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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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V. Die 145. Straßenzelle

8 Uhr. Allmählich kam einer nach dem anderen durch die Tür, und ging nach hinten in den kleinen Saal. Es waren fast alles ältere Arbeiter und Frauen, in schlechter, abgetragener Kleidung Alle kannten und begrüßten sich mit einem gutmütigen Scherzwort, fragten nach diesem und jenen, nach der Arbeitsstelle, nach dem kranken Kind, nach dem Verlauf der Exmission von heute vormittag usw. Jeder wusste hier Bescheid über die Sorgen des anderen —
Die Tür ging wieder auf. „Rot Front!" Hermann kam mit einem Stoß Flugblätter unter dem Arm herein.
„Na —, Hermann . ., wat gibt's Neues... ?"
Seit Tagen hörte er diese Frage, die nicht so gewohnheitsmäßig hingesagt wurde. — Es lag zuviel in diesen Tagen in der Luft! Auf den Arbeitsnachweisen, in den Betrieben, auf den Straßen, in der Stadtbahn, in den Einkaufsläden, überall wurden unkontrollierbare
Gerüchte ausgestreut. Provokateure? — Freunde? — Feinde?------,
wer soll das immer wissen! Reichswehr soll Mittwoch eingesetzt werden ,.. der Polizeipräsident hat einen besonderen Schießerlass herausgegeben... das Verbot wird bis zum 1. Mai bestimmt aufgehoben... Reichsbanner und Stahlhelm sind in Polizeiuniform gesteckt worden usw.... Die bürgerlichen Zeitungen, „Tempo", „Nachtausgabe", der „Vorwärts" bombardierten Berlin mit Hetzüberschriften. Was ist Wahrheit — was gelogen?!
Hermann legte seine Flugblätter ruhig auf den Tisch. „Genossen
— , nicht so nervös werden!-------Viel Neues gibt's. Das Allerneueste
ist. dass Brolat seinen Verkehrsarbeitern verboten hat, den 1. Mai zu feiern!"
„Wa... ?!"
„Det is nich wahr!"
„Na, wenn es der Abend-„Vorwärts" selbst schreibt, wird et ja woll stimmen", antwortete Hermann trocken.
„Dieser Lump... pfui Deibel... , und der will bei uns an'n Wedding Bürgermeister werden... ?!"
Im Augenblick war das Lokal von einer erregten Diskussion erfüllt. Also so sollte das gemacht werden! Und was würden die Verkehrsarbeiter dazu sagen... ? Seit wann ließ sich die Arbeiterschaft vorschreiben, ob sie den 1. Mai feiert oder nicht, und noch dazu von einem sozialdemokratischen Direktor... Teufel, ein feiner Sozi ist das! — Wozu sitzen die SPD.-Bonzen als Direktoren in den städtischen Betrieben! Eine Arbeitsruhe der Verkehrsarbeiter würde einen dicken Strich durch die Rechnung machen, also muss Brolat heran, um mit Hilfe der Gewerkschaftsbürokratie gegen den Beschluss der Belegschaft die Verkehrsruhe am 1. Mai zu verhindern. Das begriff ja der Dümmste!-------
Einige von den Jugendlichen kamen wieder zurück in das Lokal. Die Nazis waren getürmt. Fritz drängte sich durch, ganz rot war sein Gesicht vor Aufregung. Hermann begrüßte ihn gutmütig, er kannte den kleinen, eifrigen Genossen schon, der öfter zu ihm kam, wenn er mit einer Sache allein nicht fertig werden konnte.
„Tach —, Genosse Hermann , . ., also wie is es, denkst du nich ooch, det det Demonstrationsverbot noch uffgehoben werden wird?... Otto hat eine sozialdemokratische Zeitung, in der se mächtig wütend auf ihren Genossen Zörgiebel sind." Dicht hinter ihm tauchte Grete auf.
„Ach du Dummkopf", lachte Hermann und in seinen grauen Augen saß der Spott, „... pass nur auf, am Mittwoch wird der Herr Polizeipräsident mit einer roten Nelke am Zylinder spazieren geh'n und die „Internationale" pfeifen."
Fritz stand ganz verdutzt zwischen den lachenden Arbeitern. Plötzlich schob ihn Grete von hinten beiseite und stellte sich mit wütendem Gesicht dicht vor Hermann.
„Um eine so blöde Antwort zu bekommen, brauchten wir nich dich zu fragen... willst ein politischer Funktionär sein und redest mit einem Jugendgenossen wie ein Grasaffe... nachher schimpft ihr auf die Jugend, dass sie nich genug politische Arbeit leistet... wenn man euch aber mal was fragt, macht ihr bloß dumme Witze... !"
Sie drehte sich um, ließ den verblüfften Hermann stehen und zog Fritz mit aus dem Lokal.
Mach dir nichts draus, Fritze... , Hermann wird sich det schon gemerkt haben, wat ick ihm sagte."
Auf der Straße hörten sie noch, wie Hermann ihnen nachrief. Hol dich der Teufel!, dachten beide und gingen über den regenglänzenden, dunklen Damm nach "Hause.

In dem kleinen Saal der „Roten Nachtigall" wurde es sofort still, als Hermann mit dem Beistift an das Glas klopfte. Alle wussten, es würden heute wichtige Dinge besprochen werden.
Neben dem Zellenleiter saß vorne am Tisch ein junger, unbekannter, etwa dreißigjähriger Mensch, der ruhig in die Gesichter der vor ihm sitzenden Arbeiter blickte. Die Bezirksleitung hatte einen Referenten geschickt.
An der Wand über dem Tische hingen drei große Bilder von Lenin, Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die Bilder von Karl und Rosa hatte ein junger Genosse mit Kohle gezeichnet. Auf einer kleinen Bühne standen die Schränke und Kästen der Arbeitervereine. Als merkwürdiger Gegensatz zu dem sachlichen Ernst der Versammlung wirkten die bunten, verstaubten Girlanden aus verblichenem Seidenpapier, die unter der angeschwärzten Decke quer durch den kleinen Saal gespannt waren. Über dem Klavier hing ein mit Tinte beschriebenes Pappschild:
Sonntag abend Tanz Eintritt frei!
In dem Raum saßen jetzt etwa 45 Männer und Frauen. Die Straßenzelle des Kösliner Viertels. Einige Männer, fast alle noch in Arbeitskleidung, hatten neben sich einen Rucksack mit Handwerkszeug liegen. Alles stille, farblose Gesichter, denen die jahrelange schwere Arbeit und die täglichen Sorgen etwas Müdes, Gemeinsames gegeben haben, die Uniform der Unterdrückten.
Hermann stand auf: „Genossen, die Mitgliederversammlung ist eröffnet... auf der Tagesordnung steht: 1. Die Gewerkschaften und der 1. Mai, 2. Vorbereitungsarbeiten zum 1. Mai. Bevor ich dem Genossen Referenten das Wort gebe, mache ich darauf aufmerksam, dass die Funktionäre und Unterkassierer noch nach Schluss einen Augenblick hier bleiben müssen. Es darf niemand vorher weggehen. Ich erteile dem Genossen Referenten das Wort."
Die Gesichter richteten sich auf den jungen Genossen, der sich erhoben hatte. Seine rechte Hand lag über einigen beschriebenen Zetteln und Zeitungsausschnitten auf dem Tisch.
„Genossen... , ich werde kurz sprechen, damit wir nachher eine ausführliche Diskussion machen können."
Er sprach klar und ruhig. Jedes Wort war zu verstehen. Er beugte sich ein wenig nach vorn, wie um den schweigenden Arbeitern vor ihm näher zu kommen. Mit der einen Hand schob er an dem vernickelten Brillenbügel — eine typische Bewegung, die er später häufig wiederholte — und fuhr fort:
„Wenn wir uns die letzten Wochen ansehen, so zeigten sich, deutlicher als in den letzten Jahren, in voller Schärfe die zwei unversöhnlichen Klassenfronten. Die Betriebsrätewahlen im Frühjahr dieses Jahres gaben die Einleitung; sie waren in ganz Deutschland ein unbestreitbarer Sieg der Kommunistischen Partei, der Revolutionären Gewerkschaftsopposition. In allen Großbetrieben, den Gruben und Hütten des Ruhrgebiets, bei Siemens, der AEG in der Berliner Verkehrs-AG., im Leunawerk, in den Chemiehöllen des I. G. Farbentrusts, ebenso auf den großen Werften... Blohm & Voß in Hamburg, der Germania-Werft in Kiel usw., überall hatten wir einen entscheidenden Sieg und die Reformisten eine entscheidende Niederlage "
Er machte eine kleine Pause und sah nach der Tür, durch die jemand geräuschvoll hereingekommen war. Alles drehte sich um. Eine kurze Unruhe entstand. Dann sprach er weiter; „Genossen, von diesen Betriebsrätewahlen bis zum Demonstrations- und Maiverbot geht eine gerade Linie." Mit der flachen Hand zog er eine Luftlinie. „Ausnahmsweise traf eine bürgerliche Zeitung einmal den Nagel auf den Kopf, wenn sie in diesen Tagen schrieb: die „Rote Fahne" hat einigermaßen Recht, wenn sie die höllische Angst für die Mutter der Courage des „Genossen" Zörgiebel hält —!"
„Richtig... det stimmt!", rief eine Arbeiterfrau laut aus der hintersten Reihe. Als sich einige umdrehten, zog sie mit einer verlegenen Bewegung ihr Umschlagtuch zusammen. „Na ja... !" sagte sie halblaut und rückte auf ihrem Stuhl. Hermann klopfte leise an das Glas.
„In diesem Zusammenhang muss man sehen, welche Rolle die Gewerkschaftsführer heute in der Front der Arbeitergegner spielen. Nachdem im Jahre 1889 der Internationale Arbeiterkongress zu Paris den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterklasse zu feieren beschlossen hatte, sind als erste die Berliner Gewerkschaften darangegangen, die Propaganda für die Maifeier des Jahres 1890 zu entfalten. Ende März erschien in der „Volkstribühne" und im „Volksblatt" ein von den verschiedensten Gewerkschaftsbranchen unterzeichneter Aufruf unter dem Titel: „Was soll am i. Mai geschehen?" — In allen Industriestädten wollte man den 1. Mai als Feiertag der Arbeiterschaft unter der Losung: Kampf für den Achtstundentag, durch Arbeitsruhe und Straßendemonstration aller Arbeiter begehen. — Trotz schwerer Kämpfe haben sich seitdem die Arbeiter Jahr für Jahr für das Maifest eingesetzt.
Gleich die erste Maifeier zog einen harten Kampf in der Berliner Metallindustrie nach sich. Sämtliche Former wurden ausgesperrt. Sie stellten Gegenforderungen auf: Verkürzte Arbeitszeit und Minimallöhne. 18% kam es zu einem sechsundzwanzigwöchigen Gewerkschaftskampf gegen die Unternehmer, anlässlich des 1. Mai. Zwei Jahre vorher hatten am 1. Mai die Berliner Gewerkschaften zur Durchsetzung ihrer Forderungen den bekannten Bierboykott erklärt usw. — Ihr seht, Genossen, immer war damals noch der
1. Mai besonders in Berlin, für die Gewerkschaften ein Kampf- und Feiertag."
Er machte wieder eine kurze Pause, trat einen Schritt zurück, und hob die Stimme. „Aber schon im Jahre 1903 sagte der euch ja zur Genüge bekannte Cohen auf dem 6. Metallarbeiterkongress zu Berlin offen, dass man einmal „mit der ganzen Maifeier gründlich aufräumen müsse." Zwei Jahre später trat Theodor Leipart in den Sozialistischen Monatsschriften" gegen den 1. Mai auf. In der darauf folgenden jahrelangen Diskussion erklärten sich die rechten reformistischen Gewerkschaftsführer immer offener gegen die Arbeitsruhe am 1. Mai. Oft genug nahm Rosa Luxemburg in ihrem erbitterten Kampf gegen den Revisionismus in der Sozialdemokratischen Partei den 1. Mai zum Anlass, um die verhängnisvolle reformistische Schwenkung der Gewerkschaftsführung aufzuzeigen. Es war kein Zufall, dass zeitlich diese Auseinandersetzungen innerhalb der Partei mit der scharf umkämpften Frage des Generalstreiks zusammenfielen. Hier trennten sich schon die Fronten, die sich, nachdem das Proletariat vierundreißigmal den 1. Mai als Kampftag gefeiert hatte, am 1. Mai 1916, als Karl Liebknecht auf dem Potsdamer Platz in Berlin sein: „Nieder mit dem Krieg — Völker der Erde erhebt euch... !" in den imperialistischen Kriegswahnsinn schleuderte, als unversöhnliche Gegner im Weltkrieg gegenüberstanden."
Der Redner nahm das auf dem Tisch stehende Wasserglas und trank. Jetzt hatte er den Kontakt mit den Arbeitern gefunden. Aufmerksam saßen sie vor ihm, das verstanden sie alle. Ja — so war es gewesen, so hat sich das also entwickelt.
„Nach dem Kriege, Genossen, wurde die Maifeier zu einer Selbstverständlichkeit. Sollten sich etwa die Arbeiter in einer Republik nehmen lassen, was sie unter einem Kaiser durchgesetzt hatten?! — Aber was zeigte sich jetzt? Die SPD. hatte sich zu einem wichtigen Teil des Machtapparates dieser kapitalistischen Republik entwickelt. Wie sofort zu Beginn der politischen Umwälzungen in Deutschland die SPD. mit Noske und der Schwarzen Reichswehr die Arbeiterschaft blutig niederschlug, so übernahm auch in der Epoche des Aufbaus der deutschen Industrie die SPD. die Büttelrolle zur Niederhaltung der werktätigen Massen, auf deren Kosten nur eine Befestigung der Unternehmerpositionen möglich war. Wenn wir uns die gesamte Nachkriegsentwicklung betrachten, so wird auch jeder sozialdemokratische Arbeiter zugeben müssen, dass die Kapitalisten in jeder entscheidenden Situation es der SPD, überlassen haben, „Ruhe und Ordnung" wieder herzustellen und die wenigen wichtigen Errungenschaften der Arbeiterschaft auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet abzubauen. Denken wir nur dabei an Eberts Ermächtigungsgesetz, das den achtstündigen Arbeitstag praktisch beseitigte. Ebert hat für das deutsche Kapital mehr getan, als jeder Vorknegskaiser: Er hat ihre Existenz gerettet! Und dann — wählten sie einen Hindenburg. —
In diesen Jahren waren die Gewerkschaften zu großen Massenorganisationen geworden, die vollkommen unter der Führung der sozialdemokratischen-reformistischen Bürokratie standen. Die Gewerkschaften waren das Werkzeug der SPD., die in der Regierung einer kapitalistischen Republik, für die Existenz des Kapitalismus die Verantwortung übernommen hatte. Führer der erbittertsten Feinde der Arbeiterklasse! — Der Kapitalismus beurlaubte die SPD. gewissermaßen aus ihrem Dienerzimmer in die gute Regierungsstube, in der sie heute sitzen, bis sie das Kapital wieder zurückschicken wird, weil auch eine Scheinopposition der SPD-Führer außerhalb der Regierung die beste Garantie für die Durchführung des Kapitaldiktats ist. Niemals kann und wird die SPD. wieder eine Arbeiterpartei werden können, weil die Führer und über ein Drittel ihrer Mitglieder durch ihre hohen Einkünfte und ihre Posten im Staatsund Verwaltungsapparat der kapitalistischen Gesellschaft materiell fest gebunden sind. Ihre Existenz verpflichtet sie, die Hunger- und Lohnabbaupolitik der Unternehmer durchzuführen. Es ist klar, wie wichtig hierbei die Rolle der reformistischen Gewerkschaften ist.
Vor uns liegt ein solches Schanddokument dieser Zusammenarbeit zwischen SPD. und Gewerkschaftsführung gegen die Arbeiterschaft."
Er nahm einen mit Schreibmaschinenschrift bedeckten Bogen vom Tisch und hielt ihn hoch. „Dieses Schreiben hat der ADGB. an sämtliche Ortsgruppenleitungen, soweit sie sozialdemokratisch sind, gesandt:
„Die kommunistische Presse, insbesondere die „Rote Fahne", versucht in der letzten Zeit, aus dem Ergebnis der Betriebsrätewahlen Kapital zu schlagen und rühmt sich ihrer Erfolge, vor allem in den Großbetrieben... Die sozialdemokratische Presse ist an den Bundesvorstand mit der Bitte herangetreten, ihr mit Hilfe der Verbände stichhaltiges — (einige Arbeiter lachten ironisch) — Material zur Verfügung zu stellen, das sie gegen die kommunistische Presse ausnutzen kann... "
Er legte den Brief wieder hin und sah hoch.
„Pfui Teufel... !" rief Kurt erregt.
„Schurken verdammte!"
„Seht doch... diese Schweine!... Dafür zahlen wir unsere Beiträge!"
„Und dann schreien sie... die Kommunisten wollen spalten!"
Es dauerte eine Weile, bis sich der Referent wieder verständlich machen konnte.
„Genossen, das sind heute die „freien" Gewerkschaften!"
„Nicht einen Pfennig sollte man diesen Lumpen mehr zahlen... " rief die Frau mit dem Umschlagtuch.
„Nein, Genossen, das ist bestimmt nicht richtig", antwortete der Referent auf den Zwischenruf. „Damit würden wir nur erreichen, dass sie vollkommen ungestört mit unserem Geld machen könnet}, was sie wollen."
„Sehr richtig... !"
„Wollt ihr die Millionen Kollegen, die noch nicht klar die arbeiterfeindliche Rolle der Gewerkschaftsbürokratie erkannt haben, einfach im Stich lassen und diesen Kerlen in die Hände geben... ? Nein, umgekehrt, Genossen —, gerade jetzt vor dem 1. Mai müssen wir den sozialdemokratischen und parteilosen Kollegen und Kolleginnen in den Branchenversammlungen, im Betrieb, auf der Straße, in der Bahn, in den Einkaufsstellen usw. klar machen, warum jetzt dieselben Berliner Gewerkschaften zum 1. Mai einen Aufruf erlassen, in dem sie die Stirn haben zu sagen: „Unverantwortliche Stellen fordern zur Demonstration auf. Kein freier Gewerkschafter nimmt an diesen Demonstrationen teil... !"
„So sehen die aus... !"
„Einen Dreck werden wir denen!"
Die Zurückhaltung, die bei jedem Vortrag zunächst auf der Versammlung liegt, war verschwunden. Jetzt waren sie warm geworden, alles redete durcheinander. Am Ausgang bildete sich sogar eine richtige Diskussionsgruppe, die den Referenten überhaupt vergessen
hatte. —
Hermann klopfte energisch mit dem Bleistift an das Glas. „Genossen — so geht doch det nich... ich bitte um Ruhe, bis der Referent fertig is... nachher könnt ihr euch ja zur Diskussion melden!"
Einige lachten — dann wurde es wieder still.
„Genossen, ich will zum Schluss kommen. Im vergangenen Jahr haben die Gewerkschaftsführer und die SPD. bei der Maidemonstration auf der Treptower Wiese gesehen, dass die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition mit ihren Losungen und ihrem Elan das Gesicht der Demonstration beherrscht hat. Aus einer zahmen Kundgebung war durch unseren Einfluss und die Arbeiterschaft, die hinter uns steht, eine politisch-revolutionäre Kampfaktion geworden. Genau so würde in diesem Jahre eine Maidemonstration in den Straßen Berlins beweisen, wie gering der Einfluss der Reformisten auf die Klassenbewusste Arbeiterschaft ist, es würde ein Kampftag unter den roten Fahnen der Kommunistischen Partei werden. Eine solche mächtige Kundgebung, die sich natürlich auch in erster Linie gegen den Verelendungskurs der sozialdemokratischen Koalitionsregierung richten würde, kann aber die SPD. nicht gebrauchen. Aus Angst davor haben sie ihren Genossen Polizeipräsidenten beauftragt, die Maidemonstration zu verbieten. Aber Genossen... ", er hob seine Stimme und rief laut: „wir ließen uns als Berliner Arbeiter von keinem Wilhelm und wir werden uns von keinem Zörgiebel die Straße verbieten lassen."
„Bravo!"
„Richtig... !"
„Ich wiederhole... wir werden am Mittwoch auf die Straße gehen. Unbewaffnet werden wir uns unter den Augen einer von unseren Groschen bis an die Zähne bewaffneten Polizei, die unter der Führung eines Sozialdemokraten steht, die Straße erobern... "
„Jawohl... det werden wir... !"
Der Arm des Referenten streckte sich wie zu einer beschwörenden Anklage über die Köpfe der Arbeiter: „Genossen... , wenn die SPD. im „Vorwärts" in einer Front mit den reaktionären Zeitungen mit ihren maßlosen Lügen und Verleumdungen über die angeblich von der KPD. „gewollten" Todesopfer den Blutschatten eines Noske, eines Bielefelder Severing an die grauen Hausfronten der Berliner Arbeiterviertel malt, so wird — wie in Sowjetrussland — einmal die Geschichte der Revolution über diese mit rotem Arbeiterblut besudelten Schergen das Gericht der Vergeltung halten... ! Genossen, vergesst nicht, dass es auch ein 1. Mai war, als 1919 im Auftrage und unter Führung einer sozialdemokratischen Regierung die weißen Garden des Faschismus in München zur blutigen Niederschlagung der Räteregierung einmarschierten!! — Keine Provokation wird uns davon abhalten, die Arbeiterschaft zur Kampfdemonstration am 1. Mai auf die Straße zu rufen und unsere Pflicht als Führerin des revolutionären Proletariats zu erfüllen... !"
„Bravo... die Kösliner Ritze wird schon da sein... !"
Die Spannung hatte sich gelost. Erregte Worte schwirrten durch den von Tabakdunst fast undurchsichtig gewordenen Raum. —
Hermann erhob sich. „Genossen... , ihr habt das Referat des Genossen gehört. Wir kommen zur Diskussion... wer wünscht das Wort?"
Er sah in die Versammlung. Niemand meldete sich. Zu sagen war eine ganze Menge, aber niemand machte gern den Anfang. Das war immer so. Einer ermunterte den anderen... „Jupp, fang an"... „nee, zuerst kann Otto reden"... „na los, Otto!" Kurt erhob sich und sah zu Hermann herüber.
„Der Genosse Zimmermann hat das Wort."
Kurt fing langsam und etwas schwerfällig an. Auf dem Bau, bei den Kollegen, konnte er besser reden. „Genossen... , vielleicht gehört das nicht ganz zum Thema, aber ich meine, wenn wa uns mit den Gewerkschaften beschäftigen, dann müssen wa auch über de Betriebe reden. Det bei uns Bauarbeiter der Laden am Mittwoch klappt, wisst ihr ja. Unsere Baustelle jeht geschlossen zur Demonstration. Aber wie steht et mit den anderen Betrieben in Berlin? Soviel ick weiß, liegen bis jetzt 650 Beschlüsse von Massenorganisationen und Betrieben, darunter von Belegschaftsversammlungen großer Werke, vor, die gegen das Demonstrationsverbot protestiert haben. Det is sehr viel, aber noch lange nich genug. Wir haben hier im Zellenbereich verschiedene Betriebe, in denen zum Teil ooch kommunistische Betriebszellen existieren. Wat is da los... warum hört man da nischt? Wir müssen die Tage bis Mittwoch dazu benutzen, um da den Laden in Schwung zu bringen. Vielleicht erzählt uns Hermann dazu noch, wat unternommen werden soll... "
Er setzte sich wieder hin. Hermann antwortete ihm sofort darauf. In einigen Betrieben waren Betriebsversammlungen vorbereitet, die noch in dieser Woche stattfinden sollten. Es stand schon fest, dass mit geringen Ausnahmen überall die Arbeit am Mittwoch im Zellenbereich des Kösliner Viertels ruhen würde. In einem Fall hatte sich der sozialdemokratische Betriebsrat geweigert und der Belegschaft erklärt, dass „im Interesse der vorliegenden Aufträge" die Produktion nicht unterbrochen werden darf.
„Ein feiner Betriebsrat... !"
„Wat kriegt er dafür von de Direktion?"
Man würde versuchen, durch Flugblätter trotzdem die Belegschaft zur Arbeitsniederlegung zu veranlassen. —
Eine Wortmeldung nach der anderen kam jetzt. Sogar der alte Hübner, der unterdessen gekommen war, sprach in der Diskussion. Hermann sah mit Schrecken die lange Rednerliste. — Nach einer Stunde beantragte er mit Rücksicht auf die Arbeiten, die heute noch erledigt werden mussten, Schluss der Debatte.
Man kam zum zweiten Punkt der Tagesordnung: Die Vorbereitungsarbeiten zum 1. Mai! Flugblätter sollten morgens vor den Betrieben verteilt werden, Zettel waren nachts zu kleben. Am Sonntagabend sollte eine große Versammlung stattfinden, für die noch Haus- und Hofagitation zu machen war, die Mainummer des „Wedding-Prolet", die Häuserblockzeitung der Straßenzelle, musste fertig gemacht, gedruckt und vertrieben werden usw. Eine Menge Aufgaben, die alle nach Feierabend von den Mitgliedern durchgeführt werden mussten. —
Es war fast zwölf Uhr, als die Sitzung geschlossen werden konnte. Unter denen, die sich zum Kleben gemeldet hatten, war Kurt, dessen Nacht um halbsechs Uhr zu Ende war.
„Ich komme zu dir nachher rüber, Hermann, will bloß Anna Bescheid sagen."
„Wird woll nen kleenen Krach jeben, wat, Kurt?", sagte Hermann lachend zu ihm und packte seine Sachen auf dem Tisch zusammen.
„Wat ihr immer von Anna wollt? . . Vielleicht kommt sie mit", antwortete Kurt. Er ärgerte sich, dass sie Anna immer ansahen wie eine kleinbürgerliche Hausfrau, die nichts von Parteiarbeit versteht. Er wusste, sie würde schon eines Tages soweit sein, dass sie selbst in die Partei kam. Die sollten nicht immer so dumm reden! — Aber vielleicht machte sie doch heute Krach... , dachte er, als er durch den Gang nach vorne in das Lokal ging. —
Auf der dunklen Straße stand Hermann noch einen Augenblick mit dem jungen Referenten zusammen.
Es mochte kaum zwei so verschiedene Menschen geben, als der breite Arbeiter Hermann und der schmale, blasse Mensch, der jetzt mit hochgeschlagenem Mantelkragen auf der Straße stand und fror. Er erzählte Hermann, dass er als Angestellter bei Lorenz arbeitet und in diesem Frühjahr zum Betriebsrat gewählt worden war.
„Rauch' nich so viel", sagte Hermann kameradschaftlich zu ihm, als sich der Genosse eine Zigarette ansteckte und ihm auch eine anbot. In dem kurzen flackernden Licht des Streichholzes sah er, dass die Augen des Referenten fiebrig glänzten.
„Was soll man machen, Genosse", sagte er mit einem leisen müden Lächeln, „ihr werdet ja da in der Straße auch nicht alle mit Gesundheit protzen können."
Er sah in die dunkle, stille Straße, die vor ihnen lag.
„Gute Nacht, Genosse". Er gab Hermann die Hand, drehte sich um und verschwand schnell in der Dunkelheit.

 

 

 

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