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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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X. Stoßtrupp G

Aus dem verdunkelten Hausflur der Revierwache 95 tauchten runde, stumpfglänzende Stahlhelme auf Zwanzig, dreißig... Der tiefe Eisenrand verdeckte fast die jungen Gesichter darunter.
Ein glimmender Zigarettenstummel [log auf die Erde, der Wind pustete Funken in die undurchdringliche Finsternis, die die Mannschaften empfing. Karabiner und Koppelzeug klapperten leise Eine gerade Schattenlinie, nur durch das Blinken der Uniformknöpfe unterbrochen, zog sich fast lautlos, dicht an den Häusern bis zur Brücke hin. Hinter dem stumpfen Winkel der Ecke begann die Wiesenstraße. Sie blieben stehen. — Eine untersetzte Gestalt, in eng anliegender Uniform, löste sich von der Wand und trat geräuschlos! ein paar Schritte vor.
Leer und dunkel lag der breite Damm der Wiesenstraße vor dem Offizier. Auf der linken Seite, etwa in der Mitte der Straße, war ein dunkles Loch — die Gasse! Nur auf dem unteren Rand bewegten sich kleine, winzige Lichter, deren dürftiger Schein schon in Armlänge von der Finsternis aufgesaugt wurde. Ab und zu trug der Wind ein dumpfes Gepolter herüber. Unter dem Stahlhelmrand suchten die Augen mit einem Nachtglas Häuser und Dachkanten ab. Umsonst, Himmel und Häuser waren eine glatte, undurchdringliche Wand.
Hinter ihm war es lautlos still. Die Mannschaften standen tief in die Schatten der Tornischen und Häuser gedrückt. Die schweigende Finsternis war unheimlich. Diese Leere der Straßen, die schwarzen Fensterlöcher, bei denen man nicht einmal genau sehen konnte, ob sie offen oder geschlossen waren, — die Höfe und Hinterhäuser der Gasse, die hinter der Brücke in den Schatten vergraben lagen...
Zum erstenmal hingen an ihren Koppeln scharfe Handgranaten, bei jeder Bewegung fühlten sie die Holzstiele an ihrem Bauch-------.
Der Offizier kam zurück. Einige kurze, geflüsterte Kommandos. Mit einem leisen, metallenem Knacken wurden die Karabiner entsichert.
„Ausschwärmen!"
Die fünf Ersten hatten die Karabiner an dem Lederriemen um den Hals gehängt. Der Fünfte links war Wachtmeister Schlopsnies. — Die sonst so ruhigen Hände des jungen Polizisten zitterten, als er den Blechdeckel vom Stiel der Handgranate schraubte, um sie zu entsichern. Die kleine Porzellankugel an der Schnur, durch die die Granate zur Explosion gebracht wird, fiel heraus und pendelte zwischen seinen unruhigen Fingern hin und her. Er zitterte so heftig, dass er sich fürchtete, sie zu berühren... sein ganzer Körper flog. Jemand stieß ihn in der Dunkelheit versehentlich an. Erschrocken zuckte er zusammen. Ein Ladestreifen fiel mit lautem Geklapper auf das Asphalt. Der Offizier unterdrückte zischend vor Wut einen Fluch. In dem dunklen Loch auf der linken Seite der Straße verloschen plötzlich die Lichter. „Mist verdammter... da haben wir die Sauerei ... !" Der Offizier riss die Pistole heraus. Seine hohe, 6charfe Stimme zerschnitt die Stille.
„Feuer...!!"
BrÄ... ck — eine Karabinersalve peitschte in das Loch.
" Sturm... m... marsch... maaarsch!!"
Schreiend rannten sie mit aufgerissenem Mund mitten hinein in die schwarze Wand „Hö... hööö . . Fen... ster zu... !"
Schlopsnies riss an der Schnur — sein Helmrand stieß gegen jemand — er stolperte, brüllte vor Angst — die Handgranate glitt aus seinen Fingern — er lief ohne Besinnung weiter. Einige Meter hinter ihm zerriss die krepierende Granate krachend das Pflaster. Dreck und Steinsplitter überschütteten ihn — —.
Vor dem Eingang der Gasse flammten die gellenden Detonationen der Handgranaten. Die Gasse, die Wände, die Dächer, die ganze unheimliche Nacht waren auf einmal lebendig geworden. Von oben knallten Steine auf den Damm, Mündungsfeuer zuckte. Dicht vor Schlopsnies haute ein schwerer, eiserner Gegenstand hin, der Luftdruck hatte ihn gestreift. Er riss das Gesicht nach oben, der verfluchte Helm , . .! Man sah und hörte nichts unter dem Ding. Vielleicht schmeißen sie was von den Dächern? Um Deckung zu suchen, rannte er dicht an die Häuser heran. — Aus dem dunklen Loch der Gasse gellte ein langgezogener, aufheulender Schrei ... Peng...
peng... tak-tak-ak-tak---------------, die Maschinengewehrpistolen
zerhämmerten das Brüllen des Menschen. Einmal hörte er deutlich die Stimme des Offiziers weit weg. Schlopsnies sah niemand mehr. Die Angst würgte ihm den Hals zu, er war — allein, allein in dieser Hölle, die die Gasse ausspie. Sinnlos knallte er in die Fenster der gegenüberliegenden Häuser. Ein Schatten rannte dicht an ihm vorbei — zurück?!
Mit einem hohlen Aufschlag krachte ein großes Holzstück von oben auf das Pflaster, ausgespuckt von der Nacht. Wieder liefen welche an ihm vorüber. Polizisten? — Rote? Er schrie hinterher, niemand hörte es. Seine Füße blieben stehen, er konnte nicht rennen... , in den Ohren brüllten Schüsse und Detonationen. Ein Stein schlug gegen seinen Helm und prallte springend ab. „Hööö... Hö... Haaaalt!" schrie er los. Er rannte stolpernd im Zickzack über den Damm. — „Ich habe eine Kugel im Kopf... mitten im Kopf... alles ist kaputt... es ist aus...!"
An der Brücke tönte zweimal kurz hintereinander die Signalpfeife des Offiziers. In kurzen, schnellen Sprüngen liefen die Mannschaften zurück und sammelten sich hinter der Straßenecke. Der Vorstoß war missglückt!
Die Menschen auf der dunklen, engen Treppe machten schnell Platz, als sie jemand herauftrugen. Eine junge Frau beleuchtete mit einer Taschenlampe die Stufen. Einer hatte dem Verwundeten von vorn unter die Arme gegriffen und zwei hielten unten die herabhängenden Füße,
„Aah... a ah... . ech... !"
Das leise Wimmern und Stöhnen drang durch das ganze Treppenhaus. Auf dem ersten Absatz stand Hermann und stieß die Tür zu seiner Wohnung auf. Es lagen schon mehr da...
Einen Augenblick glitt das Licht der Lampe über die stummen, erschrockenen Gesichter der Frauen, die herumstanden.
„Der kleene Otto... ", sagte eine halblaut, nach dem sich die Tür hinter den Trägern geschlossen hatte. —
Hermann schob rasch den Tisch in die Stube unter die Lampe. Vorsichtig setzten sie ihn auf der Platte ab. Einer legte ein Kissen unter den Kopf. Jetzt konnte man es erst richtig sehen: Das eine Hosenbein war unten ein einziger Blutlappen — —.
Dum-Dum-Geschoss, dachte Hermann und biss die Zähne zusammen. Das Fußgelenk war vollkommen zerschossen! Er riss aus dem Schrank ein paar Leinentücher heraus, das Verbandszeug war längst verbraucht. — Während sie versuchten, so gut es ging den Brei von Blut, Fleischfetzen und Knochensplittern zu verbinden, lagen die Hände der jungen Frau, die mit heraufgekommen war, um das kalkweiße, schmutzige Gesicht Ottos. Einmal bog sie ihre Hände zurück, sie zitterten zu sehr. —
Niemand kannte die junge Arbeiterin, sie war nicht aus der Gasse. Aber Hermann erinnerte sich, dass er sie ein paar mal gesehen hatte, wie sie in dieser Nacht versuchte, bei den Kindern und später bei den Verwundeten zu helfen. Kurt erzählte nachher, dass es die junge, sozialdemokratische Tabackarbeiterin von Manoli gewesen war, die er auf dem Nettelbeckplatz im Gespräch mit einer Jugendgenossin getroffen hatte...
Kurz vor 4 Uhr kam der entscheidende Überfall. Acht geschlossene Autotaxen fuhren dicht hintereinander in scharfem Tempo dicht an die Barrikade heran. Die Posten am Nettelbeckplatz hatten die Taxen im guten Glauben ungehindert passieren lassen.
Noch ehe die Arbeiter an der Barrikade Deckung nehmen konnten, sprangen in Zivil gekleidete Polizeibeamte aus den Wagen und eröffneten ein wütendes Schnellfeuer in die Gasse. Mit auf den Mann gerichteten, entsicherten Pistolen, zwangen sie die dreizehn Arbeiter, die ihnen in die Hände gefallen waren, die Barrikade abzubrechen. Die Verhafteten benutzten sie als Kugeldeckung gegen die Angriffe aus der Gasse.
Bei dem ersten Angriff hatte Kurt wenigstens noch ein kleinkalibriges Terzerol besessen — in seiner breiten, schweren Hand mehr ein Spielzeug wie eine Waffe. Immerhin hatte er das Gefühl gehabt, nicht völlig hilflos dazustehen. Als er jetzt in die Tasche griff, stellte er mit Entsetzen fest, dass er das kleine Ding vorhin beim Balkenschleppen verloren hatte. An Ersatz war nicht zu denken. Alles Fluchen half nichts. Also wenigstens so tun, als ob . . die Bande kriegt ja schon Angst, wenn es bloß knallt. Mitten auf den leeren, dunklen Damm kniete er sich, holte die Terzerol-Zündhütchen aus der Tasche und legte eins nach dem anderen sorgfältig vor sich auf einen ausgerissenen Pflasterstein.
Peng... es krachte ganz schön! Der Nächste — peng... ! Mit der Zeit bekam er Übung darin, das Zündhütchen mit einem kleinen Stein in der Faust zur Explosion zu bringen. Drei, vier von den kleinen Kupferdingern legte er nebeneinander... krach! Das hörte sich schon eher nach etwas an.
Sssss... t pffffi... ff klatsch! Dicht um seinen Kopf pfiffen die Kugeln der Polizisten, die das Aufblitzen seiner Zündhütchen für Mündungsfeuer hielten und wütend darauf los knallten. Links und rechts spritzte das Blei in das Pflaster. — Kurt saß als einzigster mitten in der Gasse und schlug Zündhütchen kaputt. Wie auf dem Rummelplatz: Haut dem Lukas! Je mehr die schossen, desto wilder wurde er. Die Gasse war ein derart schwarzes Loch, dass ihn nur ein Zufall treffen konnte. Er merkte nicht, dass er an beiden Händen schwarz gebrannte Wunden hatte. Er merkte überhaupt weiter nichts, als dass es knallte, wenn er traf, Knallen war die Hauptsache, solange es knallt, kommen die Kerle nicht herein in die Gasse. Wenn sich die Polizei jetzt schon da vorne festsetzt, war alles aus, kein Mensch kam mehr aus dieser verdammten Mausefalle... !
Nach 15 Minuten zog sich die Polizei mit den Gefangenen von der halbzerstörten Barrikade zurück, aber nur soweit, dass sie von den umliegenden Häusern der Wiesenstraße auch den Eingang der Gasse unter Feuer halten konnte. Auf jeden Schatten, der sich hinter der Barrikade bewegte, hämmerten die Maschinengewehrpistolen. —
Durch den hinterlistigen Autoüberfall war die wichtigste Position der Arbeiter ohne Widerstand verloren gegangen.

In dem finsteren Hausflur tastete sich Kurt mit der Hand an den Wänden zur Treppe hin. Plötzlich griff er in das warme, weiche Gesicht eines Mädchens, das sich unter seiner Hand zurückbog. Die unerwartete Berührung wirkte auf beide, wie eine fremde, feindliche Empfindung. Mitten in der kalten Einsamkeit war da auf einmal die warme, körperliche Nähe eines Menschen... irgend eines, der für den Bruchteil einer Sekunde alles verwandelte in eine flüchtige Traurigkeit, die zugleich wach und klarsichtig machte.
In diesem Augenblick sah Kurt die kommenden Ereignisse des Morgens zum erstenmal ruhig und selbstverständlich vor sich. Er war zu sehr mitten darin gewesen, um im Kampf etwas anderes zu wünschen als ein Maschinengewehr mit einem unendlichen Patronengurt. Die Beziehung zu dem politischen Ausgangspunkt dieser Vorgänge hatte er schon lange verloren. Aber jetzt kam alles wieder — und diesmal mit unerbittlicher Schärfe...
Seit einer Viertelstunde war alles stehen geblieben. Die Gasse draußen lag still und regungslos im Dunkeln. Kein Schritt war zu hören, keine Türe knarrte. Stumm und unsichtbar lauerten irgendwo Gesichter; auf Treppen und Fluren standen Menschen im Finstern — und warteten. Es war, als wenn ein Mensch plötzlich den Atem anhält aus Furcht, den dünnen Ton eines winzigen Geräusches zu überhören. Aber alles bleibt stumm, unerträglich stumm... Wenn, sie doch wenigstens draußen wieder schießen möchten... !
„Sie werden erst kommen, wenn es hell ist", sagte das Mädchen ruhig und lehnte sich wieder an die Wand.
„Ja, dann natürlich... "
Kurt stand noch immer vor ihr, ohne dass sie sich sehen konnten. Es war gut, diese ruhige, etwas tiefe Stimme zu hören. Einen Moment hatte er sich eingebildet, es könnte Anna sein, die er berührt hatte. Wer weiß, wo sie jetzt war I Merkwürdig, dass es ihm in diesem Augenblick ziemlich egal blieb. Vielleicht hätte er sich mehr beunruhigt, wenn sie noch in der Gasse gewesen wäre. Für die, die draußen waren, war alles erledigt... so oder so. Übrigens musste er die Stimme des Mädchens schon einmal gehört haben! Er war zu müde, um darüber nachzudenken, es war ja auch schließlich ganz gleichgültig
Oben auf dem Treppenabsatz schlug eine Tür, Stimmen sprachen halblaut durcheinander und dann kamen langsame, vorsichtige Schritte die Treppe herunter, als wenn sie einen tragen.
„Das wird Otto sein", sagte das Mädchen, „seine Mutter weiß es noch gar nicht... wir haben ihr gesagt, dass Otto als Kurier fortgeschickt wurde."
Ü ber den Treppenflur flackerte der Schein einer Taschenlampe und kurz darauf bogen sie mit einer Tragbahre um die Ecke. — Als sie über den Hof nach dem hinteren Durchgang zur Panke gingen, öffnete sich an der dunklen Hausfront ein Fenster. Jemand beugte sich hinaus und. schloss es wieder, da nichts zu erkennen war. Die kleine Truppe mit dem Verwundeten verschwand lautlos zwischen den Höfen und Hinterhäusern. Diese Transporte gingen schon die ganze Nacht hindurch.
„Sieh zu, ob du auch dahinten wegkommst", sagte Kurt zu dem Mädchen. Er bekam keine Antwort mehr — sie war fort. Merkwürdig, dass er nicht einmal wusste, mit wem er gesprochen hatte...

 

 

 

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