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William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Fünfundzwanzigstes Kapitel
Lebewohl, kapitalistisches Amerika!

Unser Antrag auf Wiederaufnahme des Chicagoer Prozesses war vom Appellationsgericht der Vereinigten Staaten abgelehnt worden, obgleich es einen der Punkte, unter denen wir verurteilt worden waren, für ungültig erklärte und die Geldstrafen aufhob, die uns Richter Landis auferlegt hatte.
Es ist jedoch klar, dass die Revisionsinstanz die Zeugenaussagen nicht überprüfte. So wurde, um ein Beispiel anzuführen, Clyde Hough, ein junger Maschinist aus Rockford, Illinois, zusammen mit uns verurteilt, obwohl er zur Zeit der Annahme des Spionagegesetzes im Gefängnis saß und dort geblieben war, bis er schließlich nach Leavenworth geschickt wurde. Er hatte also gar keine Gelegenheit gehabt, selbst wenn er gewollt hätte, das Gesetz zu verletzen, auf Grund dessen er verurteilt wurde.
Der nächste Schritt, auf den wir unsere Hoffnung setzten, zielte darauf ab, den Prozess vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zu bringen; die Entscheidung stand noch aus, als ich das Land verließ. Von dem Beschluß dieser hohen Körperschaft sollte es abhängen, ob wir in den Kerker von Leavenworth zurückkehren mussten, um zusammen mit denen, die noch dort waren, unsere Strafzeit abzusitzen.
Ich erfuhr, dass Präsident Harding, der Nachfolger Wilsons, von Meyer London, dem sozialistischen Kongressabgeordneten aus dem Staate New York, über den Fall interviewt wurde und vom Präsidenten die Antwort erhielt, die IWW-Mitglieder würden begnadigt - mit Ausnahme von Haywood, den man festhalten wolle. Man kann sich vorstellen, wie ich nach diesen Erfahrungen erfreut war, als ich 1924, fern von Amerika, die Nachricht vom Sturz William J. Burns, Direktor des Justizministeriums, erfuhr, der die Geschäfte dieses Ministeriums im Interesse seiner privaten Detektivagentur geführt hatte. Die IWW „gelangten in den Besitz" persönlicher Dokumente William J. Burns', die sie in ihrem offiziellen Organ abdruckten. Das Ergebnis war, dass Burns von der Regierung auf den Misthaufen geworfen wurde, auf den er gehörte, und dass verschiedene Detektive und Lockspitzel innerhalb der IWW entdeckt und vom Exekutivkomitee aus den Reihen der Organisation ausgeschlossen wurden.
Anfang 1920 erreichte uns ein langer an die IWW gerichteter Brief der Kommunistischen Internationale. In diesem Schreiben wurde sehr ausführlich die Lage des Kapitalismus nach dem imperialistischen Krieg geschildert, die Ansichten, in denen die Kommunistische Internationale und die IWW übereinstimmten, aufgezählt, vor der kommenden Offensive des Kapitals gewarnt, die Sinnlosigkeit des Reformismus betont, die Rolle des Staates und der Diktatur des Proletariats untersucht und über den Aufbau des Sowjetstaates der Arbeiter und
Bauern berichtet. Solche Grundfragen, wie die der „politischen" und „industriellen" Aktion, des demokratischen Zentralismus, des Wesens der sozialen Revolution und der zukünftigen Gesellschaft wurden erörtert. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, äußerte ich Ralph Chaplin gegenüber: „Hier ist das, wovon wir immer geträumt haben! Hier sind die Ideen der IWW voll und ganz zu Ende gedacht."
Der Empfang dieses Briefes war ein bedeutsames Ereignis in meinem ziemlich bewegten Leben. Obwohl er an die IWW als Organisation gerichtet war, empfanden ich und viele andere Mitglieder, dass er eine persönliche Anerkennung für uns bedeutete, die wir dazu beigetragen hatten, diese klassenbewusste Bewegung aufzubauen. Am 4. Juli 1920 sprach ich vor einer ungeheuren Menge im Renton Park in Seattle. Der Ertrag dieser Versammlung war etwas über sechstausend Dollar. Von Seattle fuhr ich nach Portland, Oregon, wo ebenfalls eine große Versammlung unter dem Vorsitz George F. Vanderveers stattfand und in der weit über tausend Dollar für den Verteidigungsfonds gesammelt wurden. Sobald die Kommunistische Partei in den Vereinigten Staaten feste Form angenommen hatte, trat ich ihr bei. John Martin wurde zum Sekretär des Verteidigungsausschusses gewählt.
Ich begab mich nach New York City und schlug dort den Mitgliedern des Zentralkomitees der illegalen Kommunistischen Partei vor, Anstrengungen zu machen, die Partei aus der Illegalität herauszuführen oder eine Organisation zu schaffen, die sie legal vertreten könnte. Meiner Meinung nach konnten wir nur wenig tun, solange wir nicht unsere Zeitungen frei herausgeben und einen Platz auf der öffentlichen Tribüne einnehmen konnten.
Ich sprach noch in mehreren Versammlungen für die Verteidigung. Auf meiner letzten Kundgebung in der Rand School sprachen auch zwei mit mir zusammen verurteilte Genossen, die ebenfalls gegen Kaution freigelassen worden waren, George Andreychine und Charles Ashleigh.
Man hatte mir zu dieser Zeit den Vorschlag gemacht, ich solle nach Sowjetrussland fahren. Es bestand nur wenig Hoffnung auf eine günstige Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten, und meine Freunde waren der Auffassung, es wäre angesichts meiner untergrabenen Gesundheit ein unnötiges Opfer, wenn ich den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen sollte. Ich antwortete auf diesen Vorschlag: „Es wird nicht leicht für mich sein, hier herauszukommen, aber ich werde es versuchen."
Für einige andere Freunde und mich wurden Plätze für den Dampfer „Oscar II", Henry Fords „Friedensschiff", gebucht. Nachdem ich mich von meinen Freunden verabschiedet hatte, verbrachte ich die letzte Nacht in den Vereinigten Staaten im Hause einer lettischen Familie. Von dort fuhr ich zeitig am Morgen zum Frühstück in ein Hotel in Hoboken, dann zum Hafen und direkt zum Dampfer. Dem Beamten wies ich meinen angeblichen Pass vor, stieg an Deck und kletterte hinunter in den Schiffsbauch, wo man mir eine Koje reserviert hatte. Ich blieb dort so lange, bis das Schiff in Fahrt war. Als ich dann aufs Deck stieg, fuhren wir gerade an der Freiheitsstatue vorbei. Die alte Hexe mit ihrer erhobenen Fackel grüßend, sagte ich: „Good-bye, zu lange hast du mir den Rücken zugekehrt, jetzt fahre ich in das Land der Freiheit."
Zufällig war einer der Stewards, der mich erkannt hatte, ein IWW, und diesem Umstand verdankten wir eine bessere Überfahrt, als Passagiere des Zwischendecks sie gewöhnlich genießen.
Nach Riga fuhren wir durch ein vom Krieg zerstörtes Land voller Friedhöfe, Schützengräben, verlassener Befestigungen und meilenlanger Strecken von Stacheldrahtverhauen.
In Riga wurden wir in Viehwagen geladen und auf der Fahrt bis zur Grenze von lettischen Soldaten bewacht. Als wir dann aber die russische Grenze passierten, ertönten laute Hurra-Rufe und der Gesang der „Internationale". Der Zug bewegte sich wie durch ein rotes Flammenmeer. Rote Banner, rote Fahnen, rote Tücher wurden durch die Luft geschwenkt. Auf der Grenzstation bestiegen wir den Zug nach Moskau. Als wir in der alten Stadt ankamen, die jetzt wieder die Hauptstadt Russlands ist, wurden wir am Bahnhof empfangen und sofort ins Hotel gefahren. Eine der ersten Fragen, die an mich gerichtet wurde, war die Michael Borodins, ob ich in den Kreml gehen wolle. Leider war mir das nicht sofort möglich, da mein Zustand sich sehr verschlechtert hatte und ich dringend der Ruhe bedurfte.
Nach einigen Tagen wurde dann eine Unterredung mit dem Genossen Lenin vereinbart.
Es ist nicht meine Absicht, den Eindruck seiner Persönlichkeit oder unser Gespräch näher zu schildern. Ich möchte diese Aufzeichnungen nur mit der Wiedergabe einer Frage und einer Antwort aus unserem Gespräch schließen.
Ich fragte Genossen Lenin, ob die Industrie der Sowjetrepublik von den Arbeitern geleitet und verwaltet werde.
Seine Antwort war: „Jawohl, Genosse Haywood, das ist Kommunismus."

 

 

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