhalt. Das Minenschiff feuert aus seinen beiden Geschützen, wird selbst aus unmittelbarer Nähe beschossen. Und in der Spannung der Verteidigung, als die Kanoniere, vom heißen Atem ihrer Geschütze angehaucht, das Ziel suchen und ändern, als leere Hülsen klingend fallen, als der Lotse unter dem Pfeifen dicht vorüberfliegender Geschosse ängstlich seinen Kopf neigt, als der kleine Kommandeur eine leere Kiste besteigt und vom Bug bis zum Heck um sein Fahrzeug Geschosse aufklatschen sieht, das Fahrzeug, das von der kleinsten Vibration seiner Stimme und seines Willens abhängt - in diesem Augenblick wird der Matrose Jerikow verwundet: und schweigend stirbt er. Das ist alles.
Die Marseillaise hat ihre Geschichte zu Ende erzählt. Langsam schwankt der Sarg auf den brüderlichen Schultern. Vielleicht will jener, der in ihm liegt, jetzt zum letzten Mal fragen, wer in seiner verlassenen Koje liegt, wer jetzt morgens auf der hohen Brücke stehend, von Schiff zu Schiff die auserlesene Sprache der Signalflaggen weitergibt. Aber der Tod hebt seine Hand nicht von den blauweißen Lippen, und niemand hört die ungesagten Worte. Der Sarg schwankt fügsam, und hinter ihm her, wie hinter dem Heck des Schiffes, rauschen ins Endlose zwei brüderliche Wellen der Trauer. Ihr reiner, salziger Schaum fällt auf die fremden Gesichter in der feindseligen Stadt.


IX

In der Nacht ein Telegramm von N. Der Kommandeur fährt flussabwärts, um morgen Abend an einer Konferenz teilzunehmen.
Es tut ihm leid, W. gerade in dem Augenblick zu verlassen, als der Angriff der Weißen, der vor zwei Tagen begonnen hat, seinen Höhepunkt erreicht hat. Über den Fluss dröhnen vereinzelte Artillerieschüsse, die Armee schläft alarmbereit in Kleidern, mit Brot und Waffen unterm Kopf. Alle Lichter sind gelöscht. Der Sekretär empfängt bei Kerzenlicht die letzten Befehle, unsicher gleitet die Feder über das Papier, Windstöße tragen stille Nachtfalter der flackernden Flamme zu. Im Wasser schwanken die Sterne, und die Stimmen der Nacht fließen zusammen mit dem monotonen Geräusch der Radioapparate. Vielleicht sendet der feine, zugespitzte Mast in der Pause zwischen zwei trockenen irdischen Telegrammen dem Himmel einen zarten, unhörbaren Gruß. Wetterleuchten antwortet ihm aus der trübblauen Wolke.


X

Polosenko - das ist ein Matrose von gewaltigem Wuchs, schwer, bedächtig, mit dunklem Gesicht und dunklem Haar.
Unwillkürlich bemerkt man bei Tisch seine großen, schwieligen Hände, die schnell und geschickt sind, die den Gegenstand immer an der Stelle anfassen, wo der geheime Punkt des Gleichgewichts verborgen ist. Alles, was Polosenkos titanische Finger berühren, zerfällt unwillkürlich in gleiche, proportionale Teile, und diese Teile bekommen in seiner Hand neues Leben und unterstützen einander im Raum. Auf seinem gebräunten Unterarm, vom Ellenbogen bis zum Handgelenk, leuchtet blau, von einer japanischen Nadel gezeichnet, ein anmutiger und doch unheildrohender Drache. Polosenko ist Flieger, und wenn er in seiner verbrauchten, zu nichts nützen Maschine aufsteigt und weiße Schrapnellwölkchen um ihn herum aufleuchten, dann sind seine Ärmel aufgekrempelt, und das kleine asiatische Ungetüm - das mit seinem Feuer speienden, aufgerissenen Rachen und der einem gezückten Dolch ähnelnden Schwanzspitze lebendig zu werden scheint - blickt ihm, dem Sturmgetragenen, von Sonne Gebräunten, von der Tollkühnheit der Mutigen Getriebenen ins Auge. Wenn Polosenko lacht, reißt der Wind dieses Lächeln von seinen Lippen, und weit unten explodiert die hinabgeworfene Bombe.
Dieser Tage starb im stickigen Astrachan der sechs Monate alte Sohn Polosenkos. Jetzt steigt er - allen Warnungen zum Trotz, drei-, viermal täglich auf. Seither erschien auf seinem großen Gesicht noch ein Zug - gerade und scharf, wie er selbst, dessen Sinn unvermeidlich und unbeugsam ist und vor dem sich die menschlichen Augen senken, weil sie nicht wagen, ihn zu deuten.
Diesen Zug der kraftlosen Kraft trägt der Farnesische Herkules.


XI

Im Marinehospital in Astrachan ist eine Familie untergebracht, oder besser gesagt die Reste der Familie Krjutschkow.
Sie saßen gerade bei ihrem armseligen Mittagsmahl, als eine Bombe von einem englischen Aeroplan auf ihr morsches Dach herabfiel. Alles ging zugrunde, alles wurde zerrissen, in Staub verwandelt, unter den Trümmern von Holz und Lehm begraben. Davon kamen die Mutter, ein Knabe von acht und einer von zwei Jahren, dem das Bein bis zum Knie abgenommen werden musste. Nach der Operation sitzt die Mutter nun schon zwölfmal vierundzwanzig Stunden am Bett des Hospitals und hält ihr schlafloses Kind in Händen, weil es nicht liegen kann. Sie hat rotes Haar, ein breites, knochiges Gesicht von finnischem Typ und furchtsame Augen eines Tieres, das nichts um sich herum zu sehen scheint.
Das Kind auf ihrem Arm ist ganz nackt, nur in eine weiße Decke gehüllt, winzig klein, mit einem mächtigen Bündel von Watte und Binden an dem mageren, gebräunten Beinchen. Die Hände bewegen sich unruhig, aber der Kopf dieses Zweijährigen ist ruhig, bleich und wissend wie bei einem sterbenden Gott. Erschöpft schließt er die Augen, aber dann leuchtet seine Stirn so tief und geheimnisvoll auf, dass die Mutter erschrocken zu jammern aufhört und der zudringliche Doktor seine an alles gewöhnten, hässlichen Finger von der regungslosen kleinen Wange zurückzieht. Wenn Kinder sterben, erscheint ihnen vielleicht ihr ganzes nicht gelebtes Leben im Spiegel ihrer Träume. !n einer qualvollen Stunde, in einer Nacht voller Wirrnis und Fieber durchleben sie das ganze Leben und legen es ob ohne Bedauern, wie ein herrliches Gewand, das nur einmal an einem Festtag getragen und nun für immer mit allen seinen Blumen und Wohlgerüchen abgelegt wird. Die Lider sind halb geschlossen und zittern. Auf dem nackten Körper heben sich kläglich die Schmutzflecken ab, und durch den Verband sickert immer mehr die rosa Feuchtigkeit. Die Mutter starrt es regungslos, wie versteinert, an. Ein Matrose mit verbundener Brust tröstet sie vom Nachbarbett mit halblauter Stimme: Nicht alle Menschen brauchen Beine. Es ist ein kleiner Junge, er wird gelehrig sein, man kann zum Beispiel einen Telegrafisten aus ihm machen. Warum gerade einen Telegrafisten? Der verwundete Matrose fühlt selbst, dass das ungeschickt war. Aber man muss doch irgendwie trösten, irgendwie die Tränen stillen, das Blut beschwören.
Der kleine Fedja blickt vollkommen ruhig auf die Binden, die man von seinem Körper wickelt. Er hat eine große Seele.


XII

Es kommen Tage vor, an denen die Ereignisse wachsen und sich bis zum äußersten verdichten. Sogar Kleinigkeiten erscheinen vielsagend, der Sonnenaufgang verkündet einen langen, unbekannten Tag, der Abend dehnt sich rötend wie eine Erinnerung. Und man begreift die abergläubische Furcht der Alten vor dem Schrei eines Vogels, dem Fallen eines Steines, dem Knarren und Flüstern toter Dinge. Woher senkt sich diese Angst, diese Vorahnung des Unbekannten, diese unerträgliche Qual der Seele auf die Menschen, wie sich dünner, schwarzer Nebel ins Tal senkt.
Nein, nicht die Kämpfe, nicht die Wunden, nicht die Kugeln sind an der Front schrecklich. Es ist nicht der Kampf, der die Jungen und Starken altern macht, der Runzeln in ihr Gesicht gräbt; nicht der Kampf verdorrt die Nerven und zwingt das Herz, langsam, stoßweise zu schlagen. Das machte die geheime Krankheit der Seele, man nenne sie, wie man will: Massensuggestion, Panik, Zwangsvorstellung, ein durch nichts begründeter Zusammenbruch -das ist die geheimnisvolle unheilbare Krankheit des Krieges.
Der allergesündeste Truppenteil kann eines Tages, angesteckt von einem allgemeinen panischen Schrecken, krank erwachen. Dann ist die ganze Größe der Vernunft, ihre höchste Konzentration und eisige Gewalt nötig, um die Fliehenden zurückzuhalten und jene Gespenster zu verjagen, die gefährlicher sind als der offene Feind. Ein solcher Tag der Prüfung kam auch für uns. Wie er begann, warum und woher, das wird niemals jemand erfahren.
Ein Reiter jagte, von einer Staubwolke umgeben, durch die Steppe.
Das ist alles. Ross und Reiter fliegen zwischen unsern und den feindlichen Schützengräben - sinn- und zwecklos, von Furien getrieben. Die Bewegungen des Pferdes, die Neigung seines Kopfes, die Schaumflocken auf der Brust, das Schnaufen und Stampfen - alles das verdichtete sich zu einem unbezwingbaren Antrieb: fliehen, fliehen, fliehen. Anscheinend hat sich überhaupt nichts verändert. Auf dem blauen Spiegel des Flusses schmilzt die Sonne den Widerschein der Schiffe; eine holprige Fuhre, die von einem trübseligen Pferd gezogen wird, bringt einen in frisches Heu gehüllten Verwundeten - aber auf der Anhöhe, wo der Beobachtungsposten lauert, herrscht schon Unruhe. Dutzende von Augenpaaren suchen in der menschenleeren Ebene nach Spuren einer feindlichen Bewegung. Der bleich gewordene Soldat presst aus aller Kraft das Hörrohr des Telefons ans Ohr. Und jeder sieht plötzlich auch etwas -weit am Horizont, rechts, links, immer näher. Eine ganze phantastische Wolke von unfassbaren Feinden - überall verstreut, von allen Seiten sich nähernd. Durch zehn elektrische Leitungen flutet die Erwartung vom Beobachtungsposten in die Schützengräben. Irgendwo fällt ein Schuss, an einer andern Stelle knattert ein Maschinengewehr auf. Der Beobachter steht, wagt nicht den Feldstecher an die Augen zu heben. Seine Hände zittern, die Finger sind wie die Spitzen erschreckter Flügel. Einer elektrischen Welle gleich, strömt die Angst nach allen Seiten. Zwei neugierige Flugzeuge kreisen am Himmel, sie sind wie Raubvögel, die das Aas viele Kilometer weit spüren. Dabei war dieser selbe Beobachter imstande, fünf Tage lang mit der größten Kaltblütigkeit die Angriffsversuche der hasserfüllten, wilden Nomadenregimenter zu verfolgen.
Ohne an etwas anderes als an Distanz und Richtung zu denken, beobachtete er von derselben Anhöhe den Kampf, lenkte das stürmische und zerstörende Feuer unserer Schiffe; auch dann, als die Reiterflut schon in die Vorstädte drang und die ersten blinden Kugeln des Straßenkampfes an ihm vorbeipfiffen.
Der Gesichtsausdruck des Beobachters ist in Kampfstunden einfach und sachlich.
Fünf Nächte schlief die kleine Garnison in steter Alarmbereitschaft, ohne sich auszuziehen, in aller Ruhe schaffte sie ihre Toten fort und schlug eine Attacke nach der andern zurück und bemerkte einfach nicht den zwinkernden Blick des Todes, sein erdgraues Gesicht. Man nahm den Gefallenen die Waffen ab und sprach nicht mehr von ihnen. Sogar an das Schrecklichste für die Infanterie - den Feind im Rücken zu haben, sogar daran dachte man nicht. Und obwohl die Stellungen an Tschorny Jar tatsächlich von allen Seiten umzingelt waren und nur von der Seite der Wolga einen Stützpunkt in der Flottille hatten - kümmerte sich niemand darum. Und plötzlich diese Schwäche! Der von bebenden roten Fähnchen herbeigerufene Oberfeuerwerker Genosse Kusminski eilte vom Schiff zum Beobachtungsposten. Während seine Seemannsaugen Gärten, Schluchten, entfernte Dörfer durchsuchen - blicken die andern gespannt auf sein halb durch den Feldstecher verdecktes Gesicht, das alle kannten und liebten: die Lippen sind anfangs fest zusammengepresst - dann holt er tief Atem, reibt die Linsen des Glases. Seine Augen sind durchsichtig, wie abwesend. - Wie kostbare optische Instrumente sind sie im Augenblick auf große Entfernungen eingestellt, sie hätten jetzt weder lesen noch lächeln können. Und wieder - schweigsame Beobachtung. Plötzlich geraten seine Wangen, das spärliche schwarze Bärtchen, die Raubvogelnase - die ganze Maske dieses kriegerischen Fauns in Bewegung. Unter seinem Lächeln leuchten die goldenen Zähne. Der Feldstecher wird beiseite gelegt, die Augen sind wieder zu sich zurückgekehrt, sind menschlich und listig geworden.
„Aber Genossen, das ist doch keine Kavallerie, es ist ja eine Herde von Kühen."
Man beruhigte sich sofort auf dem Beobachtungsposten. Aber nach einer Stunde erneuerte sich die Aufregung, wuchs und wurde zur Qual.
Die Steppe ist noch immer ruhig, die sandigen, rauchigen Fernen färben sich gegen Abend blau und rosa. Und nach und nach, ohne es sich vorgenommen zu haben, wandten sich die Blicke der Beobachter von den fernen Umrissen des Klosters, von wo sie den ganzen Morgen das Übel erwarteten, dem breiten Steppenmeer zu, das offen und schimmernd vor ihnen lag, wo es außer den langsamen, gewaltigen Kreisen der Adler nichts zu sehen gab. In aller Ruhe, fast in träumerischer Stimmung, wie einer, der einer fernen, unterirdischen Musik lauscht, kehrte der Feuerwerker ans Ufer zurück und ließ seinen weittragenden Marinegeschützen eine ganz unerwartete Richtung geben.
Ein einsamer Schuss rollte unerhört laut über die Steppe -und wieder herrschte tiefe Stille.
Der Wind fuhr streichelnd über das Reihergras - silbern wurde es unter seiner Hand und neigte sich tief zur Erde. Auf dem Beobachtungsposten, in den Schützengräben, in den Masten, wohin die Matrosen geklettert waren - überall herrschte gespannte Erwartung.
Sollte der feine Mathematiker Kusminski sich geirrt haben, trotz des großen Instinktes des Gelehrten und Soldaten in ihm? Sollte das von ihm in den unbekannten Raum geschleuderte Geschoß mitten im Felde in aller Harmlosigkeit explodiert sein, ohne jemand zu berühren - zum größten Entsetzen der durch Feuer und giftige Ausdünstungen zerstörten Feldblumen?!
Noch zwei Schüsse fielen in großen Zwischenpausen in derselben Richtung und mit demselben Erfolg. Plötzlich ertönt das Kommando: „Schnellfeuer!" Da kamen sie wie unter der Erde hervor: von grausamem Feuer verfolgt, jagten sie in dichten, schwarzen Kolonnen aus der Schlucht heraus. Es waren 3000 halbwilde Kalmücken, Tscherkessen und Kosaken, die 15 Werst von der Stadt entfernt für den nächtlichen Angriff bereitgestellt waren.
Mit großen Verlusten zogen sie sich zurück, hasserfüllt gegen diese Nordländer, die sechs Tage belagert und nun wie durch ein Wunder der Metzelei entgangen waren. Aus den krausen Windungen der Karte, aus den wenigen schwachen Andeutungen las der Seemann eine ganze Geschichte heraus. Ein Gewitterregen im Sommer, der die winzige Schlucht tief und breit aushöhlte; eine stille Nacht, in der die Kavallerie, auf dem lehmigen Abhang gleitend, mit in der Dunkelheit schnaubenden Pferden in die Tiefe hinabstieg.
Wie gut war der Schlaf in Tschorny Jar in der darauf folgenden Nacht. Mit welcher Lust putzte man Waffen und Pferde, wie leicht ging man im Morgengrauen zum Angriff über.

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