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William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Neunzehntes Kapitel
Morde! Überfälle! Verhaftungen!

Der Streik der Bergarbeiter in den Eisenerzgruben von Minnesota im Jahre 1916 war ein bedeutsames Ereignis in der Geschichte der IWW, obgleich während dieses Kampfes ein widerlicher Vorfall einen unaustilgbaren Fleck auf dem Ansehen der Organisation hinterließ. Es war die Verurteilung dreier Streikteilnehmer, die des Mordes angeklagt waren. Ich werde diese Angelegenheit später schildern.
Der Streik begann in der Silver Mine in Aurora, einer Eisengrube, in der die Arbeitsbedingungen für die Bergleute unerträglich geworden waren. So gab es, um ein Beispiel anzuführen, unter Tage Stellen, an denen die Bergleute gezwungen waren, das Bauholz durch so niedrige Gänge zu schleppen, dass sie auf allen vieren im Schlamm  und  Schmutz  kriechen  mussten,  um  die schweren Balken an ihre Arbeitsstellen zu schaffen. Die Arbeiter erhoben Forderungen nach Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen und traten in den Streik. Der Kampf griff sofort auf die Eisenbergbaugebiete von Mesaba, Cayuna und Vermilion über. Es waren ungefähr sechzehntausend Mann an dem Streik beteiligt.
Zu dieser Zeit war die United States Steel Corporation mit Bestellungen von Kriegsmaterial aus allen am großen Massenmorden beteiligten Ländern überschwemmt. Als erste Gegenmaßnahme rief der Stahltrust die bei ihm in Sold stehenden Wächter und Revolverhelden auf den Plan. Dann entsandte der Staatsgouverneur die Miliz in die Eisenreviere, um den Streik niederzuschlagen.
Gouverneur Burnquist erließ eine Verordnung, durch die alle Paraden, Aufmärsche oder Demonstrationen der Streikenden verboten wurden. Die Befolgung dieser Anordnung hätte die Kämpfenden eines ihrer stärksten Agitationsmittel beraubt. Der Befehl wurde daher ignoriert.
In Eveleth wurde ein finnischer Arbeiter, John Alar, auf der Schwelle seines Hauses getötet, auf der er mit seinem kleinen Kinde im Arm saß. Die Beerdigung des ermordeten Kumpels wurde Anlass zu einer eindrucksvollen Demonstration aller Bergarbeiter aus den verschiedenen Bezirken. Die Streikenden aus der Stadt Virginia trugen an der Spitze des Zuges ein Banner mit der Inschrift: „Auge um Auge, Zahn um Zahn." Die Organisatoren der IWW hielten die Spitze der Demonstration, hinter ihnen marschierte eine Musikkapelle. Während des Marsches sammelten sich die Revolverhelden und Betriebswächter auf dem Bürgersteig. Nach den Reden am Grabe des toten Kameraden erhoben die Demonstranten, Männer aus allen Teilen der Welt, die rechte Hand und bekräftigten den alten biblischen Eid: Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Dieser Vorgang wurde später in einem Prozess gegen die verhafteten Organisatoren der IWW, die der Ermordung eines der Revolverhelden namens Myron beschuldigt wurden, von den Anklägern weidlich ausgenutzt. Myron gehörte zu einer in Duluth organisierten Bande, die in das Kampfgebiet einrücken sollte, um die führenden Leute des Streiks zu beseitigen oder unschädlich zu machen. Die Horde drang in das Haus des Bergarbeiters Masonovitch, bei dem auch zwei andere Bergarbeiter, Geogorovitch und Orlanditch, zur Miete wohnten. Die Banditen trafen auf Widerstand. Im Verlaufe des Kampfes wurden zwei Männer erschossen.
Eine Kugel traf den Fuhrmann eines Lebensmittelwagens, einen finnischen Arbeiter namens Latvala, und eine andere den Revolverhelden Myron. Diesem Scharmützel folgte unmittelbar die Verhaftung Masonovitchs und der beiden anderen Bergarbeiter sowie der Organisatoren der IWW, Joe Schmidt, Sam Scarlett und Carlo Tresca. Die sechs Männer wurden in das Gefängnis von Duluth gebracht. Ich begann sofort eine Kampagne zu ihrer Verteidigung. Ohne Verzug schickte ich nach Richter Hilton in Denver, den wir schon früher zur Verteidigung Joe Hills beschäftigt hatten und der auch bei der Verteidigung George Pettibones in Boise, Idaho, die Stelle von Clarence Darrow eingenommen hatte. Außerdem rief ich den jungen Anwalt Whitsell, der gleichfalls für die Bergarbeiterföderation des Westens während des Prozesses in Boise gearbeitet hatte. Ferner beschäftigten wir in Minnesota ansässige Anwälte und waren nun der Überzeugung, dass wir alle Vorkehrungen zur Verteidigung nicht nur der Führer, auf denen die schreckliche Anklage des Mordes lastete, sondern auch der streikenden Bergarbeiter, die in diesen Fall verwickelt waren, getan hatten.
Joe Ettor, der zu dieser Zeit Hauptorganisator der IWW war, wirkte damals in Scranton, Pennsylvanien, und Umgebung. Kurz nach dem Beginn des Streiks war er auf dem Schauplatz erschienen und begann nun ebenfalls mit Geldsammlungen für die Verteidigung der Angeklagten. Durch seine Arbeit und die des Zentralbüros wurde eine große Summe Geldes für diesen Zweck aufgebracht.
Dem Prozess konnte ich, da ich nicht am Orte war, nicht beiwohnen. Eines Tages erhielt ich durch die Presse die Nachricht von der Verurteilung der drei Bergarbeiter.
Sofort telegrafierte ich an Ettor, er solle ein Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens einreichen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als ich von ihm erfuhr, dass die Bergarbeiter sich schuldig bekannt hatten und zu fünf bis zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt seien. Ich forderte ihn sofort telegrafisch auf, zusammen mit den freigelassenen Organisatoren in die Zentrale zu kommen. Mit ihnen erschien auch Elizabeth Gurley Flynn, die gleichfalls in diesem Streik tätig gewesen war.
Bei genauer Untersuchung der Lage ergab sich folgendes: Im Gefängnis von Duluth war vereinbart worden, dass die Bergarbeiter sich schuldig bekennen und zu einem Jahre Zuchthaus verurteilt werden sollten, während die Organisatoren der IWW freigelassen und die Mordanklage gegen sie eingestellt werden sollte. Dieser Vorschlag war den Bergarbeitern von Richter Hilton durch einen gewissen James Gilday übermittelt worden; Gilday war ein Mitglied des Landarbeiterverbandes, der sich jedoch später als ein Spitzel entpuppte. Die Verhandlungen im Gerichtssaal waren nur eine Farce. Die Bergarbeiter, die der englischen Sprache nicht vollkommen mächtig waren, entdeckten schließlich, dass sie sich des Mordes zweiten Grades schuldig bekannt hatten und dass sie zu fünf bis zwanzig Jahren verurteilt worden waren.
Joe Schmidt, ein polnischer Organisator, sagte mir auf der Konferenz in der Zentrale: „Es war unrecht, Bill, unrecht vom Anfang bis zum Ende. Diese Männer hätten niemals ins Gefängnis kommen dürfen." Scarlett pflichtete Schmidt bei. Daraufhin ging ich Ettor, Flynn und Tresca um eine Erklärung an. Von Tresca erwartete ich nicht viel, da er nicht Mitglied der Organisation war, wenn er auch während des  Streiks in Lawrence,
Massachusetts, gute Arbeit geleistet hatte. Ettor und Flynn sagten nur, das sei das beste gewesen, was man hätte tun können! Daraufhin erklärte ich Ettor unmissverständlich, als er wegen Mordes in Lawrence verhaftet worden sei, habe ihm die Organisation auch nicht gestattet, sich eines Verstoßes schuldig zu bekennen, und sei es dessen, auf den Bürgersteig gespuckt zu haben. Alle drei wussten sehr wohl, dass den drei verurteilten Bergarbeitern, die jetzt ins Zuchthaus geschafft wurden, ein Unrecht geschehen war. Die Rolle, die sie in dieser Angelegenheit spielten, machte ihren Beziehungen zur IWW ein Ende. Ettor und Flynn waren lange mit den IWW verbunden und waren ernste, energische Arbeiter. Sie hätten nicht zulassen dürfen, dass sie von Rechtsanwälten, die immer lieber einen Prozess „arrangieren", als ihn bis zu Ende durchfechten, in eine Falle gelockt wurden. Joe Schmidt ging zurück nach Pennsylvanien. Ich habe niemals wieder von ihm gehört. Noch während des Streiks entsandte Gouverneur Burnquist eine Kommission zur Untersuchung der Lage der Bergarbeiter in das Eisengebiet. Später fand auch im Staatsparlament von Minnesota eine Untersuchung und die Befragung einer Deputation statt. Nachdem die Kommission des Gouverneurs ihren Bericht erstattet hatte, kehrten die Bergarbeiter zur Arbeit zurück, und merkwürdigerweise bewilligte der Stahltrust ohne Konferenz, ohne Schiedsgericht, ohne besondere Abkommen irgendwelcher Art alle Forderungen, die von den Arbeitern gestellt worden waren. Die Bergarbeiter erhielten eine Lohnerhöhung, den Achtstundentag und im allgemeinen bessere Arbeitsbedingungen. Es war dies das zweite Mal, dass der mächtige Stahltrust die von den IWW erhobenen Forderungen bewilligt hatte, obwohl die Führer und Mitglieder der Organisation mit den
Beamten des Konzerns am Ende des Streiks nicht besser bekannt geworden waren als zu Beginn desselben.
Die Industriemagnaten der Vereinigten Staaten begriffen, dass ein siegreiches Deutschland ein starker Konkurrent auf den Weltmärkten sein würde. Die USA waren drauf und dran, ihre Batterien auf diesen immer stärker werdenden Gegner auf wirtschaftlichem Gebiete zu richten. Die Invasion Belgiens durch die „Hunnen" war ihnen als passender Anlass zu einer Kriegserklärung entgangen. Die Zerstörung der „Lusitania" reichte für eine Kriegserklärung nicht aus. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten, besonders die des Mittelwestens und des Westens, war entschieden gegen den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg. „Onkel Sam", in Gestalt der Imperialisten der Wallstreet, hielt es darum für notwendig, eine großzügige Kriegsrüstungskampagne zu eröffnen. Zuerst sicherten sie sich die Kontrolle über alle einflussreichen Zeitungen des Landes. Dann begannen die Klubs und Verbände der Kaufleute, die Fabrikantenverbände usw. mit ihren Bereitschaftsparaden. Demonstrationen dieser Art wurden in vielen der großen Städte abgehalten. Entscheidend für den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg waren natürlich die Milliardenkredite, die den alliierten Mächten gewährt worden waren.
In San Francisco wurde zwei Tage vor der von den Kriegstreibern organisierten Kriegsparade eine große Protestversammlung gegen den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg abgehalten. Auf dieser Versammlung schlug einer der Redner als Mittel zur Beendigung des Krieges vor, dass die Soldaten ihre Offiziere erschießen und heimgehen sollten.
Am nächsten Tage erhielten alle Zeitungen Warnbriefe,
in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass „etwas geschehen werde, wovon man in der ganzen Welt hören werde". Und am Tage der Bereitschaftsparade ereignete sich wirklich eine Bombenexplosion, die zehn Menschen tötete und viele andere verwundete. Tom Mooney, Warren Billings und einige andere wurden daraufhin verhaftet und des Mordes angeklagt. Tom Mooney hatte kurz vorher einen Streik der Straßenbahner in San Francisco geführt. Dieser energisch und geschickt geführte Streik hatte Mooney den Hass der Unternehmer und der Staatsgewalt eingebracht. Seiner Tätigkeit als Streikorganisator ist es zuzuschreiben, dass er verhaftet und angeklagt wurde, die Explosion mit veranlasst zu haben. Mooney und Billings wurden auf Grund der Aussagen meineidiger Schurken für schuldig erklärt und zum Tode verurteilt. Später wurde dieses Urteil in lebenslängliche Haft umgewandelt. Mooney und Billings wären ebenso kaltblütig ermordet worden wie später Sacco und Vanzetti, wenn nicht eine sehr starke Protestbewegung eingesetzt hätte, die den endgültigen Justizmord verhinderte. So suchte unter anderem auch ein Komitee von russischen Arbeitern den amerikanischen Botschafter Francis in Petrograd auf und erklärte ihm, dass ihre Brüder Tom Mooney und Billings nicht gehängt werden dürften. Francis setzte sich dann in einem Telegramm an die Regierung der Vereinigten Staaten für Tom Mooney und Billings ein.
Zu dieser Zeit entfalteten die IWW eine starke Propagandaaktion gegen den Krieg.
Der Kongress der IWW von 1916 nahm folgende Entschließung an, die unter dem Titel „Eine Erklärung" erschien:
„Wir, die auf dem Kongress versammelten Industriearbeiter der Welt, bekräftigen hiermit aufs neue unser Bekenntnis zu den Prinzipien der Industriegewerkschaften, und wir wollen uns auch weiterhin unnachgiebig und ohne Schwanken dem Kampf für die Abschaffung der Lohnsklaverei und die Verwirklichung unseres Ideals der industriellen Demokratie widmen... Wir verurteilen alle Kriege, und um sie zu verhüten, bekennen wir uns zur antimilitaristischen Propaganda in Friedenszeiten, um so die Klassensolidarität unter den Arbeitern der ganzen Welt zu fördern, und in Kriegszeiten zum Generalstreik in allen Industrien. Alle Arbeiter, die unter den Händen der Kapitalistenklasse wegen ihrer Treue zu diesen Prinzipien leiden, versichern wir unserer moralischen und materiellen Unterstützung und fordern alle Arbeit r auf, sich mit uns zu vereinigen, damit die Herrschaft   der Ausbeuter aufhören und diese Erde durch die Errichtung der industriellen Demokratie befreit werden möge." Wir verfassten ein Flugblatt unter dem Titel „Eine tödliche Parallele", auf dem wir die Entschließung der IWW rot umrandet neben eine schwarz eingerahmte patriotische Resolution der AFL setzten. Das Flugblatt wurde in riesigen Mengen im ganzen Lande verbreitet. Die „tödliche Parallele" wurde auch in einer Broschüre ver­öffentlicht, die wir „Der letzte Krieg" betitelten. Zu den wichtigsten Kriegsmaterialien, die von den Vereinigten Staaten in die kriegführenden Länder ausgeführt wurden, gehörte Fichtenholz. Als der Holztrust später auch noch die Regierung der USA belieferte, konnte er seine Preise um mehr als dreihundert Prozent steigern. Die Holzarbeiter, Mitglieder der IWW, waren daher der Meinung, sie könnten mit Recht bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, kürzere Arbeitszeit und eine Erhöhung der Löhne fordern. Sie machten
große Anstrengungen, die Holzfäller, Sägemühlenarbeiter und anderen in der Holzindustrie beschäftigten Arbeiter zu organisieren. Aber sie stießen dabei an vielen Orten auf die Feindschaft der Bezirksbehörden, die alle unter dem Einfluss der großen Holzgesellschaften standen.
Dies war auch in Everett, Washington, der Fall, wo der Sheriff fortgesetzt die Organisatoren und Redner der IWW verhaftete und die Versammlungen auflöste. Unsere Ortsgruppen in Seattle beschlossen angesichts dieses Terrors, eine Anzahl ihrer Mitglieder nach Everett zu senden, um dort für Redefreiheit und Koalitionsrecht zu sorgen. Am Sonntag, dem 5. November 1916, charterten sie die „Verona" und ein Schwesterschiff und fuhren nach Everett. Als die „Verona" den Kai erreichte, wurden die an Bord befindlichen Arbeiter mit einer Salve von Gewehrschüssen empfangen, die von einer im Gebüsch versteckten Horde von Hilfssheriffs und Revolverhelden abgefeuert wurde. Fünf IWW-Mitglieder wurden getötet und viele verwundet. Grausam und heimtückisch hingemordet wurden IWW-Arbeiter, verhaftet und unter Mordanklage gestellt wurden aber nicht die Mörder, sondern eine große Anzahl derer, die sich an Bord der „Verona" befunden hatten. Ihnen wurde der Prozess gemacht, weil einige der Beamten durch Schüsse, die vom Schiff aus zur Abwehr des Überfalls zum Ufer hinübergesandt wurden, getötet worden waren. Sie wurden nach langer Haft freigesprochen.
Die Organisierung der Holzarbeiter schritt fort. Sie traten schließlich in einen mit großer Energie geführten Streik, den sie aber wegen Mangels an Geldmitteln abbrachen und durch eine andere Form des Arbeitskampfes ersetzten. Die Leute kehrten zur Arbeit zurück und verließen die Arbeitsplätze, wenn ihre acht Stunden um waren. Dieses Vorgehen ärgerte die Leitung und die Vorarbeiter der Holzgesellschaften. Sie hielten den Arbeitern wiederholt vor, dass sie zehn Stunden zu arbeiten hätten, dass sie in einem „Zehnstundenlager" seien. Die Arbeiter erwiderten schlankweg, das hätten sie bei Annahme der Arbeit zwar gewusst, aber sie seien Achtstundenleute" und würden nicht länger arbeiten. Sie zwangen die Gesellschaften, Betten an Stelle der bisher benutzten schmutzigen Pritschen aufzustellen und erhielten Brausebäder, Waschgelegenheiten und bessere Verpflegung. Am 1. Mai 1917 verbrannten alle Holzarbeiter ihre eigenen verdreckten und verlausten Decken. Auch die Zustände in den Ölfeldern von Oklahoma, Texas und Kalifornien waren sehr schlecht. Der den IWW angeschlossene Industrieverband der Ölarbeiter traf Vorbereitungen, um für die an den Ölquellen und mit den Bohrungen nach neuen Öllagern beschäftigten Arbeiter bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erkämpfen.
Für den ersten Ansturm wurde Tulsa, Oklahoma, bestimmt. Es herrschte Kampfstimmung. Eines Abends drangen einige Mitglieder des Kaufleuteklubs mit einem Trupp Polizisten in den Versammlungsraum der IWW ein, verhafteten alle dort anwesenden Mitglieder und schleppten sie ins Gefängnis. Aber sie hatten ganz gegen die sonstige Gewohnheit nicht daran gedacht, eine bestimmte Anklage gegen die Männer zu fabrizieren; daher wurden die Verhafteten wieder aus dem Gefängnis herausgezerrt, aber nicht entlassen, sondern in Automobile gesteckt und aus der Stadt geschleppt. Außerhalb der Stadtgrenze fesselten die Bestien ihre Opfer an die Bäume und prügelten sie mit Ochsenziemern, bis das Blut vom Körper rann. Damit nicht genug, goss der Pöbel
heißen Teer über die wunden Leiber und wälzte die Gemarterten in Federn. Dann erst ließen sie ihre Opfer los und sagten ihnen, sie sollten sich fortscheren und sich niemals wieder in Tulsa sehen lassen, wenn sie nicht noch Schlimmeres erleben wollten.
Während dieser aufgeregten Zeit erhielt ich ein Telegramm von meinen Töchtern aus Denver mit der erschütternden Nachricht, dass die Mutter gestorben sei. Der Tod hatte meine Frau von ihrem langen Leiden erlöst. Ihren letzten Ruheplatz bereiteten wir ihr in der Nähe ihres Vaters und ihrer Mutter in McDermitt, das noch heute in unwirtlichem Grenzland liegt.
Lange Zeit hindurch wurde jede Versammlung der IWW und, soweit als möglich, jeder Schritt der Mitglieder von besonderen Agenten beobachtet. Im Januar 1916 sollen fünfundsiebzig bis hundert Leute mit dieser Arbeit beschäftigt gewesen sein. Sie hatten dabei die Unterstützung und Hilfe aller Staats-, Bezirks- und Kommunalbehörden. Die Spitzel hatten nicht viel zu tun. Alle unsere Versammlungen waren öffentlich; wir brauchten nichts von unserer Arbeit zu verstecken. Nachdem Präsident Wilson im Februar 1917 die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen hatte, wurde die Überwachung der IWW durch die Organe der Regierung noch schärfer. In unserem Monatsbulletin vom April 1917 schrieb ich: „Seit dem Erscheinen des letzten ,Bulletins' hat Präsident Wilson gegenüber der kaiserlichen Regierung von Deutschland den Kriegszustand verkündet. Es ist ein Aufruf für die Bildung eines Freiwilligenheeres ergangen, und möglicherweise wird der Kongress der Vereinigten Staaten Maßnahmen zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht beschließen. Alle klassenbewussten Mitglieder der IWW wenden sich bewusst dagegen, das Lebensblut menschlicher Wesen zu vergießen, nicht aus religiösen Gründen, wie die Quäker und die Vereinigung der Freunde, sondern weil wir der Meinung sind, dass die Interessen und das Wohl der Arbeiterklasse in allen Ländern identisch sind. Obwohl wir der imperialistischen kapitalistischen Regierung Deutschlands in bitterer Feindschaft gegenüberstehen, sind wir gegen das Hinschlachten und Verstümmeln von Arbeitern eines jeden Landes. In vielen Ländern erdulden unsere Mitglieder Gefängnishaft, Tod und Misshandlungen aller Art in dem Klassenkrieg, den wir für soziale und industrielle Gerechtigkeit führen."
Die IWW hatten ihre Aktivität bis nach dem fernen Australien ausgedehnt. Auch dort führten die Anhänger unserer Bewegung eine Kampagne gegen den Krieg. In Sidney wurden zwölf Mitglieder vor Gericht geführt und zu vierzehn Jahren Kerkerhaft verurteilt. Unser Blatt „Direct Action" wurde verboten und der Herausgeber, Tom Barker, deportiert.
In der Juli-Nummer des „Bulletins" veröffentlichte ich folgenden Bericht an die Industrieverbände und die ganze Mitgliedschaft:
„In Rockford, Illinois, haben sich über einhundertfünfzig Mann, Mitglieder der IWW und Sozialisten, freiwillig den Behörden wegen Umgehung des Einberufungsgesetzes gestellt. Sie wurden mit außergewöhnlicher Brutalität behandelt. Als sie dagegen protestierten, voneinander isoliert und truppenweise in andere Gefängnisse abgeschoben zu werden, wurden sie vom Sheriff des Gefängnisses von Rockford und seinen Gehilfen erbarmungslos mit Knüppeln geprügelt. Als ihr Fall vor Gericht kam, wurden sie einem notorisch unfairen Richter vorgeführt, einem Richter, der in einer kurz vor dem
Prozess gehaltenen Rede erklärte, er bedaure, nicht in den Krieg ziehen und kämpfen zu können, aber zumindest könne er in der Heimat die Männer bekämpfen, die hier gegen die Soldaten aufträten. Dieser Richter, Kenesaw Mountain Landis, hat einen Sohn in der Armee; man kann sich also vorstellen, wie gerecht er Männern gegen­über sein konnte, die gegen die allgemeine Dienstpflicht sind und nicht an die Notwendigkeit von Kriegen oder Armeen glauben. Wie erwartet, stellte der ,Ehrenwerte' (Ehre, wem Ehre gebührt!) Richter einfach ein Känguruverfahren mit den Kameraden an, gab fast allen die Höchststrafe und schickte sie, um ihre Strafe zu verschärfen, nach Bridewell in Chicago, ,wo', wie er sagte, ,die Arbeit viel härter ist als im Bundesgefängnis'. Er nutzte auch ihre Hilflosigkeit aus, um eine beleidigende Rede an sie zu halten, in der er sie ,Feiglinge' und ,winselnde, wehleidige Hündchen' nannte, weil sie nicht für Morgan und seine Kapitalanleihen kämpfen wollten." Im Juni 1917, gerade drei Jahre nach dem Tage, an dem der Versammlungssaal der Bergarbeiter in Butte, Montana, in die Luft gesprengt wurde, ereignete sich an diesem Ort ein schreckliches Unglück in der Speculator-Grube. Aus unbekanntem Grunde brach in einer Tiefe von zweitausendvierhundert Fuß ein Feuer aus, das den Tod von einhundertvierundneunzig Menschen mit sich brachte. Die Opfer konnten nicht aus der Grube herausgelangen und konnten sich auch nicht in die benachbarten Gruben hinüberretten, da die Grenzen von betonierten Wänden versperrt worden waren, die nicht ohne Sprengung geöffnet werden konnten. Die Kumpels, die ihre Werkzeuge liegengelassen hatten, gruben und kratzten mit den Händen, um aus der Hölle herauszukommen, bis ihre Finger bis an die Knochen wund waren. Diejenigen, die nicht direkt vom Feuer getötet wurden, erstickten
durch den Rauch. Furchtbare Geschichten wurden über die Vorgänge im Leichenschauhaus erzählt; die ausgegrabenen Überreste und nicht identifizierten Leichen sollen für zwölf Dollar das Stück, wahrscheinlich zu Sektionszwecken, an medizinische Fakultäten verkauft worden sein.
Der Feuerkatastrophe in der Speculator-Grube folgte sehr schnell ein Generalstreik in allen Gruben von Butte. Dieser Streik wurde von einem neu gebildeten Verband, den Vereinigten Erzbergarbeitern, geführt. Seine Funktionäre waren ehemalige Mitglieder der Bergarbeiterföderation des Westens und Mitglieder der IWW.
Nach der Kriegserklärung im Jahre 1917 erzählte mir Robert Bruere, der damals eine Artikelserie unter dem Titel: „Auf der Fährte der IWW" schrieb, dass die Organisation einen Überfall zu erwarten habe. Er berichtete mir, dass Sam Gompers sich zu diesem Zweck an den Kriegsminister Newton Baker gewandt und diesem einen Plan zur Vernichtung der IWW vorgelegt habe. Baker weigerte sich, diesen Vorschlag von Gompers ernst zu nehmen; der aber wandte sich an das Justizministerium, wo er mehr Erfolg hatte.
Die Presse begann eine äußerst heftige Attacke und beschuldigte die IWW, im Dienste Deutschlands zu stehen und große Summen deutschen Goldes erhalten zu haben. Es wurde behauptet, wir beabsichtigten, die im Heer verwendeten Lebensmittelkonserven zu vergiften; wir seien ferner für die Verbreitung der Maul- und Klauenseuche verantwortlich, die zu dieser Zeit wütete und große Viehherden vernichtete. Die Organisationsarbeit des Industrieverbandes der Bergarbeiter breitete sich erfolgreich auf die verschiedenen Bergwerksbezirke des Landes aus. Besonders
1 stark wurde die Organisation im Staate Arizona, wo die Mitgliedschaft beschlossen hatte, eine Erhöhung der Löhne zu fordern. Der Kupfertrust hatte den Preis des Kupfers auf das Dreifache erhöht, ohne jedoch die Arbeitsbedingungen der Arbeiter, die das Erz förderten, in irgendeiner Weise zu beachten. Der berüchtigte Bürgerbund wurde wiederhergestellt und begann unter dem Namen einer Loyalitätsliga seine unmenschlichen Grausamkeiten auszuüben.
Zeitig am Morgen des 10. Juli 1917 umzingelten bewaffnete Söldlinge der United Verde Copper Company, die dem ehemaligen Senator William Clark gehörte, in Jerome, Arizona, das Lager der kämpfenden Bergarbeiter. Sie griffen siebzig Mitglieder heraus, luden sie auf Viehwagen und schickten sie nach Kalifornien. Der Sheriff von Kalifornien verweigerte jede Hilfe und schaffte sie zurück über die Grenze von Arizona. In Kingman, Arizona, löste sich die Gruppe auf. Am 12. Juli 1917 wurden die Bergarbeiter von Bisbee, Arizona, ganz überraschend durch die Revolverhelden der Bergwerksgesellschaften und einer von Geschäftsleuten gebildeten so genannten Bürgerwehr festgenommen. Sie brachen in den frühen Morgenstunden in die Wohnungen und Pensionen der Bergarbeiter ein und rissen sie aus den Betten. Die Männer wurden in den Baseballpark in der Nähe des Bahnhofs geführt. Nachdem eintausendeinhundertzweiundsechzig  von  ihnen zusammengetrieben worden waren, wurden sie in Vieh- und Frachtwagen geladen und in die Wüste von Hermanas geschafft. Dort wurden sie ausgesetzt und ohne Nahrungsmittel oder Wasser zurückgelassen. Sobald ich von dieser niederträchtigen Gewalttat erfuhr, forderte ich telegrafisch vom Präsidenten Wilson in Washington, dass die Bergarbeiter in ihre Heime in Bisbee
zurückgeführt und dort vor den Verfolgungen des Pöbels geschützt würden. Ich erhielt keine Antwort; ein oder zwei Tage später erfuhr ich aber, dass die Leute weiter nach Columbus, Neumexiko, geschafft worden waren. Wieder telegrafierte ich dem Präsidenten, und wieder kam keine Antwort.
Die Mitglieder der IWW waren über die ihren Kollegen angetane Unbill aufs äußerste erbittert und begannen ernsthaft für einen Generalstreik in allen Industriezweigen zu agitieren, in denen die IWW vertreten waren oder über genug Einfluss verfügten, um die gewünschte Aktion herbeizuführen. Diese Agitation führte zu harten Vergeltungsmaßnahmen seitens der Untemehmerklasse und der Regierung; in vielen Teilen des Landes fanden Verhaftungen und Deportationen der IWW statt. Auf einer Versammlung des Exekutivkomitees in Chicago im Juli 1917 wurde der Krieg von verschiedenen Standpunkten aus diskutiert, aber es wurden keine neuen Aktionen beschlossen, die über das hinausgingen, was die Organisation bisher schon getan hatte. Man kam aber überein, eine Erklärung an die Mitglieder herauszugeben. Nach der Sitzung des Exekutivkomitees ver­öffentlichte Ralph Chaplin, damals Herausgeber der „Solidarity", folgenden Artikel in der Nummer vom 28. Juli:
„Wurdest du einberufen?
Der Standpunkt der IWW zur Frage des Krieges Die Haltung der Industriearbeiter der Welt ist der Bevölkerung der Vereinigten Staaten gut bekannt und wird im allgemeinen von der Arbeiterbewegung in der ganzen Welt anerkannt.
Seit ihrer Gründung hat unsere Organisation alle nationalistischen und imperialistischen Kriege bekämpft. Wir
haben einwandfrei bewiesen, dass der Krieg eine Frage ist, in der wir niemals ein Kompromiss geschlossen haben und niemals zu schließen gedenken. Mitglieder, die der Armee irgendeines Landes beitreten, sind stets aus der Organisation ausgeschlossen worden. Die IWW haben ihre Gegnerschaft gegen den Krieg ausdrücklich betont und haben auch heftig dagegen protestiert, dass ihre Mitglieder in die blutigen und nutzlosen Streitigkeiten der herrschenden Klasse der verschiedenen Nationen hineingezwungen werden sollten. Das Prinzip der internationalen Solidarität der Arbeiterschaft, dem wir immer treu geblieben sind, macht es uns unmöglich, an den Balgereien der Parasitenklasse um Beute teilzunehmen.
Unsere Lieder, unsere Literatur, die Überzeugung unserer gesamten Mitgliedschaft, der Geist unseres Verbandes selbst, zeugen von unserer unwandelbaren Gegnerschaft sowohl gegen den Kapitalismus wie gegen seine Kriege.
Alle Mitglieder der IWW, die einberufen worden sind, sollten ihre Forderung nach Befreiung vom Militärdienst mit der Begründung ,IWW, Kriegsgegner' versehen." Nach der Sitzung des Exekutivkomitees fuhr eines seiner Mitglieder, Frank Little, nach Butte, Montana, um bei dem dortigen Streik mitzuhelfen. Er hinkte auf Krücken und trug ein Bein, das er kurz vor dem Verlassen Arizonas gebrochen hatte, im Gipsverband. Er war jedoch überzeugt, dass er trotz dieser Verletzung einiges zur Unterstützung der streikenden Bergarbeiter leisten könnte. Er war ein energischer Arbeiter indianischer Herkunft, schwarzäugig, heißblütig und zuverlässig. Er sprach in mehreren Versammlungen in Butte und wurde beschuldigt, sich verächtlich über die Armee der Vereinigten Staaten geäußert zu haben.
Während seines Aufenthaltes in Butte lebte Little in einem finnischen Kosthaus in der Nähe des Lokals der IWW. Am 1. August 1917, 3 Uhr morgens, fuhr ein Auto, voll besetzt mit Strolchen, vor dem Kosthaus vor. Die Kerle drangen in Littles Zimmer ein und schleppten unseren Kameraden mit seinem gebrochenen Bein hinunter.
Sie schlangen einen Strick um den Hals des Wehrlosen und schleiften ihn so den ganzen Weg oder einen Teil des Weges bis zu einer Eisenbahnbrücke, wo sie ihn aufhängten. An sein Hemd befestigten sie eine Karte: „3 - 7 - 77".(Anm.: Diese Zahlen entsprechen den Ausmaßen eines Grabes: 3 Fußbreit, 7 Fuß lang, 77 Zoll tief. Die Red.) Bill Dunne, Tom Campbell und ein oder zwei andere erhielten ebenfalls solche Karten mit der Todesandrohung „3 - 7 - 77" der blutdürstigen Bürgerwehr.
Als Littles Leiche gefunden wurde, nahmen sich die Bergarbeiter ihrer an und bestatteten sie unter ungeheurer Beteiligung auf dem Friedhof in der Ebene unterhalb Buttes.
Von dem Leichenbegängnis wurde eine Filmaufnahme gemacht. Aber diese und die Filmaufnahme der Leichenfeierlichkeiten für Joe Hill wurden von einem Fotografen namens George Dawson, der in der Nähe von Pittsburgh lebte, aus der Zentrale gestohlen; er entpuppte sich auf diese Weise als ein Spitzel der Bundesregierung. Das Land geriet in Raserei über den Krieg. Am 5. September 1917 überfielen die Geheimagenten des Justizministeriums die IWW wie ein Schwarm Geier. Von einer Küste bis zur anderen, von den großen Seen bis zum Golf von Mexiko, überall wurde die Organisation überrannt. Die Zentrale, die Hauptbüros der Industrieverbände, die Ortsgruppen der Industrieverbände und
die Werbebüros waren in den Händen der Regierung. Sogar in die Wohnungen der Mitglieder wurde eingebrochen. Und all dies geschah, ohne dass ein Befehl für die Durchsuchung vorgewiesen werden konnte. Die Bücher, in denen die Umsätze der Organisation eingetragen waren, die Literatur, die Einrichtungen, die Schreibmaschinen, die Vervielfältigungsapparate, ja die Bilder an den Wänden und die Spucknäpfe auf den Fußböden, alles, alles wurde als Beweismaterial mitgenommen und nach Chicago geschickt. Tonnenweise wurde das Eigentum der IWW im Bundesgebäude aufgestapelt. Alle Briefe, die gesamte Korrespondenz, wurden von den Spürhunden der Bundesregierung sorgfältig geprüft; für die Arbeit wurden besondere Justizbeamte bestimmt.
Gegen die Funktionäre und Mitglieder der IWW wurde eine richterliche Verfügung in fünf besonders aufgeführten Punkten erlassen. Alle Gesetze, deren Verletzung wir beschuldigt wurden, waren erst nach der Kriegserklärung angenommen worden. Es waren alles Ausnahmegesetze, die nach Beendigung des Krieges wieder null und nichtig werden sollten. Die erwähnte richterliche Verfügung war der Anlass zu einem zweiten Generalüberfall auf die IWW am 28. September 1917.
Diesmal war die Verhaftung der Führer und Mitglieder der Organisation allgemein. Tausende von ihnen wurden in allen Teilen des Landes in die Gefängnisse zusammengedrängt, und zwar in drei Gruppen: eine in Sacramento, Kalifornien, eine zweite in Wichita, Kansas, und eine dritte, die größte, in Chicago, Illinois. Die verheirateten Mitglieder wurden aus ihren Heimen und von ihren Familien fortgeschleppt, die Unverheirateten aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und in Ketten und Handschellen nach Chicago gebracht. Die Verhaftungen kamen nicht unerwartet, aber niemand hatte seinen Posten verlassen, obwohl es für viele von ihnen leicht gewesen wäre, über die Grenzen nach Kanada oder Mexiko zu entkommen. Die Verhaftungen sollten alle zur gleichen Stunde stattfinden, und sie wurden auch ungefähr so durchgeführt, obwohl in Chicago die Haftbefehle noch nicht vorbereitet waren. Als die Bundesbeamten die Zentrale in Chicago umzingelten, weilten Taro Yashiharo und ich in einem Friseurladen unweit des Büros. Einige Mitglieder stürzten in das Geschäft und berichteten mir, was vorging. Wir ließen uns nur fertig rasieren und kehrten dann zurück, um zu sehen, was los war. Beim Eintritt in das Haus stand ich vor mehreren Gerichtsbeamten. Die meisten von ihnen kannte ich von der ersten Haussuchung her, während der sie sich mehrere Tage lang im Büro herumgetrieben hatten. Einer von ihnen forderte mich auf: „Mr. Haywood, steigen Sie bitte in das Auto." Es standen mehrere Automobile vor dem Eingang. Ich stieg ein, wurde zum Gebäude der Bundespolizei gefahren und dort in das Büro der Geheimabteilung gebracht. Hilton Claybaugh, der Leiter der Geheimpolizei, forderte mich auf, in ein Nebenzimmer zu kommen, und begann mich nach dem Aufenthaltsort von Mitgliedern der Organisation zu fragen. Ich verweigerte jegliche Mitteilung.
Wir wurden in die Untergrundstation des Hauses geschafft, in Patrouillewagen geschoben und in das Bezirksgefängnis von Cook übergeführt. Wir kamen durch den rückwärtigen Eingang hinein und wurden in eine kleine Zelle gesteckt, wo wir warten sollten, bis unsere Namen in die Bücher eingetragen wären. Chaplin vertrieb sich die Zeit, indem er das Abzeichen der IWW an die Wand malte.
Wir weilten jetzt in demselben Gefängnis, in dem die Märtyrer vom Haymarket achtzehn Monate lang in Haft
gelegen hatten und dann gehenkt wurden. Ich weiß nicht, in welchen Zellen sie seinerzeit untergebracht waren, aber sicherlich haben einige von uns in den gleichen Zellen gesessen wie sie.
Bei der Personalaufnahme hatten wir unsere Namen, Geburtsdatum und Ort, Alter, Religion usw. anzugeben. Einige der Kameraden antworteten auf die Frage nach ihrer Religion: „Die der IWW." Der Wärter sagte: „Das ist keine Religion." „Nun", erwiderten sie, „eine andere habe ich nicht." Eine andere Frage, die uns gestellt wurde, lautete: „Wer ist Ihr bester Freund?" Ein Mitglied sagte: „Bill Haywood." Der Wärter bemerkte: „Der kann Ihnen nicht viel nützen, der ist ja hier mit Ihnen zusammen eingesperrt." Der Bursche antwortete jedoch ungerührt: „Schon gut, er ist aber mein bester Freund."
Das Gefängnis liegt im Zentrum von Chicago, an der Ecke der Austin Avenue und der Dearborn Street. Ein abstoßendes, schmutziges Gebäude aus grauem Granit. Lange vergitterte Fenster schauen wie Felsspalten auf die Straße. Die Fensterbretter liegen hoch über der Straße. Die Fensterscheiben hatten schon lange ihre Durchsichtigkeit verloren in all den Jahren, in denen sich Staub und Spinnweben daran angesammelt hatten. Das Zellenhaus bildete ein großes Viereck, in dem die einzelnen Käfige aneinandergereiht lagen. Die Zellen waren schwarz gestrichen und starrten von Schmutz und ausgespienem Tabakssaft. Ein rostiges eisernes Becken und ein Abortkübel in der Ecke hinter der Pritsche bildeten die ganze Einrichtung. Die Heizungs- und Wasserröhren waren verdreckt und rot vom Rost. Drei schmale Pritschen, eine über der anderen, nahmen über die Hälfte
des Raumes ein. Auf jeder Pritsche lagen alte Zeitungen und eine schmutzige und durchgelegene Strohmatratze. Das kärgliche Bettzeug war total verdreckt, voller Ungeziefer und Infektionskeimen. Von der rückwärtigen Wand bis zur Tür waren es nur drei Schritte. Um diese drei Schritte überhaupt zurücklegen zu können, musste man das ganze Mobiliar, das aus einem Stuhl bestand, auf das „Bett" stellen.
Von einer Beleuchtung der Zellen war keine Rede, es sei denn, dass man den geringen Lichtschein, der durch das Gitter von der verhängten elektrischen Lampe jenseits der Tür hereindrang, als „Beleuchtung" bezeichnen wollte. Das Lesen war wegen des trüben Lichts schwierig. Alle Gefangenen waren zwanzig Stunden am Tage in diesen Zellen eingesperrt.
Zwei Stunden vormittags und zwei Stunden nachmittags wurden die Gefangenen herausgelassen, um sich Bewegung zu machen, und marschierten in langsamem, abgemessenem Schritt um den Korridor herum und immer wieder herum. Es war immer düster dort, und der Boden, auf den niemals die Sonne geschienen hatte, war feucht und schlüpfrig von Speichel und Auswurf. Die Gesetze des Landes erlaubten keinen Unterschied zwischen kriminellen und politischen Gefangenen. Des Morgens wurden wir durch die heisere Stimme eines Läufers aufgescheucht, der in einem fort rief: „Becher 'raus, Becher 'raus!" Wir hielten unsere Becher durch das Gitter, ein Wärter füllte sie mit einem üblen Gebräu, einem Ersatz für Kaffee, ein zweiter verteilte ein paar Stücke Brot. Zu Mittag und Abend waren die Mahlzeiten reichlicher, aber die Speisen waren oft ungenießbar. Eines Tages brachte man uns Corned beef und Kohl. Das Fleisch war verdorben. Alle Gefangenen beförderten ihre Schüsseln über die Galerie auf die darunter liegende
Etage, so dass die Luft mit dem Gestank des Kohls und der Fleischreste erfüllt war.
Besuchstage waren Dienstag und Freitag. Wir waren von unseren Besuchern durch zwei enge Drahtgitter, die zwei Fuß auseinander lagen, getrennt. Wenn jemals ein Ort ein Krankheitsherd war, so dieser. Ein Mensch nach dem andern trat an das Gitter heran, Gesunde und Kranke - die Gefangenen auf der einen, die Besucher auf der anderen Seite. Und nicht etwa einzeln, sondern mehrere auf einmal. An diesen Besuchen hatte man wenig Freude, konnte man doch manchmal in dem Durcheinander der Stimmen kein vernünftiges Wort sprechen. Das Lazarett und der Baderaum waren eine wahre Schande für eine zivilisierte Gesellschaft. In diesem furchtbaren Gefängnis wurden über hundert Mitglieder der IWW über ein Jahr festgehalten, bis ihr Prozess abgeschlossen war!
Wir begannen eine Zeitung unter uns herauszugeben, den „Büchsenöffner" (Anm.: can (Büchse) ist im amerikanischen Slang eine Bezeichnung für Gefängnis. Die Red.), die manchem der Kameraden eine Möglichkeit gab, sich etwas die Zeit zu vertreiben. Des Morgens vergaßen wir nie, Freiübungen zu machen, um uns, so gut es eben ging, elastisch zu erhalten. In dem Gefängnis besaß ein Mann, dessen Vater in diesem Schreckenshaus „aus Versehen" gehenkt worden war, die Konzession auf einen kleinen Laden. Ihm waren zwei Zellen eingeräumt, in denen er Pasteten, Tabak, Zigaretten, Zeitungen und andere Dinge, die die Gefangenen brauchten, verkaufte.
Jede Woche hielten wir eine Versammlung ab, auf der Mitglieder, die von einem Programmkomitee ausgewählt wurden, entweder eine Rede hielten, eigene Gedichte vortrugen oder Geschichten erzählten. An einem Sonntag
erzählte ich eine Geschichte, die ich „Den Streik der Affen in Kalifornien" nannte. Ich wollte damit eine Vorstellung geben von den Mitteln, zu denen die Ausbeuterklasse fähig ist. Ich begann folgendermaßen: „Die Obstfarmer des goldenen Staates hatten beschlossen, sich von den Mitgliedern der IWW zu befreien. Ihr erster Schritt zu diesem Ziel war, japanische Arbeiter in den Obstanlagen und Weingärten anzustellen. Einige der kleinen gelben Burschen schlossen sich aber den IWW an, die sie, zum Unterschied von vielen Gewerkschaften Amerikas, ebenso aufnahmen wie weiße Arbeiter oder Männer irgendeiner anderen Farbe. Die Japaner waren bald nicht mehr damit zufrieden, für niedrige Löhne unter den elenden Bedingungen zu arbeiten, die ihnen von den Mitgliedern des Obstzüchterverbandes geboten wurden, und so bildeten sie Genossenschaften, sparten ihr Geld und begannen, für sich selbst Land zu kaufen und ernste Konkurrenten ihrer bisherigen Arbeitgeber zu werden. Aus Furcht, die Japaner würden das ganze Obstland von Kalifornien aufkaufen - denn sie besaßen schon den größten Teil des Bodens im Vacatal -, wurden im Parlament des Bundesstaates Gesetze angenommen, die den Verkauf von Land an Japaner verboten, und in Washington wurde ein Bundesgesetz angenommen, das ihre Einwanderung nach den Vereinigten Staaten beschränkte. Ein Gesetz zur Einschränkung der Einwanderung von Chinesen bestand bereits. Die Obstpflanzer waren wieder gezwungen, weiße eingewanderte Arbeiter zu beschäftigen, bis schließlich auf einer der Konferenzen des Obstzüchterverbandes eine Wundervolle Idee zum Vorschein kam. Einer der Delegierten stand auf und schlug vor, man solle Affen zum Pflücken und Verpacken der Früchte abrichten. Dies wurde ohne Zögern beschlossen, und man unternahm sofort Schritte, um eine Anzahl Affen als Obstpflücker einzustellen.
Man entschied sich für die Schimpansen, als die intelligentesten.
Man baute für die Affen ausgezeichnete kleine Häuser, alle hübsch gestrichen und eingerichtet. Die Schimpansen wurden sorgfältig gefüttert und für ihre künftigen Obliegenheiten ausgebildet.
Als die Früchte reif waren, brachten die Pflanzer ihre Freunde aus der Stadt, um ihnen zu zeigen, wie genial sie die Arbeiterfrage gelöst hatten. Die Affen waren schon unruhig in ihren Häusern, da die Luft erfüllt war von dem Duft des reifen Obstes. Als sie herausgelassen wanden, kletterten sie geschwind auf die Bäume. Aber anstatt das zu tun, was man sie gelehrt hatte - die Früchte zu pflücken und in eine Kiste zu legen -, fingen die unartigen kleinen Teufel an, Unsinn zu treiben. Sie wählten sich die besten Früchte aus, fraßen ein oder zwei Bissen, warfen das übrige fort und holten sich neue.
Bevor noch der Tag herum war und die Affen mit vollen Wänsten in ihre Häuser zurückkehrten, war viel Schaden angerichtet worden.
Die weißen Obstpflanzer mussten sich nach einer anderen Methode umsehen. Am nächsten Tage bekam jeder Affe einen Maulkorb umgetan.
Sie kletterten schnell genug auf die Bäume, aber keiner von ihnen begann zu pflücken. Sie waren eifrig bemüht, sich von der schrecklichen Fessel zu befreien, die sie daran hinderte, zu fressen und sich zu amüsieren. Die Obstzüchter waren in einer schrecklichen Klemme mit so vielen Affen, die sie füttern mussten und die ihnen keine Arbeit dafür leisten wollten. Sie wandten sich an
den Gouverneur des Staates, der bedauernd erwiderte, er könne nichts für sie tun, da die Verbrecher gar keine Menschen seien und deshalb nicht den Gesetzen unterlägen. Wenn es IWW wären, könnte er sie einsperren und vielleicht ihre Führer erschießen lassen. Aber über Affen habe er keine richterliche Gewalt. Als der Tierschutzverein, der sich niemals für die IWW oder die Japaner eingesetzt hatte, erfuhr, dass die Affen schlecht behandelt wurden, drohte er, die Obstzüchter unter Anklage stellen zu lassen, falls die kleinen Tierdien nicht ordentlich gepflegt würden. Nun waren die Schimpansen ebenso unbeliebt wie die IWW geworden. Einige der Obstzüchter besaßen auch Baumwollplantagen im Imperial Valley, wo es ihnen schwer fiel, genügend geschickte weiße und schwarze Lohnsklaven für die Arbeit des Baumwollpflückens zu finden. Es fiel ihnen nun ein, dass die Affen zum Baumwollpflücken verwendet werden könnten, denn die würden sie ja schließlich nicht fressen.
So wurden denn alle Affen an den neuen Ort verfrachtet. So merkwürdig es auch klingt, sie verstanden es, die Baumwolle zu pflücken und das in einem Tempo, das ihre Besitzer sehr glücklich machte. Hier war also die Lösung der Arbeiterfrage, soweit sie das Baumwollpflücken betraf. Aber ihr Glück währte nur kurze Zeit. Eines Tages, als alle Affen bei der Arbeit waren und lebhaft schnatterten, während sie die weißen Baumwollflocken sammelten, trieb ein sanftes Lüftchen einem Affen eine weiße Flocke aus der Hand. Es gefiel ihm, wie die Flocke in der Luft schwebte. Er zupfte ein zweites Stückchen heraus und ein drittes. Die anderen Affen, denen der Spaß gefiel, begannen das gleiche Spiel. Zuerst mit kleinen Stückchen, dann mit ganzen Händen voll, bis die Luft von Baumwollflaum erfüllt war. Es sah aus, als habe ein Schneesturm das sonnige Südkalifornien heimgesucht.
Die Aufseher gerieten in Aufregung. Es gab kein Mittel, die Affen von ihrem eifrigen Spiel abzuhalten, das, noch bevor sie müde geworden waren, fast die ganze Ernte dieser Plantage zerstört hatte. Auf irgendeine merkwürdige Weise erfuhren die Affen auf den anderen Plantagen von diesem Spaß, und auch ihre Finger richteten dasselbe verheerende Unheil an. Nun waren die Obst- und Baumwollpflanzer am Ende ihrer Weisheit. Sie wussten nicht, was sie mit den Affen tun sollten. Schließlich entschied man sich für Deportation. Die Schimpansen wurden zurück in die afrikanischen Wälder verfrachtet. Dort versammeln sie sich heute noch, und der Älteste, mit einem Grinsen auf dem Gesicht und an seinem Schwanz von einem Ast hängend, erzählt der jüngeren Generation, wie sie den Streik in Kalifornien gewannen."
Diese Fabel fand Beifall, und am nächsten Sonntag gab Dick Brazier sie noch einmal verbessert und geschliffener in Versen zum besten.
Von meiner Zelle Nr. 275 aus konnte ich bis zu dem Ende des Korridors hinunterschauen und mir die Galgen ausmalen, die dort vor etwa dreißig Jahren für die Märtyrer Parsons, Spies, Engel und Fisher errichtet worden waren. Ihre mannhaften Worte schienen noch im ganzen Gefängnis widerzuhallen. Ihr Schweigen sprach mit nimmer sterbender Zunge.
Die Nachricht von dem Ausbruch der russischen Revolution im Februar 1917 hatte in den Vereinigten Staaten die ganze Nation vor Freude aufjauchzen lassen. Jedermann schien über den Sturz des grausamen Monarchen, des russischen Zaren, zufrieden zu sein, jeder war froh, dass Nikolai Romanow und seine degenerierte Familie der Vergessenheit anheim gefallen waren. Aus Russland traf ein Aufruf ein, der alle Verbannten und Ausgewanderten, die infolge von Pogromen und anderen bitteren Verfolgungen in die Fremde gezwungen worden waren, zur Rückkehr aufforderte. Der Herausgeber unserer russischen Zeitung, Wladimir Losjew, setzte sich mit dem russischen Konsul in Chicago in Verbindung, der für den Rücktransport einer Reihe von Russen, die in ihr Geburtsland heimkehren wollten, sorgte.
Als dann aber die wirkliche Revolution am 7. November folgte, war die Stimmung der großen Masse der Bevölkerung anders als im Februar. Ihre Ansichten schienen von den Geldinteressen Wallstreets bestimmt zu werden. Es herrschte jetzt ein Gefühl der Feindseligkeit gegen Russland, ausgenommen unter denjenigen, die bewusst genug waren, zu begreifen, was die Diktatur des Proletariats bedeutete.
Zeitig im Frühjahr 1918 wurde ich gegen Leistung einer Kaution freigelassen.
John Reed machte zu dieser Zeit gerade eine Tournee durch das ganze Land, um die Wahrheit über die russische Revolution und die proletarische Diktatur zu verbreiten. In Chicago sprach er in einer ausgezeichneten Versammlung im Theater. Von John erfuhr ich viele interessante und neue Einzelheiten über das, was sich in Russland zugetragen hatte. Sein Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten" sah ich erst später, als ich im Zuchthaus Leavenworth saß, und bezeichnete es damals als „das Protokoll der russischen Revolution". Der Generalstreik von Seattle, an dem alle Mitglieder der IWW dieser Stadt teilnahmen, wurde von den IWW hauptsächlich als ein Mittel betrachtet, die weitere Verladung von Munition und Lebensmitteln für die Interventionstruppen im fernöstlichen Sibirien zu verhindern. Als ich später nach Seattle kam, sah ich viele Hunderte Tonnen Fracht, die nicht verladen worden waren, am Strande aufgestapelt.

 

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