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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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DER BLUTMAl 1929

I. Alarmstufe 1

Das graublaue, kalte Morgenlicht des 1. Mai fiel in die stille menschenleere Straße.
Heute ist Feiertag. — In ihren Stuben und Kammern schlafen die Menschen, zwei, drei Stunden länger Umsonst heult heute die Frühsirene der „AEG", Brunnenstraße Der schwarze Menschenstrom, den das eiserne Tor jeden Morgen um 6 Uhr verschluckt, kam nicht. Die Eisenbahnbrücke am Bahnhof Putlitzstraße, über die um diese Stunde wochentags im Morgengrauen die Arbeiter drängen, blieb leer. Einsam und verlassen liegen die stillen Zugangsstraßen der Siemensstadt. Die Schatten der großen Schwungräder hinter der riesigen Glasfront der „Turbine" in der Huttenstraße setzen sich heute nicht in Bewegung. Über dem spiegelglatten Wasser des Nordhafens hängen die schwarzen, eisernen Klauen der Kräne regungslos in der kalten Morgenluft...
Leer und sinnlos fahren die fahrplanmäßigen Frühzüge der Stadtbahn in die Industrieviertel Nur in den Polsterwagen sitzen ein paar Betriebsinspektoren und Ingenieure, die die ersten Morgenzeitungen, mit den im Kriegsberichterstatterjargon fettgedruckten Artikeln auf der ersten Seite des Hauptblattes, lesen.
„... die Bevölkerung Berlins ist gewarnt worden! Wie der Polizeipräsident noch einmal mitteilt, wird mit rücksichtsloser Schärfe gegen diejenigen vorgegangen werden, die den geringsten Versuch machen sollten, das Demonstrationsverbot zu missachten... die Arbeiterviertel sind besonders mit ausreichendem polizeilichen Schutz versehen... der Staatsautorität gebührende Geltung zu verschaffen... liegen Beweise dafür vor, dass die Kommunisten die Maifeier zu einem blutigen Linksputsch benutzen wollen... "
Eine Zeitung trug, rechts oben in der Ecke, nebeneinander zwei Bilder Links der Kopf des kommunistischen Parteivorsitzenden Thälmann, und daneben, das Bild des Leiters der polizeilichen Aktion, Polizeioberst Heimannsberg. Darunter stand aufreihend: „Wer von beiden wird Berlin heute beherrschen?" — Nach wenigen Stunden waren sämtliche Morgenblätter ausverkauft. —
Das erste laute Geräusch in der Gasse, früh um 7 Uhr, kam von der „Roten Nachtigall". Der schwarze Willi zog die schweren Rollläden hoch und schlürfte mit kleinen verschlafenen Augen auf die Straße Er hob die Nase, als wenn er in die kalte Morgenluft roch. In der menschenleeren Gasse vor ihm hingen schon vom Abend vorher einige rote Fahnen, die sich leise und lautlos im Morgenwind bewegten.
„Dunnerlüttchen .. wo war denn das Transparent geblieben ..?!''
Er rieb sich die Augen, aber es blieb verschwunden. — In der Nacht hatten die Arbeiter quer über die Straße ein großes Schild gehängt, auf das eine Karikatur des Berliner Polizeipräsidenten mit der Unterschrift „Dörrzwiebel" gemalt war. Das Transparent hatte anscheinend die Polizei, vorsichtigerweise zu einer Stunde, in der sich auch die letzten fleißigen Genossen für eine kurze Zeit hingelegt hatten, abgenommen.
Er latschte wieder in das Lokal, holte sich einen Stuhl und zwei rote Fahnen heraus. Sorgfältig befestigte er die Fahnen auf beiden Seiten des Eingangs. Das musste er selber machen, da ließ er keinen anderen heran. — Auf das große Eisenschild über dem Schaufenster hatten sie schon gestern abend ein großes rotes Tuch gespannt. „Es lebe der 1. Mai", stand mit großen, weißen Buchstaben darauf und daneben war eine große geballte Faust gemalt.
„Ordentlich fein sieht meine olle Budike heute aus... !" sagte er»und betrachtete mit schiefem Kopf vom Damm aus die Hausfront. Dann schlurrte er mit seinen alten ausgetretenen Pantoffeln, von denen er sich nur im Bett trennte, wieder herein und fing an aufzuräumen. Die frische Morgenluft kam durch die offene Tür und vertrieb schnell den kaltgewordenen Tabakdunst aus der „Roten Nachtigall". —
Eine halbe Stunde später pfiff Paul über den Hof zu Kurt und Anna herüber. Das rote Tuch hing hinter dem Schlafzimmerfenster, sie schliefen noch.
„Pfiff . . f . . t —he, Kurt!"
Das Tuch wurde ein wenig beiseite geschoben, und Annas blonder, glattgestrichener Kopf sah auf den Hof. — Sie war wütend. Heute konnten sie den Kurt wenigstens länger schlafen lassen. Um 4 Uhr war er endlich vom Kleben nach Hause gekommen. Was war das überhaupt für ein Feiertag, wenn man nicht einmal länger schlafen konnte... !
Kurt war aufgewacht und sah sie am Fenster stehen.
„Wie spät ist es, Anna?" dabei hatte er aber schon das Deckbett zurückgeworfen und stand auf.
„Mensch, Anna, wir verschlafen hoch die Zeit... nu aber fix." Er griff nach seinen Sachen.
„Junge, es ist noch nicht sieben Uhr, lege dich noch eine Stunde hin", bat sie. In diesem Moment pfiff Paul wieder über den Hof.
„Du... sieh mal nach, das ist doch für uns... ist die Zeitung gekommen?... wäre ein Wunder, wenn sie heute nicht beschlagnahmt ist"
„Paul hat gepfiffen", sagte Anna kurz.
„Ruf rüber... ich komme gleich... krieg ich denn heute kein reines Hemd, Anna?... ach — hier liegt es ja schon."
Anna rief irgend etwas über den Hof. Auf der anderen Seite wurde das Fenster geschlossen. Langsam ging sie in die Küche und machte sie das Frühstück zurecht. Aber es ging ihr nicht so flink wie sonst von der Hand. Ihre Bewegungen waren fast automatisch, sie
musste sich zusammennehmen, um nicht alles verkehrt zu machen. __
Kurt zog heute seinen guten Anzug an. Mit der nassen Bürste strich er solange über sein widerspenstiges Haar, bis es spiegelglatt saß. Das weiße Hemd mitten in der Woche rief ein feiertägliches Gefühl in ihm hervor. Er dachte daran, dass heute in der ganzen Welt die Arbeiter den 1. Mai feiern. Wenn man die alle auf einem Haufen hätte... alle Proleten, die heute nicht einen Finger für ihre Ausbeuter krumm machen, Junge, da wär' der Lustgarten doch zu klein für. Dann brauchten sie bloß mal alle Mann ein bisschen zu pusten und der Dom läge mit einem Plumps in der Spree . . ,"
Er lachte plötzlich laut vor sich hin. So ein dummes Zeug zu denken! Ganz verrückt war er heute morgen. Und so ein „sonntäglicher" Feiertag würde das übrigens kaum werden! — Er zerrte an seiner Krawatte herum. Die verdammten Schlipse... der Teufel soll sie holen!
„Anna . . ,", rief er und ging in die Küche, „mach mir doch mal den verflixten Knoten zurecht". Sie musste manchmal ein wenig nachhelfen, wo es seine schweren Betonträgerhände nicht schafften. Aber heute kam sie auch nicht damit zurecht. Er merkte plötzlich, dass ihre sonst so ruhigen, geschickten Hände zitterten.
„Mädel , ., wat is dir denn?!" Er war ordentlich erschrocken. Ganz verstört sah sie ja aus?
„Mir is nischt, Kurt." Das brachte sie noch gerade mühsam heraus, dann war es vorbei. Ihre selbstbewusste Haltung, ihre Selbständigkeit, auf die sie so stolz war, das brach alles zusammen.
„Aber, Anna — !" Er fasste sie vorsichtig mit seinen harten Händen an den Schultern. Große Gefühlsausbrüche hatte es bei ihnen bisher nicht gegeben. Das machte jeder, wenn es überhaupt notwendig war, mit sich allein ab. Wenn sie wenigstens Krach gemacht hätte oder schimpfen würde, gut! Das hätte er noch verstanden, darauf konnte er antworten. Da gibt es eben wieder einmal eine Diskussion, wie sie sie schon oft hatten, wenn auch jetzt nicht die richtige Zeit dafür war. Nein, er war gänzlich hilflos und wünschte nur immer, dass Anna schnell wieder „vernünftig" würde, so, wie sie immer war , . .
Auf den Treppen und über den Hof gingen Leute. Im 3. Stock hatte der Jupp sein Grammophon an das offene Fenster gestellt und Heß den Rotgardistenmarsch von einer Schalmeienkapelle spielen. Das ganze Haus pfiff, sang, polterte und machte Lärm, Aus einem Fenster wurde über den Hof gerufen.
Kurt hörte, wie Paul schon wieder pfiff. Auf einen Fetzen Papier schrieb er: „Zehn Uhr vor der Roten Nachtigall", und legte ihn neben Anna, die still, mit vornübergesunkenem Leib auf dem Küchenstuhl saß, auf die Mitte des Tisches. —
Erst als Anna hörte, wie draußen die Flurtür zuschlug, fing sie wieder an zu denken. An der Tür auf einem Nagel sah sie seine alte Arbeitsjacke hängen, auf dem Stuhl lag die grüne, ausgewaschene Strickjacke. Sie fühlte eine müde Entspannung, die sie merkwürdig klar und leicht machte. Sie wusste jetzt, dass das einmal hatte kommen müssen. Jetzt war es eben passiert, und er halte sie klein und schwach gesehen. Daran war nichts mehr zu ändern. Eine andere Frau wäre vielleicht schon früher zusammengebrochen.
Sie sah den Zettel auf dem Tisch liegen. Mit der Hand strich sie das Stück Papier glatt, das seine großen, schräg durcheinanderstehenden Buchstaben trug. — Sie blickte auf die Uhr. Es war noch
Zeit!

Paul trat mit Kurt zusammen auf die Straße. Überrascht blieben sie stehen. Die Gasse war ein leuchtender, roter Fahnenwald, Es gab nahezu kein Fenster, aus dem nicht ein rotes Tuch wehte, und wenn es ein noch so bescheidener, roter Fetzen war. Aus mehreren Fenstern hingen große rote Transparente: „Nieder mit dem Demonstrationsverbot" und „Straße frei am 1. Mai". Auf einem waren Sichel und Hammer gemalt und darunter stand: „Es lebe die Sowjet-Union — erkämpft euch Sowjet-Deutschland!" — An der Ecke der Wiesenstraße hing quer über den Damm ein rotes Tuchtransparent, auf dem in riesigen Buchstaben leuchtete: „Rot Front!"
Vor den Häusern standen Männer, Frauen und Kinder mit roten Papierblumen am Jackett. Viele Kinder trugen kleine, selbstgeklebte Papierfähnchen, auf denen eine geballte Faust, ein Sowjetstern oder Sichel und Hammer abgebildet waren. Sogar einige kleine Geschäftsinhaber der Gasse hatten ihre Schaufenster mit Bildern von Lenin, Liebknecht, Rosa Luxemburg oder mit einem roten, fünfzackigen Stern geschmückt. Krückenmax hatte seinen ganzen Zigarettenladen festlich hergerichtet. An mehreren Häusern klebte die Titelseite der Mainummer der „Roten Fahne", Davor standen die Bewohner, lasen den Text und diskutierten miteinander, —
Zwischen 9 und 10 Uhr füllten sich die umliegenden Straßen immer mehr mit Arbeitern, die in lose zusammenhängenden Gruppen auf dem Bürgersteig hin- und hergingen. Überall leuchteten die roten Papiernelken auf den Anzügen der Arbeiter und auf den Blusen der Frauen.
Vor der „Roten Nachtigall" war es so voll, dass Paul kaum durchkommen konnte. — Ein Blödsinn ist es, schimpfte er vor sich hin, den Hermann ausgerechnet heute nach Brandenburg, in dieses Kaff, zu schicken. Hermann war der Einzige in der Gasse, der die Möglichkeit gehabt hätte, diese Massen fest in der Hand zu behalten. Paul fühlte sich unsicher, er wusste, dass er keine Führernatur war. Seinen Mann würde er überall stehen, wo man ihn hinschickte. Aber er spürte, dass die Erregung der Leute über das Verbot der Mai-Demonstration und über die provokatorischen Ankündigungen des Polizeipräsidenten zu stark war. Bei dem geringsten Anlass konnte es zu einer gefährlichen Entladung kommen! Vor dem Lokal sah er eine ganze Reihe sozialdemokratischer Arbeiter, die sich bisher nie an den Demonstrationen der Kommunistischen Partei beteiligt hatten, aber heute offensichtlich bereit waren, sich gegen das Verbot ihres eigenen Parteigenossen der Straßendemonstration anzuschließen. —
Am Eingang der „Roten Nachtigall" meldete ihm ein Kurier, dass rings um das Kösliner Viertel ein starkes Schupoaufgebot zusammengezogen worden war . . in dem Wohlfahrtsamt in der Pankstraße, keine hundert Schritte entfernt, hielt sich eine ganze Hundertschaft Polizisten verborgen... der Nettelbeckplatz war in ein polizeiliches Feldlager verwandelt worden... In verschiedenen Hausfluren der Reinickendorfer Straße hatte die Polizei „fliegende Wachen" eingerichtet Auf den Straßen waren dagegen, wie immer, nur die üblichen Patrouillen der ständigen Revierbeamten zu sehen, die sich zunächst neutral verhielten. Ab und zu fuhren die kleinen Überfallautos der Polizei, mit 6 bis 10 Schupos besetzt, in raschem Tempo durch die Straßen. Sie hatten nur Aufklärungsdienste zu leisten. —
Kurt, der neben Paul stand, als er den Bericht des Kuriers entgegennahm, entging nicht die Unentschlossenheit des Genossen Werner. Er kannte Paul als einen alten zuverlässigen Parteigenossen, aber trotzdem war er in der Nacht schon nicht damit einverstanden gewesen, als Hermann den Paul als Vertreter für die Leitung der Straßenzelle zum 1. Mai bestimmt hatte. Paul war der älteste Funktionär der Zelle und wohnt mit seiner Familie seit 20 Jahren in der Gasse. Er hatte nur zu Hermanns Vorschlag geschwiegen, weil er den alten Parteigenossen nicht kränken wollte. Aber er merkte jetzt schon, dass sie einen Fehler gemacht hatten. Die Situation konnte sehr ernst werden, und da musste jede persönliche Rücksichtnahme fortfallen. — Er nahm sich vor, Paul den ganzen Tag nicht von der Seite zu gehen und ihm, so gut er konnte, zu helfen. —
In der „Roten Nachtigall" konnte buchstäblich keine Stecknadel zu Boden fallen. Es wimmelte von Arbeitern, deren Mützen und Jacken mit Abzeichen und roten Papiernelken geschmückt waren. Vor zehn Minuten hatte man in dem Lokal einen Polizeispitzel erwischt und ihn, nach einer gehörigen Tracht Prügel, auf die Straße gesetzt. Man konnte es den Arbeitern draußen nicht verdenken, dass sie sich den Spitzel noch einmal vorgenommen hatten. Erst in der Reinickendorfer Straße war er durch eine Polizeipatrouille befreit worden. — Wenn irgendwo ein Polizeispitzel hochgegangen war, ließ die Polizei gewöhnlich nicht mehr allzu lange auf sich warten.
Kurt stellte sofort fest, dass es überhaupt ein unglaublicher Fehler war, sich ausgerechnet in der „Roten Nachtigall", die der Polizei als Parteilokal und Treffpunkt bekannt war, zu sammeln! Es wäre für die Polizei in der gegenwärtigen, noch unentwickelten Situation eine Kleinigkeit gewesen, das Lokal zu umstellen, auszuheben und damit den politischen und organisatorischen Kern in dem Kösliner Viertel von den führerlos bleibenden Massen zu trennen.
In dem hinteren, kleinen Saal trafen Kurt und Paul die übrigen Genossen der Straßenzelle. Auch der alte Vater Hübner hatte Wort gehalten. In seinem abgetragenen, schon blank gebürsteten schwarzen Sonntagsanzug, mit der roten Nelke im Knopfloch, saß er schweigend am Tisch und wartete auf das Zeichen zum Aufbruch. Kurt sah dem Alten an, dass ihm jetzt vieles durch den Kopf gehen mochte Seit 40 Jahren sollte er heute zum ersten Mal Seine Maidemonstration unter dem Verbot eines sozialdemokratischen Polizeipräsidenten begehen . . ,
„Thomas... ?!" schrie Paul durch den Flur nach vorn in das Lokal. Seine Stimme wurde von dem Lärm glatt verschluckt. Er drängte sich zwischen den Arbeitern hindurch und zog einen kleinen, untersetzten Mann aus der erregt diskutierenden Gruppe heraus, Es war Genosse Thomas, der Kader-Leiter.
„Du Thomas... , wie steht die Sache bei euch? Du bist doch sicher, dass sich keiner von deinen Leuten was eingesteckt hat. Wir marschieren unbewaffnet!!"
Paul sagte das nicht, weil er Angst hatte. Es war strenge Anweisung der Partei und Hermann hatte ihm in der Nacht noch besonders eingeschärft, auf keinen Fall zu dulden, dass irgend jemand Waffen mit zur Demonstration nimmt.
„Weeß' de, Paul", antwortete Thomas und zog dabei seinen Hosenriemen ein Loch enger. „Ick kann ja nich jedem die Tasche nachsehen, verboten hab ick et nich eenmal, sondern mindestens zehnmal, und ick globe ooch nich, dass eener wat mitjenommen hat,"
„Half deine Leute fest zusammen, Thomas —, wir werden
draußen allerhand hinter uns haben ------!" Die Gesichter der beiden
Arbeiter waren ernst, eine ungeheure Verantwortung ruhte auf ihren Schultern.
Paul sah nach der Uhr. „Zehn Uhr, Thomas, lass' draußen antreten, wir fangen an!" —
In die Menschen, die auf der Straße gewartet hatten, kam plötzlich Bewegung, als in der „Roten Nachtigall" die Tür aufging und die Arbeiter herausströmten. Aus einem Fenster schrie eine Frau herunter. Alles drängte vor dem Lokal zusammen.
Der scharfe, durchdringende Ton einer Trillerpfeife schnitt zweimal kurz hintereinander durch die Luft. Den Pfiff kannten sie. Das war Thomas.
„Antreten... marsch, marsch!!"
Mit einem Schlage entwirrte sich das Durcheinander. Der Pfiff griff wie eine sichere, ordnende Hand in die Massen, schob sie zusammen, teilte sie ein in Kolonnen, in Hintermann und Vordermann, gab jedem seinen Platz, und setzte an der Stelle einer nervösen, unruhigen, wartenden Bereitschaft das Gefühl einer geordneten Sicherheit. — Mit lauten Zurufen wurde eine dreieckige rote Sturmfahne begrüßt, die vorn zwischen der 3. und 4. Reihe auftauchte.
Die scharfe Stimme von Thomas riss plötzlich alles zusammen. Einen Augenblick wurde es fast unheimlich still. Wie ein klingender Hammer ertönte klar und hell das kurze Kommando über den Köpfen der ausgerichteten Achterreihen.
„Achtung... Abteilung... marsch!"
Mit dem ersten Schritt setzte ein tosender Jubel ein. Die Fenster flogen auf, als der Marschrhythmus gegen die Häuser schlug. Eine junge helle Stimme schrie: „Nieder — — mit dem — — Demonstrationsverbot!"
Es gab einige, die erschrocken zusammenfuhren, wie die ganze Straße im Sprechchor wiederholte: „Nieder .. nieder .. nieder ..!" Ein einziger dröhnender Protestschrei!
In der vollen Breite der Straße bewegte sich der dunkle Strom der Arbeiter vorwärts. An der Spitze brannte wie ein gefährlicher, rotglühender Funke in dem Meer der grauen und fahlen Gesichter die dreieckige Sturmfahne. Zwei, drei fingen an, und die ganze Straße sang das Lied von den „Verdammten dieser Erden . . ,"
In der Reinickendorfer Straße rasselten vor den Schaufenstern der großen Geschäftshäuser die Rolläden herunter. Eiserne Sperrgitter klirrten, in erregter Hast vor die Ladeneingänge geschoben. Der Kampf-Mai 1929 hatte begonnen —!

Die in den Fenstern lagen, hatten es zuerst bemerkt. Sie schrien plötzlich aufgeregt, winkten mit den Armen — man sah unter dem Dröhnen des Liedes nur ihre offenen, erschreckten Münder. An der Ecke der Reinickendorfer Straße blitzten Tschakos und silberne Uniformknöpfe. In demselben Augenblick tauchten auch hinter dem Demonstrationszug aus dem Wohlfahrtsamt in der Pankstraße blaue Uniformen auf. Eine gellende Frauenstimme aus einem Fenster zerschnitt die Luft: „P o .. l i.. z e i... ! ! !"
Die Köpfe flogen herum. Die Masse schwankte, der flatternde Angstschrei drohte alles auseinander zu reißen. Frauen und Kinder drängten und stießen gegeneinander. Ein Mädchen wurde zu Boden getreten. Ihre dünne, klägliche Stimme erstickte in dem johlenden Wutgebrüll der Arbeiter, die jetzt merkten, dass sie sich in einer gefährlichen Falle befanden.
Es war ein tückischer, brutaler Überfall. Auf beiden Seiten hatte die Polizei die kurze Straße abgeriegelt und die Masse bewegungsunfähig dazwischen eingekeilt. Wie bei einer Treibjagd wurden jetzt die überraschten Menschen nach der Mitte zusammengetrieben. Jeder sah sofort, es kam der Polizei nicht darauf an, die Demonstration aufzulösen, denn dann hätte sie ja nur eine Seite dafür freilassen brauchen, sondern die Arbeiter, Frauen und Kinder sollten, wie wehrloses, zusammengetriebenes Vieh niedergeschlagen werden. Pfeifen, Johlen, Schreien erfüllte die Straße, und dann begannen die furchtbaren Schläge der Gummiknüppel auf die Köpfe niederzusausen. Die Vorderen drängten zurück, von hinten versuchte alles, durch die Gummiknüppel getrieben, nach vorn zu laufen. Eine furchtbare Panik entstand.
Kurt war auf eine Haustürtreppe gesprungen und hielt die Hände hohl um den schreienden Mund gelegt. Mau hörte nicht einmal den Ton seiner Stimme. —
Vor den aufgerissenen Haustüren drängten sich die flüchtenden Menschen. Das Schreien der Frauen und Kinder vermehrte nur noch das Durcheinander. Durch das Stoßen und Drängen kam niemand in die Hausflure hinein, und von hinten klatschten die Gummiknüppel auf die Schädel. Wer zusammenbrach, konnte in der Enge nicht einmal zu Boden fallen.
Plötzlich sah Kurt dicht vor sich die wutverzerrten Gesichter von drei Polizisten. „Runter — du Aas!" brüllte ihn einer an und riss ihn von der Treppe herab. In demselben Moment sausten die Gummiknüppel der drei Polizisten auf seinen Hinterkopf. Bei einem anderen hätte es wahrscheinlich genügt, um den Betroffenen fertig zu machen. —
Kurt schrie auf vor Wut... drehte sich um... und, ehe er selbst wusste, was er tat, schlug seine breite, harte Faust dicht unter einem lackierten Tschakorand gegen die Stirn eines Polizisten, der mit aufgerissenem Mund lautlos zusammensackte.
Aber nicht nur die anderen Polizisten, die mit entsicherten Pistolen heranstürzten, hatten den sekundenschnellen Vorgang bemerkt, sondern auch Thomas, der vergebens versucht hatte, die Panik zu verhindern und sich mit seinen Leuten darauf beschränken musste, die Polizei auf beiden Seiten möglichst lange aufzuhalten, um die Frauen und Kinder in die Häuser zu bekommen. Ehe die anderen Polizisten heran waren, riss er Kurt in einen Hausflur und feuerte die Tür hinter sich zu.
Der halbdunkle Flur und das Treppenhaus waren dicht mit Mengchen gefüllt. „Los," schrie Thomas und stemmte seinen breiten, niedrigen Rücken von innen gegen die Tür. „.., alles verschwinden in die Wohnungen!"
Er musste Kurt erst einen Tritt geben, bis sich der auch irgendwo verdrückte. —
Nicht einen Zoll breit bekamen die Jungen, wutschäumenden Polizisten von draußen die Tür auf. Mit einem Fluch stürzten sie sich wieder auf die Straße. —
Mitten über den fast vollständig leer gewordenen Damm ging eine Frau. Auf dem Arm trug sie, eng an sich gepresst, ein kleines weinendes Kind, Vergeblich hatte sie zuerst versucht, sich und das Kind in einen Hausflur zu retten, nur mit Mühe war es ihr gelungen, sich aus einem lebensgefährlichen Gedränge wieder zu befreien, und jetzt waren die Tore vor den Polizisten fast alle geschlossen. Auf der Straße liefen nur noch die Schupobeamten mit gezogenen Pistolen und geschwungenen Gummiknüppeln umher. —
Vor der „Roten Nachtigall" hielt das nachgekommene Mannschaftsauto, aut das sie den von Kurt niedergeschlagenen Polizisten gelegt hatten. Er war noch immer nicht zu Bewusstsein gekommen.
Die Frau mit dem Kind hatte jetzt nahezu das Ende der Straße erreicht, als auf einmal ein junger, etwa 20jähriger Polizist auf sie zulief. Das Gesicht der Frau wurde blass, aber sie ging weiter und legte nur ihre Arme noch fester um das Kind. Gerade diese feste ruhige Sicherheit brachte den jungen Polizisten um die letzte Beherrschung. Mit einem Sprung verstellte er ihr den Weg, holte aus — und schlug ihr quer über das stille, weiße Gesicht.
„Weg... du rote Sau", schrie er und stieß die Frau, die unbewusst den Arm zum Schutz erhoben hatte, zurück.
Aus den Fenstern hatten die Bewohner mit Entsetzen den Vorgang verfolgt. Du Hund — schlägst deine eijene Mutter noch dot —" schrie eine alte Frau kreischend herunter.
„Bluthund... !"
„Verfluchter Strolch du!"
Und plötzlich brannte dem höhnisch lächelnden Polizisten von irgendwoher ein faustdicker Stein ins Gesicht. Die Pistolenmündungen flogen hoch. Peng... peng ... peng... !
Die ersten Schüsse knallten gegen die Häuser. „Fenster zu... !" Der junge Beamte, über dessen blassgewordenes, verzerrtes Gesicht ein schmaler Blutstreifen rann, rannte in der Mitte der Straße hin und her. Auf jede Bewegung an einem Fenster legte er die entsicherte Pistole an und schoss.
Die Straße war nur noch von der Polizei besetzt, kein Zivilist war mehr zu sehen. In einigen Häusern hatten die Polizisten die Bewohner über die Treppen und Höfe, ja, bis in die Wohnungen verfolgt. Aus einem Hausflur schleppten sie einen jungen, blutüberströmten Arbeiter heraus und warfen ihn auf den Mannschaftswagen. Vorher hatten sie zwei Zimmerleute verhaftet, die in ihrer Zunftkleidung mit den zerschlagenen schwarzen Zylindern und erhobenen Händen auf dem Auto saßen. —
Aus der Pankstraße tönte die lang gezogene Pfeife des Bereitschaftsführers zweimal kurz hintereinander. Langsam und fast widerwillig zog sich die Polizei aus der Straße zurück.

Wenige Minuten später war die Straße wieder mit erregten Menschenmassen gefüllt. Die Brutalität der Polizei und die hinterlistige Art dieses Überfalls, hatte die ganze Umgebung in Aufregung und Empörung gebracht. Auf der Straße bildeten sich laut und heftig diskutierende Gruppen.
„Det war bloß der Anfang —", rief eine Frau. „Passt mal uff — heute abend wird der „Vorwärts" schreiben, det sich de Polizei „in Notwehr" befunden hat."
„Dafür bedank' dich man bei deinem „Jenossen" Polizeipräsidenten ... ", schrie eine alte Arbeiterfrau einem Mann, der schweigend in der Gruppe stand, in das Gesicht.
„Lasst man", antwortete der Arbeiter leise mit einer hilflosen Handbewegung, „ich glaube... ich werde heute abend nicht mehr dieser Partei angehören."
Aus einer anderen Gruppe hörte man Pauls laute Stimme: „Genossen, wa sind ja selber daran schuld, wa hätten nich in einer so kurzen Straße, die leicht abzuriegeln ist und keine Nebenstraßen hat, mix einem Demonstrationszug anfangen sollen... "
Einzelne Arbeiter gingen unauffällig durch die Gruppen: „Antreten — Ecke Reinickendorfer Straße!" — Rasch ging die neue Parole von Mund zu Mund. Von allen Seilen strömten die Arbeiter zusammen, die Gesichter ernster und entschlossener als zuvor.
Wieder gab der kurze, durchdringende Pfiff das Signal zum Antreten. Schnell liefen die Arbeiter auf den Damm und formierten sich in Achterreihen: „Ab... tei... lung .,. marsch!" —
Am Nettelbeckplatz funkelten die silbernen Gardesterne auf den Lacktschakos der Polizisten.
„Nie... der... mit dem... Mai... verbot!" „Es lebe die Kommunistische Partei!" „Nieder mit der sozialfaschistischen Hungerregierung!" Dieses Mal verwirrte das Funkeln der Uniformknöpfe die Arbeiter nicht mehr so schnell. Ruhig marschierte der Zug die Reinickendorfer Straße herunter zum Nettelbeckplatz. Über die ganze Breite der Straße flutete der Gesang der „Internationale". Einen Augenblick war es Kurt, als wenn er zwischen den Mützen vor ihm den blonden Kopf Annas gesehen hätte.
Hinter den Gittern der Konsumgenossenschaft auf der linken Seite verschwand das ängstliche Gesicht des sozialdemokratischen Geschäftsführers.
Die Arbeiter lachten und riefen über die Straße: „Ihr feiert wohl den 1. Mai hinter Eisen, wat?"
„Wie de Affen im Zoo... I"
Wieder tauchte fünf, sechs Reihen vor Kurt das blonde, glatt gestrichene Haar auf Die nächste auf und nieder wogende Welle der gleichmäßigen Schritte verdeckte es wieder.
„Hallo... Tach, Genosse!"
Durch ein paar Schultern streckte sich ihm eine schmale Hand hin. Kurt sah hoch. Das war doch der junge, blasse Referent, der in der „Roten Nachtigall" gesprochen hatte!
„Rot Front" —. Er zog ihn neben sich.
„Komm man — hier geht's gleich wieder los."
Er freute sich, dass der junge, sicher nicht sehr kräftige Genosse mit einer so gelassenen Ruhe neben ihm hermarschierte. Der machte nicht nur mit dem Mundwerk mit. dachte er zufrieden. —
Der Zug war bis dicht an den Nettelbeckplatz herangekommen. Kurt reckte sich einen Augenblick über die Köpfe und sah nach vorn In vier Reihen hintereinander standen die Polizisten quer über die Straße und erwarteten die Demonstranten.
Immer weiter marschierten die Arbeiter, ohne einen Moment zu schwanken. Eine hohe Stimme schrillte vorn: „Straße frei...!"
Die Arbeiter marschierten weiter. Links... links... „Nieder mit der Polizeidiktatur!"
Das war Thomas, dachte Kurt und schrie mit den anderen zusammen: „Nieder... nieder... nieder!"
Auf dem Bürgersteig rechts fingen einige an zurückzulaufen. Jemand rief:
„Stehen... blei . . ben, Genossen!!"
Die Mitte des Demonstrationszuges schob sich immer weiter nach vorn Die ersten breiten Reihen bildeten die Leute von Thomas, der selber neben Paul an der Spitze marschierte.
Wieder peitschte die hohe scharfe Stimme durch die Luft — irgendein Kommando — und auf die ersten Reihen sausten die Gummiknüppel herunter... ein gellendes Johlen, Pfeifen und Schreien! An der linken Hauswand stand ein Herr mit zerschlagenem Hut und machte mit den Händen wilde lächerliche Protestbewegungen. Anscheinend war er gerade aus dem Zigarrengeschäft an der Ecke gekommen Zwei Polizisten rissen ihn von der Wand weg. Unter einem Hagel von Schlägen brach er zusammen. Den Hut stieß ein Polizist wie einen Fußball über den Platz
Die Polizei stutzte Trotzdem sie auf alles einschlugen, was ihnen vor die Fäuste kam, konnten sie den Zug nicht durchbrechen. Im Gegenteil, Schritt für Schritt mussten sie vor den immer mehr nach vorn drängenden Massen zurückweichen Die Arbeiter schützten sich, so gut sie konnten aber sie gingen nicht zurück. Wurden sie an einer Stelle zurückgeschoben, stießen sie an der anderen Seite wieder nach vorn. —
Erst nachdem neue Reserven eingesetzt wurden, konnte die Polizei nach hartem Kampf den Zug auseinandersprengen, ohne allerdings die Straße zu säubern. — Die Signalpfeife rief sie wieder zurück« Einige kurze Kommandos — sie kletterten auf die bereitstehenden Autos und fuhren ab. Vielleicht war die Situation irgendwo anders noch gefährlicher als hier. —
Nach wenigen Minuten sprang ein junger Arbeiter auf den großen Sandkasten, der mitten auf dem Nettelbeckplatz stand, und sprach zu den Massen, die den Platz überfluteten.
Kurt suchte Paul. Endlich fand er ihn.
„Du — wir müssen sofort zurück in die Gasse, wir müssen sehen, wat da los is." Sie wussten, dass sich die Angriffe der Polizei hier konzentrieren würden. Im schnellen Schritt gingen sie beide die Reinickendorfer Straße wieder herunter.
Nach ein paar hundert Metern sahen sie schon, wie vor ihnen die Arbeiter nach der Gasse zu rannten. Sie liefen hinterher, so rasch sie konnten. An der Ecke der Wiesenstraße kam ihnen bereits von der Uferstraße her ein neuer Demonstrationszug entgegen.
„Paul, det is doch Otto — der mit der Sturmfahne da vorn!", rief Kurt und lief dem Zug entgegen.
Er hatte ihn noch nicht erreicht, als er hinter sich die benagelten Stiefel der vorwärtsstürmenden Polizisten hörte.
Nur erst den Zug erreichen, dachte er keuchend. Er war zu schwerfällig zum Rennen. Die jungen Polizisten konnten das besser als er.
„Dich krieg ich doch noch, du Aas", schrie dicht hinter ihm jemand. Er hörte den stoßenden Atem des Polizisten. Im nächsten Augenblick sauste der Knüppel auf seinen Kopf. Aber der Polizist lief an ihm vorbei zu dem Demonstrationszug, der jetzt an der Ecke der Kösliner Straße angekommen war.
Der Polizist, der sich etwa 10 Meter vor seinen anderen Kollegen befand, stürmte direkt auf den Fahnenträger los. Kurt sah, wie er den Gummiknüppel hob, um auf Otto einzuschlagen.
Was dann kam, ging so schnell, dass niemand sehen konnte, wie es eigentlich gekommen war. Der junge Polizist lag plötzlich ohne Tschako auf dem Asphalt und trudelte einige Male um seine eigene Achse. — In diesem Augenblick waren die anderen Polizisten herangekommen. Kurz vorher hatten sie unmittelbar vor Kurt einen Mann von hinten zu Boden gerissen, den sie mit Fußtritten und Schlägen bearbeiteten.
„Aufstehen — du Mistvieh", brüllte ein Polizist. Der Mann jammerte nur und zeigte immer wieder auf seine Füße. Kurt sah, dass er an dem linken Bein eine Holz-Prothese trug.
„Ich werd' dir schon Beine machen", schrie der Beamte und schlug auf den hilflosen Menschen ein. Erst, als er sah, dass sich der andere Polizist vorn auf der Erde herumwälzte, ließ er den Kriegsbeschädigten liegen und stürzte auf den Fahnenträger zu.
Kurt hob den vor Schmerzen wimmernden Mann auf und trug ihn in einen Hausflur. „Hier haben Sie meine Adresse , . . nennen Sie mich ruhig als Zeugen. Viel nützen wird es nicht, die Kerle leisten jeden Meineid... aber Sie können es ja versuchen." Er schrieb rasch seinen Namen und Adresse auf ein Stück Papier und schob es dem Mann in die Tasche.
Unmittelbar an der Ecke der Kösliner Straße tobte der Kampf um die Fahne. Otto schrie, dass es bis auf die Höfe der Gasse zu hören war. Mit der einen Faust schlug er um sich und die andere hielt die armselige, zerfetzte, kleine Sturmfahne umklammert. Kurt sah, dass ihm das Blut von der aufgeschlagenen Kopfhaut herunterflog. Aber die Fahne ließ er nicht los.
Vom anderen Ende der Kösliner Straße her tönte Gesang. Ein Demonstrationszug war von der Pankstraße her eingebogen und marschierte die Weddingstraße herunter. Während Kurt ein Stück die Kösliner Straße herunterlief, riss er ein kleines, rotes Tuch, das er als Sturmfahne eingesteckt hatte, aus der Tasche und winkte damit den unten marschierenden Genossen, um sie zur Unterstützung heraufzuholen. Hier... her . , . kommen... 1" schrie er mit aller Kraft durch die Gasse.
Der Zug am anderen Ende der Straße stockte. Die Arbeiter schauten unentschlossen herauf, es war ihnen nicht ganz klar, was der Mann mit der Fahne wollte. —
Auf einmal hörte Kurt hinter sich einen kurzen, gellenden Angstschrei. „Kurt ... !" —
Er blickte sich rasch um. An der Ecke der Wiesenstraße stand Anna und zeigte entsetzt hinter ihn. Mehrere Polizisten rannten mit angelegten Pistolen direkt auf ihn zu. Er sah, dass sie ihn in ihrer besinnungslosen Erregung in der nächsten Sekunde glatt niederschießen würden. Schnell duckte er sich und hatte mit zwei drei Sätzen den vor ihm liegenden Hausflur Nr. 6 erreicht.
„Stehen bleiben... du Hund!" brüllten hinter ihm die Polizisten und rissen die Pistolen hoch.
Peng... peng... peng... ! Links und rechts von dem Eingang spritzte der Mörtel von der Hauswand. Kurt rannte durch den Hausflur, die Hof-Glastür, die er hinter sich zuschmiss, zersplitterte klirrend.
„Kurt... die kommen nach", schrie jemand aus dem Fenster auf den Hof herunter. Er hörte die genagelten Stiefel im Hausflur. — Der Hof war glatt wie ein Teller. Gerade als er sich in der Mitte befand, schossen sie wieder.
Peng... peng... ! Ein kalter Luftzug pfiff an seiner Schläfe vorbei. Wie weißes, zerstäubtes Pulver flog der Putz neben dem niedrigen Eingang zum Quergebäude von der dunklen Wand.
„Vom Fenster weg... !"
In demselben Augenblick, in dem der vorderste Polizist die Pistole nach oben hob, in ein Hoffenster zielte und schoss, hatte Kurt die Treppe erreicht. Der kurze Zuruf von oben hatte ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. — Auf dem ersten Treppenabsatz wurde er in eine Wohnung gezogen und versteckt. Er hörte noch, wie die Polizisten an der verschlossenen Tür vorbei die Treppe heraufstürmten. Unter dem Dach rissen sie einer vor Angst halb ohnmächtigen Frau in der Waschküche die Wäsche aus den kochenden Kesseln, um ihn zu suchen...

Anna hatte sich in einem Hausflur in Sicherheit bringen können, als sie plötzlich aus dem gegenüberliegenden Haus, in das Karl gelaufen war, die Schüsse krachen hörte.
„Wills'te ooch dotjeschossen werden... ?" schrie sie ein Arbeiter an und riss sie von der offenen Tür wieder in den Flur zurück.
Loslassen... Max", sagte sie mit einer merkwürdig leisen, heiseren Stimme, „... hörste, Max... lass ma los... !" Sie versuchte vergebens, die Finger, die sich um ihren Oberarm geschlossen hatten, auseinander zu biegen. — Draußen knallten wieder Schüsse. Einen Moment sah sie den Arbeiter kurz an, und dann schlug sie ihm mit der freien Hand zweimal mitten ins Gesicht. Er taumelte an die Wand, sie riss die Haustür auf und stürzte auf die Straße. — An der Ecke wurden gerade die Fahnenträger und ein anderer junger Arbeiter verhaftet und auf das Polizeiauto gestoßen. Die Fahne war in tausend Fetzen gerissen. —
Vier große Wagen mit Polizisten kamen von der Uferwache her die Wiesenstraße heruntergefegt. Noch im Fahren flogen die Seiten — klappen herunter, mit Pistolen und Gummiknüppel wurde die Ecke gesäubert.
Anna sah, wie gegenüber aus dem Haus Nr. 6 die Polizisten wieder herauskamen — ohne Kurt! Ein lähmender Schreck krallte sich in ihr Gesicht. Wo war — Kurt? Warum hatten sie ihn nicht mitgenommen... wie den Fahnenträger eben? Nein, nein... ! Mit einer Kraftanstrengung, die sie fast schwindlig machte, drängte sie die Vorstellung wieder aus ihrem Gehirn heraus. — Sie hatte ihn auf dem Hof liegen sehen, mit dem Gesicht nach unten...
Menschen liefen an ihr vorbei, rissen sie mit.
Nieder... mit... der... Hungerregierung!"
Mit geschwungenen Knüppeln rannten die Polizisten hinterher. Jemand stürzte hin. Von einem furchtbaren Schlag sackte der erhobene Kopf mit einem hohlen Bumrns wieder auf das Straßenpflaster vornüber. Er blieb liegen.
„Es lebe die Kommunistische Partei!"
Sie schrien, die ganze Gasse schrie und mit ihnen Anna: „... hoch... hoch!" Wenn sie die Polizei auf der einen Seite heruntergetrieben hatte, riefen sie auf der anderen. Über den Köpfen der Polizei schrien sie aus den Fenstern. Vom 2. Stock eines Hauses wurde eine rote Fahne heruntergeschossen, eine Frau riss sie vom Asphalt hoch.
Peng... peng... peng!
Wie weiße, giftige Pocken sahen die kreisrunden Schusslöcher an den grauen Häuserfronten aus.

Das hallende Echo der Schüsse alarmierte die Arbeiter aus der Umgebung. Immer mehr Zuzug bekam die Gasse. Die aus der Stadt kamen, erzählten, dass die Polizei überall mit einer außergewöhnlichen Brutalität gegen die Arbeiter vorgeht. Am Haukeschen Markt hatte sie in den Demonstrationszug der Tabakarbeiter geschossen. Drei Arbeiter blieben liegen — einer war tot. In Kliems Festsälen in der Hasenheide schoss die Polizei am Vormittag in die Rohrlegerversammlung. Eine Frau berichtete, dass zehn Minuten von hier, an der Badstraße, die Schupo mit Polizeihunden die Demonstrationszüge gesprengt hatte. In Neukölln sollen Panzerwagen eingesetzt sein. Straßenbahnwagen sind von den Arbeitern umgestürzt worden... Leute, die aus den Saalveranstaltungen der freien Gewerkschaften, in denen nicht ein Wort des Protestes zu hören gewesen war, gekommen waren, sagten, dass sie schon an den Ausgängen von den prügelnden Polizisten empfangen worden waren. Jeder, der heute in der Stadt eine rote Nelke trug, war Freiwild für die Schupo. Im kleinen Tiergarten in Moabit haben sie gleich auf einen Schlag 40 Zimmerleute, die an einer polizeilich genehmigten Versammlung teilgenommen hatten, verhaftet und mit Autos zum Polizeipräsidium gebracht- —
Polizeiauto auf Polizeiauto rollte in das Kösliner Viertel. Wo sie absprangen und auf die Arbeiter einschlugen, schlossen sich hinter ihnen wieder die Massen zusammen. Am Nettelbeckplatz wurde ein Arbeiter, der etwas gerufen haben sollte, verhaftet. Als das Polizeiauto mit ihm abfuhr, ballte er auf dem Wagen mitten zwischen den Polizeibeamten die Faust und schrie den Arbeitern auf der Straße: „Rot Front" zu. Er war erst still, nachdem sie ihn auf dem fahrenden Auto besinnungslos zusammengeschlagen hatten....
Am Bahnhof Wedding schloss die Polizei Schläuche an die Hydranten und versuchte unter dem Pfeifen, Johlen und Hohngelächter der Massen die Arbeiter mit Wasser auseinander zu sprengen. Mit gellenden Pfuirufen wurden die Polizeiautos, die durch die Straßen rasten, von der erregten Bevölkerung empfangen. Immer wieder bildeten sich neue Demonstrationszüge, die nach einigen hundert Metern auseinandergeschlagen wurden, um sich wenige Minuten später wieder neu zu gruppieren. Die Arbeiter hatten gelernt, den anstürmenden Polizisten auszuweichen und sich keine unnötigen Blößen zu geben.
Bis sich gegen Mittag folgendes ereignete:
Die Polizei hatte den Eingang der Reinickendorfer Straße am Nettelbeckplatz gesäubert. Die Straße war zur Zeit allein von den Polizisten besetzt, die mit offenen Pistolen hin- und herliefen. Nur in der Mitte des leeren Fahrdammes ging ängstlich ein junges Mädchen, das aus einem Geschäft gekommen war. Es hoffte, unter dem Schutz der polizeilichen Abriegelung am sichersten aus der gefährlichen Zone herauszukommen. Von der Ecke der Kösliner Straße aus, wo sich die Arbeiter wieder gesammelt hatten, verfolgten die Bewohner den Weg des jungen Mädchens, das als einzige Zivilistin durch das abgesperrte Straßengebiet ging. Sie sahen, wie ein Polizist plötzlich hinter dem Mädchen herlief.
Erschreckt blickte es sich um und fing an zu rennen, hilflose, kleine zitternde Schritte. Mit ein paar Sätzer hatte es der Polizist erreicht, 65
schrie es an und schlug es im Laufen von hinten über den Kopf. Unter fortwährenden Schlägen lief es über den Dämm auf den Bürgersteig. Nach etwa 20 Schritten konnte es nicht mehr, schwankte und fiel mit dem Rücken an eine Hauswand. Sein Kopf fiel erschöpft auf die Seite. Wieder brüllte es der Polizist an, aber es konnte vor Angst und Schmerzen nicht mehr laufen. Er hob noch einmal den Gummiknüppel und schlug dem Mädchen mit aller Kraft mitten in das vor tödlichem Schreck erstarrte weiße Gesicht. — Ihr Hinterkopf schlug hart an die Mauer, die Hände griffen in die Luft und dann fiel es zusammen...
An der Ecke war die Straße zu Renovierungsarbeiten aufgerissen. Ein Hagel von scharfkantigen Steinen flog im nächsten Augenblick durch die Luft. Der Tschako eines Offiziers lag im Dreck, mitten in das aufreizende Funkeln des silbernen Gardesterns schlug ein Stein.
Der Offizier riss die Pistole hoch: Peng... Peng .., Peng... !
Die Arbeiter zogen sich vor dem Ansturm der Polizisten in die Gasse zurück. Aber diesmal schlossen sie die Haustüren hinter sich. — Wieder knallten die Parabellumpistolen zwischen den Mauern der Gasse. In der menschenleere Straße hingen die Fahnen wie rote Tupfer an den grauen Häuserfronten. Aus unsichtbaren Verstecken und Ecken beobachteten Hunderte von Augenpaaren die wutschäumenden Polizisten, die mit hochgerichteten Pistolenmündungen umherrannten und in die Häuser knallten. Obwohl außer ihnen niemand mehr auf der Straße zu sehen war, schrien sie immer wieder: „Straße frei... es wird geschossen... !"
In dem Haus Nr. 19 ging im 3. Stock das Fenster auf und ein Arbeiter sah ruhig zu den Polizisten herunter. Er lächelte sogar freundlich und rief ihnen zu:
„Hallo! — Gut Freund!"
Vor dem Haus standen zwei Polizisten, die sofort die Pistolen hochrissen und auf den Mann in dem offenen Fensterrahmen anlegten. Der helle Fleck der Stirn stand den Bruchteil einer Sekunde in der geraden Linie zwischen dem zusammengekniffenen Auge, Kimme und Korn — der Finger zog den Abzug durch den Druckpunkt — Peng!
Der erhobene Arm des Arbeiters fiel herunter, der Kopf schlug vornüber auf das Fensterbrett, und dann rutschte der Körper langsam nach hinten weg in die Stube. Das Fenster war leer...
Der eine Polizist starrte nach oben in die dunkle Fensteröffnung, die das Gesicht plötzlich verschluckt hatte. Erschrocken sah er sich um, rief dem neben ihm stehenden Polizisten etwas zu, und beide liefen, ohne sich umzusehen, rasch die Gasse herunter und verschwanden. —
Nach einigen Minuten war die Polizei abgerückt. Die Gasse war wieder leer und unheimlich still...
In dem schräg gegenüber liegenden Haus wurde heftig die Tür aufgestoßen. Kurt rannte über den Damm und verschwand in dem Haus Nr. 19.
Er flog die Treppe herauf. Die Tür stand auf, es waren schon Leute darin. Unter der Fensterbank lag regungslos in einer Blutlache der 52jährige Klempner Max Gemeinhardt, Mitglied der SPD und des Reichsbanners. — Es war totenstill in dem Zimmer. Über das weiße Fensterbrett zog sich ein heller dünner Blutstreifen, in dem eine Fliege herumkroch...
Jemand zog Kurt leise am Ärmel aus der Stube, es war die Frau, die nebenan wohnte. Auf dem Flur flüsterte sie: „Kurt... has'te... auch gesehn... wer det war... der geschossen hat?"
Zum erstenmal zitterte Kurt heute. Er stand in dem dunklen Flur an die Wand gelehnt. Es schien, als wenn sich sein Gehirn vorläufig noch weigerte, das Entsetzliche aufzunehmen. Endlich stieß er heiser hervor:
„Ick hab' ihn jeseh'n... und hab ihn ooch erkannt... Mutter Hübner... det war Mord!"
Der Polizeiwachtmeister Haberstroh von der Uferwache und ein anderer junger Kollege bekamen 10 Minuten später vom Bezirkskommandeur den sofortigen Versetzungsbefehl Der Wachtmeister Haberstroh hat von dieser Minute an die Wohnung seines Vaters, Kösliner Straße 3, wo er sonst auch schlief, nicht mehr betreten. — Der Polizeiwachtmeister Haberstroh und sein Vater gehörten gleichfalls der SPD. an.

 

 

 

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