Erinnerungen eines amerikanischen Arbeiterführers
  Erstes Kapitel 
    Kindheit unter den Mormonen
    Mein Vater stammte aus einer alten amerikanischen Familie, so  amerikanisch, dass sie wahrscheinlich auf die ersten weißen Ansiedler,  die frömmlerischen Puritaner oder die Kavalier-Piraten, zurückverfolgt  werden könnte. Weder auf die eine noch auf die andere Herkunft könnte  ich stolz sein. Die Eltern meines Vaters, der in der Nähe von Columbus,  Ohio, geboren wurde, übersiedelten später nach Fairfield im Staate  Iowa. Der Bruder und die Vettern meines Vaters dienten als Soldaten im  Bürgerkrieg und wurden entweder getötet oder verwundet. Schon als  junger Bursche schlug sich mein Vater quer durch die Prärien nach dem  Westen durch und wurde Reiter der Pony-Expresspost. Damals durchquerten  noch keine Eisenbahnen den Kontinent, die Post wurde mit  Pony-Expressstafetten befördert. Die Boten ritten in scharfem Tempo von  Lager zu Lager, wo die Pferde gewechselt wurden, durch die Prärien,  durch die Wüste und über die Berge von St. Jo, Missouri, nach San  Franzisko an der pazifischen Küste. Meine Mutter, von  schottisch-irischer Abstammung, wurde in Südafrika geboren, von wo ihre  Familie später, nachdem sie ihren ganzen Besitz verkauft und alles  aufgegeben hatte, auswanderte. Ihr Ziel war Kalifornien in Amerika.  Damals drang der Goldrausch bis in die entlegensten Winkel der Erde.  Leute, die keine Ahnung von den Kämpfen hatten, die ihnen bevorstanden,  wanderten nach dem Westen aus. Am Kap der Guten Hoffnung schiffte sich  die Familie ein. Es gab noch keine luxuriös eingerichteten Dampfer;  monatelang währte die traurige, gefahrvolle Reise mit einem  Segelschiff. Und mit der Landung im Hafen waren die Gefahren nicht zu  Ende: es folgte die Eisenbahnfahrt über eine Strecke von 1800 Meilen  und schließlich die lange Reise durch die Prärien und über die Berge im  von Ochsen gezogenen Planwagen. Den Reisenden drohten ständig Unfälle,  Krankheiten und Angriffe der Indianer, die die Notwehr zwang, dem  Eindringen der Weißen Widerstand zu leisten. 
    Auf dem Wege durch die  Prärien wurde eines Tages mein Onkel, damals noch ein kleiner Junge,  vermisst. Die Familie wusste nicht, was ihm zugestoßen war. Vergeblich  wurde der lange Wagenzug durchsucht. Er war weder in einem der Gefährte  noch bei den Viehtreibern, die die Ochsen, Kühe und Esel führten. Der  Zug konnte nicht länger halten, ebenso wenig konnte die Familie allein  zurückbleiben, um die endlos weiten Prärien zu durchsuchen. Sie gab den  Jungen verloren und fuhr voller Gram mit dem Zug weiter. Beim Abstieg  durch den Emigrant-Canyon sah die Karawane das schöne Salzseetal vor  sich und in seiner Mitte ausgebreitet das tote Meer, den Großen  Salzsee. Rechts befand sich die neue Stadt Zion, die eine religiöse  Sekte, die Mormonen, 1847 gegründet hatte. Hier verließ die Familie  wegen Krankheit den Karrenzug. Außerdem wollte sie die Ankunft des  folgenden Zuges abwarten, in der Hoffnung, dass der vermisste Junge  gefunden worden wäre und man ihn mitbrächte. Schon bald nach der  Ankunft der Familie in Zion sah meine Großmutter unvermutet ihren Sohn  mit einem Korb voll Äpfel am Arm die Straße heraufkommen. Sie nahm ihn  mitsamt seinen Äpfeln und brachte ihn heim zu seinen Schwestern. Er war  schon ein oder zwei Wochen früher in der Stadt angekommen, da er mit  dem vorhergehenden Wagenzug gefahren war. 
    Meine Großmutter eröffnete in Salt Lake City eine Pension. Mein Vater  wohnte dort als Mieter und lernte so meine Mutter kennen. Er war damals  noch sehr jung; bei der Heirat war er ungefähr zweiundzwanzig Jahre  alt, meine Mutter sogar erst fünfzehn Jahre. Ich wurde am 4. Februar  1869 geboren. 
    Ich habe fast keine Erinnerung an meinen Vater. Er starb, als ich vier  Jahre alt war, an einer Lungenentzündung in Camp Floyd, dem heutigen  Mercur. Salt Lake City liegt an einer Krümmung des Wahsatch-Gebirges.  Im Osten steigen die Berge jäh hoch an, im Norden liegt der Ensign  Peak. Nicht weit vom Gipfel entfernt gibt es eine kleine Höhle, der  beliebte Schlupfwinkel aller abenteuerlustigen Jungen der Stadt Im  Südwesten, in den Oquirrh-Bergen, liegt ein großer Teil des Reichtums  des Staates Utah; dort liegen die Grubenorte Stockton, Ophir, Mercur  und Bingham Canyon mit dem großen Kupferbergwerk von Utah. Im Westen,  in unmittelbarer Nähe der Stadt, liegt der Große Salzsee, dessen Wasser  so salzig ist, dass keine Tiere in ihm leben können. 
    Auf den Inseln im Großen Salzsee befinden sich Nester von unzähligen  Tausenden Möwen, die in Utah besonders geschützt werden, weil sie  während einer Heuschreckenplage dieses Ungeziefer zu Millionen  vertilgten. Die Vögel verschlangen soviel Heuschrecken, wie sie  aufnehmen konnten, spieen sie dann aus und verschlangen wieder neue.  Auf diese Weise halfen die Möwen den Farmern, einen Teil ihrer Ernte zu  retten, deren völliger Verlust für die Mormonen Hungersnot bedeutet  hätte. 
    Durch das Salzseetal windet sich der Jordanfluss, und weiter im Norden  liegen heiße Quellen. Die Großartigkeit der Szenerie und die Schönheit  der Stadt selbst wird jedoch durch die schlechte Stimmung  beeinträchtigt, die die Mormonenkirche geschaffen hat. Besonders in  meiner Kinderzeit war es so, als noch das Massaker am Mountain Meadow  im Jahre 1857, die Zerstörung der Aiken-Partei und die Drohungen der  Mormonen gegen die „Abtrünnigen", eine andere Sekte, die Atmosphäre in  Spannung hielten. Diese Drohungen ertönten mächtig von den Lippen  Brigham Youngs, Hydes, Pratts und anderer Mormonen-Prediger. Natürlich  machten sie auf mich nicht den Eindruck wie auf die älteren Leute,  obgleich ich mich genau an einige Einzelheiten des Prozesses gegen John  D. Lee erinnere. Er war ein Führer der Mormonen und der Indianer, die  fast einhundertfünfzig Männer, Frauen und Kinder in Mountain Meadow  getötet hatten. Das Massaker ereignete sich, nachdem Lee die  Einwanderer überredet hatte, die Waffen auszuliefern. Lee selbst und  andere Mormonen nährten einen bitteren Hass gerade gegen diese  Einwanderer, die aus den Staaten Arkansas und Missouri kamen, wo der so  genannte Mormonenprophet, Joseph Smith, und sein Bruder Hyrum im  Gefängnis von Carthage, Missouri, ermordet worden waren. Ich erinnere  mich noch eines Bildes, auf dem John D. Lee, auf seinem Sarge sitzend,  dargestellt war, bevor er in Mountain Meadow hingerichtet wurde. Die  Gesetze des Staates Utah bestimmten, dass ein Verurteilter wählen  durfte, ob er durch die Kugel oder durch den Strang sterben wollte.  John D. Lee wählte die Kugel. Man schaffte ihn von der Kreisstadt, in  der er abgeurteilt worden war, zum Schauplatz seines Verbrechens, das  zweifellos von anderen, mächtigeren Leuten angestiftet worden war.  Zwischen dem Massaker und der Hinrichtung im Jahre 1877 waren zwanzig  Jahre 
    vergangen. 
    Ungefähr zu dieser Zeit begegnete ich zum ersten Male Brigham Young,  dem Präsidenten der Mormonenkirche, auf der Straße. Ich hatte ihn  bisher nur im Tabernakel, dem großen Mormonentempel, gesehen und seine  heftigen Reden gegen die Abtrünnigkeit gehört. Kurz danach starb er,  wie es hieß, vom Genuss unreifen Korns; es liefen aber Gerüchte um,  nach denen er sich vorsätzlich vergiftet hatte. Sollten diese Gerüchte  wahr sein, so tat er es wahrscheinlich wegen der Verurteilung John D.  Lees und weil die „Heiden", wie alle Nicht-Mormonen genannt wurden,  forderten, dass auch Brigham Young wegen des Massakers zur  Verantwortung gezogen werden müsse. Er war damals nämlich Gouverneur  des Staates und Unterhändler der Vereinigten Staaten mit den Indianern.  Die Mormonen pflegten vernünftigerweise freundschaftliche Beziehungen  zu den Indianern zu unterhalten, und zweifellos waren sie es auch, die  das Gemetzel eines anderen Zuges von Einwanderern verhinderten, der  ungefähr zur selben Zeit durch das Gebiet zog. 
    Das Haus, in dem ich geboren wurde, hatte vier Wohnungen: zwei im  unteren und zwei im oberen Stockwerk. Die interessantesten Bewohner  waren die Familie, die über uns hauste, eine Witwe mit zwei erwachsenen  Töchtern. Zur Zeit, von der ich erzähle, waren alle drei Frauen mit ein  und demselben Mann verheiratet; eine Reihe von merkwürdigen Beziehungen  war die Folge, so zum Beispiel, dass die Töchter Gattinnen ihres  eigenen Stiefvaters waren. Vielweiberei war immer einer der religiösen  Grundsätze der Mormonenkirche. Etwa vier Jahre nach dem Tode meines  Vaters heiratete meine Mutter wieder, und wir übersiedelten nach der in  einem Talkessel gelegenen Bergwerkstadt Ophir. Auf unserer Reise  dorthin hielten wir uns in Garfield Point am Südende des Großen  Salzsees auf, um Mittagbrot zu essen und die Pferde zu wechseln.  Inzwischen lief ich ein wenig im Gebüsch umher. Plötzlich hörte ich  meine Mutter und zwei andere Frauen, die vor dem Hause saßen,  aufschreien. Vor mir sah ich ein hübsches kleines Tier mit schwarz und  weiß gestreiftem Fell und großem, buschigem Schweif. Ich rief: „Ich  fange es euch!" und lief ihm nach, ohne auf meine Mutter zu hören, die  schrie: „Willie, komm her!" Ich warf einen Stock nach dem kleinen Ding.  Da entlud das merkwürdige Tier sein Geschoss. Es traf mich nicht,  worüber alle sehr froh waren, aber ich wurde fast krank von dem  schrecklichen Gestank. So sah ich zum ersten Mal ein Stinktier. Zur  Rechten des Canyons fielen die Berge schroff ab, von tiefen Schluchten  durchzogen. Zur Linken lagen niedrige Hügel. Der Canyon erweiterte sich  an der Stelle, wo die Stadt erbaut war, gerade genug, um für zwei oder  drei Straßen Raum zu lassen. 
    Im ersten Winter wurde der Canyon unterhalb der Stadt von einer Lawine  verschüttet. Es musste ein Tunnel gegraben werden, damit die Post  durchfahren konnte und das Wasser einen Abfluss fand. 
    Eines Morgens war ich gerade auf dem Wege zur Schule, als ich Mannie  Mills jenseits der Straße seinen Revolver ziehen und auf den Aalglatten  Dick schießen sah, der kurz vor mir herging. Dick begann auch zu  schießen; nach kurzem, aber heftigem Kugelwechsel brach Mills zusammen  und fiel tot aufs Gesicht. Mehrere Leute rannten hinzu. Der Aalglatte  Dick blies den Rauch aus dem Lauf seines Revolvers, steckte ihn in die  Tasche und ging in ein nahe gelegenes Wirtshaus. Dies war das erste  Mal, dass ich einer Schießerei beiwohnte. Es war nicht die einzige in  Ophir, das als einer der wildesten Grubenorte im Westen galt. Bei einer  späteren Gelegenheit sah ich zwei Mitglieder der Familie Turpin und  einen anderen Mann tot auf dem Schauplatz einer Revolverschießerei  liegen. Einmal ereignete sich in der Nacht eine Explosion in einem  Flügel von Duke's Hotel. Am nächsten Morgen stand ich vor dem Laden von  Lawrence, als eine Frau, die man die „alte Mutter" Bennet nannte, die  Straße herunterkam und etwas wie „die ganze Stadt niederbrennen"  murmelte. Darauf sprang ein Mann, der am Rande des Bürgersteiges  gesessen hatte, auf sie zu und schlug sie ins Gesicht. Es war Johnny  Duke, der Hotelbesitzer, selbst. Die Frau und ihr Mann hatten sich  gerühmt, das Pulver gelegt zu haben. Nach dem Zwischenfall auf der  Straße wurden beide verhaftet, und das Bürgerschutzkomitee (Anm.:  Bürgersdrutzkomitee (Vigilance Commitee), ursprünglich  Selbsthilfe-Organisationen der Farmer und Kolonisten gegen feindliche  Indianer und Räuber im „Wilden Westen"; später typische  Lynchmördertrupps. Die Red.) schleifte sie noch am selben Nachmittag  den Canyon hinunter. 
    Beim Spiel in einem Stallgebäude entdeckten eines Tages zwei meiner  Schulkameraden im Zimmer des Stallknechts unter dem Kopfkissen eine  Pistole. Versehentlich zog Pete Bethel den Hahn und tötete Willie Duke.  Ich vernahm den Schuss, lief in den Stall und fand Willie tot. Das Blut  rann aus seinem Kopf, und der kleine Pete Bethel stand vor Schreck  sprachlos an seiner Seite. Diese Gewalttaten und blutigen Szenen  ereigneten sich, als ich sieben Jahre alt war. Nach den Erzählungen von  den Massakern und Ermordungen in Salt Lake City kam mir das alles als  etwas ganz Natürliches vor. Zu einem Ereignis wurde für mich die  Ankunft einer holländischen Schuhmacherfamilie. Ein oder zwei Tage nach  ihrem Einzug in die Stadt spielte ich unten am Bach 
    beim Hause des Schuhmachers, als ich ein kleines Mädchen im Schatten  einer Weidengruppe sitzen sah. Ich ging hinüber und entdeckte, dass die  Kleine sehr hübsch war, mit Wangen wie pralle rote Äpfel. Sie lächelte  nur, als ich sie ansprach; darauf nahm ich ihre Hand, dann küsste ich  sie, und auch das schien ihr zu gefallen. Jemand rief, wohl ihre  Mutter. Das Mädchen riss sich los und lief nach Hause, lächelte mir  aber noch einmal über die Schulter zu. Am Tage darauf suchte ich den  Schauplatz meines kleinen Abenteuers wieder auf und fand „sie" wieder.  Sie schöpfte gerade mit einem Eimer Wasser aus dem Bach. Leise trat ich  näher und schlang meine Arme um sie, sie aber drehte sich um,  zerkratzte mir das Gesicht, spuckte mich an und hob den Eimer, als ob  sie ihn über mich ausschütten wollte. Ich konnte gar nicht verstehen,  was in sie gefahren war, und rannte fort. Später entdeckte ich, dass es  gar nicht sie selbst gewesen war, sondern ihre Zwillingsschwester. 
    Die meisten Jungen im Orte besaßen Schleudern, auch ich wollte mir eine  anfertigen. Ich stand hinter unserem Haus und versuchte, mir eine  Astgabel von einer Eiche zu schneiden, als das Messer ausglitt und mir  ins Auge drang. Man schickte mich sofort zur ärztlichen Behandlung nach  Salt Lake City, und ich musste nachher noch monatelang im dunklen  Zimmer bleiben. Aber auf dem verletzten Auge konnte ich nicht mehr  sehen. Die Schule war geschlossen, als ich nach Ophir zurückkehrte, und  ich arbeitete zum ersten Mal in der Grube. Damals war ich erst etwas  über neun Jahre alt und half meinem Stiefvater, der die Erzprüfungen in  der Russischen Grube durchführte. Im nächsten Schuljahr unterrichtete  mich Professor Foster, ein finster aussehender alter Mormone aus  Tooele, mit magerem, langem Gesicht, grauem Schnurrbart und grauen  Augen; aber er war ein ausgezeichneter Lehrer. Er führte mich in die  Geschichte ein und lehrte mich Bücher mit Verstand lesen und zu deuten.  Ich sah ihn niemals ein Kind schlagen. Kaum eine Woche verging ohne  eine Rauferei mit dem einen oder anderen Jungen, der mich wegen meines  blinden Auges „Schielauge" oder „Dick mit dem toten Auge" genannt  hatte. Solche Kämpfe liebte ich. Nach diesem Schuljahr kehrte die  Familie nach Salt Lake City zurück. Zion, wie die Mormonen die Stadt  nannten, war ursprünglich zur Hauptstadt eines „Reiches der  Mormonenkirche" bestimmt worden. Als in Kalifornien Gold entdeckt  wurde, kamen die Einwanderer in Scharen auf ihrem Wege nach den  Goldfeldern des Westens durch Utah. Einige blieben in Salt Lake City  zurück, aber merkwürdigerweise schlossen sich trotz des allgemeinen  Goldfiebers keine Mormonen der Jagd nach dem Mammon an, und keiner  verließ seinen Wohnsitz. Die Bevölkerung war geteilt. Die Anhänger der  Sekte der Mormonen waren vorherrschend; die übrigen wurden „Heiden"  genannt, zu denen in Utah auch die Juden gezählt wurden. Die größten  Geschäftsleute und alle Farmer waren Mormonen. Viele der größeren  Unternehmungen, Fabriken und landwirtschaftlichen Betriebe waren  Eigentum der Kirche. Sie unterhielt ferner ein Kirchenamt, eine  Zeitung, „Desert News", und ein historisches Archiv. Die „Heiden" in  diesem Gebiete waren Bergarbeiter, einige Geschäftsleute, Rechtsanwälte  und Politiker. Gegen die „Heiden" bestand eine heftige Abneigung, da  die älteren Mormonen die erlittenen Gewalttaten nicht vergessen  konnten: die Zerstörungen ihres Eigentums, die Ermordung ihrer Führer  und schließlich ihre Vertreibung aus den Staaten, in denen sie gelebt  hatten. Noch lebte in ihnen die Erinnerung an die Suche nach einer  neuen Heimat, wo sie vor den Verfolgern ihrer 
    Sekte sicher sein konnten und in die ihre alten Feinde nun auch  eingedrungen waren. Diese Erbitterung ist mit dem Heranwachsen der  neuen Generation so ziemlich verschwunden, aber als ich ein Junge war,  bestand sie noch in aller Heftigkeit. 
    Im nächsten Häuserblock lag die „Akademie der Schwestern zum heiligen  Herzen"; zur Akademie gehörte noch ein kleines Gebäude, in dem einige  kleine Jungen aus den umliegenden Grubenorten untergebracht waren und  ihren ersten Unterricht erhielten. Auch einige Tagesschüler besuchten  die Schule, in die ich gleichfalls aufgenommen wurde, obwohl ich kein  Katholik war. Schwester Silvia, eine Nonne, war unsere Lehrerin.  Während der Ferienzeit kam mein Onkel aus einem der nahe gelegenen  Grubenorte zu uns auf Besuch. Eines Tages stieß er auf eine  Zeitungsanzeige, durch die ein Junge für eine Farm gesucht wurde. Der  Onkel besprach die Sache mit meiner Mutter, und das Ergebnis war, dass  ich zu John Holden in die Lehre gegeben wurde. Ein halbes Jahr sollte  ich für einen Dollar monatlich und Verpflegung als „Junge für alles"  auf der Farm arbeiten. Ich hatte zwei Kühe zu melken, die Kälber zu  füttern und den Stall zu reinigen; in der Hauptsache aber oblag mir die  Führung eines Ochsengespanns. Als ich eines Tages beim Eggen auf dem  Feld war, hob ein Zahn der Egge ein Nest von Feldmäusen aus. Es waren  merkwürdige kleine Dinger. Ich hatte niemals etwas Ähnliches gesehen  und bückte mich nieder, um sie genauer zu betrachten. Sie waren rötlich  und am ganzen Körper unbehaart; die Augen hielten sie geschlossen. Ihr  Nest war ein sauberes kleines Häuschen, ganz ausgefüttert mit einer Art  Wolle. Ich mochte sie wohl ein paar Minuten betrachtet haben, als ich  plötzlich einen scharfen Peitschenhieb über den Leib bekam. Holden, der  ein 
    Stück weiter gepflügt hatte, war quer über das Feld gekommen, hatte den  Ochsenziemer, der mir entglitten war, aufgehoben und schlug mich, ohne  ein Wort zu sagen. Ich sprang auf und lief geradewegs ins Haus, suchte  meine paar Habseligkeiten zusammen, packte sie in ein Bündel und machte  mich auf den Heimweg zu meiner Mutter. Aus einiger Entfernung rief ich  Holden noch zu: „Good-bye, John!" und wanderte in die etwa zehn Meilen  entfernte Stadt. Das war mein erster Streik. Als ich zu Hause meiner  Mutter erzählte, dass ich davongelaufen sei, weil Holden mich mit der  Peitsche geschlagen habe, war sie sehr böse über die Misshandlung, aber  gleichzeitig fürchtete sie, dass der Farmer auf Grund des  Dienstvertrages, den sie unterschrieben hatte, etwas unternehmen würde.  Holden kam auch am nächsten Morgen zu uns, und meine Mutter machte ihm  Vorwürfe. Er gab zu, dass er ein jähzorniger Mensch sei, und versprach,  mich niemals wieder zu schlagen. Also ging ich mit ihm zurück und  diente meine Zeit bei ihm ab. Holden war ein grausamer Mann, grausam zu  seinen Pferden, grausam zu seinen Ochsen, grausam zu seiner Frau, die  zu sagen pflegte, „es ist besser, die Geliebte eines alten Mannes zu  sein, als die Sklavin eines jungen". Meine nächste Arbeitsstelle war  bei Mrs. Paxton, die einen kleinen Laden unterhielt und für die ich die  Botengänge besorgte und das Brennholz spaltete, das sie in Bündeln  verkaufte. Ihr Sohn, Clem Horseley, war erster Theaterdiener im Salt  Lake-Theater und verhalf mir zu einem kleinen Nebenverdienst. Neben dem  geringen Lohn von eineinhalb Dollar wöchentlich, den ich von seiner  Mutter erhielt, verdiente ich als Platzanweiser fünfzehn Cent für jede  Vorstellung. Wir wiesen den Leuten ihre Sitze an und wirkten außerdem  auch als Claqueure, indem wir am Ende jedes Aktes mit dem Applaus  begannen oder ihn 
    unterstützten. So bekam ich Gelegenheit, viele Theaterstücke zu sehen,  die mir sonst entgangen wären. Mein Interesse für Shakespeares  Schauspiele und Tragödien erwachte, als Booth und Barrett in Salt Lake  City auftraten. Später wurde ich ein eifriger Leser von Shakespeares  Werken. 
    Danach erhielt ich Arbeit beim alten John C. Cutler, der ein  Kommissionshaus für Obstwaren führte. Es ließ sich gut bei ihm  arbeiten. Cutler war ein prächtiger, rotwangiger alter Mann, mit einem  weißen Bart, von freundlichem, lebhaftem Wesen. Er hatte viele alte  Bekannte, die ihn im Laden zu besuchen pflegten. Einmal hörte ich, wie  sie über ihre verschiedenen Eheverhältnisse sprachen. Der alte Cutler  hatte zwei Frauen. Die ältere war Mutter von vier bekannten Mormonen in  Utah und lebte in Salt Lake City; die jüngere lebte in South  Cottonwood. Er erzählte, er habe auch noch eine andere Frau, ein feines  Mädel mit einem hübschen Baby. „Aber", fügte er hinzu, „ich weiß nicht,  wo sie jetzt ist." Warum er lachte, als er dies sagte, konnte ich nicht  verstehen. Im Alter von ungefähr zwölf Jahren führte ich dem alten  Reese seinen Obststand an der Elephant-Ecke. Eines Tages hörte ich um  die Mittagszeit eine Schießerei auf der Straße und bemerkte, wie sich  eine Menschenmenge vor Griggs Restaurant sammelte. Ich eilte hinzu, um  zu sehen, was los war, als zwei Polizisten einen Neger aus dem  Restaurant schleppten. Aus allem, was in der Menge geredet wurde,  entnahm ich, dass er einen Polizisten und einen städtischen Beamten  getötet und einen anderen Polizisten verwundet hatte. 
    Die Polizisten mit der Menge hinterdrein wandten sich zur Second South  Street. Ich wunderte mich, warum nicht der kürzeste Weg zum Gefängnis  eingeschlagen wurde; der Weg, den sie gewählt hatten, war fast um einen  Häuserblock weiter. Als die Menge die Second South Street  hinunterströmte, verließ ein Krämer seinen Laden und schloss sich an.  Dieser Mann, den ich nicht kannte, raffte seine Schürze auf, steckte  sie eilig beim Gehen in den Gürtel, und rief: „Holt einen Strick!" Ich  dachte bei mir: „Wozu brauchen sie ein Seil? Die Polizei hält ihn  ohnehin fest." 
    Die Menge wuchs und wurde mit jedem Schritt aufgeregter. Je weiter wir  kamen, desto zahlreicher wurde der Mob. Als das Gefängnis erreicht war,  konnte ich den Gefangenen und die Polizisten auf den Stufen, die zur  Tür hinaufführten, sehen. Es schien mir aber, dass die Polizisten,  statt den Neger ins Gefängnis hineinzuziehen, ihn vielmehr in die Hände  des Mobs hinunterstießen. Ich sah ihn erst wieder, als ich unter den  Armen der Leute durchgeschlüpft war, die still, wie vor Entsetzen  erstarrt, dastanden. Der Neger hing am Hals im Wagenschuppen. Sein  Gesicht war grässlich anzusehen; trotz seiner verhältnismäßig hellen  Hautfarbe war es blau angelaufen, und Augen und Zunge quollen  schrecklich hervor. Ich schaute auf die hin- und herpendelnde Gestalt  und dachte immer wieder: „Was haben sie getan? Was haben sie getan?"  Mir war, als hätte ich eine Last kalten Bleis im Magen. 
    Die Führer des Mobs waren mit dem Tode des Mannes noch nicht zufrieden.  Jemand rief: „Zerrt ihn 'raus und vierteilt ihn! Knüpft ihn an eine  Telegrafenstange!" Sie schleiften den schlaffen Körper am Hals an die  Straßenecke, wo ihnen Bürgermeister Wells Halt gebot, die Aufruhrakte  verlas und ihnen befahl, den Leichnam sofort beim Gefängnis  abzuliefern. Damals sah ich zum ersten Mal, wohin die besinnungslose  Grausamkeit des Mobs fuhren kann. Ich erkannte auch, dass der Pöbel  nicht nur aus denjenigen bestand, die bereit gewesen wären, selbst die  schrecklichste Tat zu verüben, sondern dass viele nur aus Neugier  mitgelaufen waren, um zu sehen, was geschehen würde. Und doch  unterstützte jeder einzelne durch seine Anwesenheit die Rädelsführer.  Ich glaube nicht, dass mehr als drei oder vier Leute den Mann damals  wirklich töten wollten. 
    Ein Botenjunge sieht mancherlei Dinge und lernt viele Menschen genau  kennen; auch ich hatte als Botenjunge dazu Gelegenheit. Mit allen  einflussreichen Bürgern von Salt Lake City kam ich in Berührung. Die  Leute gaben nicht darauf acht, was sie vor einem jungen Burschen  sprachen, und so hörte ich von ihren Geschäften, von ihren  Skandalgeschichten und lernte ihre politischen Winkelzüge kennen. Auf  diese Weise erfuhr ich auch von den Plänen, die gegen die Mormonen  geschmiedet wurden und die zur Annahme des so genannten  Edmunds-Gesetzes führten, durch das die Vielweiberei untersagt wurde.  Um diese Pläne zu durchkreuzen, kamen die Mormonen auf eine Intrige.  Sie dingten eine Frau, ließen sie in die Stadt kommen und brachten sie  in einem Hause unter, das mit bequemen Gucklöchern versehen war. Darauf  wurden an angesehene Nicht-Mormonen Einladungen mit der Aufforderung  versandt, die Dame zu besuchen, die ein paar interessante junge  Freundinnen bei sich habe. Durch ein Versehen wurden jedoch einige  Einladungen auch an Mormonen verschickt, und die Affäre rief in der  Stadt auf beiden Seiten einen großen Skandal hervor, da viele angeblich  würdige und angesehene Männer kompromittiert waren. Ich besuchte noch  ein Schuljahr lang die St. Mark-Schule. Wenn ich jetzt daran  zurückdenke, scheint es mir, dass ich ein sehr sonderbarer Schüler  gewesen sein muss. In einigen Fächern erhielt ich ausgezeichnete Noten,  in anderen kam ich nicht vorwärts. Den Unterricht in Geschichte und  Geographie erhielt ich in der höchsten Klasse der Schule. Meine  Vorliebe für diese Themen und meine Leistungen rührten sicher von dem  Unterricht her, den ich früher beim alten Professor Foster erhalten  hatte. Mathematikunterricht erhielt ich in einer niedrigeren Klasse,  die übrigen Fächer in meiner eigenen Altersstufe. Einer der Jungen in  unserer Klasse, John Hyslop, gewann ein Stipendium und sollte auf die  Universität gehen, um Geistlicher zu werden. Wir verlachten John wegen  seiner Berufswahl. Er aber entgegnete: „Ich kümmere mich den Teufel  darum: jedenfalls kann ich jetzt studieren!" Viele Jahre später sah ich  John Hyslop auf einer Agitationsreise wieder. Nach der Versammlung  blieb er mit anderen zurück, um mich zu begrüßen. Ich erkannte ihn  sofort wieder und fragte ihn, was er treibe. Er amtierte als  Geistlicher an einer Kirche des Ortes. Ich erinnerte mich an die  Bemerkung, die er gemacht hatte, als die Jungens ihn verspotteten, weil  er Prediger werden wollte. Er sagte: „Ich kann mich nicht daran  erinnern; aber ich bin Geistlicher, und meine Arbeit befriedigt mich."  Das Studium hatte also gewirkt. 
    Als einmal Ben Tillman, Senator für Südkarolina, in Salt Lake City  sprach, kam mir zum ersten Mal das Bestehen der Negerfrage zu  Bewusstsein. Im Verlaufe des Vortrags äußerte er seine heftige  Antipathie gegen die Neger als Menschen und gegen die ganze Negerrasse.  Ein Neger, der neben mir saß, richtete eine Frage an den Senator.  Dieser antwortete mit heftigen Ausfällen und beleidigenden Bemerkungen  über die Mutter des farbigen Mannes. Er sprach von dem Fragesteller als  von einem „lederfarbigen Sohn des Satans" und höhnte weiter darüber,  was seine Mutter wohl gewesen sein müsse, wenn der Fragesteller,  offensichtlich ein Mischling, eine solche Farbe habe. Ich blickte auf  den Neger, und sein gequälter 
    Ausdruck weckte in mir für immer die Gewissheit, dass er und  seinesgleichen dasselbe seien wie ich und andere Menschen. Ich an  seiner Stelle hätte denselben Groll und die gleiche Erbitterung  empfunden, die in ihm brannten und die er nicht auszudrücken vermochte.  Mit dem Jahr an der St. Mark-Schule war meine Schulzeit zu Ende. Ich  arbeitete danach als Botenjunge im Walker House und im Hotel  Continental. Als ich noch im Continental beschäftigt war, erkrankte ich  plötzlich an typhöser Lungenentzündung. Nach meiner Wiederherstellung  kehrte ich nicht mehr zu meiner alten Arbeit zurück. Meine Mutter und  ich hatten beschlossen, dass ich ein Handwerk erlernen sollte. Im Hause  neben uns lebte eine Familie Pierpoint. Der Mann war Kesselschmied, und  sein Vater besaß eine Gießerei und Kesselschmiede, in die ich in die  Lehre gegeben werden sollte. Als die Rede aber auf die Ausstellung der  notwendigen Papiere kam, rebellierte ich. Ich wollte nicht wieder  gebunden sein wie bei John Holden, von dem ich nicht fort konnte, bevor  ich meine Lehrzeit abgedient hatte. So zerschlug sich der Plan. 
    Mein Stiefvater war damals Oberaufseher in der „Ohio Mine and Milling  Company" im Bezirk Humboldt, Nevada. Er entschied, dass er mich dort  gebrauchen könne. Ich kaufte mir in Salt Lake City eine Ausrüstung  bestehend aus Overalls, Jumper, blauem Hemd, Bergarbeiterstiefeln, zwei  Bettdecken, einem Schachspiel und einem Paar Boxhandschuhen. Meine  Mutter gab ein großes Abschiedsessen, bei dem der Plumpudding die  Hauptsache war. Sie meinte zwar: „In ein paar Wochen bist du wieder  zurück", ich aber sagte meinem kleinen Schatz und meiner Familie  Lebewohl und machte mich auf den Weg nach Nevada. Ich war damals  fünfzehn Jahre alt.
 
 
 
   
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