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William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Vierzehntes Kapitel
Die Welt weitet sich

Nach meiner Freisprechung in Boise erhielt ich von allen Seiten Aufforderungen zu Vorträgen und öffentlichem Auftreten in Varietes mit hohen Honorarangeboten. Die Tuilerien-Gärten in Denver boten mir siebentausend Dollar für ein einwöchiges Auftreten. Zick Abrams aus Kalifornien bot fünfzehntausend Dollar für vierzig Vorträge. Der „Star Circuit" wollte viertausend Dollar wöchentlich für ein zweimonatiges Auftreten zahlen. Die Gelegenheit, viel Geld zu verdienen, schlug ich aus da ich einsah, dass mein Prestige vor der Arbeiterklasse mit jedem Tag abnehmen würde, wenn ich diese Angebote kapitalistischer Konzerne angenommen hätte. Von den Arbeiterorganisationen und sozialistischen Parteien in Chicago und Milwaukee wurden Versammlungen organisiert, auf denen ich sprechen sollte. Das erste Meeting in Chicago fand im Luna-Park statt. Fünfundvierzigtausend Eintrittskarten waren schon ausgegeben, als die Menge das Gitter niederbrach und den ganzen Park überflutete, in dem ich sprach. Später fand eine von der Sozialistischen Partei veranstaltete Versammlung Riverside Park statt, für die sechzigtausend Karten verkauft wurden. In Milwaukee wurde die Zuhörerschaft auf siebenunddreißigtausend geschätzt Von Milwaukee fuhr ich zurück nach Chicago und war für einige Tage der Gast Anton Johansens, des Organisators des Holzarbeiterverbandes. Er und Matt Schmidt, der jetzt im Zuchthaus von St. Quentin eingekerkert ist, führten mich mit einem Automobil durch die Stadt. Damals stand noch das Monument des Polizisten mit seinem Knüppel auf dem Haymarket-Platz. Ich erinnere mich
an die Empörung, die mich packte, als ich dieses Symbol der Unterdrückung der Arbeiterklasse sah. Dann zum Waldheim-Friedhof! Am Sockel des Gedenksteins für die Arbeiter, die in Chicago vor zwanzig Jahren gehängt wurden, brach ich in Tränen aus. Die Erinnerung an diese Männer, deren Prozess und Hinrichtung ich als Junge in allen Einzelheiten verfolgte, hatte mich im Lauf der Jahre mit ihnen enger als mit Blutsverwandten verbunden.
Nach kurzem Aufenthalt in Denver, wohin ich von Chicago aus zurückkehrte, fuhr ich wieder nach Boise, wo Pettibones Prozess beginnen sollte. Pettibone lag im Krankenhaus.
Auch Darrow war schwer erkrankt; er litt an einem schweren Ohrenleiden, das ihn zwang, während der Verhandlungen zu sitzen. Ungefähr zwei Wochen nach Eröffnung des Prozesses, nach der Auswahl der Geschworenen, musste er sich wegen einer Operation von der Verteidigung zurückziehen. Wir übergaben darauf den Fall Richter Hilton aus Denver, da Richardson nach meinem Prozess zurückgetreten war. Pettibones Prozess begann wie eine Wiederholung meines eigenen Prozesses. Er selbst konnte wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht vernommen werden, und so wurde beschlossen, den Fall den Geschworenen ohne weitere Verhandlungen vorzulegen. Die Geschworenen sprachen ihn frei. Moyers Prozess fand überhaupt nicht statt; seine Verfolgung wurde bald nach Pettibones Freisprechung vom Gericht eingestellt. Pettibone starb nach seiner Rückkehr nach Denver. Ungefähr zur selben Zeit starb auch John Murphy an Schwindsucht.   Die   Bergarbeiterföderation   errichtete beiden Gedenksteine.
Im Herbst 1907 beauftragte mich der Exekutivausschuss
der Bergarbeiterföderation des Westens, nach Goldneid, Nevada, zu fahren, um nach Preston und Smith zu sehen, die zu langen Freiheitsstrafen verurteilt im Zuchthaus Carson saßen.
Preston und Smith waren wegen der Ermordung eines Restaurantbesitzers in Goldfield verurteilt worden. Der Hergang war folgender: Vor einem von den IWW bestreikten Restaurant war es aus irgendeinem Anlass zu einem erregten Auftritt gekommen. Der Wirt war mit einem Revolver in der Hand auf die Straße gerannt und hatte entweder Preston bedroht oder auf ihn gefeuert. Dieser hatte zurückgeschossen und den Wirt getötet. Ich erinnere mich nicht, auf welche Weise Smith in die Sache verwickelt war; aber die allgemeine Meinung ging dahin, dass beide widerrechtlich im Zuchthaus saßen, und ich wurde nun hingeschickt, um zu sehen, was sich für ihre Befreiung tun ließe.
Ungefähr zur selben Zeit wurde Grant Hamilton, ein Organisator der AFL und Freimaurer von hohem Range, von Gompers nach Goldfield geschickt. Er sollte versuchen, eine Organisation der AFL in dieser Stadt zu schaffen - keine leichte Aufgabe, da bereits alle Arbeiter den IWW und die Bergarbeiter der Bergarbeiterföderation des Westens angehörten. Hamilton hatte sich im Montezuma Club, dem Hauptquartier der Bergwerksbesitzer, einquartiert. War es sein Werk, dass kurz darauf eine Gruppe von Restaurationsangestellten, Mitglieder der AFL, als Streikbrechergarde gegen die IWW eintraf? Zwischen den standhaften IWW-Anhängern und den reaktionären Elementen in der Bergarbeiterföderation war es zu Zerwürfnissen gekommen, deren Auswirkungen ich in Goldfield kennen lernen sollte. Vincent St. John war aus Coeur d'Alene nach Goldfield übergesiedelt und arbeitete dort in der Bewegung mit. Im Laufe der Zeit
kam es zwischen ihm und Paddy Mullaney zu Streitigkeiten, die einen ernsten Ausgang nahmen. Eines Tages, als sich die beiden auf der Straße begegneten, zog Mullaney seinen Revolver. Bevor St. John noch die Möglichkeit hatte, nach dem seinen zu fassen, durchschoss ihm Mullaney beide Arme. Als ich in Goldfield eintraf, lag St. John im Spital, und Mullaney saß im Gefängnis. St. John stattete ich einen Besuch ab; er lag im Bett, sein rechter Arm war übel zugerichtet. Obzwar man die Hand retten konnte, blieb er doch ein Krüppel. Auf einer Versammlung des Bergarbeiterverbandes von Goldfield teilte ich den Mitgliedern den Zweck meines Besuches mit und forderte sie auf, fester zusammenzuhalten, um solche Zwischenfälle zu vermeiden, die sich zwischen den organisierten Arbeitern ereignen mussten, wenn die inneren Kämpfe weitergingen. Von Goldfield fuhr ich nach Carson City. Der Staatsanwalt, den ich dort sah, äußerte sich günstig über die Aussichten eines Gnadengesuches für Preston und Smith. Die Jungens im Zuchthaus freuten sich über meinen Besuch und die Mitteilung, dass ich die Aussichten auf eine Begnadigung für günstig halte. Im Gefängnishof begegnete ich noch einem Bekannten: dem alten einarmigen Jim, dem Indianer aus Willow Creek, der wegen der Ermordung Andy Kinnigers zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt war.
Von Carson City fuhr ich nach Reno. Dort traf ich mit dem mir früher in Winnemucca befreundeten Senator George Nixon zusammen. Wir besprachen die Lage in Goldfield, wo es zu heftigen Konflikten zwischen den Bergwerksbesitzern und dem Verband gekommen war. Es liefen Gerüchte um, dass die Entsendung von Militär verlangt werde; im Orte selbst hielten sich bereits viele Revolverhelden, gleichsam als Privatarmee im Solde der
Bergwerksbesitzer, auf. Ich wollte womöglich eine Wiederholung dessen, was sich in den Grubenorten von Colorado zugetragen hatte, verhindern und bat den Senator, sich gegen die Verwendung von Truppen in Nevada einzusetzen. Er versprach es mir; zumindest wollte er mich verständigen, falls ein Versuch gemacht werden sollte, Bundestruppen einzuberufen. Anscheinend hat er später sein Versprechen „vergessen"; ich hörte niemals etwas von ihm, obwohl Präsident Theodore Roosevelt tatsächlich kurz nachher Truppen nach Goldfield beorderte.
Bei meiner Rückkehr nach Denver fand ich eine von Intrigen geladene Atmosphäre in unserer Zentrale vor, gegen die ich nicht aufkommen konnte. Moyer, Mahoney, Kirwan und O'Neill waren radikal gegen die IWW eingestellt oder doch zumindest gegen jene Fraktion, die St. John zum Hauptorganisator gewählt hatte. Obgleich niemals ein Wort des Streites zwischen uns fiel, spürte ich doch die Feindseligkeit, die sie gegen mich hegten. Ungefähr zu dieser Zeit nahm St. John, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, in Chicago seine Arbeit als Hauptorganisator der IWW auf. Anfang Januar 1908 sprach ich in einer Versammlung im Grand Central Palace in New York. Dies war mein erster Besuch in der großen Weltstadt. U. Solomon, der Sekretär der Sozialistischen Partei, holte mich von der Bahn ab und führte mich in ein unweit des Bahnhofs gelegenes Hotel. Dort verließ er mich, und nun schlenderte ich allein durch die Straßen von New York, einsamer, als ich jemals im Leben gewesen war.
Der Versammlungsraum lag in einer Seitengasse in der Nähe des Hotels. Als es mir an der Zeit zu sein schien, ging ich hin und versuchte, mir einen Weg durch die Menge zu bahnen, die das Gebäude umlagerte. Man sagte mir, dass ich nicht hineinkommen könne, da der Saal bereits überfüllt sei. Während ich zum Haupteingang hineinzukommen versuchte, erkannte mich schließlich jemand, und eine kleine Gruppe von Leuten brachte mich an eine Hintertür und von dort auf die Rednertribüne. Sowie ich diese bestieg, brach ein ungeheurer Applaus los. Mein Herz taute ordentlich auf, und das frostige Gefühl, das ich den ganzen Nachmittag mit mir herumgetragen hatte, verschwand. Die nach Zehntausenden zählende Zuhörerschaft war angeregt und voller Begeisterung. Nach der Versammlung wurde ich von Hunderten von Leuten begrüßt. Eine kleine Frau umarmte und küsste mich in einem fort. Als ich ihr endlich ins Gesicht sehen konnte, entdeckte ich, dass es meine Schwester Mary war, die auf Staten Island lebte.
Im Anschluss begab ich mich auf eine Tournee durch das ganze Land. Genossin Luella Twining, eine Delegierte zum Gründungskongress der IWW, war mein Manager. Sie begleitete mich bis Denver, wo ein Kongress der Bergarbeiterföderation des Westens stattfand. Als ich mich auf diesem Kongress erhob, um das Wort zu nehmen, stand Moyer von seinem Stuhl auf und verließ den Saal. Die Atmosphäre war mit Konflikten geladen. Unter den Delegierten waren viele gute Kameraden von der alten Garde. Aber es war ein Riss in die Organisation hineingekommen. Ich fühlte, dass es Zeit erfordern würde, diesen Riss zu heilen.
Über Los Angeles kam ich im weiteren Verlaufe der Reise nach San Francisco, wo ich vor einer großen Versammlung in Dreamland Rink und später vor dem Central Labor Body (Anm.: Gewerkschaftskartell aller der AFL angeschlossenen Verbände. Die Red.) sprach. Von dort fuhr ich mit dem
Dampfer nach Eureka, einem der großen Holzfällerlager in Nordkalifornien, und von dort weiter nach Norden, nach Portland, Oregon, wo man eine Versammlung im „Tabernakel" eines Wanderpredigers organisiert hatte. Von Portland brachte mich ein Dampfer nach Seattle. Im Speisesaal fragte mich ein Mann, der mir gegenübersaß: „Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie erinnern mich an den Rechtsanwalt, wie hieß er doch gleich? der diese Kerle in Idaho verteidigt hat." „Sie meinen wahrscheinlich Darrow", erwiderte ich. „Jawohl, ganz recht. Sind Sie Mr. Darrow?" „Nein", antwortete ich. „Ich bin nicht Darrow. Ich bin der Kerl, den er verteidigt hat." Er sah mich äußerst verärgert an. „Ach so", sagte er, und das Gespräch war zu Ende.
In Seattle fand eine gute Versammlung statt, der noch eine Reihe weiterer Versammlungen im Staate Washington folgten. In Yakima wurde ich verhaftet - wegen Zigarettenrauchens! Nach allen Anklagen, die nun schon gegen mich erhoben worden waren, war es die erste, die eine Verurteilung einbrachte. Dies wiederholte sich noch in einer Reihe von anderen Städten, in denen ein Gesetz gegen das Zigarettenrauchen bestand. Es existierte auch ein Gesetz gegen das Zahlen von Trinkgeldern. Wenn ich auf Grund dieses Gesetzes nicht verhaftet wurde, so nicht etwa deshalb, weil ich das Gesetz nicht verletzte! Meine gerichtliche Verfolgung und die sich daran knüpfenden Erörterungen in der Presse führten übrigens zur Aufhebung des Antizigarettengesetzes.
In Wardner, Idaho, langte ich gänzlich erschöpft von den Anstrengungen der Reise durch Washington an und warf mich ins Bett. Den Genossen, die mich kurz vor der Versammlung abholten, musste ich auf dem Wege zum Lokal erklären, dass sie einen Ersatzredner für mich ausfindig machen müssten; denn mein Kopf war so wirblig, dass ich fühlte, ich würde keine Rede halten können. Im Versammlungssaal stieg ich auf die Tribüne, gerade lange genug, um mich bei der Zuhörerschaft zu entschuldigen und einen der Genossen zu bitten, an meiner Statt zu sprechen. Dann zurück ins Hotel und zu Bett. Von den vielen Hunderten von Versammlungen, die ich abgehalten habe, war dies die einzige, auf der ich versagte. Niemals habe ich sonst eine Versammlung oder auf allen meinen Reisen einen Zug versäumt. Ich sprach gern in Versammlungen; es machte mir Freude, zu fühlen, wie ich auf die Zuhörerschaft wirkte und, wie sie mit mir ging.
In British Columbia, in Kanada, sprach ich auf einer vom Bergarbeiterverband von Rossland veranstalteten Versammlung. Casey, der Sekretär des Verbandes, sprach mit mir über den Schaden, den ich mir durch zu vieles Trinken selber zufügte.
„Gerade das freut Moyer", sagte er. „Ich weiß, dass Moyer auf dem letzten Kongress einigen Mitgliedern Geld gab und ihnen zuredete, hinzugehen und sich mit Bill ein paar vergnügte Stunden zu schaffen und ihn lustig und betrunken zu machen." „Ist das wahr?" fragte ich. Casey erwiderte: „Gewiss!" Als sich der Zug am nächsten Morgen in Bewegung setzte, fiel mir wieder ein, was Casey erzählt hatte. „Wenn Moyer will, dass ich trinke, dann ist das Grund genug, es nicht zu tun", dachte ich bei mir selbst. Freunde und Verwandte hatten mich oft gebeten, das Trinken einzustellen, und ebenso oft hatte ich Versprechen gegeben, von denen ich wusste, dass ich sie nicht halten würde. Jetzt aber war ich wütend, durch und durch wütend! Ich holte eine Flasche mit Whisky aus der Tasche, trat damit auf die Plattform des fahrenden Zuges
und warf sie zwischen den Waggons hinunter auf di Schienen. Von da an berührte ich viele Jahre lang kein alkoholisches Getränk mehr.
Die plötzliche Entwöhnung verursachte zuerst eine heftige Reaktion, die ich eine Zeit lang nur schwer ertragen konnte. Aber mich trieb jetzt ein Wille, der stärker war als der Wunsch zu trinken. Meine Kräfte erneuerten sich, und mit dem alten Schwung und mit größerem Vergnügen, als ich es seit vielen Monaten empfunden hatte, stürzte ich mich wieder in die Arbeit. Obwohl ich nun nicht mehr Funktionär der Bergarbeiterföderation war, brach ich meine Beziehungen zu ihr noch nicht ab. Aber ich war überzeugt, dass dies schließlich geschehen würde, falls Moyer Präsident der Organisation bliebe.
Der Kongress der Sozialistischen Partei, der im Mai 1908 in Chicago zusammentrat, nahm ein Programm auf der Grundlage der Anerkennung des Klassenkampfes an. Es war dies die revolutionärste Periode der Sozialistischen Partei.
Die Partei hatte sich zu dieser Zeit von ihren früheren Kolonisationsplänen und ihrer Absicht, Gruben im Bezirk Cripple Creek anzukaufen, erholt und war noch nicht zu ihrer späteren opportunistischen Politik des Stimmenfanges abgesunken.
Viele der Delegierten schlugen mir vor, mich um die Kandidatur für die Präsidentenwahlen zu bewerben. Ich lehnte dies schriftlich ab und erklärte, dass ich für Eugene V. Debs sei, den der Kongress als Kandidaten der Partei für die Präsidentenwahlen aufgestellt hatte. In diesem Jahr wurde eine so genannte „Wirbelwind"-Kampagne durchgeführt, zu der ein „Roter Sonderzug" für eine Rednertournee durch das ganze Land ausgerüstet wurde. Debs und seine Gruppe sprachen während der dreimonatigen Tournee vor insgesamt etwa achthunderttausend Leuten. Unter den Literaturverkäufern auf diesem „Roten Sonderzug" war Tom Mooney, der als Opfer einer Spitzelmache nach dem Bombenanschlag auf die Parade am Tage der Bereitschaft (Preparedness Day) 1916 in San Francisco zum Tode verurteilt und später zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe „begnadigt" wurde, wegen der er bis auf den heutigen Tag im Kerker von St. Quentin schmachtet.(Anm.: Am 4. Januar 1939 wurde Tom Mooney von dem neu gewählten Gouverneur des Staates Kalifornien, dem Roosevelt-Anhänger Olsen, aus der Haft entlassen. Durch die lange Gefängnishaft entkräftet, starb er am 6. März 1942. Die Red.)
Der propagandistische Erfolg des „Roten Sonderzuges" lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. In jeder großen und kleinen Stadt kamen die Leute scharenweise an den Zug, und an jedem Haltepunkt sprachen die Redner von der rückwärtigen Plattform aus zu der Menge. Die Partei erhielt einen beträchtlichen Stimmenzuwachs, aber noch wichtiger als dieser war der erzieherische Wert der Kampagne.
Während dieser äußerst wichtigen Periode in der Entwicklung der Sozialistischen Partei scharwenzelte die AFL mit dem Zylinderhut in der Hand vor den Beamten der Regierung der Vereinigten Staaten. Zu dieser Zeit waren Gompers, Mitchell und Morrison von der AFL wegen Verletzung einer richterlichen Verfügung mit einem strengen Verweis bedacht und zu einem halben oder zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, einer Strafe, die sie niemals absaßen. Die AFL war ein Teil des Landesbürgerbundes, dieser Vereinigung des Kapitals und der Gewerkschaftsführer für die Klassenzusammenarbeit. Gompers selbst übte eine Zeitlang,
etwa acht Monate, nach dem Tode des ordentlichen Präsidenten das Amt des Präsidenten des Landesbürgerbundes aus.
Diese unwürdige Haltung der Arbeiterführer brachte ihnen bei den Politikern in Washington jedoch wenig ein, im Gegenteil, auch die schüchternsten Versuche, arbeiterfreundliche Gesetze durchzubringen, schlugen fehl.
Ich war in das Landesexekutivkomitee der Sozialistischen Partei gewählt worden und arbeitete eine Zeitlang als Mitglied desselben.  Das Massaker unter den Goldgräbern am Lenaflusse in Sibirien veranlasste das Exekutivkomitee, eine von mir eingebrachte Resolution anzunehmen, in der gegen die Ermordung der Bergarbeiter, gegen die Zarenherrschaft und gegen die Ausbeutermethoden der englischen Goldbergwerksgesellschaften an der Lena protestiert wurde. Im Jahre 1910 fand der Internationale Sozialistenkongress in Kopenhagen statt. Zu meiner großen Überraschung erhielt ich von allen amerikanischen Delegierten die größte Stimmenzahl. Die übrigen Delegierten waren John Spargo, Morris Hillquit, Victor Berger, Robert Hunter, May Wood Simons und Lena Morrow Lewis. Die Vereinigten Staaten hatte ich von einer Küste zur anderen bereist, und nun sollte ich den Ozean überqueren. Ich freute mich sehr auf die Reise und die mir gebotene Gelegenheit, mit Genossen aus anderen Ländern bekannt zu werden und an der Arbeit eines Internationalen Kongresses teilzunehmen. Die „Lusitania" brachte die amerikanische Delegation nach England, wo wir ohne Aufenthalt einen Dampfer direkt nach Kopenhagen bestiegen. Die Stadtverwaltung von Kopenhagen lag zu der Zeit in den Händen der Sozialisten. Überall rote Fahnen,
Menschenmengen,  Demonstrationen.  Niemals vorher hatte ich etwas Ähnliches wie den Kongress gesehen, dem unzählige Genossen beiwohnten, die ich bisher nur aus ihren ins Englische übersetzten Schriften kannte. Vor die Wahl gestellt, an den Beratungen der Abrüstungs- und Friedenskommission oder an denen der Gewerkschaftskommission teilzunehmen, wählte ich die letztere. Berger und Schlüter, der Herausgeber der „New Yorker Volkszeitung", sowie Olive Johnson von der Sozialistischen Arbeiterpartei gehörten ebenfalls dieser Kommission an, deren Vorsitzender Hjalmar Branting war. Im Laufe der Beratungen nahm ich Gelegenheit, über die Arbeiterorganisationen der Vereinigten Staaten und besonders ausführlich über die AFL, ihre hohen Eintrittsbeiträge, die Beschränkung ihrer Mitgliedschaft, über ihre Terminvereinbarungen mit den Unternehmern und  ihre  Beziehungen  zum  Landesbürgerbund  zu sprechen und dann die Entwicklung der Idee von den Industriegewerkschaften und die Entstehung der IWW zu erörtern.
Nach meiner Rede kam es zu einem Zwischenfall, der mir zuerst unerklärlich blieb. Branting schien sich mit dem Übersetzer gestritten zu haben, denn dieser nahm nach dem Wortwechsel seinen Stuhl, kehrte dem Vorsitzenden den Rücken zu und gab meine Rede ausführlich wieder. Später erzählte er mir, Branting habe ihm aufgetragen, meine Rede zu kürzen, er aber habe erwidert, dies sei vielleicht der wichtigste Diskussionsbeitrag in der Kommission, und er werde ihn möglichst getreu wiedergeben.
Lenin war in Kopenhagen der Führer der russischen Delegation, allerdings erinnere ich mich nicht, unter welchem Namen er an dem Kongress teilnahm. Als ich nach mehr als zehn Jahren nach Russland kam, erinnerte mich Lenin daran, dass wir einander auf dem Kopenhagener Kongress begegnet waren. Unter den Delegierten, die ich kennen lernte, waren auch Rosa Luxemburg und Ledebour, dessen Züchtigung Ramsay Macdonalds mir noch lebhaft in Erinnerung ist. Aus Frankreich war Jaurès gekommen, aus England Keir Hardie und viele andere, deren Namen mir als hervorragende Mitglieder der sozialistischen Bewegung und der Gewerkschaftsbewegung bekannt waren. Die Resolution für die Sicherung des Weltfriedens hätte eine bedeutsame Resolution werden können, aber der wichtigste Ergänzungsantrag über die Anwendung des Generalstreiks zur Verhinderung eines Krieges, eingebracht von Vaillant, Frankreich, und Keir Hardie, wurde abgelehnt, hauptsächlich auf Veranlassung der deutschen Delegation, die auf diesem Kongress den überwiegenden Einfluss hatte. Victor Berger unterstützte die Deutschen, und ich fühlte mich veranlasst, ihn zu fragen, wen er eigentlich vertrete, die amerikanische oder die deutsche Arbeiterschaft. Wahrheitsgemäß hätte er allerdings antworten müssen: „Keine von beiden." In Kopenhagen sprach ich auf mehreren Versammlungen. Meine Reden wurden von Clara Zetkjn und Alexandra Kollontai übersetzt. Durch mein Auftreten in den Gewerkschaften lernte ich ihre Organisationsform und ihre Methoden kennen. So erfuhr ich zum Beispiel, dass die Buchdrucker zu hundert Prozent organisiert waren; als ich mich aber nach dem Vorsitzenden erkundigte, wurde mir berichtet, dass er ein eigenes Unternehmen besitze und über hundert Arbeiter beschäftigte. Weiter erfuhr ich, dass der Buchdruckerverband einen neunjährigen Vertrag mit den Unternehmern hatte. Ich erwähnte diese Tatsache in meinen Reden und knüpfte daran die Frage, warum die Arbeiter nicht gleich einen Vertrag für neunzig oder neunhundert Jahre abschlössen, wenn sie schon gerade dabei wären; dann hätten sie wenigstens den Klassenkampf für die ganze Dauer ihres Lebens ausgeschaltet!
Bei Erkundigungen über das dänische Genossenschaftswesen erfuhr ich zu meiner großen Enttäuschung, dass die ausgezeichneten Güter und Milchwirtschaften der dänischen Genossenschaften auf Kosten des Schweißes und Blutes von Saisonarbeitern bewirtschaftet wurden, die jedes Jahr aus Polen, Österreich und Ungarn kamen; für die schwerste Arbeit erhielten sie täglich eine Krone und wurden mit Futtererbsen, Kartoffeln und saurer Milch beköstigt.
Im Anschluss an den Kongress unternahm ich eine ausgedehnte Fahrt durch viele europäische Länder. Der erste Besuch galt Schweden, wo ich in Malmö und Stockholm sprach. Über Göteborg führte die Reise nach Christiania, dem heutigen Oslo, der Hauptstadt Norwegens.
Dort sprach ich in einer Versammlung der streikenden Arbeiter der Teppich- und Gardinenfabriken über die unbarmherzigen Ausbeutermethoden der Kapitalisten, die einerseits Jungen und Mädchen dem Elternhaus entreißen und zu Arbeitssklaven machen, und andererseits die Arbeiterjugend Norwegens im Soldatenrock zur Niederschlagung streikender Proletarier verwenden. Von Norwegen fuhr ich auf einem kleinen Dampfer, der auf der rauen Nordsee wie ein Stück Kork tanzte, nach England.
Lee und Inkpin, die ich im Büro der Sozialistischen Partei in Maiden Lane in London traf, hatten eine Versammlungstournee durch England für mich organisiert. Die erste Versammlung fand in der Memorial Hall in London statt. Man hatte mir die Engländer als kalt und
phlegmatisch beschrieben, aber ich fand diese Charakteristik durchaus nicht bestätigt. Selten habe ich in meinem Leben vor einem Publikum gesprochen, dass so aufmerksam, aufnahmefähig und begeistert war. Nach der Versammlung traf ich mit George Bernhard Shaw zusammen, der mir von den vielen ihm aus den Vereinigten Staaten zugegangenen Einladungen erzählte. Ich bemerkte, dass ihm meiner Meinung nach eine Tournee durch Amerika großen Erfolg bringen würde. „Oh", sagte er, „daran liegt mir gar nichts!" und nannte mir bei dieser Gelegenheit eine Dame aus der New Yorker Gesellschaft, die die Unverschämtheit gehabt hatte, ihm zweitausendfünfhundert Dollar anzubieten, wenn er sein erstes Auftreten in ihrem Salon veranstaltete.
In Glasgow fand eine riesige Versammlung statt. Die Tatsache, dass die Stadt selbst die Straßenbahnen, Wasserwerke und eine große Zahl von Arbeiterhäusern verwaltete, hatte die Lage der Arbeiterbevölkerung nicht verbessert. Das Elendsviertel war so übel, wie ich es nur irgendwo gefunden habe, und des Sonnabends nachts gab es dort mehr betrunkene Frauen auf den Straßen, als ich jemals vorher oder nachher irgendwo sah. Von Glasgow fuhr ich nach Lanarkshire, dem Geburtsort Andy Carnegies, wo ich in einer Versammlung der Bergarbeiter sprach. In Lanarkshire bot sich mir ein abstoßendes Bild. Auf der einen Seite einer Straße stand ein vierstöckiges baufälliges Ziegelgebäude, in dem ungefähr fünfhundert Arbeiter lebten. Sie kochten ihre Mahlzeiten in einer schmierigen Küche. Das Badehaus war unsauber. Die Schlafräume waren schmutzige Löcher. Dieses Haus wurde aus irgendeinem unerfindlichen Grund das „Musterhaus" genannt. Auf der anderen Seite der Straße ragte eine kahle, nackte Mauer auf, so hoch wie eine Zuchthausmauer. Hinter dieser glatten Mauer verbarg sich ein großes Palais mit Hunderten von Zimmern, in denen ein einziger Mann, der Herzog von Hamilton, lebte.
Ich besichtigte das Mausoleum dieser noblen Familie. Einer der Särge aus schwarzem Basalt war aus Ägypten herangeschafft worden. Die aristokratischen Grabschänder hatten die in dem Sarkophag beigesetzte Leiche hinausgeworfen und das Prunkstück nach Schottland gebracht. Als der Schotte starb, der sich seinen Sarg schon zu Lebzeiten besorgt hatte, zeigte sich, dass die Leiche zu lang war. Da man den steinernen Sarkophag nicht verlängern konnte, musste der Tote mit krummen Knien hineingezwängt werden. Nun „ruhte" er so bequem, wie es so ein krummer Hund nur vermag. Die Wohnungen der Kohlengrubenarbeiter glichen Kaninchenlöchern, in langen Reihen, Rücken an Rücken gebaut, mit einer Tür und einem Fenster für jede Wohnung. Ein Zimmer für eine Familie, niemals mehr als zwei Zimmer. Die Betten waren wie Nischen in die Wand eingebaut. Tagsüber standen dort Töpfe und Pfannen übereinander getürmt, bei Nacht wurden sie auf den Boden gestellt, um Platz für die Schlafenden zu schaffen. Nach einigen glänzenden Versammlungen in Edinburgh, Cambushlang und in anderen schottischen Ortschaften wandte ich mich nach dem „schwarzen England", nach Manchester und Salford.
In Burnley sprachen Tom Mann, Henry Myers Hyndman und ich in der gleichen Versammlung. Mann war ein temperamentvoller Redner. Er interessierte sich zu der Zeit stark für die syndikalistische Bewegung und versuchte, die Transportarbeiter in einer Föderation zusammenzuschließen, nach einem Prinzip, das seiner Meinung nach etwa der syndikalistischen Bewegung in
Frankreich entsprach. Im Grunde genommen stand Mann I jedoch  dem  Gedanken  der  Industriegewerkschaften näher als dem des ausgesprochenen Syndikalismus. Von Hyndman, einem der führenden englischen Sozialisten, ist mir eine naive Bemerkung in der Erinnerung haften geblieben: der Hauptgrund, warum er ins Parlament gewählt werden wolle, sei - so sagte er - sein Wunsch, einmal im Unterhaus sprechen zu können. Pottstown ist das Zentrum der Ton-, Porzellan- und Emaille-Industrie. Wenn das Wetter trübe ist, liegt über der Stadt wie eine Decke der Rauch aus Hunderten von Schornsteinen. Während des Aufenthalts in dieser Stadt, in der einige gute Versammlungen stattfanden, besuchte ich mehrere Fabriken. Dort fielen mir besonders die Arbeiter auf, die die Porzellanfabrikate nach dem Brennen in eine bleihaltige Lösung tauchen, die ihnen die weiße Glasur gibt. Die damit beschäftigten Männer werden innerhalb weniger Jahre von dem Blei und seinen Dämpfen so vergiftet, dass ihnen die Zähne ausfallen und ihre Gelenke steif werden wie beim schlimmsten Rheumatismus. Man erzählte mir, dass diese Arbeiter nicht älter als achtundzwanzig bis dreiunddreißig Jahre würden.
Ich fuhr in die Kohlengebiete von Südwales, Rhondda Valley und Merthyr Tydvel, und sprach ein oder zwei Abende, bevor ein Streik für die Gruben dieses Gebietes erklärt wurde, in Tonypandy im „Royal Theatre". Ich erklärte den Kohlengrubenarbeitern die Organisationsform der Bergarbeiterföderation des Westens: dass jeder Mann, der in den Gruben arbeite, der gleichen Gewerkschaft angehöre und dass bei einem Streik alle Arbeiter die Arbeit zur gleichen Zeit niederlegten. Wenn die Bedienung der Pumpen eingestellt werde, sinke der Mut der Grubenherren oben im Büro so rasch, wie das
Wasser unten in den Gruben steige. Die Kumpels von Tonypandy schienen der Meinung zu sein, dass dies kein übler Rat sei. Als der Streik begann, holten sie die Maschinisten, die Männer an den Pumpen, die Ponytreiber und die Stallwärter von unter Tage heraus, so dass die Grubenbesitzer in eine sehr ernste Lage gerieten. Nach kaum einem oder zwei Tagen traf bereits ein Telegramm des Königs von England ein, der wissen wollte, ob die Ponys noch am Leben seien. Die Gesundheit und das Befinden der Bergarbeiter, ihrer Frauen und Kinder interessierte ihn nicht.
Einige wenige Streikbrecher - in England „blacklegs" (Schwarzbeine) genannt -, die sich während des Kampfes bemerkbar machten, hatten nichts zu lachen. Die Frauen nahmen sie richtig in die Kur: fingen die Schufte ein, rissen ihnen die Kleider vom Leibe und zogen ihnen weiße Hemden an, die vorn die Inschrift trugen: „Ich bin ein Streikbrecher." Dann schlangen sie ihnen einen Strick um den Hals und führten sie so durch die Straßen.
In Liverpool sprach ich in St. Georges Hall. Vor mir sprach Ramsay Macdonald. Als ich meine Rede beendet hatte, erhoben sich Leute aus der Zuhörerschaft, besonders auf der Galerie, mit lauten Zurufen, warfen ihre Mützen in die Höhe und schrieen: „Hurra! Du hast die Versammlung gerettet, Bill!"
Von England fuhr ich nach Paris. In der Zentrale der Confédération General du Travail lernte ich Charles Marck, den Hauptkassierer der Organisation, kennen. Auf seinem Schreibtisch lagen ganze Stöße von Ansichtskarten mit Bildern von Opfern des Kampfes der IWW für die Redefreiheit.
Jouhaux, der Sekretär der CGT, berichtete über die Bewegung für einen freien Sonnabendnachmittag für die Arbeiter. Nach mehreren Unterhaltungen kam ich zu dem Schluss, dass die Gewerkschaftsbewegung in Frankreich ziemlich ähnlich organisiert sei wie die AFL. Sie war nur etwas radikaler, weil ihre Mitglieder klassenbewusster waren.
In Paris traf ich William Z. Foster, der als Delegierter der IWW der Konferenz des Internationalen Gewerkschaftssekretariats in Budapest beigewohnt hatte. Foster hatte mit den französischen Delegierten Freundschaft geschlossen, deren syndikalistische Ideen ihn stark zu beeinflussen schienen. Er meinte, dass dem Syndikalismus auch in Amerika ein Weg gebahnt werden müsse. Von Frankreich aus machte ich einen Abstecher nach Italien, allerdings nur zu meinem Vergnügen. Über Paris begab ich mich wieder nach England und von dort aus mit der „Mauretania" nach Hause.

 

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