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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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IX. Die zweite Nacht

11 Uhr.
Die Straßen um die Gasse herum waren leer. Dunkel hing der sternenlose Himmel über der schwarzen Finsternis der Häuser und Höfe- In der Reinickendorfer Straße stand ein leerer Straßenbahnwagen mit gelöschten Lichtern. Hier und da tauchten an den Häuserfronten Schatten auf. Vorsichtig, lautlos bewegten sie sich, bis sie die Dunkelheit wieder aufgenommen hatte. In einer Nebengasse zerrissen zwei, drei Schüsse die Stille. Dann war es wieder ruhig.
Der rote Punkt einer Zigarette glühte in einer dunklen Toreinfahrt auf und beleuchtete für Sekunden das unrasierte, gelbe Gesicht eines Arbeiters — ein vorgeschobener Posten der Gasse. Über das Pflaster glitt der Scheinwerfer eines Privatautos. Der Wagen fuhr langsamer, zögernd, die Pneus knirschten über Glasscherben. Wie erschrocken hielt das Auto, im Innern der Limousine wurde das Licht gelöscht. Der Wagen wendete und fuhr im raschen Tempo wieder zurück, fort aus dieser unbekannten, unheimlichen Stille der Straße. —
Der Eingang zur Gasse war in eine derartige Dunkelheit gehüllt, dass er nur zu erkennen war, wenn man unmittelbar davor stand. An den schattenhaften Umrissen eines umgestürzten Bauwagens brannte das schwache Licht einer kleinen, roten Laterne. Wie ein pechschwarzes Loch gähnte dahinter der Schlauch der totenstillen Gasse. Kein Fenster war erleuchtet. Nur durch einige Spalten der schadhaften Rolläden vor der „Roten Nachtigall" schimmerten dünne, schmale Lichtstreifen. Ein dumpfes, summendes Gewirr von Stimmen drang auf die Straße. — Im Hinterzimmer fand eine kurze Beratung statt.
Die Zeit war knapp, man musste zu einem Entschluss kommen. Leuten, die Unsinn redeten, wurde sofort das Wort entzogen. Je weiter der Widerstand der Bevölkerung wuchs, desto mehr zeigten sich alle verhängnisvollen Mängel dieser unvorbereiteten, unorganisierten Aktion. „Bewaffneter Aufstand", sagten die einen. „Womit denn?... mit Spatzenteschings und Besenstielen?!" höhnten die anderen.
„Wollt ihr vielleicht Bürgerkrieg machen am Wedding?" „Klar Mensch! Thomas wird roter General und Hermann Volkskommissar der Kösliner Ritze und Umgegend!"
In dem verqualmten kleinen Saal lachte alles los. Die Nervösität verschwand. Ruhig hörten sie zu. „Glaubt ihr denn", sagte Hermann ernst, „wenn die Partei zum bewaffneten Aufstand aufruft, dass wir dann mit unseren paar Knallerbsenpistolen dastehen werden? Genossen, dann sähe Berlin in dieser Nacht anders aus! Wenn wir uns heute gegen diese Banditen wehren, so gut wir können, dann, ist das noch lange keine Revolution, die ist an ganz andere Voraussetzungen gebunden. Wirtschaftliche Massenkämpfe, politische Massenstreiks usw. Darüber zu sprechen ist jetzt aber keine Zeit..."
Die Entscheidung fiel kurz vor Mitternacht, als der Kurier die Meldung brachte, dass die Polizei anfing, das Viertel erneut abzuriegeln! In der „Roten Nachtigall" wurde das Licht gelöscht, die Rolljalousie vor der Tür zum Hof ging hoch und durch den engen Hausflur drängten sich die Arbeiter auf die Straße.
Kurt stand mit Hermann noch einen Augenblick auf dem Hof und sprach leise über Anna. Von dem Augenblick an, wo er den Polizisten entwaffnet hatte, wusste er nichts mehr von ihr. Eben erst, in dem Lokal, hatte ihm eine Frau aus der Nachbarschaft erzählt, dass Anna verhaftet und der Junge durch eine Genossin nach Hause gebracht worden war. Jemand hatte gesehen, dass sie von dar Polizei geschlagen wurde. Das war alles. — Die Ungewissheit machte ihn halb verrückt. Dass sie nichts aussagen würde, wusste er, aber sie konnte durch Polizeizeugen eine Anklage wegen Aufruhrs, Widerstand, oder Gott weiß was sonst noch erhalten und auf Jahre ins Gefängnis kommen...
Nur mit Mühe brachte ihn Hermann davon ab, jetzt selbst auf die Polizeiwache zu gehen, um nach ihr zu suchen. Kurt war als Kommunist bekannt; sie hätten ihn nur gleich mit dabehalten. Vielleicht hätte er es doch noch getan, wenn er gewusst hätte, wann und
wie er sie wieder sehen würde.

Das Poltern der Balken auf der Straße alarmierte die Gasse. Türen schlugen. An den Häusern liefen welche entlang. Jemand rief aus einem Fenster hinunter in die Dunkelheit, aus der der Lärm drang. In den Treppenfluren flammten Kerzen und Petroleumlampen auf. Frauen kamen mit Lampen in den Händen in die Toreinfahrt herunter und hörten, wie die Männer vor der „Roten Nachtigall" zwischen den Brettern und eisernen Rohren herumarbeiteten. — Als die ersten mit Balken und Stangen über den Schultern die Gasse heraufkamen, wussten sie Bescheid. In wenigen Minuten war alles in Bewegung.
„Licht hierher!" schrie eine helle Stimme. Man konnte nicht die Hand vor den Augen sehen. Die schwankenden Lichter kamen durch die Dunkelheit auf die Männer zu und beleuchteten notdürftig die wirr durcheinander liegenden Trümmer der gestrigen Barrikade vor der „Roten Nachtigall". Überall in den Toreinfahrten tauchten helle Flecke auf und Hefen an den Häusern entlang zur Arbeitsstelle. —.
Holz zersplitterte. Mit einem springenden Knall flog die Tür der Baubude auf. Das Handwerkszeug, das für die Straßenarbeiter bereit lag, ging rasch von Hand zu Hand. He, träum' nich — pack' an, los!" Hacken, Spaten und Äxte klirrten auf dem Asphalt. Was an Brettern, Stangen usw. herumlag, wurde mitgenommen. —
Hermann dachte zuerst, die sind total verrückt geworden! Als der Zug mit Leuten, die das Material schleppten, durch die Gasse marschierte — zwischen den grotesken Schatten der Balken und Stangen liefen die Frauen mit ihren Lampen — fingen die Kerle auf einmal an zu singen, laut zu singen, als wenn sie auf einer Demonstration im Lustgarten wären.
„Wollt ihr die Schnauze halten! — Ihr hetzt uns ja die Polizei auf den Hals!" rief Hermann wütend. Wie kann man mitten in der Nacht, in dem totenstillen, abgeriegelten Viertel, wo ein paar hundert Meter weiter vielleicht die Maschinengewehre der Polizei stehen, anfangen die „Internationale" zu brüllen?!-------
Nichts zu machen! Als wenn eine vertrocknete, durstige Erde Wasser säuft, sprang die Melodie auf die Menschen über, auf die ganze Gasse. In den schwarzen, offenen Fensterlöchern lagen Frauen, schrien und winkten herunter. Aus den Toren kamen sie herausgelaufen, der ganze Damm war auf einmal voll Menschen, die sangen und lachten. Die tanzenden Lichtpunkte malten lange durcheinanderlaufende Schatten an die hohen Hausfronten.
Neben sich sah Hermann eine alte Frau, die mit der Hand sorgfältig, als wäre es das allerwichtigste von der Welt, den Glaszylinder einer Küchenlampe vor dem Windzug schützte. Darüber lag, als heller Kreis, ein ausgemergeltes Gesicht, in dem die Augen wie zwei dunkle Schattenlöcher aussahen. Die dünnen, blutleeren Lippen bewegten sich mit den Singenden.
„Verrückt... total verrückt!" dachte Hermann, aber er meinte
es ganz anders...

Kurz vor der Wiesenstraße hielt der Zug. Hacken und Aexte flogen herunter. Krach... krach... ! Die Funken sprühten von den Steinen hoch. Links und rechts wurde zuerst das Pflaster aufgerissen, und die schweren Steinplatten mit Brechstangen ausgehoben.
„Hau rrruck... hau ruck . . ! Vorsicht, Genossen, Beene weg!"
Rrrumms... !
Drei junge Arbeiter kamen mit einem schweren Gaskandelaber auf den Schultern aus der Dunkelheit der Gasse in den Lichtkreis.
„Achtung... Platz da!"... Krrrach. Das eiserne Rohr fiel quer über den Damm.
„Hierher Licht... Grete, leuchte doch mal... !" Die Frauen liefen mit den Lampen hin und her. — Plötzlich tönte aus der Wiesenstraße ein kurzer, dumpfer Knall. Eine Leuchtrakete stieg hoch.
„Hinlegen", schrie jemand. Sekundenlang war die Straßenecke in grelles, grünes Licht getaucht. Flackernde, lange Schatten fuhren mit dem Sinken der Leuchtkugel über die Häuser. Zischend und qualmend verlosch die Rakete kurz vor der Barrikade auf dem Asphalt. — Die Polizei hatte eine Patrouille vorgeschickt. Nur aus Furcht, ihren Standort durch das Mündungsfeuer zu verraten, schossen sie nicht. —
Vorsichtig schoben sich drei Schatten vor die Barrikade, dicht an die Häuser gepresst. Regungslos standen sie eine Weile an der Ecke der Wiesenstraße, verwachsen mit dem Grau der Mauern. Eine unvorsichtige Bewegung, schräg gegenüber in einem Hausflur, verriet durch das Funkeln der vernickelten Waffenknöpfe die Polizeipatrouille. Die Lichter hinter der Barrikade verschwanden.
Peng , . . peng... !
In dem Eingang gegenüber zersplitterten die Glasscheiben. — Nach einem kurzen, scharfen Feuergefecht zog sich die Polizei zurück. Die Arbeit hinter der Barrikade ging weiter.
Kurt kam mit den beiden anderen wieder zurück in die Gasse. Er war unruhig geworden. Die Polizei musste natürlich gesehen haben, was hier vor sich ging. Er sprach kurz mit Hermann und verschwand in der Dunkelheit.
Unten vor der „Roten Nachtigall" war alles still Das Pflaster war meterweit am Ende der Gasse aufgerissen, der Damm mit großen Steinen übersät. So leicht kam hier kein Auto durch. Die Posten halten nichts Auffälliges bemerkt. — Vorsichtig ging er weiter. In einem Hausflur standen ein paar Frauen und sprachen leise miteinander. Sie erkannten ihn erst, als er dicht vor ihnen stand. Nein — hier war auch alles in Ordnung.
In der Reinickendorfer Straße war es dunkel und still. Eine Autotaxe kam ratternd vom Nettelbeckplatz die Straße hoch. Kurz vor der Wedding Straße flammten die Scheinwerfer auf und beleuchteten die Gegend. Von der anderen Seite der Straße wurde der Wagen angerufen. Das Licht brannte weiter. Erst als ein Stein die Scheiben zertrümmerte, wurde der Scheinwerfer abgedreht; der Chauffeur gab Gas und verschwand mit höchster Geschwindigkeit,
Kurt pfiff durch die Zähne. Verdammte Schweinerei... ! Das war kein Zufall mit dem Auto. Am Nettelbeckplatz stand die Polizei... ? — So schnell er konnte, rannte er zurück.

 

 

 

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