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Larissa Reisner - Oktober (1924)
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SALZ

Das Bachmut-Tal - das ist ein Stück Schwarzbrot, dicht bestreut mit Salz. Unter einer Schwarzerdedecke eine durchgehende, wie ein Blatt Papier reine, einwandfreie Salzlagerstätte, fast ohne Zwischenschichten. Ihre Mächtigkeit erreicht 22 Klafter, das heißt, sie ist fast zehnmal so breit wie die reichsten Kohlenflöze der Sowjetunion. Das ganze Salzkönigreich ist 54 Werst groß, und noch vor wenigen Jahren genoss es eine Art Unabhängigkeit. Die hier lebenden Bauern sprachen aus irgendeinem Grunde ukrainisch, bauten Wassermelonen an und spannten gemächliche, prächtige Ochsen vor ihre Fuhrwerke. Doch von den neun riesigen Salzbergwerken gehörten sieben Holländern und Franzosen und nur zwei russischen Kapitalisten. Aber die Dividenden der Holländer riefen einen gefährlichen Konkurrenten auf den Plan: Die neue Bourgeoisie, gebildet und liberal, die schon damals das Diplom der Oxforder Universität und Entwürfe der russischen Verfassung in der Tasche des Gehrocks trug, nahm allen Ernstes den Kampf für eine gerechtere Ausnutzung der französisch-holländischen Salzkolonie auf. Der glanzvolle Tereschtschenko, Parlamentarier und Geschäftsmann, der künftige Minister der Kerenski-Regierung, dessen knatternder Name von den Petrograder Jungens an der Spitze der stürmischen Junidemonstrationen so jubelnd geschmäht wurde, war es, der ein vortrefflich ausgerüstetes Bergwerk gründete, das heute den Namen Swerdlows trägt.
Die Ausländer geizten nicht mit Geld für die Ausrüstung ihrer südrussischen Kolonien. Die Gewinne waren so enorm, dass sie in kürzester Frist alle Ausgaben für die Mechanisierung der Produktion deckten. Auch Tereschtschenko geizte nicht. Doch seinem auf breitem und festem Fundament ruhenden, auf bedächtige und langdauernde Ausbeutung berechneten Unternehmen war es beschieden, im rigorosesten Raubbau zu enden. Schon waren die vortrefflichen - die besten im Donezbecken -Arbeiterhäuser erbaut; desgleichen ein ideales Kraftwerk und die Mühle für die teureren Salzsorten. Sieben Klafter tief stieß der Schacht auf die erste Schicht. Man hätte, ohne sich bei dieser zweitrangigen Lagerstätte aufzuhalten, gleich einige Klafter tiefer stoßen und die Erschließung der riesigen, 22 Klafter mächtigen Lagerstätte beginnen sollen. Aber da brach der Krieg aus: Die Preise für Waren des täglichen Bedarfs schnellten wild in die Höhe - es brach die Ära der einträglichen Spekulationen an und Tereschtschenko konnte nicht umhin, den regesten Anteil daran zu nehmen.
Der bereits in Angriff genommene Schacht zur zweiten Sohle wurde mit Gestein zugeschüttet. Alle Arbeiten zur Erweiterung und wissenschaftlich richtigen Ausrüstung wurden eingestellt. Es begann die Jagd nach Geld. Salz bildet ideale Gewölbe, die unterirdischen Bauwerke aus Salz gelten als ewig. Keine Sophien-Kathedrale kann es in der tollen Kühnheit schneeweißer Kuppeln mit dem Salz aufnehmen - es müssen schon alle Gesetze des Bergbaus völlig missachtet worden sein, wenn einem Schacht der Einsturz droht. Nun, das spekulative Wirtschaften hat die ganze Innenarchitektur „Swerdlows" verunstaltet. Es ließ den frischen Beton, der das Bergwerk vor dem Ansturm unterirdischer Gewässer - 8000 Eimer die Stunde -schützen sollte, nicht einmal binden und hart werden. Ungeachtet der Warnungen des erfahrenen Arbeiters Rudtschenko (heute Leiter zweier Gruben), wurden alle Dränagerohre drei Tage nach dem Gießen geschlossen, und man stürzte an ihnen vorbei, um die ersten Partien Salz zu holen. Und 48 Stunden später gab der Beton nach, es flutete das Wasser, und bis auf den heutigen Tag fahren die Förderkörbe unter strömendem Regen auf den Grund des „Swerdlow". Freilich hat sich auch bei uns eine gelehrte Ingenieurkommission des Allrussischen Volkswirtschaftsrates gefunden, die - wenn nicht gar in diesem Jahr - vorschlug, „Swerdlow" zu schließen und ersaufen zu lassen, weil - man höre und staune! - unser Salzmarkt beschränkt sei und nicht mehr als 13 Millionen Pud aufnehmen könne. Salz ersaufen lassen, heißt es ein für allemal verlieren. Das Wasser laugt die Wände aus, und das Bergwerk stürzt zusammen.
Doch „der Arbeiter berücksichtigt", wie ein alter „Swerd-!ow"-Kumpel sagt, „ehrlich den Moment und trifft so den Nagel auf den Kopf, dass es auch einer Kommission schlecht bekommt". „Artem" (das benachbarte Bergwerk) mit seiner 22-Klafter-Lagerstätte, mit einem Salzvorrat für 100 Jahre, wenn man mit einer Jahresförderung von 7 Millionen Pud rechnet, und Kammern nicht länger als 400 Meter musste aus allerlei technischen Erwägungen aufgegeben werden, „Swerdlow" dagegen wurde verteidigt. Die Arbeiter gerieten in Unruhe, der Vorsitzende des Trusts protestierte, ober der Markt mit seiner bedingten Aufnahmefähigkeit schluckte über alle Erwartungen hinaus bereits in diesem Jahr restlos mehr als 20 Millionen Pud. Jetzt liefert dieses einzigartige Bergwerk mit seiner technischen Ausrüstung und vollständigen Elektrifizierung der Republik Salz zum niedrigsten Preis - 4 Kopeken das Pud („Schewtschenko" und andere Gruben - 6, 7 und 9 Kopeken).
„Schewtschenko" - der riesige und immer noch maßlos reiche Salzschacht - ist ein Musterbeispiel tugendhafter Trägheit und etwas sturen Eifers, mit dem die europäische Bourgeoisie zu Dickens' Zeiten ihr Kapital machte. Die alte Jeanette - „Schewtschenkows" erste Fabrikesse -ist heute über 50 Jahre alt. Seine Mühle, eine lärmende vorsintflutliche Anlage, die mit dicken Fäusten in plumpen Mörsern Salz mahlt, hat ebenfalls mehr als ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Sie arbeitet mit den altmodischen Treibriemen und Mühlsteinen polternd und verbreitet ringsum Staub, wie die Müllersfrau, die - ihre gestärkten Röcke übereinander angezogen - zur Messe geht. Und die alte Pumpe - ein ehrlicher, gusseiserner Knecht, der sich in den dreißig Jahren ununterbrochener Arbeit kein einziges Mal Urlaub gegönnt hat, weder wegen Krankheit noch wegen Übermüdung. Er arbeitete ohne Hast, hob und senkte langsam die unermüdlichen Schultern, füllte seinen Bauch methodisch mit Wasser und spie es aus dem Schacht. Ein ganzes Salzmeer ist durch seine verzinnten Eingeweide gegangen. Jeder, der das Bergwerk besichtigt, sollte sich diese erstaunliche Anlage ansehen, ein Beispiel für sinnlose und in ihrem Fleiß große Arbeitskraft. Man gelangt zu ihr durch die Räumlichkeiten ihres jungen Gehilfen, des in diesem Jahr installierten kleinen elektrischen „Sultzers" - einer korrekten, beherrschten, mit jeder Bewegung geizenden Maschine, die leidenschaftslos in dieser unterirdischen Höhle arbeitet, wie ein ausländischer Techniker, der die Sprache nicht kennt und deshalb schweigt. Ihn pflegt und beaufsichtigt ein hochqualifizierter Arbeiter, ebenso neuzeitlich und neu in diesem altmodischen Schacht wie seine Pumpe. Das ist Genosse Belous, Rotarmist in den Jahren der Revolution, ein Mann mit feinem, intelligentem Gesicht und dem verfeinerten Gehör eines Musikers. Er achtet darauf, dass die Maschine gleichmäßig und monoton ihr Arbeitslied singt, eintönig wie ein Schneesturm. Auf dem ölverschmutzten Schemel neben dem Werg, mit dem der Wärter den öligen Schweiß von der Maschine wischt, liegt aufgeschlagen ein Buch: „Die Kosmopoliten" von Bourget.
Etwas tiefer eine Luke, eine Treppe nach unten, ein schmales, mit Ziegelsteinen ausgekleidetes Rohr, in dem ewige Bächlein geschwätzig durch die Finsternis rinnen. Hier und da verschwindet einem der Boden unter den Füßen: Das Wasser füllt schlammige Löcher mit gelblichem Moder, rinnt weiter, und dann - endloses, unbändiges, unbesiegbares Wasser.
Und schließlich ein tiefer, feuchter Schacht. Hier erholt sich eine riesige Pumpe - „unser alter Rabauke", wie sie die Arbeiter nennen - eingeölt wie ein Bauer am Sonntag; ihre Kupferteile glänzen wie eine große und billige Dorfuhr. Der Kolben ist unbeweglicher als die Pfeife eines eingeschlafenen Rauchers.
Diese alten Maschinen, diensteifrig und treu wie Diener aus der Leibeigenenzeit, haben eine ganze Generation Arbeiter verwöhnt und demoralisiert. Den Menschen ist es zu einer Gewohnheit geworden, sich voll und ganz auf die Maschine zu verlassen. Wozu denn überwachen und kontrollieren, wenn alles sich von selbst dreht? Der Kolben pumpt Wasser, und die Mühle mahlt das Salz. Die Arbeiter entfernten sich für Stunden aus den Maschinenräumen, überzeugt davon, dass die Alten sich auch ohne sie ebenso ehrlich mühen werden. Die Maschinen wurden unmerklich älter und schwächer, aber keinem fielen die kleinen Sonderbarkeiten, die Alterslaunen auf, an die man sich in dem halben Jahrhundert gewöhnt hatte. So hatte zum Beispiel die Großmutter des Bergwerks, die altehrwürdige Mühlanlage, eine Passion für besondere erfrischende Kompressen, ohne die sie überhaupt nicht arbeiten wollte. Jeden Winter wurde für sie ein besonderer Eiskeller mit Eis voll gestopft, und den ganzen Sommer hindurch erhielt die Oma Eispackungen, die ein besonderer, mit allen Launen seiner alten Gnädigen vertrauter Arbeiter an die Welle, an das Hauptlager legte. Und als Genosse Rudtschenko, nachdem er „Schewtschenko" völlig heruntergewirtschaftet übernommen hatte (es war so weit gekommen, dass diese überaus reiche Grube mit 275 Arbeitern und bei dem unerhörten Brennstoffverbrauch von 700 bis 1000 Pud nur 8000 Pud im Monat lieferte), im Frühjahr dieses Jahres plötzlich den Eiskeller, die Kompressen und auch den besonderen Kammerdiener für das Anlegen derselben verbot, geriet die ganze Siedlung in Aufregung.
„Man hatte der Mühle doch ihre althergebrachten, wohlverdienten Vorrechte genommen!"
Der ältere, tüchtige Arbeiter kam ins Büro und erklärte der neuen Verwaltung höchst verbittert:
„Ich stehe seit fünfundzwanzig Jahren an dieser Maschine, und durch dich soll sie jetzt zugrunde gehen. Das kann ich nicht mit ansehen, gebt mir die Papiere." Die ganze Autorität der Sowjetmacht stand auf dem Spiel: Aus Bachmut traf eine besondere Ingenieurskommission ein und stellte feierlich fest, dass eine gewisse im Körper der Mühle entdeckte „Abweichung" durchaus gesetzmäßig und eine gewisse Deformierung der Teile sogar nützlich sei, da sie die Lager schone.
Und dennoch setzte der rote Direktor, dieser massive und beharrliche Mann mit dem klobigen, wie eine frischgerodete Kartoffel erdbehafteten Gesicht, der barfüßig und mit offenem Hemd durch den Betrieb wetzte, der in der Fabrik wie ein Stromer im Walde tage- und nächtelang verschwand, seinen Willen durch. Er ließ die Maschine für sechs Tage anhalten, und was zeigte sich da? Die berühmte „Abweichung" erwies sich als eine Alterserscheinung, eine Krümmung, unter der die ganze Produktion jahrzehntelang zu leiden hatte. Das Alte wurde besiegt, der Eiskeller wurde zu einer Sage. Von da an wurde es leichter, gegen die Routine und die Nachlässigkeit anzukämpfen. Die altersschwachen Dampfkessel - durch salzhaltiges Wasser zerfressen und durch unachtsames, ungleichmäßiges Heizen verdorben - baten um dringende Überholung und Entlastung. Man nahm ihnen zweitrangige Verpflichtungen ab und stellte alles, was sich nur umstellen ließ, auf Elektrizität um. Die Grube, die das Süßwasser vierzig Jahre lang aus einem weit entfernten Brunnen eimerweise heranholte, so dass ihr Weiberkummer mit Schneestürmen und vereisten Eimern bereits in alte Lieder eingegangen war, erhielt plötzlich eine Wasserleitung. Menschen wie Maschinen bekamen gutes, weiches Wasser zu trinken. Dann begann die Durchsetzung der neuen Arbeitsdisziplin. Bummelschichten, Einstellung zur Maschine wie zu einer Kinderwärterin, die auf das Kind und auf sich selbst aufzupassen hat - mit all dem war es vorbei. Einer kam auf die Idee, „als Begleitung für die Lunten" ein Drähtchen einzuführen; dieses geriet in das Lager und beschädigte die Welle - der Schuldige wurde auf der Stelle entlassen. Die durch die alte ausgeleierte Wirtschaft demoralisierten Techniker, die sich wie eine Reisekalesche aus dem vorigen Jahrhundert durch den Herbstschlamm schleppten und deren Autorität in den Augen der Massen künstlich aufrechterhalten werden musste, rissen sich ebenfalls zusammen. Die monatliche Förderung stieg. Von Oktober bis August verlud der Schacht fast 3 Millionen Pud, die über 10 Kopeken hinaus hochgejagten Selbstkosten gingen zurück. Im Mai - 10, im Juni - 8 Kopeken. Auch das ist zuviel. Rudtschenko wird sie mindestens auf die Hälfte reduzieren müssen, um nicht in eine längere Stilllegung zu geraten.
Das Wasser, das den Schacht bedroht, liegt über ihm, zwischen der Decke der Salzpaläste und der Erdoberfläche. Das Bergwerk selbst ist trocken wie ein Salzfass, wenn man die mit der Oberwelt durch einen engen und feuchten Förderschacht verbundene herrliche weiße Stadt als Bergwerk bezeichnen darf. Nach dem Fall in die Tiefe von 170 Meiern hält der Förderkorb vor irgendeinem weiten Platz, der mit schmelzendem, schmutzigem Schnee bedeckt zu sein scheint. Von hier gehen breite, öde Straßen aus - nur in den Hauptstädten und spät in der Nacht, wenn der Straßenverkehr erlahmt ist, schreitet eine lange Reihe von Laternen so verschwommen und vereinsamt in der Mitte der menschenleeren Straßen dahin wie hier, auf diesem Newski-Prospekt unier Tage. Doch die durch ewige Finsternis kontrastierte Nacht gleicht hier einem schwarzen Kleinod in einem ebenso schwarzen Futteral. Wolkenkratzer ohne Fenster, gigantische Bauten mit blinden Mauern, ganze Stadtviertel, die plötzlich die Augen ihrer Fenster mit steinernen Lidern geschlossen haben und so unermesslich hoch sind, dass sich irgendwo oben, zwischen den Gesimsen der regungslose Himmel, die Milchstraße von unvergleichlicher Weißheit und einsame Sterne aus kristallischem Salz verlieren.
So groß die unterirdische Stadt auch sein mag, sie entwickelt sich und wächst weiter: 176 Kammern, in denen sich die Decke gerade erst über der Sohle zu wölben beginnt, um in anderthalb Jahren die Höhe der alten, bereits ausgearbeiteten Gänge zu erreichen. In einem niedrigen Gewölbe sprengen Bohrarbeiter die Decke über ihren Köpfen mit Dynamit. Jede Schicht bohrt je 50 Sprenglöcher, die nächste steigt auf den Berg des durch die Explosion hinuntergeworfenen Salzes, die dritte steigt an die Stelle der zweiten und so ohne Ende bis sich die ganze Kammer mit einem Berg lockeren Salzes gefüllt hat. Die Förderleute laden es auf und fahren es fort, berauscht von dem süßlichen und schweren Dynamitgeruch, der sich in dem weißen Strom festsetzt und darin hält wie Zigarrenrauch im Haar.
Spät in der Nacht, wenn in den Kammern der Artilleriedonner verstummt ist, steigen die erfahrensten und mutigsten Arbeiter des Schachts wie schwarze Mäuse, sich an einem dünnen Seil festhaltend, auf den Gipfel des lockeren Berges und schlagen mit langen, spitzen Brechstangen das gesprengte Salz herunter. Die Bohrmethoden sind im „Schewtschenko"-Schacht ebenso veraltet wie seine Maschinen. Und ein Bohrmeister vom Schlage des Kollegen Orlow, der das Steinsalz 30 Jahre lang mit dem schweren, aus dem Gebrauch gekommenen barbarischen Bohrer bricht, steht in seiner Art weder der Jeanette noch der alten Pumpe auch nur im geringsten nach. In seinem Leben gab es ebenso wenig Atempausen. Wie ein Boot quer zu den Wellen, wie die Säge quer zu dem Stamm, so muss auch das Bohrloch quer zu der Schicht und der Wellenlinie geschlagen sein, die von der Brandung jahrtausendelang auf dem salzigen Grunde abgelagert wurde. Dreißig Jahre lang stemmte sich Orlow gegen die versteinerte Strömung. Sein ganzes Leben ist eine eiserne Senkrechte, hineingeschlagen in widerspenstiges Gestein. Die Revolution wurde Wirklichkeit, es kamen die Deutschen mit Disziplin und gutem Schnaps. Orlow spaltete Salz, Petljura war da und auch Denikin: eine lange Zeit harter Unterdrückung. „Hat uns die Sehnen aus dem Leib gezogen."
Orlow bohrte weiter. Zwischen „Artem", „wo der Kadett war", und dem roten Bachmut lag „Schewtschenko" im Niemandsland, ohne Obrigkeit und ohne Namen. Orlow bohrte, während die zweite Schicht oben mit dem Gewehr in der Hand Wache stand. Er bohrte auch nachts, nachdem er von Frau und Kind Abschied genommen hatte, rannte zum Schlafen nach der sowjetischen Eisenbahnstation „Solj", um einer zufällig daherkommenden Bande nicht unter das Messer zu geraten. Verschob ab und zu Salz, nähte sich besondere Säcke an das Futter der Berufskleidung, stritt sich wegen dieser Säcke mit den Sperrabteilungen und bohrte, bohrte, bohrte. Die Weißen beraubten den Schacht, fuhren den ganzen Kohlenvorrat ab, der für die Pumpen gebraucht wurde. In zwei Stunden musste die Grube ersaufen. Die Arbeiter ließen ihre Frauen den ganzen für den Winter bevorrateten Kohlengrus in den Heizungsraum schleppen, alles überflüssige Holz aus dem kümmerlichen Häuschen herausbrechen - und gingen zur Arbeit. Orlow fuhr mit ihnen ein. Endlich verging Denikin wie der Rauch, Petljura vermoderte, und der Hunger gehört nun auch der Vergangenheit an. Die alte Pumpe steht bereits still, die alte, knarrende Mühle wird ebenfalls bald angehalten; selbst der Bohrer in Orlows Hand - verrostet und stumpf -ist altersschwach und wird von einem neuen elektrischen Bohrer abgelöst werden. Aber die gleichen festen Greisenhände, die so viele unterirdische Paläste, alle weißen Säle und glänzenden Triumphbogen aus Kristall, alle Straßen und Plätze, Gewölbe und Treppen der Salzstadt gebaut, mit seiner Meisterhacke gezeichnet haben, werden an den Wänden von „Schewtschenko" erstmalig die neue Arbeitswaffe ausprobieren.
Mag sein, dass er doch müde geworden ist. Wenn der Alte nach Erfüllung der Tagesaufgabe und in Erwartung des Vorarbeiters auf einer Salzscholle sitzt, vorgebeugt und die Hände auf den Knien gefaltet, erinnert sein Kopf am dünnen, hageren Hals an eine elektrische Laterne am Tage: Ein trockener, schwarzer Ast mit einer erloschenen, gleichsam abgerissenen Lichtkugel. Doch der Alte schüttelt die Schläfrigkeit ab und hält sich Babenko, seinen schelmischen und lachlustigen Gehilfen, mit ein Paar Späßen wie mit Steinwürfen vom Leibe.
Dann schaut er sich um und sagt voller Stolz und Ruhe: „Da haben sie uns doch eine regelrechte Goldgrube ausfindig gemacht und sind dann selber ausgerissen. Haben Angst gehabt, dass wir sie aufhängen. Sollten doch wissen, dass wir Ukrainer die sanftesten Menschen sind." „Werden auch ohne sie fertig!"

1924

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