VIERTER TEIL
XIX. KAPITEL
Nach einigen Wochen war die Zeltkolonie endgültig wieder aufgebaut. Mit der Unterstützung der Zeitungen und der Öffentlichkeit war es gelungen, die Stonertoner Behörden zur Herausgabe der bei dem Überfall beschlagnahmten Zelte zu bewegen.
Der Verband veranstaltete ein Volksfest, um Geld für die Verteidigung der Verhafteten zu beschaffen. Die Zeltreihe als Hintergrund des Volksfestes sah lustig, zigeunerhaft aus. Schön sauber wie sie heute waren, glichen die Zelte einer Dekoration für ein Festgelände, als hätte sie gar nicht die harte Wirklichkeit der Exmissionen dorthin gestellt. Kein Uneingeweihter hätte sie je für die einzige Heimstätte der ehemaligen Arbeiter der Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G. angesehen. Für die Arbeiter waren aber diese Zelte ein Sinnbild der Exmissionen, des Mobs und der Nacht der Schießerei.
Auch das Volksfest wäre genau so gewesen wie jedes andere Volksfest, wenn es diese Zelte und das, was diese Zelte bedeuteten, nicht gegeben hätte. Die Zelte bedeuteten aber den Streik, die Zelte bedeuteten, dass die Arbeiter aus ihren Heimen verjagt worden waren. Die tragische Schlacht mit der Polizei hatte sich bei der Verteidigung eben dieser Zelte ereignet.
Keiner, der beim Volksfest anwesend war, konnte die Schießerei vergessen und die fürchterliche Nacht, die darauf folgte. Sie sahen noch immer den Mob vor sich, wie er die Streikenden durch die Wälder jagte.
In den Augen der Arbeiter war dieses Volksfest, das Gelder für die Verteidigung der Eingekerkerten ergeben sollte, von allen andern Volksfesten unterschieden.
Dieses Volksfest war wichtig.
Alle Leute, die mit den Streikenden verbunden waren oder mit ihnen sympathisierten, waren hier auf einem Haufen beisammen. Im Brennpunkt ihrer Gefühle standen, wie unter einer unglaublich starken Linse, die verhafteten jungen Leute. Die Gefangenen waren hier gegenwärtiger als die wirklich Anwesenden. Der Gedanke an sie war überall. Es war kein einziger dabei, der nicht die ganze Zeit an sie gedacht hätte.
Kinder liefen herum. In einer Ecke spielten sie mit Emma ein Spiel. Emma war aus dem Norden gekommen, um die Unterstützungsarbeit nach der Verhaftung von Doris zu übernehmen. Sie war dunkelhaarig, hatte dichte Augenbrauen und ein schweres, dunkles Gesicht. Die Spiele, die die Kinder spielten, waren lauter neue Spiele. Sie hießen Streikposten und Bullen'. Die Kinder dachten sie sich selber aus. Unter einer Baumgruppe warfen Männer Hufeisen. Um den Wurstkessel stand eine Menschenmenge, und die Leute liefen herum, Brausepullen an den Mund gepresst.
Dann gab es noch die Rednertribüne.
Dewey Brison sah die Rednertribüne an und hatte in seiner Magengrube plötzlich das Gefühl, als wär dort drin ein Stern geplatzt. Er war im Begriff, von der Tribüne aus zu sprechen. Das war auch eins der Dinge, die dieses Volksfest von allen andern Volksfesten unterschied. Alle Äußerlichkeiten bis auf die Rednertribüne und die Zelte schienen dieselben zu sein wie bei andern Kundgebungen dieser Art, aber die innere Bedeutung, der Sinn des Ganzen war grundverschieden.
Das Volksfest war das Symbol der eingekerkerten Burschen. Die Mütter dieser Burschen gingen dort an einem vorbei —, Mutter Gilfillin mit ihrem scharfgeschnittenen, altlederfarbenen Gesicht und die Mutter von Dan Marks. Nein, bei diesem Volksfest konnte keiner auch nur einen Augenblick die Eingekerkerten vergessen. Verurteilte man sie, so würden sie im elektrischen Stuhl brennen. Dieser Gedanke überschattete alles andere. Das Unglück war vor zwei Monaten geschehen. Jetzt war die Verhandlung bereits im Gange. Die Geschworenen wurden ausgelost.
Gesprächsfetzen, deren Gegenstand die Schreckensnacht war, flatterten durch die Menge, wie treibende Stücke eines Wracks lange nach dem Sturm.
„Der Hunderter-Ausschuss ist gekommen und hat uns durch die Wälder gejagt ... "
„Wie die Schüsse kamen, hab ich mich auf die Erde gelegt... "
„Sie haben die Zelte kurz und klein geschlagen... "
„Warst du in der Nähe bei der Schießerei?"
„Ich war Augenzeuge. Ich hab gesehen, wie die
Schüsse aus dem Polizeiauto kamen. Ich bin Zeuge für
die Verteidigung."
„Die alte Frau Holbrook hat einen Kessel Wasser genommen. Seht zu, dass ihr hier rauskommt... "
„Bei Gott, ich wollte, ich wäre nie in den Verband eingetreten... "
Das Gerede zog Dewey Brison schlapp durch den Kopf. Er dachte an den Verband. Seit Wochen hatte er an nichts anderes mehr gedacht. Er hatte damit ,gegessen und geschlafen'. Nach den Verhaftungen war er zum Organisator bestimmt worden. Ein Gefühl des Stolzes
würgte ihn, dass er schlucken musste. Dieses Gefühl überkam ihn, bevor er wusste, was es bedeuten sollte, und dann fiel es ihm ein: ,ich bin ja Organisator!' Er wusste, dass das eine harte und gefährliche Arbeit war. Das war ihm aber gleich. Er hatte sanfte, braune Augen und eine Locke weichen, langen Haares auf der Stirne. Er konnte kaum lesen und schreiben. Er wusste nicht Bescheid darüber, wo Orte lagen. Er wusste nur, dass es Norden gäbe und Süden. New York sei Norden und New Orleans Süden. Die Begriffe Ost und West fehlten ihm. Er war bis zum zwölften Lebensjahr in die Schule gegangen und hatte dann in den Baumwollspinnereien angefangen. Er war jetzt vierundzwanzig Jahre alt. Er erwähnte das oft in seinen Reden.
„Ich bin vierundzwanzig, und ich arbeite schon die Hälfte meines Lebens, und wenn ich sage, diese Jungs sind unsertwegen im Gefängnis, so weiß ich, was ich rede."
Das war auch der Kern dessen, was er diesmal in seiner Rede sagen wollte. „Die Jungs sind für uns im Gefängnis, und wir wiederum wollen für sie den Verband aufbauen." Diese Gedanken schienen ihm neu und wertvoll. Sie ließen ihn jenen Schauer der Freude empfinden, der den Denker bei der Entdeckung einer neuen Idee von ungeheurer Tragweite erschüttert. Die Worte, die er von der Rednertribüne aus sagen wollte, fügten sich zu schimmernden Sätzen, die sich von dem dumpfen Rauschen der Gespräche um ihn abhoben.
Dann durchdrangen ihn plötzlich wie ein Messer ein paar Gesprächsfetzen:
„Sag, brennen die Leute denn wirklich im elektrischen Stuhl?"
„Freilich brennen sie. Und bevor man sie auf den Stuhl setzt, wird der Strom eingeschaltet. Da wird der Strom ausprobiert, und dann werden alle Lichter in der Armesünderzelle dunkel, weil der ganze Strom in den Stuhl geschaltet ist."
„Wissen die Kerle in der Armesünderzelle, dass der Strom auf den Stuhl umgeschaltet ist?"
„Freilich wissen sie's! Sie hören ja den Dynamo, wenn die Lichter dunkel werden."
Dewey war es, als wäre er plötzlich selbst bei seinen Freunden in der Armesünderzelle. Wie schmal war doch der Spalt des Zufalls, durch den er der Verhaftung entronnen war! Es war ihm, als höre er das hohe Heulen der Dynamomaschine und sähe die Lichter sich verdunkeln. Es war ihm, als läge auf dem Feld mit seinem Zeltsaum, mit seinen spielenden Kindern und seinem wogenden Menschenhaufen der Schatten des Totenhauses mit der großen heulenden Dynamomaschine, die den Tod durch Verbrennung bedeutete. Es war wie ein böser Traum. Er musste sich aufrütteln.
In seiner Nähe stand Mamie Lewes. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf zurückgeworfen und lachte. Er hatte sie oft gesehen, aber nie mit ihr gesprochen. Gewöhnlich war er Frauen gegenüber schüchtern, aber der Schatten des Totenhauses hatte seine Schüchternheit beseitigt. Er ging zu ihr bin, als könnte sie ihn befreien.
„Bist du nicht Mamie Lewes?" fragte er mit seiner weichen Stimme, „ich hab dich oft singen gehört."
„Aber sicher", antwortete sie. „Und ich hab wieder dich oft sprechen gehört. Du bist doch Dewey Briaon, der Organisator."
Keiner hatte ihn noch so genannt. Jetzt wurde seine Funktion zur Wirklichkeit und erfüllte ihn mit Stolz. „Ich hoffe, du wirst heute sprechen", fuhr sie fort. „Ich möchte dich so gerne wieder sprechen hören."
„Das ist sehr lieb von dir. Ich hab ja noch nicht viel gesprochen. Solange hier kein Verband war, hab ich nie gesprochen. Man sagt, du machst dir deine Liederballaden allein?"
Sie nickte zwei, dreimal mit dem Kopf in bereitwilliger Bejahung. Es war eine anmutige Bewegung
Er dachte, die ist ja gar nicht alt —, Mamie Lewes ist doch nicht alt. Bisher hatte er sie aus irgendeinem Grunde immer für ,alt' gehalten. Sie hatte eine Menge Kinder. Ihr Mann war ihr ,getürmt', sagten die Leute. Die Leute sagten, er hätte eine andere gemocht.
Sie stand vor ihm, klein von Wuchs, mit weit auseinander liegenden Augen, lockigem Haar, mit etwas Freiem, Befreitem an sich; etwas Junges, Glückliches, Spielerisches war an ihr. Sie sah aus, als sollte gleich die Musik zu spielen anfangen.
„Ja", sagte sie. „Ich mache mir meine Lieder selbst. Sie kommen mir nur so von selbst, seitdem wir den Verband haben."
„Genau so, wie bei mir mit dem Sprechen." „Alles kommt einem so anders vor, seitdem wir den Verband hier haben. Früher hab ich immer nur gearbeitet und gearbeitet, jahraus, jahrein, wie so ein Tier. Man hatte zu nichts anderem Zeit als zum Müdesein, nicht wahr?"
„Nein, wirklich nicht."
Sie hatten sich verstanden. Er fühlte, dass sie mit derselben Leidenschaft am Verband hing wie er selbst. Die Zeit, als es noch keinen Verband gab, für den man kämpfen konnte, schien weit zurückzuliegen, schatten-
haft und ereignislos. Seither waren ihm neue Gedanken gekommen, eine neue Ergebenheit. Es war, als sei er aus einem Schlaf erwacht. Auch sie fühlte dasselbe.
Die Leute sammelten sich um die Rednertribüne. Eine Gruppe Kinder marschierte vorbei. Jeder hatte die Hand auf der Schulter seines Vordermannes und schrie, so laut er konnte:
„Zober, der Bulle, immer mit der Pulle!" „Hoffentlich hörens die Bullen", sagte Mamie Lewee. „Hör zu."
Die Kinder sangen jetzt:
„Der alte Zober sitzt auf dem Zaun,
Will aus neunundneunzig Cents einen Dollar baun!"
„Diese Kinder werden sich noch würgen und mit dem Gummiknüppel verprügeln lassen", prophezeite Jolas seiner Binney.
„Diesen Zober können sie aber wirklich nicht ausstehen", sagte Dewey.
„Mamie Lewes!" rief jemand. „Sie wollen, du sollst singen!"
„Ich muss jetzt wohl gehen und singen." Sie nickte Dewey mit lächelnder Freundlichkeit zu und ging hinüber zur Rednertribüne. Sie sang aus dem Zwerchfell, mit tiefer, süßer, ungeschulter Stimme:
„Sie sperren unsere Führer ein,
Es geht auf Tod und Leben,
Die Arbeiter, sie müssen drauf
Die rechte Antwort geben.
Sie stehen einig fest zusamm',
Haun in dieselbe Kerbe,
Wir geben nie und nimmer zu,
Dass unser Führer sterbe.
Wir bauen einen großen Verband
Im ganzen Süden aus,
Damit wir bessere Kleider kriegen
Und auch ein besseres Haus.
Jetzt müssen wir zusammenstehen,
Haun in dieselbe Kerbe,
Wir geben nie und nimmer zu,
Dass unser Führer sterbe!"
Sie sang mit der größten Aufrichtigkeit und Überzeugung. Die Worte sanken tröstend Dewey ins Herz. Es war, als ob der lange Schatten des Totenhauses heller wäre, das Heulen der Dynamomaschine leiser.
„Wir geben nie und nimmer zu, Dass unsere Führer sterben!"
Er fühlte den Verband als Bollwerk gegen den Tod der Führer. Er empfand ihn als gegenwärtig und lebendig und mächtig, und er war ein Teil davon, und auch Mamie Lewes war ein Teil davon und die Kinder auch, die ihre Spottlieder sangen; und auch alle Menschen, die beim Volksfest anwesend waren. Es schien ihm fast, als könnten die Gefangenen es auch hören.
,Wir geben nie und nimmer zu... '
Jetzt sang sie eigens für ihn. Er stimmte in den Chor ein, und sie sangen den Refrain zusammen in einer Aufwallung der Empörung gegen den Betrieb und die Gerichte. Sie sang noch einmal, ihre Stimme kam tief aus dem Innern, sie schrie es froh und herausfordernd hinaus:
„Hört nun, Streikbrecher, meine Mär,
Von einem gemeinen Millionär,
Basil Schenk wird er genannt,
Er kauft das Gesetz im ganzen Land... "
... hier hob sich ihre Stimme laut und triumphierend wie eine Standarte mit Fanfaren:
„Doch er kann nicht kaufen unsern Verband!" Die Leute riefen:
„Doch er kann nicht kaufen unsern Verband!" Jetzt waren sie alle vereinigt. Die Lieder hatten sie zusammengebracht. Sie waren nicht mehr einzelne Menschen, sie waren eine große, zu einer großen Sache versammelte Zuhörerschaft.
Sie waren nicht länger Einzelne, gemein, verängstigt, bedrückt. Sie waren alle befreit, alle erfüllt von demselben großartigen Ziel. Ihre Herzen schlugen mit dem Verband. Sie waren ein Teil des Verbandes. Es war schön. Schönheit und Hoffnung war unter ihnen, Hoffnung auf einen besseren Tag, wie es Mamie Lewes gesungen hatte: ,Damit wir bessere Kleider kriegen und auch ein besseres Haus.'
Mamie Lewes zog Odell Corbett mit auf die Rednertribüne hinauf. Odell war ein mageres, kleines Mädchen, ihr Haar hing, nach deutscher Manier geschnitten, fast bis zu den Augen herunter.
„Auch Odell hat eine Ballade gemacht", sagte Mamie Lewes. „Sing uns vor, Odell." Das Kind piepste sofort los, mit einem Stimmchen, das spitz und scharf und winzig war wie eine Nadel:
„Dürfen wir zu dir ins Zelt, Fer Deane, Wenn sie uns aus unserm Haus vertreiben? Denn auf der Erde schläft sichs kalt Und wir haben keine andere Bleibe. "
Dewey fühlte sein Herz sich verkrampfen. Mamie Lewes sprang von der Rednertribüne und stand wieder neben ihm. Er drückte ihr impulsiv die Hand. Sie
schien gar nicht erstaunt, sondern drückte die seine warm wieder. Sie waren vereint in ihrer Treue zu ihrem Volk, zu ihrer Hoffnung, zu ihrem Verband.
Die Versammlung ging weiter ihren Gang. Jetzt sprach Dewey. Dann sang Mamie Lewes noch einmal. Wieder näherten sich die Menschen einander. Etwas Schönes war unter sie gekommen. Sie waren voller Hoffnung und Solidarität. Glück strömte von ihnen aus, einen Augenblick lang waren sie alle stark im Guten. Ein Wunder war geschehen. Das Streben des menschlichen Geistes war in dieser Versammlung einfacher Leute greifbar geworden. Das hatte der Verband getan.
Menschen in Masse zeigen das Beste oder das Schlechteste, das in ihnen steckt. Gemeinsam ersteigen sie gefährliche Höhen der Schönheit und der Opfer. Und gemeinsam sinken sie zur Jagdmeute herab, zur blutlechzenden Kreatur. Der einzelne Mensch geht zwischen den beiden Extremen seinen Weg.
Dewey fühlte das, wenn er es auch nicht hätte in Worten sagen können. Er wusste nur, dass er gewachsen war, dass er in diesem Augenblick lebendiger war, als er je gewesen, und dass überall um ihn her die Menschen ebenso lebendig waren wie er selbst. Er wusste, dass sie in diesem Augenblick zum Sieg ausmarschieren könnten, wie mit Bannern und Fanfaren.
Dann legte sich ein langer Schatten über ihn, wie von den Mauern der Fabrik geworfen. Hier war es schön, aber draußen war der Hass. Draußen war der Mob.
Jetzt war der Mob still, er wartete auf Blut, er leckte sich die Lefzen und dachte an die Musik der Dynamomaschinen im Totenhaus.
Wieder hatte Dewey das Gefühl der fast sichtbaren Gegenwart der Gefangenen —, als ginge die Schönheit dieses Nachmittags von ihnen aus. Sie waren überall
zugegen, in der Musik, in den Reden, und auch die furchtbare Gefahr, die sie bedrohte, und die Notwendigkeit ihrer Errettung aus dieser Gefahr waren überall mit dabei.
Draußen aber war der Mob__
Mamie Lewes trat an ihn heran. „Vielleicht werden bei dem nächsten Volksfest auch sie dabei sein."
„Mag sein", antwortete er. Er fühlte, dass er um etwas Scheußliches wusste, um etwas, das ihr nicht bekannt war. Er hatte die Lichter im Totenhaus sich verdunkeln gesehen, sie aber nicht.
Er hatte die Dynamomaschine gehört.
Plötzlich fühlten sie beide, dass sie sich bald wieder sehen müssten. Sie verabredeten, sich am folgenden Montag im Gerichtssaal zu treffen.
XX. KAPITEL
Der Nachmittag des Volksfestes bedeutete für Dewey das Ende eines Lebens in Unschuld. Er hätte es nicht in Worte kleiden können, aber das Leben vor jenem Sonnabend und das Leben, nachdem er dem Mob ins Gesicht gesehen hatte, spalteten sein Leben entzwei. Ein furchtbares Wissen um das Böse im Menschen war ihm enthüllt worden.
Der Verband hatte sein Hauptquartier nach Lafayette verlegt, da in Stonerton die verbandsfeindliche Stimmung zu stark gewesen war. Aber in den zwei Monaten, die seit der Schießerei vergangen waren, hatten die Verbandsfunktionäre in vielen Betrieben der Bezirke Stonerton und Gaston weiter agitiert. Sie wollten am Sonnabend vor einem der zahlreichen Betriebe der Umgebung Stonertons eine Versammlung abhalten.
Dewey Brison und Lee Henderson organisierten die Veranstaltung. Sie nahmen den alten Quinn mit sich, einen alten Prediger und sehr geschickten Redner, und noch zwei junge Kerle, Robert Duncan und Poddy Smithson, die sehr gut für den Verband zu sprechen verstanden und auch hier sprechen sollten. Poddy war ein großer, starker Kerl. Alle drei Burschen waren zu einer Schlägerei bereit, wenn es dazu kommen sollte.
„Ihr Jungen wisst, dass es zu Scherereien kommen kann", hatte Duncan zu ihnen gesagt. Robert Duncan war aus dem Norden gekommen, um Fer mehr oder weniger zu ersetzen. Er war ein Betriebsarbeiter aus dem Norden, ein kleiner, zäher Kerl, bescheiden, völlig furchtlos, ohne jede Großsprecherei.
Sie fuhren die wunderbare Bergstraße entlang.
„Glaubt ihr, dass es Scherereien geben wird?" fragte Dewey.
„Na, es heißt, die Betriebsleitung hält einen Mob für uns in Bereitschaft", sagte Duncan. „Können wir dort nicht sprechen, fahren wir gleich weiter nach High Hill."
„Habt ihr auch in High Hill eine Versammlung angesetzt?" fragte Smithson.
„Ja, freilich", sagte Dewey. „Warst du denn bei der Sitzung nicht dabei, wo wir alles festgelegt haben? Erst sprechen wir hier, und dann fahren wir weiter nach High Hill."
„Wir haben da eine ganz stramme Verbandszelle, in diesem Heatherstone-Betriebe, wo wir sprechen sollen. Darum will man uns die Sache auch versalzen. Sie wissen genau, dass die Zelle was taugt."
„Mir wär’s leichter ums Herz, wenn ich ein Schießeisen hätte", sagte Poddy.
„Na, keiner von uns hat Schießeisen und keiner von uns wird Schießeisen bei sich tragen", sagte Duncan, der die ganze Abneigung des Nordamerikaners gegen das Tragen von Schießwaffen hatte.
Der Gedanke an ,Scherereien' lag Dewey ganz fern. Er hatte vor zwei Monaten nur den Anfang der Zerstörung der Zeltkolonie miterlebt. Er hatte nicht in der Zeltkolonie gewohnt und war frühzeitig entkommen.
Er war damals nicht prominent genug gewesen, und der Hass des Mobs hatte sich nicht gegen ihn gerichtet. Er hatte diesen Hass nie so zu spüren bekommen wie Fer. Er war nie bedroht worden wie Wes Elliott und einige der bekanntesten Streikenden. Bisher war er bloß Leibwächter von Fer gewesen, aber kein Verbandsfunktionär, ja nicht einmal Mitglied des Streikausschusses, auch nicht in den heißesten Tagen des Streiks.
Sie fuhren in einem Mietauto durch die wunderbare Augustlandschaft. Es war heiß, aber es wehte ein angenehmes Lüftchen. Dewey fühlte sich glücklich. Er dachte an Mamies ,Singballaden' und daran, dass er sie morgen im Gerichtssaal treffen würde. Sie hatten den Plan schon festgelegt. Mamie sollte mit einem Lastauto aus Tesner kommen, um einen Tag bei der Gerichtsverhandlung zu verbringen.
Sie kamen zum Catawbafluss. „Dort ist die Stelle", zeigte Poddy Smithson den andern die Tankstelle des Griechen, wo Zober und Murck den Griechen am Tage der Schießerei in der Zeltkolonie in den Fluss gejagt hatten.
„Sie waren beide besoffen und sind zum Griechen gekommen, um ihn zu fragen, wo sie noch etwas zu trinken kriegen könnten. Der Grieche hat gesagt, er hat nichts zu trinken, und da haben sie ihn verflucht und
auf ihn geschossen, und er ist davongerannt, hinunter zum Fluss."
„Das hat ihnen so gute Laune gemacht, dass sie dann gekommen sind, die Zeltkolonie ausräumen", sagte der alte Quinn.
Vor den Betrieben, die sich bis zur Chaussee hinunter erstreckten, war eine Gruppe von Menschen vergammelt. Ungefähr hundert Menschen, auf der Chaussee, mit Gewehren in den Händen, zu allen Untaten bereit, nicht eine Menschenmenge, sondern ein Mob.
Eine Welle dumpfen Staunens durchschüttelte Dewey. Diese Männer hatten es auf ihn abgesehen. Ein Geheul stieg aus ihren Kehlen auf.
„Dort ist der Anstifter!"
„Holt ihn heraus und lyncht ihn!"
„Holt ihn raus! Holt ihn raus! Stopft ihnen das Maul!"
Solche Rufe konnten sie einzeln aus dem Gebrüll des Mobs heraushören. Aber dieses Gebrüll glich keinem andern Geräusch der Welt. Es war der Laut des Irrsinns.
Dewey schien es, als blicke er in einen roten Rachen. Diese Männer, die brüllend heranstürmten: ,Holt sie heraus, lyncht sie, erschießt sie', waren alle Teile des Mobs. Hier war das Gegenstück zum Volksfest, wo die Individualität der Menschen aufging in etwas, das ihrer aller Summe und größer als sie alle war. Hier fraß der Mob die einzelnen auf und spülte sie fort im gemeinsamen, besinnungslosen Hass.
Sie überrannten das Auto, ihren Hass laut herausbrüllend. Das Brüllen klang in Deweys Ohren wie das Rauschen des Meeres. Ein Mann schlug ihm mit einem Totschläger aufs Auge.
Ein anderer drosch mit einer Bierflasche auf Henderson los. Henderson versteckte das Gesicht in die Hände, Die Flasche zerbrach und von seinen Händen floss Blut. Männer schlugen mit Gummiknüppeln und Fäusten über die offene Seite des Wagens auf den alten Quinn, auf Poddy Smithson los. Der Mob riss den Wagenschlag auf und zerrte Dewey heraus.
„Los, wir lynchen ihn! Nehmen wir sie mit!" Dewey war nicht erschrocken. Ein blödes Staunen erfüllte ihn.
„Wir nehmen sie mit und peitschen sie aus!" „Wir werden ihnen geben, einen Verband aufzuziehen!"
Es schien ihm unglaublich, dass ihm so etwas zustoßen könnte. Jetzt versuchten seine Freunde, ihn zurückzureißen. Sie zerrten ihn herein, schlugen den Wagenschlag zu.
„Aufdrehen!" schrie Henderson.
Das Auto sprang vorwärts. Der Mob klammerte sich an den Wagen, wie ein Bienenschwarm, und schlug noch immer auf die Insassen ein. Der Wagen kam in Schwung. Die Verfolger blieben zurück, ein Klumpen Hass. Steine schlugen gegen die Karosserie des Autos, Schüsse knallten. Einzeln sprangen die Angreifer vom Auto ab. Jetzt waren sie durch. Nur ein schwarzer Fleck lag hinter ihnen, ein schwarzer Fleck mit rotem Rachen.
Dewey war es schwindlig. Beide Augen waren blau und sein Schädel blutig angeschlagen. Das Blut tropfte herunter. Alle hatten zerschundene Gesichter. Selbst der alte Quinn hatte ein blaues Auge und sein Unterkiefer war geschwollen.
Der Taxichauffeur sprach zuerst.
„Das war aber bald schief gegangen! Ich dachte, jetzt kriegen sie uns alle."
„Ich dachte, wir haben jetzt unsern Teil."
„Ich dachte das auch", sagte Henderson.
„Ich war richtig erschrocken, wie sie Dewey da herauslotsen wollten."
„Wenn sie ihn aus den Wagen herausgekriegt hätten, wär er jetzt schon um die Ecke."
„Glaubst du, die hätten ihn gelyncht?"
„Ja, die Bande war auf Lynchen aus. Die wussten gar nicht mehr, was sie tun."
„Was waren denn das für Leute?" fragte Duncan. Das alles war ihm neu. „Was wollten die von uns?"
„Es waren Werkspitzel und ein paar von den Kerls, die sie ,loyale Arbeiter' nennen und dann noch allerlei Gesindel. Denen haben sie erzählt, der Verband predigt freie Liebe und Atheismus."
„Wohin wollt ihr denn fahren?" fragte der Taxichauffeur.
„Erst zu einem Arzt, wenn wir durch Gastonia kommen, um unsere Wunden verbinden zu lassen, und dann gehen wir nach High Hill und sprechen dort. Wir wollen doch trotzdem irgendeine Versammlung abhalten, nicht wahr?"
„Aber selbstverständlich", sagte Poddy.
„Selbstverständlich. Wir wollten eine Versammlung abhalten und werden auch eine abhalten", sagte der Prediger Quinn.
Dewey sagte nichts. Er war froh, dass sie weitergehen wollten, froh über alles, was ihn verhinderte, an den haßbrüllenden Mob zu denken, an die packenden Hände, an das Geheul des Mobs.
XXI. KAPITEL
Der Gerichtssaal, wo die Verhandlung stattfand, war hoch und imposant. Die Wände waren mit dunklem poliertem Holz getäfelt. Riesige Fenster ließen das Licht herein. Der Raum machte eher einen würdevollen und stattlichen als strengen Eindruck.
Roger stieg die zum Gerichtssaal führende Marmortreppe hinauf. Das Gebäude war neu, und ganz Lafayette war stolz darauf. Zwei weit ausholende Treppenfluchten führten aus der Vorhalle nach oben. Junge Mädchen in hellen Kleidern schwärmten die Treppen hinauf. Eine Gruppe Neger in Overalls lachte gemeinsam über eine eben zum besten gegebene komische Geschichte. Ein kohlschwarzer Neger warf den Kopf zurück und platzte mit einem schallenden ,Wah-wah-wah' heraus, das durch die weite Halle rollte. Bauernfrauen in Kalikokleidern, kleinen altmodischen Strohhüten auf den Haarknoten und Knöpfelschuhen schlenderten die Treppen hinauf.
Die Leute von Lafayette machten von ihrem Gerichtsgebäude reichlich Gebrauch. Man fühlte sich drin wie an einem vom Volke besuchten Ort, etwa einer Kreuzung zwischen einem Theater und einer Bibliothek. Es war eben ihr Theater. Hier kamen sie her, um Mordprozessen beizuwohnen. Hier kamen sie her, um zuzusehen, wenn ihre Nachbarn vor Gericht standen. Die schlendernden jungen Mädchen, die Frauen, die Neger, die Männer in Arbeitskleidung und Overalls, die Leute, die kamen und gingen, das Gefühl der Muße nahmen dem Ort jede Strenge.
Der Presse wurden an einer Seite des Saals innerhalb der dunklen Holzschranke Plätze angewiesen. Zwei Reihen Bänke liefen an beiden Seiten des großen Zimmers entlang. Diese Bänke waren ursprünglich für
die Geschworenen bestimmt. Die zweite Bank, den Presseplätzen gegenüber, war noch leer, wartete auf die Geschworenen. Es war eine langwierige Prozedur, das Zusammenstellen des Geschworenengerichts.
Roger hatte viele alte Bekannte im Saal. Hoskins war hier, Dick Durgan und andere Journalisten, die schon einmal in der Frühzeit des Streiks dagewesen waren.
Der Gerichtssaal begann sich zu füllen. Die Zuhörerschaft bestand fast ausschließlich aus Arbeitern, meist aus Männern. Lastautos mit Streikenden waren aus Stonerton gekommen. Hier waren auch einige Frauen dabei. Die meisten waren mit den Angeklagten verwandt. Roger erkannte unter dem Publikum den alten Tetherow und Frau Tetherow und Mutter Gilfillin. Auch der Vater von Dan Marks, Binney und Victor Jolas, Frau Cuthbert waren da, die Bisphams und die Landors und Lissa.
Die Tribünen waren voll von Negern. Bald kam der Sheriff und schickte sie weg, um Weißen Platz zu machen, die das Schauspiel sehen wollten. Die Neger schlürften davon und dachten gar nicht daran, zu protestieren.
Der Richtertisch stand auf einer Plattform. Die Wand dahinter war mit schönem poliertem Holz getäfelt und mit einer prächtigen Bronzeuhr geschmückt. Das dunkle Holz hinter dem Richter, die Bronzeuhr, die hohen Fenster gaben seinem hohen Sitz eine fast theatralische Würde.
Der Richter war ein junger Mann mit schmalen, aristokratischen Gesichtszügen und mit einem schönen Kopf, beinahe dem Kopf eines Fanatikers. Tiefliegende Augen. Ein Mann, der mit sich selbst in Frieden lebte,
ausgeglichen und lebensbejahend. Er glaubte an sich, an die Gerechtigkeit in seiner Arbeit und an Gott. Vor dem hohen Tisch waren die Plätze für die Anwälte der Anklage und der Verteidigung. Das größte juristische Talent des Staates Nordcarolina war eingesetzt worden, um diese jungen Burschen auf dem elektrischen Stuhl verbrennen zu lassen. Auch der Verband und die Verteidigung hatten ausgezeichnete juristische Talente mobilisiert.
Die jungen Angeklagten kamen herein. Sie sahen alle sehr sauber und sehr jung aus. Ihre Freunde drängten sich vor, um sie zu begrüßen. Der Sheriff ließ sie gewähren. Es wurde ihnen gestattet, mit ihren Angehörigen zu sprechen.
Roger ging hinunter, um Fer zu sprechen. Seine Augen waren klar, er sah ausgeruht aus. Sie waren alle froh, dass die Verhandlung nach der langweiligen Haft von zweieinhalb Monaten endlich begann.
Da war Wes Elliott mit seinem rotbraunen Haar, seinen tiefliegenden fanatischen Augen und seinem groben, starken Gesicht.
Dan Marks, breitschultrig, sein schöner Kopf fest auf dem schweren Hals ruhend.
Bill Gilfillin, mit lockeren Gelenken, schlaksig, nur achtzehn Jahre alt.
Tetherow, mit goldenem Haar und blauen Augen, sehr adrett gekleidet, denn alle Tetherows waren adrett, sah aus wie ein höherer Schüler, was er wohl auch hätte sein sollen, wenn er nicht Fabrikarbeiter gewesen wäre. Tetherow und Gilfillin waren beide noch nicht neunzehn Jahre alt.
Da war Charlie Clint, der Betriebsarbeiter aus dem Norden, der gekommen war, um bei den organisatorischen Arbeiten mitzuhelfen. Paul Graham, ein junger
Intellektueller, der noch nicht zwei Wochen im Süden war, als die Schießerei passierte. Der Verband hatte ihn an die Stelle Woods heruntergeschickt und damit endlich den wiederholten Bitten Irmas und Fers entsprochen.
Die jungen Leute saßen alle unmittelbar an der Schranke. Irma und Doris und Grahams junge Frau, ein sehr hübsches Mädchen mit großen blauen Augen und dunklem Haar, saßen hinter ihnen.
Dort saß auch Len Cathcarts junge Frau mit ihrem kleinen Kind. Cathcart war einundzwanzig Jahre alt und der einzig verheiratete Mann unter den angeklagten Arbeitern. Auch Sam Truitt, ein anderer Betriebsarbeiter, war unter den Angeklagten.
Zwei kleine Kinder saßen neben dem Richterstuhl, Knirpse von drei bis vier Jahren, der Knabe in Blau, das Mädchen in Rosa gekleidet. Ihr Haar war blond, mit dem blonden, flaumigen Aussehen frisch ausgeschlüpfter Kücken. Der Sheriff und sein Gehilfe brachten einen großen eisernen Kasten herein. Die Kinder sollten daraus die Namen der Geschworenen ziehen.
Das hier war ein Mordprozess. Der uralte Brauch des Staates Nordcarolina schrieb vor, dass die Namen der Geschworenen von Kindern, die des Lesens und Schreibens unkundig sind, gezogen werden müssten. Die Kinder des Sheriffs zogen die Namen und schienen es nie satt zu werden. Nachdem die Geschworenen an Gerichtsstelle geladen waren, zogen sie dann die Namen aller Geschworenen nacheinander aus einem Hut.
Das kleine Mädchen war verlegen und selbstgefällig. Es machte den Männern, von denen eine so befriedigende Anzahl anwesend war, allerhand Augen. Der
kleine Junge war ernst und sah sich gar nicht um. Meist saß er auf dem Schoß des Richters, eine kleine blaue Gestalt mit einem goldenen Knopf obenauf. Der Richter hielt ihn zerstreut auf dem Knie. Das kleine Mädchen trieb sich bei den Journalisten herum, die ihm Bilder zeichneten.
Roger wurde den Anblick nicht los. Zwei helle Stückchen Farbe und Unschuld, die sich heimisch und zufrieden im Gerichtssaal tummelten.
Der Gerichtsschreiber rief einen Geschworenen mit Namen. Der Geschworene meldete sich; der Schreiber sagte:
'ssen Sie 's Buch!" und überreichte dem Geschworenen die Bibel.
„Schwören Sie feierlich —"; der Rest der Eidesformel verlor sich in einem undeutlichen Gemurmel. Leise und mit großer Höflichkeit redeten die Anwälte.
Es war gar nicht wie eine Gerichtsverhandlung, bei der neun Menschenleben auf dem Spiel standen. Es war eher ein feierlicher Ritus, ein Ding aus dem achtzehnten Jahrhundert, eine Menuette. Ein unblutiger Zweikampf mit Finten und Paraden. Ein komplizierter Bau aus Höflichkeit und Kultur, ein Mittelding zwischen einem Duell und einem Menuett.
Die ganze Szene, der junge unparteiische Richter, die alten Gebräuche, die komplizierten Zeremonien, die Höflichkeitsformeln der Anwälte, dies alles schien der Welt zu verkünden:
Das hier wird kein Prozess Sacco-Vanzetti. Hier gibt es keine Abschiebung junger Menschen auf den elektrischen Stuhl. Hier wird Gerechtigkeit geübt. Das hier ist ein Gericht von Nordcarolina. Diese jungen Missetäter sollen jede Chance haben.
Roger saß und sah zu, aber in seinem Herzen wusste
er, dass diese Blüte der Justiz auf demselben Boden wuchs wie der Mob. Er konnte das Gesicht nicht vergessen, das Stonerton vor zwei Monaten ihm gezeigt hatte.
Die Prozedur der Bestimmung der Geschworenen nahm kein Ende. Da es sich um einen Mordprozess handelte, hatte jeder Angeklagte das Recht, zwölf Geschworene abzulehnen. Die Anklagebehörde hatte im Vergleich zur Verteidigung ein stark beschränktes Beanstandungsrecht.
Roger saß durch den ganzen langen Nachmittag. Der Anklagevertreter schleuderte den angehenden Geschworenen Fragen entgegen.
„Sind Sie Fabrikarbeiter? Glauben Sie, dass die Angeklagten unschuldig sind, und haben Sie einem solchen Glauben Ausdruck gegeben? Haben Sie je eine kommunistische Zeitung gelesen? Haben Sie je Literatur gelesen, die von diesen Leuten verbreitet wurde? Gehören Sie einer Gewerkschaft an? Haben Mitglieder Ihrer Familie je in den Baumwollspinnereien gearbeitet? Sind Sie Anhänger der Todesstrafe?"
Eigenartigerweise kam eine unerwartet starke Voreingenommenheit gegen die Todesstrafe an den Tag. Sie war in allen möglichen Schichten vorhanden. Eine Anzahl Geschworener wurde vom Anklagevertreter aus diesem Grunde abgelehnt. Als dann die Anklagevertretung endlich die Geschworenen durchgehen ließ, nahm die Verteidigung sie vor. Manche wurden sofort abgelehnt. Andere wurden ausführlich ausgefragt. Man fragte nach Beziehungen zu Angehörigen der Polizei. Hatte er irgendwelche Polizeibeamten in der Familie? Ganze Familiengeschichten wurden aufgerollt. Endlich, wenn jede Frage zufriedenstellend beantwortet war, skandierte der Gerichtsschreiber:
„Ge-schwo-re-ner, sehen Sie den Gefangenen an." „Gefan-gener, sehen Sie den Geschworenen an! Gefällt er Ihnen?"
Dann, wenn aus irgendeinem Grunde auf Veranlassung des Anwalts oder infolge der gefühlsmäßigen Einstellung der Angeklagten der Betreffende nicht zum Geschworenen geeignet schien, würde der Anwalt mit „Nein!" antworten. Junge, an die Gepflogenheiten der Gerichte nicht gewöhnte Farmer machten erstaunte und beleidigte Gesichter, wenn sie daraufhin entlassen wurden.
Es war ein seltsamer Querschnitt durch die Gesellschaft, der auf diese Art durch den Gerichtssaal zog. Ein Millionär, sehr erpicht darauf, als Geschworener zu fungieren, der eigenen Unbefangenheit gewiss. Kleine Kaufleute, Farmer. Leute, die keine zehn Meilen weit vom Lafayetter Bezirksgericht wohnten, aber unwissend waren wie russische Muschiks. Leute, die von der berühmten Humphries-Schießerei nie gehört hatten, vom Streik nie gehört hatten, obwohl der ganze Bezirk deswegen Kopf stand. Diese Männer bestellten ihre Felder und bepflanzten ihre kleinen Baumwollparzellen, als lebten sie auf einem andern Planeten. Sonderbar!
Der lange Aufmarsch ging Tag für Tag weiter. Über sechshundert Personen wurden befragt, bevor endlich die Geschworenenbank vollzählig war. Roger hatte ein Gefühl, als redeten hier Menschen einer andern Generation, eines andern Jahrhunderts. Doch auch die prominenten Anwälte gehörten zu diesen Leuten, zu diesem Jahrhundert. Sie gehörten nicht in ein Zeitalter der wissenschaftlichen Forschung.
Der lange Nachmittag hatte überhaupt keinen Geschworenen ergeben. Als sie zusammen hinausgingen, fragte Roger Hoskins: „Was glaubst du, warum haben sie diesen letzten Farmer nicht genommen?"
„Ich weiß nicht. Ich hätte ihn genommen. Er schien mir ein anständiger Kerl zu sein."
„Wozu diese lange Verschleppung?" fragte Dick Durgan.
„Ihr könnt es ja selbst sehen", sagte Hoskins. „Dieser Bezirk ist auf einer Klassenfront gespalten. Es bestehen nicht mehr Zweifel darüber, welcher Prozesspartei die Sympathien zuneigen, als darüber, auf welcher Seite des Flusses ein bestimmtes Haus liegt."
„Alle wohlhabenden Leute", erläuterte Roger, „glauben, dass die Streikenden schuldig sind. Sie haben die Streikenden immer gehasst. Sie sind der Meinung, die Gewerkschaften propagieren Anarchie, freie Liebe und die Gleichberechtigung der Neger. Sie sind absolut sicher, dass ein Komplott zur Ermordung der Polizisten bestanden hat. Nichts kann so phantastisch sein, dass es von diesen Leuten nicht geglaubt würde.
Die werktätigen Elemente, die kleinen Farmer und die Fabrikarbeiter, glauben ihrerseits, dass die Streikenden in ihrem Rechte waren und dass die Polizei angefangen hatte. Sie glauben, dass die jungen Leute in Notwehr geschossen haben. Wenn also diese Burschen die geringste Aussicht auf Gerechtigkeit haben sollen, müssen sie Arbeitergeschworene haben, möglichst junge Geschworene ohne Vorurteile."
Sie begegneten einem jungen Mädchen, das Roger bekannt vorkam. Dann fiel ihm ein, wer es sei, es war Eleanor Thurston. Sie kam auf ihn zu, freute sich, ihn wieder zu sehen.
„Waren Sie bei der Verhandlung?" fragte er sie.
„Ja, und ich bin meiner Familie durchgebrannt, um hierher zu kommen. Ich brauche erst in zwei Wochen zur Schule zurück."
„Was wollen Sie damit sagen: durchgebrannt'?"
„Ich glaube, die würden sterben, wenn sie wüßten, dass ich hierher gekommen bin", sagte sie.
„Sie haben es also nicht gar so leicht gefunden, die Finsternis zu zerstreuen, was?" fragte Roger mitfühlend.
„Die wollen ja das alles nicht hören", erzählte sie. „Man kann keinen dazu kriegen, sich die Dinge anzuhören. Sie glauben nichts, was man ihnen sagt. Die älteren Leute glauben alle nicht, was man ihnen sagt. Sie wissen ja noch, wer es war —, Frau Professor Scudder —, die während des Streiks in Lawrence sagte, wenn die Frauen von Massachusetts wüßten, wie die Leute leben, die diese Stoffe weben, würden sie keinen Yard mehr kaufen, bis die Zustände nicht gebessert würden. Ich glaubte das früher auch. Ich dachte, ich brauchte ihnen nur zu sagen, was ich selbst gesehen habe. Aber das hat nicht gestimmt. Sie waren einfach wütend, dass es so etwas wie einen Verband hier gibt, und besonders, dass Leute aus dem Norden hier sind, um den Süden zu organisieren. Sie finden mich abscheulich, und ich finde sie abscheulich. Es ist fast, als ob ich überhaupt gar keine Familie mehr hätte."
Roger fühlte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen würden, wenn sie nicht so zornig wäre. „Wissen Sie", sagte er, „ich war einfach nicht imstande, Bekannte, die ich in dieser Gegend habe, zu besuchen. Ich habe das Gefühl, als gehörte ich in eine andere Welt. Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Ich bin ja kein Arbeiter. Ich könnte nicht organisieren."
Eleanor Thurston sagte: „Wissen Sie, als diese
Schießerei passierte, schrieb ich nach Hause wegen Zeitungen, weil ich erfahren wollte, was wirklich geschehen war. Und wissen Sie, meine Familie stand auf dem Standpunkt, alle zweiundsiebzig Verhafteten gehörten an den nächsten Baum aufgeknüpft. Mein Vater kriegt einen roten Kopf, wenn er davon spricht. Meine Mutter hat solche Angst, dass sie das Gespräch in andere Bahnen lenkt. Täte sie das nicht, glaube ich nicht, dass ich zu Hause bleiben könnte."
„Haben Sie es versucht, mit ihnen zu diskutieren?" Eleanor warf ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf. „Ich bin ein schrecklicher Feigling. Sie wissen ja, wie die Mädchen im Süden sind. Wir werden dazu erzogen, nett zu sein. Man ist es einfach nicht gewöhnt, älteren Leuten Dinge zu sagen, die sie nicht hören wollen. Es würde ja auch nichts nützen."
„Aber es muss doch unter den Frauen die allgemeine Meinung herrschen, dass es den Frauen und Kindern besser gehen sollte."
„Das schon!" sagte Eleanor. „Eine Gruppe von Frauen versuchte im vergangenen Jahr die Betriebe zu untersuchen, aber die Arbeitgeber und Fabrikanten wollten ihnen keinerlei Angaben machen und gestatteten es kaum, dass einige von ihnen die Fabriken besichtigten."
„Warum kann aber diese öffentliche Meinung der Frauen nicht organisiert werden? Warum haben Sie das nicht gemacht? Versuchen Sie es auf alle Fälle, wenigstens unter den Mädchen in Ihrer Schule."
„Wir haben das schon versucht. Viele Mädchen sind ganz meiner Meinung. Aber ihre Familien stehen zumeist auf demselben Standpunkt wie meine Familie."
Die langen Tage versanken einer nach dem andern hinter dem Horizont. Langsam, sehr langsam, kam die Geschworenenbank zustande. Lange, langwierige Vormittage, lange, langwierige Nachmittage. Die Angeklagten lasen Zeitungen oder schickten ihren Freunden im Zuhörerraum Briefchen. Vormittags und nachmittags gab es eine Pause von zehn Minuten. Nachdem das Gericht die Verhandlung vertagt hatte, blieb Fer zurück, um mit seinen Freunden zu sprechen und hielt einen kurzen Empfang ab.
Dann pflegte der Sheriff gutmütig zu sagen: „Na, Jungs, wir müssen uns auch auf die Socken machen." Sie kümmerten sich nicht um ihn und unterhielten sich weiter.
„Na, Jungs, jetzt müssen wir aber gehen". Das nicht allzu eindringlich.
Endlich gelang es dann dem Sheriff, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und sie zogen lachend und scherzend aus dem Gerichtssaal.
Es war schwer zu glauben, dass dies überhaupt eine Gerichtsstätte war. Neger faulenzten in Gruppen, und allerlei Leute trieben sich ohne Scheu in den hohen Marmorhallen herum. Alles war neu und blank und sauber und glich eher einer öffentlichen Bibliothek als einem Ort, wo über Leben oder Tod von Menschen zu Gericht gesessen wurde.
Roger schien es, als hätte er ewig schon schläfrige, warme Tage lange wartend hier gesessen und zugehört, wie die Männer von Lafayette für ein Geschworenengericht, das nicht und nicht Zustandekommen wollte, ausgefragt wurden.
Endlich waren die Geschworenen bestimmt. Ein gutes Arbeiterschwurgericht aus Fabrikarbeitern, Bauern, zwei sehr kleinen Kaufleuten — alles junge Leute.
Dann kam ein Augenblick höchster Dramatik. Ein seltsamer Augenblick, seltsam abstechend von der gekünstelten Korrektheit der Anwälte, deren zunehmende Gereiztheit selbst ein Teil des Zeremoniells zu sein schien. Die zwölf jungen Arbeiter, die Geschworenen, wurden aufgefordert, aufzustehen und die Angeklagten anzusehen. Auch die neun jungen Gefangenen standen auf, auch ihnen sagte man, sie sollten die Geschworenen ansehen. Da standen sie, Angeklagte und Geschworene, und sahen einander tief in die Augen. Es war, als sagten die angeklagten jungen Burschen stumm:
„Werdet ihr gerecht über uns urteilen? Werdet ihr uns einen gerechten Prozess machen? Werdet ihr unbefangen die Zeugenaussagen entgegennehmen, die ihr hören werdet? Ihr seid unsere Richter. Unser Leben hängt an eurem Wort."
Die andern jungen Arbeiter, die Geschworenen, sahen die Angeklagten an, jung wie sie selbst, noch jünger als sie. Sehr ernst, sehr gewichtig erwiderten sie ihren Blick, fast als wären sie überrascht, als wollten sie antworten :
„Müssen wir denn über euch zu Gericht sitzen — über junge Arbeiter, wie wir selbst es sind? Ist es möglich, dass wir euch zu Tode verurteilen müssen?"
Einen Augenblick herrschte absolute Stille im Gerichtssaal. Keiner rührte sich, keiner flüsterte oder sprach, während die Geschworenen und die Angeklagten einander tief in die Augen sahen.
Am Vormittag, an dem die Zeugenverhöre endlich begannen, lag erwartungsvolle Spannung über dem Gerichtssaal. Die örtlichen Journalisten ließen Andeutungen über irgendeine bereitgehaltene Überraschung fallen. Die Überraschung kam. Sie war unglaublich, grotesk, abwegig. Ein Gemisch von Gelächter und Grauen, lächerlich und schrecklich zugleich.
Erst wurde die Bühne für das Drama hergerichtet. Wach Eröffnung der Sitzung kamen zwei Frauen in den Gerichtssaal. Sie trugen tiefe Trauer. Das waren Frau und Tochter von Humphries. Ihre Gesichter waren von Tränen zerwühlt, ihre Augen von zügellosem Weinen gerötet, tragische Gestalten des Schmerzes, die ihrem Kummer freien Lauf ließen, gemäß dem Brauch einer Gemeinschaft, die keine Selbstbeherrschung erwartet oder auferlegt und in der man, wie bei diesen Bergbewohnern, den Tod mit einer Art rituellen Klage begleitet.
Vom Weinen erschöpft, hager und mitgenommen, von schwarzem Flor triefend, kamen die beiden Frauen langsam nach vorn. Der Anklagevertreter stand auf und führte die trauernden Frauen zu ihren Plätzen. Da saßen sie, Bildsäulen des Kummers.
Der Arzt, der Humphries behandelt hatte, sagte jetzt über Zahl und Stellen der Wunden aus. In der tiefen Stille des Gerichtssaals wiederholte er, nur von dem Schluchzen der Witwe und ihrer Tochter unterbrochen, die letzten Worte des erschossenen Polizeichefs: „Ich weiß nicht, warum sie das getan haben. Ich habe mich immer bemüht, nach den Gesetzen zu handeln."
Die Stille hielt dramatisch an. Dann kam Bewegung in die Zuhörerschaft. Wie gewöhnlich bestand diese Zuhörerschaft fast ausschließlich aus Arbeitern, die mit
Fer und den andern Angeklagten sympathisierten. Jetzt schwankten sie wie Getreide im Winde.
Eine große Puppe wurde in den Gerichtssaal geschoben. Sie war mit einem schwarzen Leichentuch zugedeckt. Der Staatsanwalt, ein gewandter Kerl, sprang vor und nahm das Tuch ab. Der Gerichtssaal hielt den Atem an. Die Journalisten hielten den Atem an. Vor ihnen stand eine lebensgroße Figur des toten Polizeichefs. Da stand er in voller Uniform, sein Wachsgesicht von täuschender Ähnlichkeit, totenbleich, seine Kleider blutbefleckt, Blut auf der Halsbinde, eine Gestalt des Todes und des Schreckens.
„Die haben sich nicht umsonst den ,Prozess Mary Dugan' angesehen", flüsterte Dick Durgan Hoskins zu —
Hoskins starrte auf die Figur, als traue er seinen Augen nicht. Die Journalisten aus New York flüsterten miteinander. Die ,Times', die ,World', die Zeitungen von Baltimore kritzelten alle wie toll.
„Entfernen Sie das da", sagte der Richter fest.
„Aber, Herr Richter", sagte der Staatsanwalt, „wir wollten nur... "
„Herr Sheriff", sagte der Richter, „entfernen Sie das."
Die Verteidiger sprangen auf und protestierten laut gegen die offenkundige Ungerechtigkeit dieser Spekulation auf die Tränendrüsen der Geschworenen. Die Witwe brach in lautes Schluchzen aus. Die Tochter sah aus, als wäre sie im Begriff, ohnmächtig zu werden. Roger überlegte, ob sie auf die Szene vorbereitet worden war, oder ob der Staatsanwalt auf den Eindruck gerechnet hatte, den das gespenstisch-schauerliche Bild auf die beiden Frauen machen würde, wenn es mit dem ungemilderten Schock der Überraschung auf sie wirkte.
„Herr Richter", sagte der Staatsanwalt, „wir wollen nur... "
„Herr Richter!" rief der Verteidiger, „wir müssen protestieren."
„Herr Sheriff, haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? Entfernen Sie diesen ... Gegenstand!"
Der Sheriff wartete auf einen Wink des Staatsanwalts. Endlich führte er den Befehl aus. Langsam wackelte die schauerliche Figur auf ihren Rädern aus dem Gerichtssaal. Sie war lange genug dort gewesen, um ihren Zweck zu erfüllen. Die Geschworenen, die Angeklagten und die Zuhörer hatten alle dieses Phantom des Todes gut sehen können.
Der Rest des Tages verging mit der Vorlegung der blutbefleckten Kleider des Toten und mit dem Verhör der Polizeizeugen.
Die Verteidigung machte die Tatsachen geltend, dass zwei der beteiligten Polizeibeamten in betrunkenem Zustand die öffentliche Ruhe gestört hatten, bevor sie zur Zeltkolonie gingen, und dass die Angeklagten nach ihrer Einlieferung im Gefängnis bedroht und misshandelt worden waren.
Mamie Lewes und Dewey Brison saßen nah beisammen. Eine fürchterliche Angst durchzuckte Dewey, als die Humphries-Puppe in den Saal wackelte und er die Angeklagten ansah. Sollten Fer und die übrigen jungen Leute freigesprochen werden, würde der Mob versuchen, sie zu töten, wie man das mit ihm selbst versucht hatte. Er war froh, dass Mamie Lewes auch da war.
„Was ist denn mit deinem Auge passiert", flüsterte sie ihm zu, als er sich neben sie setzte. Er wollte es ihr nicht sagen, es schien ihm dasselbe, als sollte er in Gegenwart einer Frau etwas Zotiges sagen.
„Irgendein Kerl hat mich geschlagen", sagte er.
„Oh, ich weiß, fast hätte dich der Mob gekriegt."
Er nickte.
Jetzt wurden die Zeugen aufgerufen. Der Verteidiger machte Einwände, nahm die Zeugen ins Kreuzverhör. Das Gefühl, dass hier ein kompliziertes Zeremoniell durchgeführt wurde, war noch da. Aber Dewey begriff mit entsetzlicher Klarheit, dass diese höflichen Herren dazu da waren, um seine, Deweys Arbeitsgenossen zu verbrennen. Es war ihm, als höre er tief im Herzen, wie die Dynamos heulen, wenn die Lichter im Totenhaue dunkel flimmern.
Draußen wartete der Mob. Er glich einem wilden Tier, das mit heraushängender Zunge sitzt und wartet. Der Mob war ein Irrsinniger, der brüllt. Das war Deweys eigenstes, geheimes Wissen. Mamie Lewes wusste von diesen Dingen nichts. Es war auch besser so. Dewey empfand eine Regung der Liebe und des Mitleids mit ihrer Unschuld.
Die Verhöre und Kreuzverhöre gingen weiter. Die Beweise gegen die Angeklagten waren schwach. Man bekam ein Bild des Schreckens jener Nacht, der Verwirrung der Arbeiter in der Zeltkolonie —, ein klares Bild dessen, wie zufällig der Zusammenstoß gewesen war. Der aus Angst vor dem Mob geborene Schrecken war es, der die Schießerei verursacht hatte.
Dewey begleitete Mamie Lewes nach Hause. Sie wohnte in einer rauchgeschwärzten Holzhütte weit außerhalb der Stadt. Sie und ihre Kinder bewohnten eine Stube, ein Vetter mit seiner Frau die andere. Das ganze Haus war leer. Die Kinder waren fort, sie spielten in der Zeltkolonie. Mamie ging hinein und holte einen Topf kalter Grütze, um sie zu wärmen.
„Setz dich", lud sie ein. „Ich mach das gleich für dich zurecht. Ich hoffe, du wirst satt, es ist nichts da außer Grütze und Tunke." Sie sang während der Arbeit. „Ist das eine neue Ballade, die du da machst? Es ist furchtbar traurig." „Ja", sagte sie.
„Es ist sehr schön. Du machst sehr schöne Lieder. Sing es mir vor, bitte!"
Sein dunkles Wissen fiel von ihm ab. Sie schien ihm der Geist alles dessen, wofür er kämpfte. Sie stand mit gefalteten Händen vor ihm.
„Mamie Lewes!" rief er. „Mamie Lewes!" Er ging auf sie zu.
„Setz dich und iss deine Grütze. Du bist zu jung, um mir alten Frau nachzustellen."
„Aber Mamie, du bist doch nicht alt." „Heute fühl ich mich nicht alt, aber an manchen Tagen fühl ich mich mächtig alt." „Du bist doch bloß ein Mädel."
„Heut fühl ich mich bestimmt so. Ich weiß nicht, warum ich mich so wohl fühle, wenn ich dieses Lied singe: ,Wir geben nie und nimmer zu, dass unsere Führer sterben!' Ich hab das Gefühl, als hätte ich etwas für sie getan."
„Hast du ja auch. Lieder sind besser als Reden." „Na, geh, setz dich, du." Sie gab ihm einen Stoß, als er zu ihr kam, um sie zu umarmen.
„Warum willst du nicht, Liebe?" bettelte er. „Ich weiß nicht", sagte sie unsicher. „Ich weiß nicht. Wir haben zu viel zu tun, um uns in sowas zu verwickeln."
XXII. KAPITEL
Die Verhandlung zog sich in die Länge. Die Aussagen der Belastungszeugen waren unbestimmt und unschlüssig. Es schien keine Spur eines Beweises dafür vorhanden, dass die Schüsse von irgendeinem einzelnen unter den Angeklagten abgegeben worden wären.
„Was halten Sie davon?" fragte Roger Hoskins. „Glauben Sie, dass dieses Beweismaterial irgendein Schwurgericht überzeugen kann?"
„Das können wir sehr schwer beurteilen", sagte Hoskins. „Was ist Ihre Meinung?" fragte er Otis Bingham. „Glauben Sie, dass die Anklage gut steht?"
„Na, irgend jemand hat Humphries bestimmt erschossen, das ist sicher. Es ist auch anzunehmen, dass es einer von den Streikenden gewesen ist. Die Frage ist nur, unter welchen Umständen. Hat die Polizei zuerst geschossen, und kann die Verteidigung beweisen, dass die Polizei zuerst geschossen hat?"
„Ich sagte eben", sagte Hoskins, „dass es für Leute wie Roger und ich, die dem Verband so nahe stehen, sehr schwer ist, das zu beurteilen. Wir wissen —, wir raten nicht nur —-, wir wissen, genau so bestimmt wie Sie es wissen, dass Sie auf dem Boden stehen —, dass Fer als guter Gewerkschafter Gewaltakte für Unsinn hielt. Jedes Mal, wenn in einem Streik Schüsse fallen, werden die Führer eingekerkert. Darum tun die Führer ihr möglichstes, um die Arbeiter davon abzuhalten, die Schießeisen knallen zu lassen."
„Das erste, was ich Fer predigen hörte, als ich nach Stonerton kam", sagte Roger, „war gerade das. Als die Arbeiter Schusswaffen zum Streikpostenstehen mitnehmen wollten, sagte er ihnen, sie sollten die Finger von den Schießeisen lassen."
„Warum hat er aber das Wachestehen drüben bei der Zeltkolonie zugelassen?" fragte Dick Durgan.
„Er wird es für nötig gehalten haben, nachdem eine maskierte Horde das Streiklokal schon einmal demoliert hatte. Die Zeltkolonie ist ziemlich weit von der Stadt, und die Zelte stehen am Wald. Man fragt sich, was diese jungen Geschworenen sich daraus zusammenreimen werden. Hier sitzen sie, sind es nicht gewöhnt, Zeugenaussagen zu prüfen. Ich bin schon bei hundert Gerichtsverhandlungen dabei gewesen und bin an Gerichtsverfahren gewöhnt, und doch verwirrt auch mich das lange Zuhören, Tag für Tag", sagte Hoskins.
„Man bekommt jedenfalls ein Bild, nicht wahr", sagte Roger. „Man bekommt ein Bild des Terrors. Alles spitzt sich in der Richtung eines neuen Mobüberfalls zu. Unheil ist im Anzug. Der Mob kommt zum ersten Mal ins Streikquartier und bewirft die Redner mit Eiern und Gemüse."
„Vergesst nicht, dass man ihn erwischt', mit der Pistole in der Hand, als er auf Fer schoss, wie er auf der Rednertribüne stand", fügte Hoskins hinzu.
„Das auch und das Würgen der Frauen beim Streikpostenstehen. Die Streikenden waren alle im Glauben, dass der Hunderter-Ausschuss hinter Humphries' Auto auf der andern Seite des Eisenbahndamms stehe und dass nur der lange Güterzug aus Florida sie voneinander getrennt hätte. Der Angriff des Mobs auf die Zeltkolonie folgte mächtig rasch auf die Schießerei."
„Ihr seid ganz sicher, dass kein Komplott vorlag?" fragte Otis Bingham.
„Ich weiß es. Fer ist so unschuldig an der Sache wie ich selbst. Es war nur ein Zufall, dass ich an diesem
Abend nicht auf dem Gelände war, und wäre ich dagewesen, hätte ich auch im Streiklokal gesessen, aus dem angeblich die Schüsse abgegeben worden sind. In der ganzen Angelegenheit ist es eben nicht vernunftmäßig zugegangen. Eine bestimmte Gruppe von Arbeitern weiß genau, dass kein Mord geschehen ist, nur eine Schießerei, ein bedauerlicher Todesfall —, und die übrigen wissen mit derselben leidenschaftlichen Gewissheit, dass ein Komplott vorlag."
„Es scheint mir wie ein kompliziertes Spiel", sagte Roger.
„Auf alle Fälle", sagte Durgan, „wird es noch sehr lange dauern, bis es zu Ende ist."
Aber es dauerte gar nicht mehr lange.
Plötzlich hörte die Verhandlung auf. Es war, als wäre man mit Volldampf losgefahren und an eine Wand geraten. Es geschah wieder etwas Absurdes, Groteskes und Schreckliches zugleich. Das klappernde Gespenst auf Rädern hatte einen Geschworenen um den Verstand gebracht. Das war ein Mensch, den man nie und nimmer als Geschworenen hätte zulassen sollen. Er begann zu toben. Alles musste noch einmal wiederholt, ein neues Schwurgericht bestimmt, die Zeugenaussagen noch einmal angehört werden.
Die entlassenen Geschworenen gaben Interviews.
Nach ihrer Ansicht lagen keinerlei Beweise vor, auf Grund deren sie das Verdikt ,schuldig' hätten fällen können —, es sei denn, dass die Anklage noch mit irgendwelchen Dingen hinter dem Berg hielt.
Die Geschworenen kehrten in ihre Heime, die Angeklagten in das Gefängnis zurück. Der Draht trug die Nachricht ins ganze Land: das entlassene Schwurgericht
hätte Fer und die übrigen Angeklagten bestimmt freigesprochen.
Ein Gefühl der Unbeschwertheit erfüllte Dewey. Er eilte nach Hause. Mit noch einigen andern Verbandsmitgliedern wohnte er bei den Landors. Paul Landor war Zimmermann. Er und seine Frau sympathisierten mit dem Verband. In dem ungestrichenen großen Haus hinter den beiden dürftigen Kiefern hielten sie oft Verbandssitzungen ab.
Als er durch die Stadt ging, hatte er das unruhige Gefühl, dass etwas im Anzüge sei. An den Straßenecken standen Gruppen, die sich leise unterhielten. Es war, als seien die Leute auf die Nachricht von dem Verdikt der Geschworenen hin wie Hornissen ausgeschwärmt. Dewey hatte dasselbe unbehagliche Gefühl lauernder Gefahr, das ihn auch beim Volksfest ergriffen hatte —, als könnten diese Haufen brummender Männer sich plötzlich gegen ihn wenden und ihre Münder zum bellenden Lärm des Mob öffnen.
„Was ist los?" fragte er Paul Landor.
„Ich weiß nicht. Was soll denn los sein?" antwortete Paul.
„Es sind mächtig viel Leute auf der Straße."
„Ich hab sie gesehen", sagte Paul, „als ich von der Arbeit kam."
„Kate telefoniert jetzt wegen irgend etwas. Was dachtest du, dass los ist, Dewey?"
„Ich weiß nicht", sagte Dewey. „Ich hatte bloß ein Gefühl, dass etwas los ist. Ich glaube, es wird wohl zu Streitereien kommen wegen dem, was diese Geschworenen gesagt haben."
„Mag sein", stimmte Landor zu. „Ich denke, wenn auch die Jungs freigesprochen werden, wird man doch versuchen, sie zu kriegen." Kate rief jetzt zum Abendbrot. „Wer hat dich grad angerufen?" fragte er.
„Jolas hat angerufen. Er hat gesagt, es soll heut abend irgendeine Demonstration geben —, eine Demonstration gegen die Roten."
„Ich denke, es wird gut sein, wenn ich zum Verbandslokal hinuntergehe und ihnen das sage", sagte Dewey. Paul machte eine unruhige Bewegung und sah seine Frau an.
„Du bleib nur sitzen", sagte sie. „Ich werde schon hingehen. Ich will nicht, dass ihr Männer heut abend aus dem Haus geht; wenn aber einer doch gehen muss, so wird es Paul Landor sein, Dewey."
„Ich hab keine Angst vor ihnen", sagte Dewey.
„Du bleib hübsch sitzen und tu, was ich dir sage."
Victor Jolas und Binney kamen herein. Gerüchte flogen in der Stadt herum. Verschiedene Leute hatten von Werkangestellten gehört, man wollte heute den Verband ,kriegen'. Alle spürten die Nähe des Unheils.
Die Gespräche starben ab, wie eine Flamme ohne Luft. Plötzlich hörten sie Lärm. Alle saßen unbeweglich. Autos fuhren am Haus vorbei, hupten und bliesen Sirenen.
Jolas sagte: „Das sind sie".
Paul Landor antwortete: „Ja, das sind sie".
Das Geräusch der Autos hörte nicht auf. Kate ging auf Zehenspitzen zum Fenster. Sie drückte sich gegen die Wand, als hätte sie Angst vor Kugeln. Im Zimmer war kein anderes Geräusch zu hören, als sie sich so an der Wand weiterschob. Keiner rührte sich oder sprach.
Das Haus war wie verzaubert in einer scheußlichen Stille.
„Es sind furchtbar viele", berichtete Kate vom Fenster aus. Sie bewegte kaum die Lippen, aber die Worte klapperten laut in der unnatürlichen Stille. Immerzu fuhren weitere Autos vorbei, ein endloser hupender Zug.
„Ich denke, alle Unternehmerknechte aus der ganzen Stadt sind in diesen Autos", sagte Kate. Dann war wieder Stille. Nur der Lärm der Autos, das Geschrei ging weiter. Eine lange Prozession des Hasses. Die Leute waren auf Zerstörung aus. Ein Mob in Autos durchschweifte die Gegend. Der Mord durchschweifte die Gegend, unverhüllt, geräuschvoll, nach Beute suchend. Dewey saß, die Hände auf die Knie gestützt, sein Kopf hing auf die Brust, als hätte ihn etwas getroffen. Er fühlte sich von der Überraschung ganz benommen. Diesen Strom von Hass hatte er nicht erwartet.
Jetzt war es ganz still. Dann kam ein Geräusch von der Hinterfront des Hauses. Sie sahen einander an.
Binney sagte im Flüsterton: „Was ist das?" Sie saßen alle regungslos da. Es war nichts. Das Geräusch eines rasch am Hause vorüberfahrenden Autos. Dann wieder Stille. Sie saßen alle und warteten auf etwas, sie wussten selbst nicht worauf. Auf irgendeinen in die Sprache der Gewalt gekleideten Ausdruck jener Flut von sinnloser Wut, die mit den Autos an ihrer Türe vorbeigeströmt war. Die Stille hielt an. Ihre Ohren waren jetzt angespannt, um das geringste Geräusch aufzufangen.
„Was war das?" flüsterte Paul. „Ich glaub, ich hab was gehört. Hast du Schritte gehört, Binney?"
„Ich hab etwas gehört, als sähe einer zum Fenster herein."
„Steh auf und zieh die Jalousien herunter."
„Bleib lieber sitzen, Kate", warnte Paul.
„Sie würden doch hier nicht hereinschießen, nicht
auf uns."
„Es ist niemand da", sagte Dewey mit Überzeugung. Sie kommen nicht. Hätten sie hierher kommen wollen, wären sie mit den Autos gekommen." Die Zeit verging. Sie warteten.
In ihren Hirnen schlich eine dunkle, stumme Meute ans Haus heran und umzingelte es. Augen guckten zu den Fenstern herein. Die Spannung wuchs. Kate klammerte sich an den Rand ihres Stuhls. Dewey konnte gehen, wie ihre Fingerknöchel weiß glänzten. Er fühlte, dass sie jeden Augenblick anfangen könnte, vor lauter Entsetzen zu schreien, Schrei auf Schrei. Er wünschte fast, sie täte es. Das seltene Geräusch vorübergehender Menschen, die zufälligen kleinen Geräusche der Nacht waren ihnen allen eine Drohung. Einmal versuchten sie, sich zu unterhalten.
„Sie haben gar keinen Grund, hierher zu kommen", stellte Kate in vernünftigem Ton fest.
„Nein", sagte Landor, „hier wohnen ja bloß ein paar Jungs —, bloß Sid und Dewey."
Von weitem kam von der Straße her der Laut laufender Schritte.
„Horch", sagte Kate. „Horch! Jetzt kommt jemand —, jemand kommt gelaufen."
Obwohl sie keinen Anlass dazu hatten, wussten sie alle, dass die Schritte eilige, von panischem Schrecken getriebene Schritte waren. Die Schritte kamen näher, liefen die Treppe herauf, rasche und leichte Schritte.
„Mamie Lewes!" rief Kate. „Was ist denn los? Wie
kommst du hierher?" Denn Mamie Lewes wohnte viele Meilen weit am Rande der nächsten Stadt.
„Sie kommen hierher", ächzte Mamie Lewes. „Der Mob kommt! Sie haben das Verbandslokal in Tesner gestürmt. Ich ging hin zum Verband. Der Mob brach ein. Die ganze Literatur haben sie herausgeworfen. Da sagte einer: ,Zünden wir das Zeug an.' Dann sagten alle: ,Verbrennen wir den ganzen verfluchten Kram!' und ein anderer sagte: ,Nein, das ist Brandstiftung, lasst es liegen. Gehen wir und räumen wir mit dem ganzen gottverdammten Pack auf. Und noch ein anderer sagt: ,Ja, machen wir Schluss mit der Bande. Fangen wir mit dem Pack drüben bei Landors an'."
„Wie bist du hergekommen?" fragte Dewey. „Ein Lastauto fuhr vorbei, und ich hab mich mitnehmen lassen. Sie haben’s auf dich abgesehen, Dewey. Mach, dass du von hier rauskommst. Das Lastauto kroch furchtbar langsam. Ich glaub, ich hab sie hinter uns herfahren hören. Ihr Jungs seht zu, dass ihr von hier wegkommt."
„Ja", sagte Kate. „Ihr Jungs sollt mächtig schnell nach Lafayette hinübermachen."
Mamie Lewes lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ihre Augen halb geschlossen, ihr Gesicht sehr blass, ganz erschöpft. „Seht zu, dass ihr fortkommt", wiederholte sie.
„Es ist zu spät! Hört! Hier kommen sie!"
„Geht durch die Hintertür raus, Jungs. Ihr habt noch Zeit."
„Nein." Mamie Lewes streckte die Hand aus. „Nein, keine Zeit mehr. Hört doch! Sie trampeln schon um das Haus herum! Sie trampeln um das Haus!"
Jemand bollerte an die verschlossene Tür. Die Tür ging auf. Männer kamen herein. Sie benahmen sich ruhig und feierlich. Ihre Gesichter waren streng und
gewichtig und trugen eine Miene höchster Erregung zur Schau. Sie hatten die Verbandslokale ,gesäubert' und fuhren jetzt mit ihrem heiligen Kreuzzug fort.
Die Diele und das Wohnzimmer waren jetzt voll von hochgewachsenen, schweigenden Männern. Dann sangen die Eindringlinge überraschenderweise die Hymne: „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort; Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere, Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort." „Jetzt werden wir, verdammt noch mal", rief nun der Anführer, „diese verfluchte Stinktierhöhle hier ausräumen!"
„Hört mal!" sagte ein anderer. „Wer mit uns kommen und nichts mehr mit dem Verband zu tun haben will, dem wird nichts zuleide geschehen."
Sie hörten einen seltsamen Lärm, gespannt, anhaltend, zornig, das Lärmen eines Mob, der töten will. „Passt auf diese hier auf", sagte jemand. Einzelne Stimmen erhoben sich über das Gebrumm. Männer rannten hin und her und zerrissen die Propagandaliteratur des Verbands. Eine sinnlose Wut beherrschte alle. Im allgemeinen Tumult knallte eine Stimme los:
„Ihr passt auf die Leute hier auf, und wir holen Deane aus dem Gefängnis und lynchen ihn."
Kate glitt zum Telefonapparat hinüber. Ein Mann packte sie am Arm und riss sie zurück. Kate schlug zu. Der Mann schlug sie mit der Faust. Sie rutschte aus und fiel hin. Die Menge schob und wirbelte wütend und ziellos durcheinander. Dann erhoben sich der Schrei einer Frau und Binneys Stimme hoch über den Tumult, über das ununterbrochene Geheul des Mob: „Sie nehmen Dewey mit!"
„Kate! Kate! Kate! Sie nehmen Dewey mit. Sie nehmen die Jungs mit! Sie nehmen unsere Jungs mit!"
Der Mann, der neben ihr stand, schüttelte sie heftig. Sie fiel gegen die Wand. Er bückte sich und schnitt die Telefondrähte entzwei. Um sie herum wurden Rufe laut: „Kommt, wir wollen Lafayette ausmisten. Kommt nach Lafayette, wir holen den Anwalt heraus. Wir räumen dort das Verbandslokal aus!"
Mamie Lewes lehnte gegen die Wand. Sie sah einen Klumpen Menschen, schwarz wie ein Bienenschwarm, der sich draußen auf dem Rasen wälzte. Das Licht, das auf die Bäume fiel, ließ sie unwahr erscheinen, wie aus Papier geschnitten. Die Männer balgten sich und schwankten hin und her. Plötzlich war die Diele leer, als hätte die Flut ihres eigenen Hasses die Menschen hinausgespült. Mamie Lewes bückte sich und streckte die zerschnittenen Telefondrähte, um die Enden aneinander zu bringen. Sie musste an das Büro in Lafayette telefonieren. Sie hörte wie Kates Stimme Paul Landor rief:
„Paul, wo bist du?" und darauf die Stimme Pauls: „Hier bin ich, hier bin ich, Liebste!" „Oh, sie haben dich nicht gekriegt, Paul! Wen haben sie gekriegt, Paul?"
Mamie Lewes fühlte, als ob ihr Kopf zerspringen wollte. Sie griff sich an die Augen. Sie hatten Dewey mitgenommen. Mamie Lewes bückte sich noch einmal, zog an den Telefondrähten. „Kate, wir müssen mit dem Büro in Lafayette Verbindung kriegen, bevor sie dort ankommen!"
Der Mob fegte nach Lafayette hinüber. Hundert Autos, eine jagdlustige Meute, auf Böses bedacht, zum
Lynchen bereit. Der Anblick der zur Misshandlung mitgeführten Leute hatte ihr Blut in Wallung gebracht. Sie waren lächerlich und wild, grotesk und fürchterlich zugleich.
Sie stürmten ins Hotel, wo einige Gewerkschaftler aus New York abgestiegen waren. Henderson stieg manchmal dort ab und auch Dillon, der die ,Rote-Hilfe'-Arbeit unter sich hatte.
Sie wollten wissen, wo Irma und Doris wohnten, und Grahams Frau. Sie zerbrachen die elektrischen Armaturen und zerrissen die Gastregister des Hotels. Sie waren gefährlich und lächerlich zugleich. Dann stürmten sie hinunter zum Streiklokal, das zugleich auch ,Rote-Hilfe'-Lokal war. Dort fanden sie keinen Menschen. Die telephonische Verständigung war gerade noch rechtzeitig gekommen.
Duncan und Henderson, die andern Verbandsfunktionäre, waren im Streiklokal gewesen und erst vor zehn Minuten fortgegangen. Die drei Mädchen waren auch gewarnt worden und hatten bei Freunden Unterkunft gefunden.
Wütend, aber ohne Führung, raste der Mob in der Stadt umher. Vor dem Hause Burdettes, des Anwalts, sammelten sie sich und riefen ihm zu, er möge herauskommen. Sie wollten brennen und morden.
„Räumt den Verband aus!"
„Brechen wir ins Gefängnis ein!"
Aber die Masse hatte keinen Anführer. Sie verzettelte ihre Wut in Kleinigkeiten. Nicht einmal das Streiklokal zertrümmerte sie, wie in Tesner und Stonerton. Sie brach ein und schreckte dann zurück, als sie dort nur Leere vorfand. Allmählich höhlte die Ziellosigkeit den Mob aus. Er schmolz zusammen. Der ,rechtschaffene' Mob der Wohlhabenden hatte seine
Demonstration gegen die eingekerkerten jungen Leute durchgeführt. Er hatte seiner Absicht Ausdruck gegeben, die Burschen zu lynchen, sollte sie der Staat nicht im elektrischen Stuhl verbrennen.
In den Häusern der Wohlhabenden herrschte der Hass. In allen wohlhabenden Häusern war man davon überzeugt, dass die eingekerkerten jungen Leute verbrannt werden sollten. Der Mob war der Wahrspruch der Wohlhabenden. Sie schwärmten wütend heraus wie Bienen, wenn der Bienenkorb angegriffen wird. Instinktmäßig, wie die Bienen, und mit demselben wütenden Eifer. Dieser Mob war kein Pöbel gewesen, kein undisziplinierter Gefühlsausbruch —, sondern etwas weit Gefährlicheres.
Mamie Lewes konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Sie konnte das Gesicht des Mob, die wütenden, fluchenden Männer, ihr Gemisch von Gotteslästerung und Religion, nicht aus ihren Gedanken verbannen.
„Ein Mob ist ein rasendes, unvernünftiges Ding", sagte der Prediger Quinn.
Sie dachte an die Werkmeister im Betrieb, drohend, schreckend, einschüchternd. So kam ein Mob zustande.
Hass schuf den Mob, und Angst schuf den Mob.
Früh am Morgen ging sie hinaus, um die Chaussee zu beobachten, sie wusste selbst nicht warum. Es war ihr, als könnte der Anblick der auf der Chaussee fahrenden Autos und der vorübergehenden Menschen die furchtbare Besorgnis in ihr mildern. Sie gestattete sich nicht, daran zu denken, was mit Dewey geschehen sein mochte. Sie gestattete sich nicht zu glauben, dass man ihn vielleicht gelyncht haben konnte. Sie stand und beobachtete seit dem Morgengrauen die Chaussee. Es schien wie eine
längst erwartete Sache, als ein Lastauto herandröhnte, bremste und hielt. Das Auto war mit Negern besetzt.
„Wir haben einen fast zu Tode gelynchten Menschen hier", sagte der eine Neger. „Er hat gesagt, wir sollen bei euch halten. Er sagte, er kann nicht mehr weiter."
„Dewey!" rief sie, „Dewey Brison!"
„Ich bin’s, Mamie Lewes. Es ist alles in Ordnung."
Sie trugen ihn, unbeschreiblich zerschunden, in ihre Hütte und legten ihn auf ihr Bett.
„Sie haben mich nackt durch die Wälder laufen
lassen — Sie haben... mich — nackt durch... die
Wälder laufen lassen", stöhnte er. „Ein Farmer hat mir... diese Overalls gegeben."
Die beiden Neger standen und gafften den Verwundeten an. Sie halfen Mamie Lewes, seinen zerschlagenen, blutüberströmten Körper zu entkleiden.
„Es ist nicht so schlimm", murmelte Dewey. „Ich bin nicht so verletzt — wie ich dachte. Ich war froh — wie sie mich nur zu prügeln anfingen. Wie ich aus dem Wald war — da hab ich an dich gedacht — Mamie. Ich dachte — hier würden sie mich nicht suchen. Bis jemand — kommt und mich — von hier wegbringt." Die Worte sickerten langsam heraus. Er sprach gleichsam aus einer großen Entfernung. Er hielt an, seine Augen fielen zu. Später gelang es ihm mit Mühe, den von Mamie bereiteten Kaffee zu trinken. Sie wusch das Blut und den Schmutz von ihm ab.
Dewey Brison lag auf seinem Bett im Hotel, wohin sie ihn gebracht hatten. Das Zimmer war immer voll von Menschen. Das war ihm angenehm. Wenn er allein war und ihn das Fieber schläfrig machte, hatte er Alpdrücken. Dann fühlte er sich wieder durch die Finsternis gewirbelt, man drohte ihm wieder mit der Folter, mit der Verstümmelung, die sie zwar gewollt, aber nicht gewagt hatten.
Er fühlte ihren Hass wie etwas Greifbares, wie eine Ausstrahlung. Er versuchte, sich an ihr Aussehen zu erinnern. Sie sahen aus wie der Hass. Sie sahen aus wie der Mord. Wo kam der Ausbruch des Hasses eigentlich her, der jetzt durch diese Städte wirbelte?
Dewey lag zerrissen und fiebernd da. Wenn er in der Nacht einschlummerte, wurde alles, was er erlebt, in seinem Hirn durcheinander geworfen. Bald floh er nackt durch die Wälder, bald saß er auf dem Sitz eines Autos und bemühte sich, nicht erschrocken zu scheinen, denn er durfte nicht erschrocken scheinen. Bald schlugen sie ihn. Ein eigenartiges Gefühl der Erleichterung, dass sie ihn nur schlugen. Sie hielten an und trieben ihn in den Wald hinein. Einer sagte:
„Hier der Baum wäre gerade passend —" „Holt einen Strick. Hier hängen wir ihn auf." Einer ging zum Auto und kam wieder. „Kein Strick da", sagte er. „Jemand muss unsern Strick geklaut haben."
Einer sagte: „Nehmen wir den Schlauch aus dem Reserverad und hängen wir ihn damit auf."
Sie unterhielten sich über diesen Vorschlag eine ganze Weile und beschlossen dann, es doch nicht so zu machen. Sie schlugen ihn also weiter. Dann sagten sie ihm, er sollte sich trollen, und er stolperte durchs Gebüsch fort. Dann schossen sie ihm nach. Er wusste nicht, wo er war. Er erreichte eine Straße und fand ein Farmhaus. Sie ließen ihn nicht herein, aber sie schenkten ihm einen alten Overallanzug. Sie sagten ihm, wo er sich befand und zeigten, wie er zur Chaussee gelangen könnte. Wieder wartete er am Wegrand.
In solchen Erinnerungen vergingen die Nächte.
Am Tage schwebte alles, was sich außerdem noch ereignet hatte, in Redeschwaden durch das Zimmer.
Es war am Dienstag nach dem Mordüberfall. Dewey war sich noch über nichts klar geworden. Er wusste von nichts, er hatte nur die entsetzliche Erinnerung an die Angst, an den Mob, an das Gerede vom Mob.
Mittwoch erwachte Dewey leer und schwach, aber klar im Kopf. Freunde begannen zu kommen. Zwei junge Verbandsfunktionäre diskutierten über die Verbandsversammlung, die für den Sonnabend angesetzt war.
Der eine sagte: „Wir können die Versammlung nicht abhalten. Sie werden uns überfallen und erschießen."
Der andere sagte: „Die Versammlung muss stattfinden."
Klar wie das Zackenmuster eines Sterns zeichnete sich in Dewey der Entschluss ein:
„Die Versammlung muss stattfinden!" sagte er laut. „Wir müssen am Sonnabend unsere Versammlung stattfinden lassen."
Verwirrung brach los. „Es wäre besser, wir ließen die Gemüter sich beruhigen, bevor wir eine Versammlung abhalten."
„Wir müssen. Wir müssen weitermachen, wenn wir bestehen bleiben wollen. Setzen wir unsere Versammlung wieder ab, werden sie sagen, sie haben uns klein gekriegt."
„Sie werden euch niederschießen wie die Hunde!"
„Sieh dir mal an, was hier in der Zeitung steht. Hast du den Leitartikel gesehen? ,Der Verband wird darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht ungefährlich sein wird, eine Verbandsversammlung abzuhalten'."
Dewey setzte sich im Bette auf. Er sagte müde:
„Wir werden alles wieder von vorn anfangen müssen, wenn wir ihnen den Glauben lassen, dass sie uns durch Verprügelung und Überfälle abschrecken können."
XXIII. KAPITEL
Hoskins wohnte in Lafayette in einer Pension schräg gegenüber dem Gericht. Roger wohnte in dem Hotel, in dem die meisten Journalisten abgestiegen waren. Die Pension war ein angenehmes, von Ulmen beschattetes Haus; Geschäftsleute, Lehrer, Verkäufer wohnten dort mit ihren Frauen. Es war ein kleiner Querschnitt durch Lafayette. Sie neigten dazu, mit den eingekerkerten jungen Leuten zu sympathisieren. Jetzt schwirrten die wildesten Gerüchte unter ihnen herum.
„Der Verband hat Maschinengewehre und Banditen nach Lafayette gebracht. Ein Lastauto voll Waffen ist in die Stadt eingeschmuggelt worden." Nichts war zu phantastisch, um geglaubt zu werden.
Die Anhänger des Verbandes waren ebenso voller Gerüchte. Eine Mobarmee sollte gebildet worden sein und würde in den verschiedenen Betrieben gedrillt. Der Hunderter-Ausschuss von Stonerton hätte im ganzen Bezirk überall Nachahmung gefunden. Die tatsächlichen Vorfälle verliehen der Besorgnis des Verbandes einen gewissen Anschein der Berechtigung. Einzelne Verbandsmitglieder wurden des Nachts angerempelt. Ein Mann namens Leonard Good wurde in Hill Town erschossen. Bei den Truitts, den Vettern der Tetherows von Stonerton, klopfte es drei Nächte hintereinander ans Fenster. Der kleine Tetherow, der jüngere Bruder des verhafteten Tetherow-Jungen, wurde auf der Straße von Streikbrechern bedroht. Schwere Jungen hatten an den
Straßenecken einigen Frauen, die dem Verband nahe standen, ,Negerliebchen, Negerliebchen!' nachgerufen. In der ganzen Stadt herrschte eine fürchterliche Spannung. Keiner war davon ausgenommen. Sie durchdrang auch die wohlhabenden Leute. Kein einziger Fabrikarbeiter, ob er arbeitete oder streikte, war frei vom Vorgefühl einer herannahenden Katastrophe.
Roger und Ed Hoskins gingen Dewey besuchen. Sie hatten ihn bereits einmal besucht, unmittelbar nachdem er fast bewusstlos hereingebracht worden war, mit schwarz und blau geschlagenem, zerschundenem Körper. Jetzt ging es ihm schon besser, er konnte sich schon im Bette aufsetzen.
„Werdet ihr wirklich in Stonerton eine Verbandsversammlung abhalten?" wollte Hoskins wissen.
„Es sieht so aus, als ob wir es müssten. Ich weiß keinen andern Ausweg", antwortete er finster, und seine dunkle Haarlocke fiel schlapp über sein mageres Gesicht."
„Habt ihr es im Verband schon besprochen?" fragte Roger Henderson, der mit einigen andern Verbandsmitgliedern in dem ewig überfüllten Zimmer anwesend war.
„Ja, wir hatten gestern eine Sitzung", sagte Henderson. „Hier gleich nebenan, eine Sitzung der Verbandsfunktionäre."
„Könnt ihr die Sache nicht um eine Woche verschieben, bis sich die Erregung gelegt hat?"
„Natürlich sollten sie sie um eine Woche verschieben", rief Doris, die nach Lafayette zurückgeschickt worden war, um die Unterstützungsarbeit zu leiten. „Man führt sie nur auf die Schlachtbank, wenn man sie jetzt weitermachen lässt."
„Halt die Klappe und scher dich von hier! Du bist ja nicht Verbandsfunktionär."
„Was sagt Simonson dazu?" fragte Hoskins. Simoneon war ein Rechtsanwalt aus dem Norden, der bei der Gerichtsverhandlung den Verband vertrat.
„Simonson ist gegen die Abhaltung einer Versammlung", rief Doris.
„Halt die Klappe, Doris!" sagte Henderson noch einmal.
Großer Lärm entstand. Die einen waren für, die andern gegen eine Versammlung. Es war, als redeten sie sich selbst in ein Unglück hinein. Sie wussten, dass sie die Versammlung abhalten mussten.
„Was sagt Fer, und die übrigen Jungs im Gefängnis? Ich glaube, man sollte sie befragen. Gesetzt, es passiert wieder eine Schießerei. Wie wird sich das auf ihren Prozess auswirken, das ist die Frage?"
„Das ist schon gestern abend entschieden worden. Man wird den Verbandsbeschluss Fer vorlegen und sehen, wie er sich entscheidet."
„Er hat schon entschieden. Hat er es Simonson nicht gesagt? Hat er es Burdette nicht gesagt?"
„Das schon, aber wir konnten ihn erst heute sehen. Besuchstag ist Mittwoch, und die Anwälte können nicht öffentlich bekannt geben, was er ihnen privat sagt."
Einige Burschen aus dem Verband kamen herein.
„Habt ihr Fer gesehen?" fragte Dewey.
„Ja, wir kommen gerade von ihm. Er hat eine Erklärung für die Presse gegeben."
„Will er, dass wir die Versammlung abhalten?"
„Selbstverständlich will er das."
„Habt ihr die Erklärung hier?"
„Ja, das ist sie."
Es war eine kurze, glatt formulierte und bestimmte Erklärung, fast wie eine Stelle aus einer der deutlichen, geraden Reden Fers.
Roger und Hoskins gingen zusammen die Straße entlang, um die Verhafteten im Gefängnis zu besuchen. Das Gefängnis, wo man sie gefangen hielt, bildete eine Etage des Gerichtsgebäudes.
„Was halten Sie von der Sache?" fragte Roger. „Sind Sie der Meinung, dass die Versammlung abgehalten werden sollte? Würden Sie sie abhalten?"
„Nein", sagte Hoskins. „Ich würde es nicht tun. Ich hätte zu große Angst davor, was dann mit den angeklagten Jungs geschehen würde. Das ist das einzige, woran ich denke. Wenn sie so weitermachen, kann — wie jetzt die Stimmung ist — eine Art Blutbad daraus werden. Aber Sie haben ja gesehen, wie die Jungs vom Verband darüber denken. Sie fühlen, dass sie Misshandlungen und Mobüberfällen Vorschub leisten, wenn sie jetzt den Rückzug antreten. Soweit ich beurteilen kann, haben sich beide Teile festgelegt. Der Verband kann nicht nachgeben, er muss die Versammlung abhalten. Der Mob kann nicht nachgeben —, er muss die Versammlung verhindern."
Sie waren am Gericht angelangt und warteten auf den Aufzug, der sie zum Gefängnis befördern sollte. Mutter Gilfillin wartete schon dort mit den alten Tetherows, Mann und Frau. Da war auch noch eine Gruppe schwarzer Frauen, die für ihre Männer Sachen brachten. In diesem Gefängnis von Nordcarolina durften die Gefangenen nicht herauskommen, um mit ihren Familien zu sprechen. Sie unterhielten sich durch ein Gitter hindurch. Als Roger an das Gitter trat, um mit Fer zu
sprechen, drängten sich alle andern jungen Leute auch hin. Ihre hinter dem Gitter auf und nieder wippenden Köpfe machten den Eindruck, als wären sie seltsame Fische in einem Aquarium. Hinter dem Gitter war eine Glasscheibe und in der Glasscheibe ein Loch. Durch dieses Loch hindurch musste man dem Gefangenen direkt ins Ohr sprechen. Man konnte ihn nicht sehen, während man sprach. Es war fast, als unterhielte man sich telephonisch.
Die Leute drängten sich heran. An vier verschiedenen Stellen wurden laute Gespräche geführt. Die jungen Leute hatten ein vergeistigtes Aussehen, sahen fast wie junge Mönche aus. Sie waren niedergeschlagen, weil die ganze Gerichtsverhandlung wiederholt werden musste. Es war, als hätten sie die Freiheit schon in der Hand gehalten und als hätte ein Streich des Schicksals sie ihnen wieder entrissen.
„Ich wollte, du würdest die Versammlung aufschieben, Fer", sagte Roger.
„Aber der Verband hat doch beschlossen, die Versammlung abzuhalten", sagte Fer.
„Es scheint mir furchtbar gefährlich. Du kannst die Stimmung in der Stadt nicht so beurteilen, wo du doch hier eingesperrt bist."
„Wie ist denn die Stimmung?"
„Man kann sie nicht beschreiben. Es gleicht nichts, was ich bisher gesehen habe. Es ist ein Warten. Ein Warten, dass etwas Fürchterliches geschehe."
„Na, wir können aber die Tätigkeit des Verbandes nicht einstellen. Was nützt die Verhandlung, was hat das alles für einen Zweck, wenn der Verband nicht weiterarbeitet?" wollte Fer wissen.
Nun kam die Reihe an Hoskins, Fer ins Ohr zu schreien, und Roger trat zurück. Er beobachtete die verschiedenen Leute, die wie in einem grotesken Beichtstuhl, mit ihren Freunden schreiend Worte wechselten oder Gefangenen zuwinkten, die, hinten stehend, gierig auf ein Wort mit ihren Freunden oder Familien warteten.
Es war ein phantastischer, fürchterlicher und zugleich lächerlicher Anblick, Teil einer satirischen Bühnenszene. Ein Teil der ganzen Groteske. Es hing mit dem grotesken Vorfall des irrsinnigen Geschworenen, dem Gesang von Kirchenliedern durch einen auf Zerstörung bedachten Mob, dem wackelnden Wachsbild der Leiche des toten Polizeichefs zusammen. Es war ein Grauen, das lächerlich war.
Ruhelos ging Roger wieder zu Dewey zurück, um nachzusehen, ob er etwas für ihn tun könnte. Unterwegs sann er über die Angst nach, die alle befallen hatte. In diesen Tagen hatte jeder vor jedem Angst.
Dewey war diesmal allein, nur Irma war im Zimmer, und auch sie ging hinaus, als Roger kam.
„Ich liege hier und denke darüber nach, was einen Mob eigentlich ausmacht", sagte Dewey. Er schloss die Augen. Da war der Mob. Was war der Mob? Er war der Hass. Woher kam er? Was veranlasste alle diese Leute, einen solchen Hass zu empfinden? Der Mob hatte Arme und Beine und Füße. Der Mob hatte Waffen. Der Mob hasste den Verband. Der Mob glaubte, Fer und der Verband hätten ein Komplott zur Ermordung des Humphries geschmiedet. Es war, als wäre die Mobstimmung ansteckend, als befiele sie einen Menschen nach dem andern.
Laut sagte er: „Was glauben Sie, wer hat den Mob
gemacht? Der Prediger sagt, der Mob ist ein blindes, rasendes, unvernünftiges Ding."
„Der Mob hält sich selbst nicht für unvernünftig", sagte Roger. „Sie glauben, dass das, was sie tun, richtig ist... Gibt es keine Möglichkeit, die Versammlung nicht abzuhalten?" fragte er, wusste aber dabei, dass ein Ausweg nicht vorhanden war. Denn unter den Arbeitern herrschte ein Gefühl der Schicksalhaftigkeit. Sie mussten die Versammlung abhalten. Taten sie es nicht, würden sie dem Mob für immer auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein.
Donnerstag kamen wieder Warnungen in die Zeitung. Der Schatten des Mobs wurde lang und dunkel. Alle waren von banger Erwartung erfasst.
Etwas Mordbringendes musste daraus entstehen. Irgendein fürchterliches Unglück musste am Sonnabend geschehen. Es war, als wüsste man genau vorher die Stunde einer Elementarkatastrophe. Als könnte man ein Erdbeben voraussagen. Als hätte ein Zyklon einen Fahrplan. Nur dass das ein Zyklon des Bösen war, und unrein. Jede der Parteien betrachtete den Gegner mit Entsetzen. Die Wohlhabenden glaubten, die Arbeiter würden gegen die Betriebe marschieren. Sie hatten gehört, dass Freischärler und gedungene Mörder unter Schutz der Nacht in die Stadt gebracht worden waren.
Eine gerichtliche Untersuchung der Entführung und Auspeitschung Deweys war im Gange. Die Geschichte des nächtlichen Mordüberfalls wurde in schlichten Worten erzählt. Wieder und wieder wurde sie erzählt, Es war, als wäre das Gericht der Kern, um den sich der kommende Zyklon sammelte. Hass und Angst gingen in der Stadt um.
Dewey war wieder auf den Beinen. Seine Wunden schmerzten noch. Er hatte das Gefühl, als schleiche
der Hass ihm nach. Als fegten Leute in Autos an ihm vorbei, bereit, ihn zu packen. Es war, als wäre die ganze Welt überschattet von einer aus Panik geborenen, mit Angst gefüllten formlosen Wolke. Er wollte, er könnte fliehen.
Er wollte, er brauchte nicht mehr das fürchterliche Gesicht des Mob zu schauen. Er wollte fortgehen. Aber er hatte nicht wohin zu gehen. Er hatte ein Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit. Er war in die Falle geraten. Das war keine saubere Kriegsführung. Das war kein fairer Kampf. Das war, als stünde man etwas Unmenschlichem und Hirnlosem gegenüber. Einem Etwas, das allen siebzig Verhafteten den Tod wünschte. Einem Etwas, das Hass und Tod wollte. Der Prediger hatte gesagt: „Der Mob ist reiner Hass. Der Mob ist Furcht."
Der Schatten, der über dem Volksfest gelegen hatte, war mehr und mehr gewachsen. Jetzt war er im Begriff, den Hass, den er barg, auf sie alle auszuschütten.
Roger stand am Sonnabendmorgen mit dem Gefühl auf, dass heute etwas Fürchterliches passieren würde. Über der Stadt lag eine Stille, wie vor dem Sturm. Roger hatte sich mit einigen Journalisten treffen wollen, um zusammen zur Versammlung zu gehen, aber er hatte sie irgendwie verfehlt.
Hoskins war der einzige, den er finden konnte. Der wusste auch nicht, wo die andern alle steckten. Nach einer Weile fuhr ein Auto vom Unterstützungslokal los. Roger wünschte, er wäre inmitten eines Haufens von zynischen, witzelnden Journalisten. Er wünschte, er
brauche nicht hinzugehen. Er wünschte, es wäre vorbei. Es war wie eine Schlacht. Man wusste nicht, wer noch an diesem Abend tot daliegen würde. Aber es hatte über alle Schrecken einer Schlacht hinaus Elemente eines andern Schreckens an sich.
Sie fuhren nach Stonerton über den Fluss durch die wunderbare Augustlandschaft. Im letzten Augenblick war der Ort der Versammlung geändert worden, um den auf die Versammlungsteilnehmer wartenden Mob zu überlisten. Man hatte vor, die Versammlung auf einem leeren Baugelände abzuhalten, das hinter dem jetzt in Truitts Haus verlegten Streiklokal lag. Truitts Haus stand in derselben Straße wie Landors, nicht weit von den Thorns, Rogers früherer Pension, entfernt. Das Haus war Truitts Eigentum. Er war kein Fabrikarbeiter, sondern besaß ein Autotaxi, aber sein Sohn arbeitete in den Spinnereien. Wie Paul Landor, hatte auch er wiederholt anonyme Drohbriefe erhalten, kümmerte sich aber nicht darum.
Als Roger und Hoskins dort ankamen, lungerten ein paar Leute vor dem Truittschen Haus herum. Keiner schien etwas zu wissen. Truitt war abwesend, ebenso wie der alte Truitt. Sie sagten, eine Menschenmenge wäre dagewesen und wieder fortgegangen. Waren die Redner vom Verband dagewesen? Das wüßten sie nicht. War die Menschenmenge groß gewesen? Die einen sagten ,ja', die andern ,nein'.
Roger ging einen Häuserblock weiter zu Frau Thorn. Sie rief ihm zu: „Eine große Menge ist hier gewesen. Die ganze Straße war verstopft. Es waren zweitausend Menschen."
Das war wiederum unmöglich, wie Roger wohl wusste. Das Gefühl des Versagens und der Leere wurde stärker und gesellte sich zu dem Gefühl des Entsetzens.
Sie fuhren zum alten Versammlungsplatz in Oststonerton, wo der Mob damals Dewey begegnet war.
Eine Feiertagsmenschenmenge strömte hinunter zum Schwimmteich und zum Vergnügungspark, aus dem Musik herausscholl. Um ein Baseballfeld hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. Dann plötzlich war eine Staffel Autos da, in Sechserreihen, und Männer mit Gewehren. Sie sahen in jedes Auto hinein, das vorbeifuhr. Roger und Hoskins fuhren an einer Art Rednertribüne vorbei, auf der Dick Durgan und die übrigen Journalisten standen. Roger winkte ihnen zu. Sie fuhren etwas weiter und dem Fahrer gelang es, zu wenden.
Plötzlich schrie jemand: „Dort sind die Organisatoren!"
„Das sind die Redner!" „Holt sie herunter! Holt sie herunter!" Roger sah sich um. Erst als Hoskins mit etwas flachem Tonfall sagte: „Sie glauben, dass wir die Redner sind", begriff er, dass das Heulen der Menge ihnen galt.
Die Nachricht war in der Staffel weitergegeben worden. Männer hielten Gewehre hoch. Es schien Roger, als sähe er in einen roten, heulenden Schlund, der brüllte: „Holt die Redner heraus! Holt sie her!"
Der Fahrer trat auf den Gashebel. Der Wagen sprang vor, aber die Rufe eilten ihnen voraus, Überall war diese feindliche Masse heulender Männer. Jetzt stellte sich ihnen ein Auto quer in den Weg. Hasserfüllte Gesichter blickten aus dem Auto. Die Polizei kam auf Motorrädern herbei, stramme, gestriegelte junge Leute.
„Kommen Sie mit", sagten sie und auf den Protest Hoskins: „Oh, wir wissen schon, was Sie für Journalisten sind. Kommen Sie nur mit."
Die Polizei brachte sie ins Gefängnis, hinter ihnen folgte drohend der Mob. Bald war die Angelegenheit
geklärt. Hoskins und Roger zeigten ihre Ausweise und mischten sich unter die Menge, die in feindseliger Haltung vor dem Gefängnis auf die angeblichen Redner wartete.
Dewey stand am Sonnabend mit dem Gefühl auf, als ginge er zur Hinrichtung. Ein Gefühl des Totenhauses. Er ging, wie verabredet, nach Tesner zum Treffpunkt, wo sich Mamie Lewes und die andern Verbandsmitglieder versammeln sollten. Ein Lastauto wurde fertig gemacht. Alle waren heiter und ein wenig erregt, als lockte sie das Glitzern der Gefahr.
„Was ist das?" fragte der Fahrer des Lastautos. „Was habt ihr da?"
Zwei Burschen antworteten: „Wir haben Gewehre." „Ihr werdet doch keine Gewehre mitnehmen!" „Wir haben das Recht, uns zu wehren!" Der Fahrer lachte mit einem großen dröhnenden Lachen. Das beruhigte Dewey, dem seine Misshandlung noch in den Knochen lag.
„Wir können nicht genug Gewehre kriegen, um uns wirklich zu verteidigen. Dann ist es besser, überhaupt keine zu haben!"
„Sie werden uns nichts tun", sagte Mamie Lewes. „Lasst eure Schießeisen zu Hause, Jungs. Sie werden uns auf unserm Lastauto schon nichts tun."
„Nein, uns tun sie nichts." Sie waren alle heiter und glücklich. Sie waren unschuldig. Sie kannten die Niedertracht des Mob nicht. Dewey versuchte, sich in ihre Welt zu versetzen. Die Stimme Mamies kam klar und stark:
„Hört ihr Streikbrecher, meine Mär Von einem gemeinen Millionär. Basil Schenk wird er genannt —"
Das Auto blieb mit einem Ruck stehen, als sie in Stonerton einfuhren. Wieder Mobgesichter.
„Wo wollt ihr denn hin?"
„Wir gehen zur Versammlung."
„Heut gibt es keine Versammlung. Dreht nur verdammt schnell wieder um und fahrt zur Hölle, woher ihr kommt!"
Es war wie ein Alpdruck. Männer mit Gewehren versperrten den Weg auf sonniger Landstraße bei helllichtem Tag. Hinten irgendwo japste der Mob mit rotem Schlund. Hunderte von mordlustigen Menschen.
Dewey hatte das Gefühl einer völligen Katastrophe. Was war dort hinten geschehen? Was ging am Versammlungsplatz vor? Er hatte Teil an dem Entschluss, die Versammlung abzuhalten. Hatte er Menschen ausgeschickt, damit sie erschossen würden?
Das Lastauto hatte inzwischen gewendet. Autos verfolgten sie. Ein eigenartiges Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Sie waren zur Versammlung gegangen. Jetzt brauchten sie nicht mehr hinzugehen.
Was war dort drüben geschehen? Was war hinten in der Menge geschehen? Mamie Lewes sah ihn an. „Wir haben jedenfalls versucht, die Versammlung abzuhalten, Dewey."
„Doch er kann nicht kaufen unsern Verband!"
Ein Auto überholte den Lastwagen. Man hörte ein Krachen, das Lastauto bog aus.
Dann kam das scharfe Knallen eines Schusses. Mamie Lewes schrie:
„Mein Gott, sie haben mich getroffen!"
Noch weitere Schüsse fielen. Mamie Lewes sackte in sich zusammen.
„Mamie Lewes!" schrie Dewey. „Mamie Lewes! Sie ist tot! Mamie Lewes ist tot!"
Die Leute waren vom Lastauto abgesprungen. Die andern verfolgten sie und schossen ihnen nach.
Dewey half Mamie in ein benachbartes Haus tragen. „Es ist vorbei!" dachte er. „Jetzt ist’s vorbei!"
Hier war das Opfer, das der Mob forderte. Er hatte die singende Frau erschossen, totgeschossen. Ein Blutfleck breitete sich über Mamies Brust und über ihr Kleid aus.
Eine einzige singende Frau war das Opfer all des vielen Hasses geworden.
Die Nachricht von Mamies Tod flog durch die Stadt. Sie erreichte den Mob, der den Zugang zum Versammlungsplatz versperrte. Sie löste die Knoten des Hasses, die den Autos der Arbeiter auflauerten. Wolken von Hass und Angst waren groß geworden. Männer waren zum Mob geworden.
Der Mob hatte die singende Frau getötet. Die Nachricht durcheilte die Wohnungen der Menschen. Die Nachricht, dass der Mob die Frau, die die Singballaden machte und sang, getötet hatte, lief über die Drähte. Die ganze Welt wusste nun vom Leben einer ganz gewöhnlichen Fabrikarbeiterin. Die ganze Welt wusste, wie sie geschuftet hatte, um ihre Kinder und ihr Heim zu erhalten.
Der Hof vor dem Farmhaus füllte sich rasch mit Menschen. Es entstand eine Menschenmenge, niemand wusste woher. Es schien kaum möglich, dass die Leute in Tesner so schnell erfahren konnten, dass Mamie Lewes erschossen lag.
Der Arzt kam. Die Behörde kam. Dewey saß da wie in einem bösen Traum. Er hatte von vornherein gewusst, dass sich am Sonnabend irgendeine unberechenbare Tragödie ereignen würde. Und doch hatte er darauf
bestanden, dass die Versammlung stattfinde. Er hatte es zugelassen, dass Mamie Lewes dem Mob zum Trotz hinausfahre, Mamie Lewes, die so unschuldig war, dass sie war nicht wusste, was das Böse war.
Dewey war hier und Mamie war tot. Es schien schier unglaublich. Er konnte nicht fortgehen. Er konnte sie jetzt nicht verlassen. Plötzlich wusste er, dass er sie geliebt hatte und sie ihn. Nie hatten sie es aussprechen können. Es war nur ein Augenblick gewesen, damals in Mamies Hütte. Sie und ihre ,Singballaden' waren für Dewey der Kern des Streiks gewesen. Jetzt war sie tot.
Wer machte einen Mob? Wer war der Mob? Wer hatte Mamie Lewes umgebracht?
Man trug sie jetzt fort; man tat sie in einen Sarg und brachte sie zur Leichenkammer des Bestattungsinstituts. Dewey stand endlich von seinem Platze auf. Er wusste kaum, was er tat. Er wusste nicht, wohin er ging; seine Beine trugen ihn in die Stadt zurück; zurück zu den Landors, zurück zu dem einzigen Ort, den er als Heim hatte. Kerle, die er kannte, hielten ihn auf der Straße vor der Drogerie auf. Die hellen Lichter der Drogerie beschienen ihre eifrigen Gesichter. Einer der Burschen arbeitete in einem Kaufhaus, der andere in einer Garage. Dewey wusste bestimmt, dass er sie im Mob gesehen hatte, als er in jener Nacht überfallen wurde. Sie sagten gespannt:
„Ich höre, eine Frau ist getötet worden! Ich hab gehört, sie haben die Balladensängerin erschossen!"
„Ja, ich war dabei, als sie starb", antwortete Dewey mechanisch.
„Wer hat sie erschossen, Dewey?" Es war, als hätte die Frage ein Licht in ihm zum Aufflammen gebracht.
Alle waren schuldig, alle, die an den Mob appellierten, alle, die hassten.
„Ihr alle habt sie getötet!" schrie er. „Diese Stadt hat sie getötet!"
Er ging die Straße entlang und dachte: Ich lebe und sie ist tot. Es war ihm unbegreiflich. Seine Absätze klopften den Takt zu diesem Gedanken, den er fortwährend wiederholen musste. Er dachte an die wenigen Augenblicke vor langer Zeit, als er einen Moment unfreundliche Gedanken über sie gehegt hatte, als er die Liebe, die in ihm wuchs, nicht wahr haben wollte und dem Klatsch der Werkspitzel Gehör schenkte, die behaupteten, Mamie Lewes ,nähme es nicht allzu genau'. Und dann hatte er sie geliebt. Seine Liebe zu ihr war für ihn in letzter Zeit ein Teil seiner Arbeit für den Verband. Sie waren aber beide zu beschäftigt gewesen. Und jetzt war sie tot.
In Deweys Hirn dämmerte unklar die Wirklichkeit dessen, was er gemeint hatte, als er vor der Drogerie ausrief: „Ihr alle habt sie getötet!"
Wer war der Mob? Alle waren Mob, die den Verband hassten: die Frau des Pastors, die in ihrer behaglichen, geschützten ,guten Stube' saß; die jungen Mädchen, die verächtlich von ,Spinnereihänden' sprachen; Mrs. Schenk in ihrem Palast in Richmond; die Herausgeber der Zeitungen; die Geistlichen, die ,das arme, irregeführte Volk zu Vernunft zu bringen' versuchten; der Gouverneur des Staates Nordcarolina, der so flink bei dem Einsatz von Truppen gegen die Streikenden gewesen und heute so träge bei der Sorge um Aufrechterhaltung der Ordnung war. Er hatte ja gewusst, dass Zusammenstöße bevorstanden. Aber seine Vertreter sagten, ,der
Herr Gouverneur wolle ungerne das Recht der freien Rede beschneiden'. Die ganze Gemeinde war für den Tod der Mamie Lewes verantwortlich. Die ganze Gemeinde.
In Tesner war Versammlung. Am Grab der Mamie Lewes wurde hier die Versammlung abgehalten, die der Mob am Sonnabend verhindert hatte. Roger und Hoskins und die Berichterstatter aller großen Tageszeitungen erschienen beim Leichenbegängnis Mamies. Es sollte um zehn Uhr stattfinden. Alle gingen zum Verbandslokal, wo eine kleine Schleife aus schwarzem Krepp aus dem Fenster hing. Ein kleiner, spärlicher Haufen Menschen sammelte sich an. Das Begräbnis war ärmlich, wie alles äußere Zubehör von Mamies Leben und von Mamie selbst, die nichts besessen hatte als ihr Lachen und ihr Singen, ihre Kinder und ihre Liebe. Ein paar Leute vom Verband trieben sich vor dem Verbandslokal herum. Mamie Lewes lag im Hause ihres Vetters aufgebahrt. All die großen Zeitungen der Hauptstädte hatten Vertreter geschickt. Man munkelte, dass der Mob das Leichenbegängnis sprengen wollte.
Roger stand am Rand des Bürgersteigs herum und wartete ziellos, als einige junge Burschen im Auto heranfuhren. Sie waren alle jung und ihre Augen blitzten fanatisch. Roger fragte sich, ob diese Burschen auch zum Mob gehörten. Da fragte ihn einer der Burschen erregt: „Ist es wahr, dass diese Leute Gott den Herrn verleugnen?"
Doch sie fuhren bald wieder fort. Gehörten sie zum Mob, so waren sie zu schwach gewesen, um etwas zu unternehmen.
Endlich pilgerte der kleine Leichenzug die schlammige rote Straße bergan zu dem öde anmutenden Friedhof am Abhang. Vorhin hatte es getröpfelt. Jetzt hörte der Regen auf. Der Tag war grau und neblig. Menschen kamen in Autos und rumpelten durch den aufspritzenden Schlamm. Arbeiter kamen in kleinen Gruppen über die Baumwollfelder, die den Friedhof umgaben. Ein rotes Loch klaffte in der Erde wie eine Wunde. Am Rand des Grabes standen Mamies Kinder. Nur das Älteste, das ,so brav mitgeholfen' hatte, wusste, was vor sich ging. Die drei Jüngeren waren zu klein, um es klar zu begreifen.
Dann sprachen Dewey und Jolas und der Vorsitzende des Verbandes in Tesner, Lee Thomas. Sie hielten alle Reden für den Verband.
Dazwischen hörte man das Einschnappen von Photoverschlüssen. Bilder dieser fernen kleinen Beerdigung einer unbekannten Fabrikarbeiterin sollten die Arbeiter im ganzen Lande, die Arbeiter aller Länder erreichen.
Dann sang ein junges Mädchen vom Verband in Tesner das Lied der Mamie Lewes: „Wie das dem Mutterherz weh tut!"
Ihre kleine Stimme bebte dünn und unsicher in die Stille hinein, die nur von dem zudringlichen Knacken der Photoapparate unterbrochen wurde.
Ein Geistlicher, der Mamie Lewes nicht gekannt hatte, sagte ein paar Worte, und alles war vorüber.
XXIV. KAPITEL
Der lange, hagere Staatsanwalt stand auf und sah sich im Gerichtssaal um. Die angeklagten Burschen lauschten aufmerksam. Roger fiel die Kopfhaltung Fers auf, sein feingeschnittenes Profil mit der dunklen Haarlocke auf
der braunen Wange, die die Monate der Haft nicht bleichen konnten.
Das allgemeine Interesse war abgeflaut. Nur die nächsten Anverwandten der Burschen waren da. Die Presse war nicht schlechter vertreten als früher, weil das öffentliche Interesse durch den Mob und durch den Terror doch noch wach gehalten wurde. Das große Publikum um Lafayette hatte das Beweismaterial der Anklagevertretung größtenteils gehört, und die Arbeiter hatten es nicht überzeugend gefunden, während die wohlhabenden Bürger die Burschen für Mörder hielten. Aber der Versuch, sie im elektrischen Stuhl zu verbrennen, war aussichtslos. Das lag auf der Hand. Ein legales Lynchgericht kam offenbar nicht in Frage. Der Staat war im Begriff, durch den Mund des hageren Staatsanwalts diese Schlappe einzugestehen.
„Herr Richter", sagte der Staatsanwalt und sah auf seine Füße hinunter, die lang, schmal und elegant beschuht waren, „der Staat fordert keine Todesstrafe für die Angeklagten. Der Staat wünscht die Anklage wegen Mordes fallen zu lassen und sie nur wegen Totschlags aufrechtzuerhalten."
Das war schon mehrere Tage vorher in den Zeitungen angedeutet worden. Seit der Unterbrechung der Gerichtsverhandlung drei Wochen vorher war es unzweifelhaft geworden, dass kein Schwurgericht dazu zu haben war, diese Burschen auf Grund des fadenscheinigen Beweismaterials der Anklage auf den elektrischen Stuhl zu schicken.
Dick Durgan vom ,Planet'-Baltimore kam gerade von einem Interview mit dem Gouverneur und prophezeite, dass das Verfahren gegen einige Angeklagte eingestellt werden würde. Hoskins machte Einwände:
„Das würde bedeuten, dass sie zugeben, sie hätten diese jungen Kerle wie Vieh zusammengetrieben und jeden verhaftet, der zur Zeit der Schießerei auf dem Gelände der Zeltkolonie anwesend war." Der Staatsanwalt stand noch einmal auf.
„Die Anklage gegen fünf Personen wird fallen gelassen." Er nannte Tetherow, Gilfillin, Cathcart, Truitt und Dan Marks. Nur ein einziger Spinnereiarbeiter vom Ort blieb noch dabei, Wes Elliott, der sich während der ganzen Dauer des Streiks durch seinen Eifer und seinen Fanatismus ausgezeichnet hatte. Außerdem blieben noch die drei jungen Leute aus dem Norden übrig, von denen zwei, Hunt und Graham, erst zwei Wochen im Süden waren, als sich die Schießerei ereignete.
Die Arbeitgeber gaben sich geschlagen, aber trotzdem war es kein Sieg für die Angeklagten.
Die entlassenen Angeklagten gingen stumm hinaus. Sie begriffen nur allzu gut den Sinn dieses scheinbaren Rückzugs. Sie sahen darin nur eine neue Taktik der Justiz, einen Versuch, den andern Angeklagten desto schwerere Strafen aufzubrummen. Bei einer Verhandlung, in der es um den Kopf geht, hat in Nordcarolina jeder Angeklagte das Recht, zwölf Geschworene abzulehnen. Bei der ersten Verhandlung gab es für die neun Angeklagten eine ungeheure Zahl von Ablehnungsmöglichkeiten.
War aber die Gefahr der Todesstrafe ausgeschaltet, konnte jeder Angeklagte nur vier Geschworene beanstanden, so dass jetzt, da die Anklage gegen fünf junge Leute fallen gelassen worden war, nur wenige Ablehnungen möglich waren. Es war allen Sympathisierenden sofort klar, dass das neue Schwurgericht nicht aus solchen jungen Arbeitergeschworenen bestehen würde wie das erste.
Die ganze Atmosphäre des Gerichtssaals war verändert. Die Angeklagten fühlten es alle. Roger trat an Fer heran, als die Sitzung unterbrochen wurde, um den Verteidigern Gelegenheit zur Beratung über den Antrag des Staatsanwalts zu geben.
Fer, der besonders blass und klar aussah, sagte ein
wenig schal:
„Na, mir scheint, jetzt haben sie uns. Das wird alle zufrieden stellen. Keiner wird groß Tränen vergießen, wenn ein paar Organisatoren aus dem Norden auf Lebzeiten ins Zuchthaus geschoben werden."
Und so war es auch. Das Gefühl ,jetzt kräht kein Hahn mehr danach' lag über der Verhandlung und vertiefte die allgemeine Depression. Es war ein kluger Schachzug der Staatsgewalt gewesen. Da der elektrische Stuhl doch nicht zu erreichen war, hatte man aus einer ,großen Affäre', aus einem zweiten Sacco-Vanzetti-Fall eine Angelegenheit gemacht, bei der ein paar ,Hetzer aus dem Norden' ihre wohlverdiente Strafe abkriegen
würden.
Überdies musste man für die Sicherheit der entlassenen jungen Leute fürchten. Der Mob hatte gedroht, er würde eingreifen, wenn der Staat die Angeklagten nicht verurteilte. Sie hatten die Losung geprägt: ,Wenn wir sie nicht fortjagen können, werden wir sie fortschießen.' Man erklärte offen, man wolle jeden Organisator des Verbandes aus dem Süden vertreiben.
Der Mob war schon in Schwung, bevor die erste Gerichtsverhandlung zu Ende war. Er war von Terrorakt zu Terrorakt geschritten. Drei Männer waren verschleppt und verprügelt, Mamie Lewes war erschossen worden. Aber auch seit ihrem Tode hatte es nicht an Attentaten gefehlt. In Rock Mountain, einer Stadt in der Nähe von Tesner, wurde ein junger Kerl mitten in
der Nacht von maskierten Männern aus dem Bett geholt, in die Wälder verschleppt und misshandelt. Ein Schrei' der Abscheu war die Antwort im ganzen Land. Das Schicksal Mamie Lewes' hatte überall Sympathien erweckt. Die liberalen Kreise des Staates protestierten laut und verlangten die Verfolgung der Mörder. Und jetzt, da noch kein Gras über die rote Erde auf ihrem Grab gewachsen war, ereignete sich eine neue Auspeitschung.
Der Terror beherrschte das Land, organisierte bandenmäßige, von oben geleitete Gewaltakte, entfesselte die Gewalttätigkeit des Mob. Jetzt kam noch der Schrecken dazu, der bei Nacht herumschlich.
Ein junger Verbandsfunktionär, der Organisator Norris, wurde durch den Arm geschossen und aufgefordert, die Klappe zu halten. Robert Duncan erfuhr diese Tatsache nur durch Zufall. Die Familie des jungen Mannes war mürrisch und wollte dem Arbeiter aus dem Norden nicht Rede und Antwort stehen. Sie hatten Angst.
An die Fenster der Verbandsmitglieder klopfte man des Nachts, an dunklen Ecken lauerten unbekannte Subjekte den Frauen auf und warnten sie, sie mögen ihren Männern raten, aus dem Verband auszutreten, wenn sie nicht wollten, dass ihnen ein Unglück passiere.
Der Terror kroch wie ein schleichender Stollenbrand durch die Werksiedlung. Der Terror schlich durch die Zeltkolonie. Es wurde beschlossen, die Überreste der Zeltkolonie nunmehr aufzulösen.
Während der letzten Tage der Gerichtsverhandlung waren Roger und Hoskins von einem Gefühl unabwendbaren Unglücks verfolgt. Die neuen Geschworenen waren ältere Leute, meist Fundamentalisten, viele unter ihnen
Bauern mit harter Kruste und harten Gesichtern. Dass die jungen Angeklagten ,Radikale' waren, dass sie aus dem Norden kamen, dass sie einen Verband gründen wollten, sogar dass sie ,keine Religion' hatten —, das alles sprach zu ihren Ungunsten. Die Geschworenen waren Menschen, die an die gefühlsmäßige Entspannung effektvoller ,Bekehrungen' gewöhnt waren. Südländer, die blumenreichen Rednerkünsten zugänglich waren. Der lange, schlaue Staatsanwalt kannte seine Leute.
Drei Bilder hoben sich klar in Rogers Gedanken ab. Eines war das Bild der Frau Grahams, der kleinen Ruth, wie sie mit ihrem glatten, sauberen, tapferen, kleinen Profil und dem knabenhaften Kopf unschuldig die Freiheit ihres Mannes wegschwor, indem sie zugab, dass sie an Gott nicht glaube. Sie war in dieser Nacht im Verbandshauptquartier gewesen und sagte aus, dass weder ihr Mann, noch Fer an der Schießerei irgendwie beteiligt gewesen waren.
Sie gab ein klares Bild dessen, was sich oben in der hölzernen Baracke des Streiklokals unter den Führern abgespielt hatte. Fer war mit irgendwelchen Abrechnungen beschäftigt, Irma und Doris unterhielten sich ungezwungen über die Ereignisse des Tages, über das Gemüsebombardement, über den Mann mit der Pistole, über das Sprengen der Streikpostenkette. Dann war ein Schuss gefallen, und noch einer, jemand sagte ,Was war das?', und ein anderer sagte ,Dreht das Licht aus', und dann kam ein Schnellfeuer und Fer sagte:
„Das ist der Hunderter-Ausschuss. Sie haben’s auf uns abgesehen."
Darauf legten sie sich im kleinen verfinsterten Zimmer auf den Boden, um den fliegenden Kugeln zu entgehen.
Sie beschwor die Verwirrung, die Überraschung, die Angst jener Nacht wieder herauf. Unvorhergesehen, unprovoziert, unerwartet war das Unheil auf die Zeltkolonie an dem Abend des Tages niedergefahren, von dem sie einen Sieg für sich erhofft hatten.
Aber weil Ruth nicht an Gott glaubte, wurde ihre Aussage vom Gericht nicht zugelassen, denn glaubte sie nicht an Gott, war ihr Zeugeneid wertlos. Anscheinend konnte das Gericht wahrheitsgetreue Aussagen nur von Zeugen erwarten, die des Glaubens waren, jede Lüge würde mit Höllenfeuer geahndet werden.
Selbst der unparteiische, junge, asketenhafte Richter war dieser Ansicht —, auch er war der Meinung, dass ein Mensch, der nicht an Gott glaubt, nicht die Wahrheit sagen könnte.
Die Berichterstatter aus dem Norden, die meisten ebenso wenig an orthodoxe Religion gebunden wie die Angeklagten —, ein unorthodoxer Jude, ein Katholik, der seit fünfzehn Jahren keine Messe mehr gehört hatte, ein junger Mann, der überhaupt ohne Religionsunterricht aufgewachsen war, hörten mit offenem Munde zu. „Das ganze ist ein einziger Anachronismus", flüsterte Hoskins Roger zu. „Dieser moderne Gerichtssaal und diese mittelalterliche Auffassung."
Das zweite Bild war das Bild Fers während des langen Tages seiner Vernehmung. Er war geduldig, offen, aufrichtig, klar und deutlich in allen seinen Antworten. Roger erinnerte sich später immer so an ihn, wie er ihn damals sah, sein Profil auf der Zeugenbank, seine feine Adlernase, sein Gesicht, ein wenig beschattet und verschwommen. Seine Haltung stolz und mutig. Er war rührend in seiner Aufrichtigkeit, als er da stand vor
diesem Schwurgericht, dem jeder Funke eines Mitgefühls abging, vor diesen Geschworenen, die alles hassten, was dieser junge Führer tat, die sein Kommen in ihr ,Südland' mit Hass quittierten und wirklich des Glaubens waren, dass er und seine Genossen der Antichrist selbst seien.
Während der langen Vernehmung sanken Rogers Hoffnungen immer mehr. Fers Aussage hätte ihm den Freispruch bringen müssen. Roger wusste, dass dieser Spruch nicht erfolgen würde.
Dieses Geschworenengericht hörte nichts anderes als die Stimme der eigenen Vorurteile.
Untrennbar vom Bild Fers blieb für Roger das Bild Lissas, mit ihren schönen, geraden Brauen, ihrer unberührten Jugend, ihrem Ernst. Stunde um Stunde hörte sie zu, ihre angespannte Erregung verlieh ihr eine besondere Schönheit. Sie hätte es nicht aussprechen können, dass sie allmählich eine lähmende Hoffnungslosigkeit befiel. Aber auch sie wusste, genau so wie Roger, wie jeder mit diesen unglücklichen Burschen Sympathisierende, dass ihre Sache bereits verloren war.
Die grotesken Szenen des letzten Tages waren kaum mehr nötig. Die Plaidoyers der Verteidiger waren pedantisch und sauber. Aber es fehlte ihnen das wesentliche Feuer. Etwa die Leidenschaft des alten Burdette, seine Wut, sein peitschender Sarkasmus, das rasch wirkende Gift seiner Zunge. Das hätte dieses Schwurgericht verstanden.
Es verstand auch die melodramatische Szene, die der Staatsanwalt vormachte. Er legte sich auf den Boden, in Darstellung des toten Polizeichefs. Er erzählte, wie das unschuldige Blut des Opfers über die Hände der Teufel geflossen war, die diesen Mord kaltblütig ausgeheckt hatten. Inzwischen schluchzte die Witwe laut. Der Staatsanwalt schloss seine Rede damit, dass er neben die Witwe hinkniete, ihre Hand ergriff und laut zu Gott betete, er möge die Herzen der Geschworenen richtig lenken, damit sie die Höllenhunde verurteilen, die den Ehemann dieser Frau abgeschlachtet hatten.
Es war ein sensationelles Ende eines Sensationsprozesses, eine saftige Geschichte für die Telegramme der Journalisten, ein Ende, genau so unvorstellbar wie der Anfang, jenes Hereinwackeln der Wachsfigur des Toten in den Gerichtssaal gewesen war. Der Staatsanwalt hatte gut gearbeitet. Er hatte eine Sprache geredet, die die Bauern mit den harten Gesichtern wohl verstanden.
Die Tage der Verteidigungsreden und der Zusammenfassung durch den Vorsitzenden des Gerichtshofs blieben Roger nur als schwarze Leere im Gedächtnis. Es war ja ohnehin alles vorbei, außer der bangen Erwartung. Sie hatten verloren. Jetzt brauchte man nur mehr auf den unausbleiblichen Wahrspruch, auf das unvermeidliche Urteil zu warten. Die Stunden schleppten sich hin. Die Tage schleppten sich hin. Dort war Fers klares, besorgtes Gesicht und hinter ihm das Gesicht Lissas. Eine Handvoll Beteiligter im Gerichtssaal. Es war wie die monotone Langeweile einer Totenwache. Die Zeit kann aber zugleich kriechen und fliegen.
Der Urteilsspruch lautete auf ,schuldig'. Sie wurden schuldig gesprochen, sich zur vorsätzlichen Tötung des Richard Humphries verschworen zu haben.
Wieder hatte man das spukende Gefühl des Grotesken bei dem Gedanken, dass diese jungen Menschen ein solches Komplott geschmiedet hätten. Für die beiden Journalisten, die Fers Ansichten so gut kannten, hatte dieser Gedanke das Verzerrte eines Alpdrucks. Er war ebenso grotesk wie der Mob, der die Lobpreisung Gottes
sang, und er wäre, ebenso wie der Mob, lächerlich gewesen, wenn er nicht Wirklichkeit gewesen wäre und nicht den Stachel eines zwanzigjährigen Zuchthausurteils in sich getragen hätte.
Und der freundliche, immer höfliche, geduldige Richter, der gerechte Richter sprach das niederschmetternde Urteil, eine zwanzigjährige Zuchthausstrafe für alle mit Ausnahme von Wes Elliott aus. Wes Elliott erhielt zehn Jahre.
Sie hatten gewusst, was kommen würde. Sie hatten jeden Tag gewusst, dass ihr Schicksal besiegelt war, aber sie hatten es doch nicht ganz geglaubt. Das Urteil sauste krachend auf die Verurteilten und ihre Freunde nieder.
XXV. KAPITEL
Fer sollte gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden. Die Kaution war so hoch, dass die übrigen jungen Leute weiter im Gefängnis verbleiben mussten, während eine Sammlung für die Aufbringung der Kaution veranstaltet wurde. Die Behörde forderte Bargeldkaution und lehnte die Annahme sonstiger Sicherheiten ab.
Frühmorgens schon begannen sich die Leute am Gerichtsgebäude zu sammeln. Arbeiter, Männer und Frauen kamen in Lastautos und allen möglichen Fuhrwerken. Alte Männer und junge kamen und auch die Kinder. Die Straßen waren schon in der Morgendämmerung zu beiden Seiten von schweigenden Menschen gesäumt.
Fers Freunde hatten befürchtet, dass sich bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis ein lynchbereiter Mob einfinden würde. Es war, als hätten diese Befürchtungen in jedem Sympathisierenden einen Widerhall gefunden. Sie kamen alle, die Spinnereiarbeiter, die glaubten, dass
er für den Verband gekämpft hatte; die Prediger aus den Bergen, wie Quinn und Williams, Verbandsmitglieder und Unorganisierte, Streikende, und Arbeiter aus Betrieben, in denen noch nie ein Streik stattgefunden hatte; sie kamen, als wollten sie keinen Platz für einen Mob freilassen und warteten geduldig auf das Erscheinen Fers.
Es war eine seltsame Demonstration, dieser Zustrom von Arbeitern nach Lafayette, die alle Fer begrüßen wollten. Für sie war Fer ein Symbol ihres Freiheitskampfes. Er hatte gekämpft gegen den grausam langen Arbeitstag, er hatte gekämpft gegen ihren Bettellohn, gegen ihr Elend. Und jetzt war auch er versklavt, gefangen. Es war, als wäre diese ganze Masse herausgeströmt, um zu sagen:
„Fer, wir wissen, dass du den Humphries nicht erschossen hast und nie vorgehabt hast, ihn zu erschießen. Wir wissen, dass sie ein Justizkomplott gegen dich aufgezogen haben, weil du für uns gekämpft hast."
In der Nähe des Tores warteten Burdette, Hoskins und Roger auf Fer. Neben ihnen stand eine Gruppe von Journalisten des Orts. Die Reporter der großen hauptstädtischen Tageszeitungen waren sofort nach Verkündung des Wahrspruchs der Geschworenen abgereist.
„Wohin wird Fer zuerst gehen?" fragte Roger.
„Er soll nach dem Norden. Ich will ihn zu irgendeiner Bahnstation bringen, wo er, ohne erkannt zu werden, in den Zug einsteigen kann." Burdette sprach mit großer Entschiedenheit.
„Duncan sagte, der Verband möchte, dass er hier noch einmal spricht."
„Die sind wohl verrückt", sagte Burdette kurz. „Er kann in dieser Gegend nicht bleiben."
Dann kam Fer zum Vorschein und ein großer Lärm stieg von der Menge auf, auch in den Seitenstraßen, wo sie ihn gar nicht sehen konnten.
Die Arbeiter, die in der Nähe des Tores standen, Dewey Brison, Del Evans, der immer sein Leibwächter gewesen, und die jungen Trents hoben ihn über die Köpfe der Menge hinweg in ein wartendes Lastauto.
Der alte Anwalt plusterte sich auf wie ein zorniger Vogel. „Sie haben wohl 'ne weiche Birne", wiederholte er. „Fer darf hier nicht sprechen." Er bahnte sich einen Weg durch die Menge zum Lastauto.
Aber Fers klare Stimme, die so leicht so weit trug, erreichte sie alle.
„Ich bin sehr froh, draußen zu sein und euch alle zu sehen", sagte er. „Es war sehr schön von euch, dass ihr mich so empfangt." Er sagte nur noch wenige Worte. Burdette nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch.
„Sag ihnen, sie sollen nach Hause gehen", sagte er zu Fer. „Sag Dewey, er soll zu ihnen sprechen. Sonst wirst du Scherereien haben."
Dewey hielt also eine kurze Rede und die Menge begann, vom Anblick Fers befriedigt, langsam auseinander zugehen.
Es war nichts geschehen und sehr viel. Eine Gruppe Verbandsfunktionäre folgte Fer ins Zimmer, das für ihn gemietet worden war.
Del Evans sagte: „Diesmal haben wir sie aufgerüttelt, ganz bestimmt."
„Drüben in der Basil-Schenk sind sie jetzt fest entschlossen, herauszukommen."
„Wie Mamie Lewes erschossen wurde, haben wir alle
geschworen, nicht zu ruhen, bis wir die von Basil-Schenk wieder draußen haben."
„Jetzt, wo sie sicher wissen, dass man da ein Ding gegen dich aufgezogen hat, kommen sie noch mal so gerne heraus."
„In allen Betrieben war man mächtig erbittert, wie der Mob Mamie Lewes erschossen hatte. Überhaupt war man wegen der ganzen Mobgeschichte sehr erbittert. Wir haben Tag und Nacht gearbeitet, in den Betrieben und draußen."
„Wir haben kleine Versammlungen in Wohnungen bei zuverlässigen Leuten abgehalten. Seit fünf Wochen, seitdem Mamie Lewes tot ist, ist keine Nacht vergangen, in der nicht eine Versammlung in der Werksiedlung abgehalten worden wäre."
„Auch die Frauen haben sich beteiligt. Frau Cuthbert und einige von den Trentschen Frauen haben tüchtig unter den Frauen organisiert. Wir haben dir Nachrichten geschickt, soviel wir konnten, aber die Sachen sind erst in der letzten Woche zum Klappen gekommen."
Endlich sprach Fer.
„Wann glaubt ihr, dass sie aus dem Betrieb herauskommen?" fragte er.
„Wir haben es für Montag abend vorgesehen, beim Schichtwechsel. Wir wollen die Schicht herauskommen lassen und dann keinen mehr hineinlassen."
„Wenn du dabei wärst, Fer, würden sie sicher herauskommen. Wenn sie dich zu sehen bekommen, ist die Sache fertig."
„Wir lassen dich Tag und Nacht bewachen, Fer. Dich kriegen keine Rowdys oder Lyncher."
An die Türe klopfte Roger. „Fer", sagte er, „Burdettes Auto wartet. Er meint, du solltest jetzt losfahren."
„Ich fahre mit ihm nicht mit", sagte Fer.
„Wieso fährst du nicht mit?"
„Es geht nicht, Roger. Die Jungs hier wollen, dass ich hier noch etwas abwarte."
„Wohin gehst du?" fragte Roger schroff.
„Na, ich denke, so nach Dunkelheit werde ich nach Stonerton kommen, in die alte Werksiedlung."
„Aber Fer!" rief Roger. „Das kannst du doch nicht! Du bist verrückt, Fer!"
Die großen Burschen aus der Spinnerei saßen stumm und wartend da. Sie betrachteten Roger ohne Feindseligkeit, weil sie wussten, dass er keinen Einfluss auf Fer hatte.
„Weißt du, was du tust?" rief Roger.
„Ja", sagte Fer ruhig, als wäre er sehr müde. „Ja, ich weiß schon, was ich tue. Aber ich muss ja, Roger, das weißt du."
Die jungen Trents wohnten in einem Haus knapp an der Werksiedlung. Das Haus gehörte ihrem Schwager, war größer als die meisten Häuser dort und hatte zwei überflüssige Zimmer. Das Haus war nicht auffallend, es hatte vorn einen Staudengarten und stand etwas abgesondert. Deshalb hatten sie das Haus in letzter Zeit als Versammlungsort für Verbandskonferenzen benützt. Man schloss alle Jalousien, kein Lichtschimmer drang nach außen, und ein Bäckerdutzend Männer schlich vereinzelt zur Hintertür herein.
Hier blieb Fer über den Sonntag. Nur ganz wenige Leute durften kommen, die Fer sprechen musste, oder von denen er wusste, dass es besser sei, dass sie kämen. Es sollte nicht allgemein bekannt werden, dass er noch da war. Die Presse hatte mitgeteilt, dass er nach seiner
Enthaftung nach dem Norden zurückgefahren sei. Burdette hatte die Presse in dieser Richtung informiert und sich um die ganze Angelegenheit nicht weiter gekümmert.
Es war unmöglich, eine solche Neuigkeit geheim zu halten. Das Gerücht von Fers Anwesenheit schwirrte durch die Werksiedlung. Der eine flüsterte es dem andern ins Ohr:
„Fer ist hier!"
„Wo ist er?"
„Weiß nicht. Man sagt, er ist hier."
Es war, als wäre seine Gegenwart wie ein Licht, das durch die ganze Gemeinde flackerte und züngelte. Ein unbestimmtes Licht, denn keiner wusste etwas Gewisses —, mit Ausnahme der wenigen, die ihn gesehen hatten; die aber hielten dicht.
„Willst du noch irgend jemand sehen, Fer?" fragte ihn Del Evans.
„Ja, ich will Lissa Thorn sehen. Sie ist jeden Tag zur Verhandlung gekommen."
Lissa eilte durch die Stadt. Sie lief so rasch, dass ihr Bekannte, die sie unterwegs trafen, zuriefen:
„Wohin denn so eilig, Lissa?"
Sie hätte gerne zurückgerufen: „Zu den Wilcox! Zu Fer! Er hat um mich geschickt!" Es schien ihr einfach nicht glaubhaft, dass Fer um sie geschickt hatte.
Selbst Fer war es seltsam vorgekommen, dass er, nachdem er sich den ganzen Tag mit Plänen der Arbeitsniederlegung beschäftigt, Projekte gemacht, Ratschläge erteilt, Berichte angehört hatte, plötzlich um Lissa schickte, etwa wie ein Mensch aus einem überhitzten Konferenzzimmer hinausgeht, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Es war, als hätte Fer plötzlich gesagt:
„Hols der Henker, ich bin monatelang im Gefängnis gewesen. Ich habe diese ganze Zeit nur durch Gitter hindurch oder im Gerichtssaal mit einem Mädchen gesprochen. Ich hab kein Mädchen. Aber ich will doch einmal ein paar Minuten mit einem jungen und schönen Mädchen sprechen. Nur zehn Minuten, inmitten dieser großen Verantwortung, die auf mir ruht."
Auch die Burschen wunderten sich darüber, dass Fer
um Lissa schickte.
„Wusste gar nicht, dass Fer so große Stücke hält auf
Lissa Thorn."
„Ich auch nicht."
„Muss aber doch so sein, wenn er jetzt um sie
schickt."
Sie ließen demnach die beiden allein.
„Hallo, Fer", sagte Lissa. „Ich bin froh, dass du
wieder da bist."
„Ich bin auch froh. Es war nett von dir, dass du gekommen bist. Ich wollte dich so gerne sehen."
Sie wurde rot. „Ich bin auch sehr gerne gekommen. Ich bin froh, dass du mich sehen wolltest."
„Ich hab dich die ganze Zeit im Gerichtssaal gesehen."
„Ja, ich war jeden Tag dort. Ich wusste nicht, dass du
mich bemerkt hast."
Das war alles, was sie sich zu sagen hatten.
„Ich höre, du hast unter den Frauen gearbeitet."
„Ja, ich und Frau Trent und noch viele andere haben die ganzen Häuser in der Werksiedlung durchgearbeitet. Sie sind alle bereit, Fer."
„Ja, es scheint, dass diesmal wirklich was daraus
wird."
Die Arbeitsniederlegung war sorgfältig vorbereitet worden. Die Direktion hatte die Arbeiter einzeln in den Betrieb zurückgelockt, durch Versprechungen, die nachher nicht gehalten wurden. Die Werkmeister hatten erklärt, dass altbeschäftigte Arbeiter wegen ihrer Tätigkeit im Verband nicht gemaßregelt werden würden, da die Werksleitung die Existenz des Verbandes überhaupt nicht anerkenne. Diese inoffiziellen Versprechungen waren nicht gehalten worden. Mutter Gilfillin und Daisy West wurden nicht wieder eingestellt, ebenso wenig wie Jolas und Binney und die übrigen Jolas-Mädels.
Dem Plan gemäß sollte die abtretende Tagschicht die Arbeit niederlegen. Die Streikenden in der Nachtschicht sollten eine starke Streikpostenkette bilden und mit den herausströmenden Tagschichtstreikenden gemeinsam die Streikbrecher am Betreten des Betriebes verhindern. Der Plan war sorgfältig geheim gehalten worden, doch war es unmöglich, ein so ausgedehntes Unternehmen, das sich auf Hunderte von Menschen erstreckte, wirklich geheim zu halten.
Ike Cooney, der neue Sheriff, hatte zwei Dutzend Leute als Hilfspolizisten eingeschworen, Werkmeister, aus der Spinnerei, ,loyale' Arbeiter, die zur Direktion hielten, und andere. Noch vor Arbeitsschluss hatte sich diese Nachricht in den Arbeitssälen verbreitet. Die Werkmeister patrouillierten nervös. Es nützte alles nichts. Der Augenblick war da, der Tag war gekommen, der geplante und ersehnte Tag, der so sorgfältig vorbereitet worden war, für den so viele gebetet hatten.
Die Männer und Frauen warfen mit einem Ausruf die Arbeit hin, verließen ihre Webstühle, ihre Spindeln und schreien es durch den Betrieb:
„Streik! Streik! Streik!" Jemand gab die Parole aus:
„Fer ist draußen! Fer ist hier!" Und von den
Fenstern des Betriebs dröhnte der Ruf heraus: „Fer!
Fer! Fer!"
Die Menge, die sich draußen ansammelte, stimmte ein. Der ganze erblassende Himmel war erfüllt vom Namen Fers. War er wirklich in der Menge zu dieser Zeit? Es machte nichts aus. Er war doch zugegen, denn was er vertrat, war da.
„Verband!" kam der nächste Ruf.
„Für den Verband! Verband" kam es aus hundert Kehlen zurück.
Eine ungeheure Erregung ergriff die Arbeiter im Betrieb. Die Werkmeister liefen herum, versuchten, Beruhigung zu schaffen, redeten gut zu, wurden aber achtlos beiseite geschoben. Der Streik war jetzt in Hochflut. Die Männer und Frauen rannten aus dem Betrieb. Die Streikpostenkette marschierte heran. Sheriff Cooney
sagte:
„Das Tor hier freihalten! Ich kann das Tor hier nicht von euch versperren lassen."
Eine Stimme rief höhnisch: „Der Sheriff sagt, ihr sollt das Tor freigeben, damit die Streikbrecher hineinkönnen!"
„Pfui! Pfui! Pfui!" schallte es zurück, jener Ruf, der der Stimme eines Tieres glich, dessen spöttischer Laut aber menschlich war. Ein heiterer, fürchterlicher, erschreckender Laut: „Pfui! Pfui! Pfui!" und vom andern Ende der Straße gaben die andern den Ruf zurück.
Jetzt kam ein Lastauto mit Streikbrechern angefahren. Menschen setzten sich in der Richtung des Betriebs in Bewegung. Hier sollte die Entscheidung fallen. Wer war der Stärkere, der Streik oder der Sheriff?
Die Pfui-Rufe wurden zum Geheul. Ein Stein krachte gegen die Fenster des Betriebes.
„Ich will keine Unannehmlichkeiten! Lasst das Tor, hier frei!" schrie der Sheriff.
Ein zweiter Stein flog. Fers Stimme rief laut: „Lasst sie nicht in den Betrieb hinein!"
„Fer! Fer! Fer ist da!" Die Masse stimmte in den Ruf ein und wieder dröhnte Fers Name zum Himmel. Und plötzlich wälzte sich ein Knäuel Menschen im Kampf.
Ein Pistolenschuss knallte. Ein Mann warf die Arme hoch, drehte sich um und fiel aufs Gesicht.
Schüsse knallten. Dann rief jemand:
„Fer ist getroffen! Fer ist getroffen!"
Jolas ging mit erhobenem Blick auf den Sheriff zu. Zwei Hilfspolizisten verhafteten ihn. Ein hoher, scharfer Schrei durchschnitt die Luft wie mit einem Messer. Es war Binney.
„Sie haben ihn erschossen! Meinen Vater!" Eine Tränengasbombe platzte zwischen den Streikenden und der Polizei. Jetzt schienen die Schüsse von allen Seiten zu kommen. Die Streikenden flohen in alle Richtungen. Der junge Cuthbert rannte mit der Hand vor den Augen, fühlte, dass ihm etwas einen Schlag versetzte und fiel bewusstlos auf die Erde. Eine Stimme sagte:
„Um Gotteswillen, hört mit dem Schießen auf! Es ist schon genug, genug angerichtet!" Man sagte, es sei die Stimme des Sheriffs gewesen. „Es sind schon genug Leute tot!"
Die Streikenden rannten in alle Richtungen. Das
Tränengas hatte sich verflüchtigt. Der Platz glich einer Schlachtbank. Die Leichtverwundeten machten sich davon. Aber dreißig Verwundete lagen still auf der Erde. Wie viel tot waren, wusste niemand.
Fer lag tot, mit einer Kugel im Herzen, den Kopf auf Del Evans' Knie gebettet. Del Evans wiederholte fortwährend flüsternd, als könnte er den eigenen Worten nicht glauben, seinen eigenen Sinnen nicht vertrauen: „Fer ist tot. Sie haben ihn erschossen, und er ist tot."
Die Krankenwagen fuhren vor. Vor dem Krankenhaustor spielten sich Szenen ab wie nach einer Schlacht. Menschen strömten zum Tor, die meisten wurden abgewiesen. Sie standen herum, weinten und schrieen. Fürchterliche Einzelheiten des Blutbades begannen durch die Menge zu sickern.
Der alte Jolas, so sanft, so beliebt, war mit noch gefesselten Händen auf den Operationstisch geworfen "worden. Er erlangte das Bewusstsein nicht wieder. Er war mit den Spangen an den Handgelenken gestorben. Das Gerücht bestand hartnäckig darauf, dass er erst nach der Verhaftung und Fesselung erschossen worden sei. Dewey Brison sagte, er hätte ihn im Pulverrauch gesehen, sein alter Kopf hing blutig und schlapp auf die Brust und sie schlugen auf ihn zu, als er schon gefesselt
war.
Binney saß draußen, das kleine, dünne, spitze Gesicht in den schmalen Händchen; ein Schluchzen schüttelte unaufhörlich ihre Schultern. Sie war nicht zu bewegen, fortzugehen. Sie saß draußen, als wär sie auf Wachtposten und schluchzte, als wollte sie ihr Leben ausschluchzen.
Die junge Lucy Trent durfte ins Krankenhaus
hinein. Trent war tödlich verwundet. Es gab keinerlei Hoffnung mehr für ihn. In einem andern Saal verblutete Cuthbert an einem fürchterlichen Magenschuss. Seine Mutter saß neben ihm.
Auch Del Evans' Vater war getroffen. Die Ärzte meinten, er würde den Morgen nicht erleben.
Wieder strömten Journalisten in die Stadt. Zum Abend waren alle wieder beisammen. Das Gerücht, dass Fer nicht nach dem Norden gefahren war, dass er sich noch im Süden aufhielte, hatte sich zwar verbreitet, aber das Geheimnis der Arbeitsniederlegung war gewahrt worden. Nur einer der Zeitungsleute des Ortes, Otis Bingham, hatte die Schießerei gesehen. Er war unten bei der Streikpostenkette gewesen, als der Sheriff und seine Leute plötzlich Feuer gaben. Er hatte die berufsübliche zynische Gelassenheit des Reporters ganz verloren. Was er zu sagen hatte, war, dass den Feuerüberfall niemand provoziert hatte, keiner der Streikenden oder Streikposten hätte Schusswaffen gehabt, kein Schuss war von Seiten der Arbeiter gefallen.
Fer wurde ins Haus der Thorns gebracht. Das Gesetz bestimmt, dass eine Leiche von den Angehörigen reklamiert werden muss. Die Arbeiter befürchteten, dass die Werksleitung den Versuch machen würde, die gemeinsame Beerdigung Fers und der übrigen Opfer zu verhindern. So ging denn Lissa, in schwarz gekleidet und weinend, in Begleitung ihrer Mutter hin und verlangte die Auslieferung von Fers Leiche. Sie seien verlobt gewesen, sagte sie. Keiner erhob dagegen Einspruch, obwohl alle, die Fer näher kannten, wussten, dass das nicht wahr sei. Doch wussten auch alle, dass Lissa die einzige gewesen war, nach der er an diesem letzten Sonntag ver-
langt hatte, außer den Leuten vom Verband, mit denen er Sachliches zu erledigen hatte.
Am Nachmittag waren die Straßen der Stadt vollkommen still. Alle saßen zu Hause. Nur in der Werksiedlung standen kleine Häuflein Menschen zusammen und unterhielten sich. Der Gouverneur hatte die Miliz wieder mobilisiert, und die Truppen waren schon am Nachmittag eingetroffen. Im Krankenhaus warteten noch immer besorgte Angehörige der Opfer, um ihren Besuch zu machen oder Nachrichten einzuholen. Dick Durgan, Hoskins, Roger und die übrigen Reporter marschierten einfach hinein und wurden in einen Krankensaal geführt, wo Leichtverwundete lagen.
Drei ganz junge Burschen lagen da mit verbundenen Köpfen und Armen. Sie hatten nicht gestreikt, sie hatten bloß zugesehen, und das war der Grund, warum die Krankenhausdirektion es den Reportern gestattete, mit ihnen zu reden. Die Geschichte, die sie erzählten, war aber die allerschlimmste. Sie hatten keine Süppchen zu kochen, keinen Grund zu Übertreibungen. Sie waren einfach vorbeigekommen und blieben stehen, um zuzusehen.
„Der Sheriff hat das Kommando ,Feuer' gegeben." „Ich hab die rauchende Pistole in seiner Hand gesehen. Ich hab die Polizei knallen gesehen. Die Leute rannten in alle Richtungen."
„Leistete jemand Widerstand?"
„Nein, keiner hat sich gewehrt. Sie sind nur gerannt.'" „Sie haben einfach in die Menge hineingeschossen. Keiner hatte ihnen was getan." „Gab es irgendeinen Tumult?"
„Nein, nichts. Sie haben bloß ,Pfui' geschrieen, wie das die Streikposten immer machen."
„Und dann sind wir eben auch gerannt, und dann haben wir was abgekriegt."
„Es heißt, den Vater Del Evans' haben sie von so nahe angeschossen, dass sein Anzug ganz verbrannt war."
Seit Jahren war in einem Arbeitskampf kein solches Blutbad angerichtet worden.
XXVI. KAPITEL
In dieser Nacht starb Dan Trent. Roger ging früh am Morgen zu den Eltern Trents. Der alte Trent war nicht zu Hause. Er war lange Jahre Friedensrichter gewesen und kannte jeden einzelnen der jungen Arbeiter des Betriebs. Immer hatte er sie zu Mäßigung und legalen Methoden ermahnt, aber den Streik hatte er unterstützt. Frau Trent war allein im Hause, nur drei Enkelkinder spielten unbekümmert in einer Ecke der Küche. Im Herd brannte ein Feuer. Das Zimmer war ausgefegt und sauber gemacht. Frau Trent war früh aufgestanden, um das Haus für den Besuch des Todes vorzubereiten.
„Ich möchte, dass er hierher gebracht wird. Bei den Wilcox war er ja doch bloß Zimmermieter. Es ist richtig und passend, dass er nach Hause zurückgebracht wird. Er war ja erst ein Jahr fort. War noch nicht lange verheiratet. Er ist der Jüngste. Ich will, dass er zurückgebracht wird."
Frau Trent war klein von Wuchs, verhalten, eisern in ihrer Selbstbeherrschung. Sie sprach ruhig. Dann hob sich ihre Stimme, noch immer verhalten, aber fürchterlich in ihrer Intensität.
„Wenn Sie wissen wollen, wie mein Rob gestorben ist, gehen Sie nur zu seinem Bruder Jim. Jim war dabei, als sie Rob erschossen haben. Ich hab ihn sterben
gesehen. Ich war bis zum letzten bei ihm. Er hielt meine Hand bis ans Ende fest. Jim wird Ihnen erzählen, wie sie die andern umgebracht haben. Er hat auch gesehen, wie sie den alten Jolas mit dem Gummiknüppel geschlagen haben, als er schon gefesselt war."
Roger ging zum älteren Trent hinüber. Jim Trent war einer der wenigen Spinnereiarbeiter, die ein eigenes Haus besaßen. Die Trents waren als Familie etwas besser gestellt als die andern. Sie waren alle dunkle, energische Männer, klug und leidenschaftlich. Jim Trent hielt sich im Hinterhof seines Hauses auf. Sein jüngerer Bruder Joe und einige Nachbarn waren bei ihm. Über sein Gesicht rollten dicke Tränen, er aber wusste gar nicht, dass er weinte. Vom Hinterhof hatte man Aussicht auf die Berge. Die rote Straße, die am Haus vorbeiführte, war verlassen. Eine unnatürliche Stille in der Werksiedlung. Der kleine Klumpen Trauer in Jim Trents Hinterhof stach scharf ab von der Stille des Tages, von der schönen und friedlichen Landschaft.
„Erst haben sie ihn mit Gas geblendet. Er war da draußen mit den Streikposten. Der Sheriff sagte, wir sollten auseinander gehen, und dann warf er eine Gasbombe, und Robert griff mit der Hand an die Augen, und dann hörte ich einen Schuss, aber ich konnte nicht sehen, wer geschossen hat. Robert fiel hin, ich fing ihn in den Armen auf. ,Mit mir ist’s aus, ich bin erschossen', sagte er zu mir. Es war von Anfang an keine Rettung für ihn, er musste verbluten."
„Hat er sehr gelitten, Jim? Haben sie ihn gut gepflegt?"
„Ich denke schon, dass sie getan haben, was sie nur konnten. Das Blut ging durch alles durch. Sie konnten die Blutung nicht stillen."
„Die Lucy hat es von Anfang an gewusst. Sie war seit dem Streik immer in einer Angst. Als ob sie gewarnt worden wäre."
„Rob hat von Anfang an nicht viel Glück gehabt", antwortete Jim.
Lichter brannten in der Werksiedlung im Osten Altstonertons. Die Lebenden machten den Toten ihre Aufwartung. Die Lebenden fuhren in Autos und machten seltsame Besuche. Ein ständiger Strom von Besuchern machte ,Besuche', bei den Thorns, bei den Evans, bei Jolas, beim jungen Robert Trent. Drei Männer lagen tot, mit klaffenden Wunden im Rücken. Einige Schüsse waren aus so großer Nähe abgegeben worden, dass im ärztlichen Attest die Kleider als verbrannt und die Haut als geschwärzt angegeben waren.
Die ganze Werksiedlung ging die Männer besuchen, die vom Sheriff Isaac Cooney und seinen Leuten bei der, Auflösung der Streikpostenkette vor der Basil-Schenk-Manufaktur niedergeschossen worden waren. Außer den Toten gab es noch zwei tödlich Verwundete, fünfzehn hatten Verletzungen, die ihre Überführung in das Krankenhaus erforderlich machten, und noch etwa ein Dutzend hatten leichte Verletzungen erlitten. Die Leute in Ost-Stonerton sagten ruhig:
„Ich möchte nicht in den Schuhen des Sheriffs stecken."
Duncan hatte Roger aufgefordert, zum Totenbesuch mitzugehen. Dewey Brison lenkte den Wagen. Del Evans und Poddy Smithson waren mit dabei. Sie rasten im Dunkeln steile Abhänge hinunter. Roger wusste nicht, wohin sie fuhren, er erkannte die Straßen nicht, die Dewey hinuntersauste.
Sie fuhren zu den Trents. Das Zimmer war voll von stillen Besuchern und solchen, die Totenwache hielten. Leute kamen leise herein und gingen wieder hinaus. Frauen saßen am Herd, die Hände vor dem Gesicht, während der Strom der Besucher schweigend am Sarg vorbeidefilierte. Im Nebenzimmer unterhielt man sich leise. Das hier war kein gewöhnliches Leichenbegängnis. Das hier war keine gewöhnliche Trauer. Hier war ein Mord geschehen, ein kaltblütiger Massenmord an vielen Menschen, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie für ihre Forderung nach etwas besseren Lebensbedingungen gestreikt hatten. Dafür lagen sie nun tot, und die ganze Werksiedlung kam zu Besuch.
„Das ist ein schlimmer Tag", sagte jemand leise. „Wir sind noch nicht am Ende", kam die Antwort. Keiner sprach von Rache, keiner drohte. Es herrschte eine Unheil verkündende Ruhe. Ein großer alter Mann, ein Freund des alten Trent, bemerkte vielsagend: „Rob hat noch drei Brüder am Leben." Die waren alle drei da, Jim, Joe und Luther. Roger und seine Gefährten verabschiedeten sich von den Trents. Das sonnenverbrannte, runzlige Gesicht der alten Frau Trent bewahrte die Ruhe. Sie hatte keine Tränen. Aber irgendwo außer Sicht weinte Lucy Trent. Lucy Trent wusste nichts von den Besuchern. Sie wusste nur, dass ihr blutjunger Mann tot war.
Der Wagen umrundete dunkle Ecken und erkletterte zerklüftete senkrechte Bergabhänge. Vor dem Evansschen Haus war die Straße so steil, dass sie die Räder des Autos blockieren mussten. Auf der Veranda lag ein Haufen selbstgewundener Dahlienkränze. In der Stube lag der ermordete Sam Evans. Man nannte ihn den alten Evans, obwohl er nur fünfundfünfzig Jahre alt war. Er hatte sein ganzes Leben in den Spinnereien gearbeitet,
davon achtzehn Jahre für die Basil-Schenk-Manufaktur. Jetzt hatte ihn der Sheriff getötet.
Männer kamen und gingen. Alle Mitglieder von; Sanis Loge kamen und gingen wieder. Sie sahen ihm in das ruhige, tote Gesicht und dachten daran, wie fest er an den Verband geglaubt hatte und auch daran, wie herzlich er lachen konnte. Auch jetzt noch lagen feine Linien des Humors um seinen gutgezeichneten Mund, der immer so gerne gelächelt hatte. Er hatte sein ganzes Leben lang gearbeitet und seine Söhne und Töchter zur Arbeit erzogen. Er war ein guter Freund und ein guter Nachbar gewesen. Die Leute hatten ihn gerne. Liebe, Anhänglichkeit und Kinder, das war alles, was der alte Evans in seinem Leben angesammelt hatte. Sonst besaß er nichts. Ein Leben voller Mühsal hatte ihm Tag für Tag einen spärlichen Lebensunterhalt verschafft. Jetzt aber hatten sie ihn ermordet.
Aus dem andern Zimmer, der ,Wärmestube', kam monoton und fürchterlich die Klage der Frau Evans. Während der Agonie ihres Mannes war sie ganz benommen gewesen, jetzt aber war sie zusammengebrochen. Roger ging mit noch einigen andern in die ,Wärmestube', wo ein Feuer im Herd brannte. Frau Evans saß zwischen zwei Freundinnen und sah erst starr vor sich hin. Dann zuckte plötzlich ihr Kopf in den Nacken, ihre langen, knochigen Hände krampften sich vor ihrem Gesicht zusammen, die Sehnen in ihrem Hals schwollen hervor und die hohen schrillen Töne der Trauer, die Klagelaute der Verwaisten der Berge durchschnitten die Stille. Die Besucher murmelten mitfühlend:
„Es ist gut, dass sie weint."
„Ja, es ist gut, dass sie weinen kann. Besser, dass sie weint, die Arme, als dass sie dasitzt und stiert, wie die ganze Zeit, seit Sam hinüber ist. Sie bat zwei Tage und
zwei Nächte bei ihm gesessen und sich nicht gerührt, sie hat nicht gesprochen, nichts gegessen."
„Sie hat so dagesessen, bis er hinüber war." Die Besucher kamen und gingen, ein steter Strom unterdrückter Wut. Keiner von ihnen konnte das Weinen der Frau Evans wieder vergessen, und ihre Augen versprachen, dass ihr Kummer nicht vergeblich sein sollte.
Um Jolas flossen keine Tränen. Dort schliefen die Leute in der ,Wärmestube'. Binney und ihre zwei Schwestern und das Kind ihrer verheirateten Schwester schliefen alle in einem Bett. Erst zwei Wochen vorher war Binneys verheiratete Schwester mit ihrem Kind nach Hause gekommen. Ihr Mann hatte sie verlassen. Dort lagen die Töchter Victor Jolas' von Kummer erschöpft. Die Besucher erzählten einander im Flüsterton vom Tod des Jolas.
„Sie haben ihn geschlagen, da er schon gefesselt war. Man hat ihn gefesselt auf den Operationstisch gelegt."
„Der Sheriff sagt, Jolas hat ihn mit seinem Stock bedroht."
Victor Jolas litt an Rheumatismus, hinkte und musste sich immer auf einen schweren Stock stützen.
Dann kam immer wieder, am Ende des Gesprächs: „Er war gefesselt, als sie ihn auf den Operationstisch legten."
„Ja, er ist in Fesseln gestorben."
Der Tod hatte in Victor Jolas' Haus alle Türen geöffnet. Heute brauchte er nicht mehr seine Armut stolz zu verbergen. Die Familie hatte nichts, denn Jolas war kränklich gewesen und hatte nur wenig verdient.
Die Mädchen waren noch zu jung. Die einzige erwachsene Tochter hatte ein Kind.
Jeder, der wollte, konnte sie hier zusammengepfercht sehen, für den Augenblick entrückt in die barmherzige Bewusstlosigkeit des Schlafs. Binneys spitzes Gesichtchen war schärfer denn je, nahm sich zerknüllt im Bett noch kleiner aus denn je.
Jetzt waren die Thorns an der Reihe.
Bei Thorns war eine große Menschenmenge. Ein großes Kommen und Gehen von Menschen. Leute kamen zu Fuß, um Fer noch einmal zu sehen. Sie kamen auch in Autos. Große Haufen selbstverfertigter Kränze aus Herbstblumen türmten sich auf. Berge von Kränzen lagen um Fers Sarg. Alle führenden Männer und Frauen des Verbands hielten bei Fer die Totenwache. Sie saßen still auf Stühlen im Kreis und wachten bei Fer. Sie würden die ganze Nacht da sein, einige würden nicht schlafen, sie würden warten. Um Mitternacht würden neue Wächter kommen, um die Ehre zu haben, bei dem Toten zu wachen.
Lissa saß neben Fer. Sie sah größer und älter aus in ihrem schwarzen Kleid. Ihre dunklen Augen widersprachen den kindlichen Umrissen ihres Gesichts, ihre tiefe, volle Stimme ihrer Jugend. Es war die Stimme einer reifen Frau, die mit den Lippen eines Kindes sprach.
Sie fand einen gewissen Trost in dieser Maskerade. Für sie war es fast Wirklichkeit, die einzige Wirklichkeit, die ihrer Liebe zu Fer beschieden war. Für den Augenblick gehörte sie in den Augen der Werksiedlung zu Fer, wie sie es sich gewünscht hätte, zu ihm zu gehören.
Es waren nicht die Thorns, die diese List vor-
geschlagen hatten. Evans und Dewey und andere Führer des Verbands waren darauf gekommen. Jetzt marschierte die ganze Werksiedlung durch die sauberen Zimmer der Thorns und setzte sich einen Augenblick in der ,Wärmestube' nieder, wo Frau Thorn, ebenfalls schwarz gekleidet, am Feuer saß.
Roger stand da und sah Fer lange an. Schon schien er fern und unwirklich. Er hatte jenes wächserne Aussehen des Todes, das die Menschen mit Frieden verwechseln. Lissa sagte leise:
„Fer wusste immer, dass es so kommen würde."
„Ja", sagte Roger, „ich glaube auch, dass er es gewusst hat."
„Dewey sagt, als ihm die Jungs von der Arbeitsniederlegung erzählten und sagten, dass sie ihn mithaben wollten, da hat er sie ganz komisch angesehen."
„Er hat nicht gezögert", sagte Roger.
„Fer hat es gewusst. So oder so, es musste kommen. Er hat es immer gewusst. Er war halt so, er wusste, dass er gehen muss."
Roger überkam eine eigenartige Gewissheit, dass dem wirklich so war. Schon damals, als er aus dem Norden kam, hatte es Fer gewusst. Schon in den ersten Tagen des Streiks hatte es Fer gewusst und hatte, die Augen von seinem Schicksal abwendend, sehnsüchtig nach dem Norden geschaut. „Ich wollt, ich war im Norden. Ich wollt, ich wär im Norden, wo ich die Leute kenne", hatte er gesagt.
Roger konnte sich an die Sehnsucht in seiner Stimme erinnern. Doch hatte er nie daran gedacht, wirklich nach dem Norden zurückzukehren. Er war geduldig den langen Weg gegangen, der ihn hierher führte. „Wo ist Irma jetzt?" fragte Lissa. „Irma und Doris sind im Norden, sie sammeln Geld",
antwortete Roger. Es war sonderbar, dass Irma nicht hier war. Irma wäre ohne Zögern ins Feuer gegangen. Sie hätte sogar eine finstere Genugtuung dabei empfunden. Fer hatte keine Genugtuung gefühlt, nichts von Märtyrerglorie gespürt. Für ihn war das Getötetwerden ein Teil der Tagesarbeit. Man ließ sich eben töten, wenn es sein musste.
Roger stand neben Lissa. Die Werksiedlung zog ernst am Sarg vorbei, einer nach dem andern nahm Abschied von dem toten Burschen. Räder knarrten, Bremsen quietschten, die endlose Reihe der Freunde hatte Zuwachs bekommen. Jeder einzelne Bewohner der Werksiedlung war in dieser Nacht auf Totenwache, auf Totenbesuch.
XXVII. KAPITEL
Am Tage der Beerdigung sagten Augenzeugen vor dem Untersuchungsrichter über die Vorfälle aus, die sich bei der Schießerei zugetragen hatten. Das Gericht in Ost-Stonerton mit den beiden hohen Säulen und der hohen Treppenflucht war von Spinnereiarbeitern dicht besetzt, ein Saal voll von amerikanischen Arbeitern, die fast alle mit den Toten oder den tödlich Verwundeten im Krankenhaus blutsverwandt oder wenigstens befreundet waren.
Als Roger hineinging, traf er Del Evans und Dewey.
„Wir kommen aus dem Krankenhaus", sagten sie. „Cuthbert ist heute morgen gestorben."
„Jetzt ist es zu spät, um ihn noch mit den andern zu begraben. Es ist schade."
Roger war auch im Krankenhaus gewesen und war mit den Angehörigen Cuthberts zusammen eingelassen
worden. Cuthbert war nicht bei Bewusstsein. Er war ungewöhnlich schön, sein dunkles Haar war aus der Stirne gestrichen, auf Hals und Wange hatte er je eine kleine Warze. Er hatte immer zwölf Stunden täglich gearbeitet und darum auch dem Verband zwölf Stunden
am Tag gewidmet.
Frau Cuthbert saß neben ihm. Sie sah viel zu jung aus, um seine Mutter sein zu können. Sie saß da, gefasst, und wartete darauf, ihm irgendeinen Dienst erweisen zu können. Sie hielt sich den Schmerz so lange fern, solange er am Leben war. Sie selbst schien in große Ferne vom Leben gerückt. Die Intensität ihrer Ruhe hatte etwas Religiöses an sich, als hielte sie irgendeine übernatürliche Kraft' aufrecht. Jetzt war auch sein Leben ausgelöscht, der einzige Mann, auf den sich Frau Cuthbert stützen konnte, lag tot, erschossen.
Fünf Männer waren tot, einer lag im Sterben. Sheldon, der Untersuchungsrichter, ein Mann in mittleren Jahren, ziemlich elegant, mit schweren Lidern, stellte nachlässig Fragen. Ein rothaariger, feuerköpfiger Anwalt von kleinem Wuchs platzte mit Fragen heraus wie eine Knallbüchse. Die Anwälte der Werkdirektion waren fähig und schneidig. Rappalye, einer der schärfsten Kreuzverhörspezialisten des Nordkaroliner Justizbetriebs, ein schlanker, vornehmer Herr mit Hängeschnurrbart und fanatischen, tiefliegenden Augen, setzte den Zeugen unbarmherzig zu. Seine Fragen stachen zu wie Klingen. Otis Bingham sagte aus, er habe gesehen, wie der Sheriff und seine Leute hinter den fliehenden Streikenden herschossen, die, vom Tränengas geblendet, zu entkommen trachteten.
„Ich sah den Sheriff Isaac Cooney den Jolas mit der linken Hand festhalten und ihm seine Pistole in den Leib abschießen", bezeugte ein Streikender, namens
Russell. Es war das ein untersetzter, rötlich-blonder Mann mit breiten Schultern und lang herunterhängenden Armen. Er stand fest auf beiden Füßen und sah den Juristen mit klaren, blauen Augen an.
Das böswillige Kreuzverhör erschütterte ihn nicht in seiner Aussage. Flink wie eine Schlange versuchte Rappalye ihn durch seine Stimme, durch Hinweis auf Gerüchte, durch Unterstellungen zu unterminieren.
Noch nie hatte Roger einen so glänzenden und so unmenschlichen Versuch gesehen, die Rechtschaffenheit eines Menschen zu untergraben. Auf die Feststellung der Wahrheit kam es dabei überhaupt nicht an. Es war ein Versuch, den Zeugen einzuschüchtern und zu verwirren. Ein erfahrener und geübter Menschenschinder führte hier seine Kunst an einem ungelernten Fabrikarbeiter vor.
Die Vernehmung Russells war der Triumph des einfachen, nur mit der Wahrheit gewappneten Mannes. Mit sicherem Fuß schritt er über alle Fußangeln und Fallen, die man ihm stellte. Immer wieder sprach er die Wahrheit aus, so wie er sie gesehen hatte.
„Hat nicht Minish den Jolas erschossen und haben nicht Sie den dabei benützten Revolver aufgehoben?"
„Nein, Herr! Cooney hat Jolas getötet! Ich stand vielleicht zwei Meter weg. Es war so."
Inmitten einer lautlosen Stille zeigte Russell mit dem Finger auf die Beamten, die auf die unbewaffnete Menge geschossen hatten. Die Leute im Gerichtssaal reckten die Hälse, um besser zu sehen.
„Cooney hat geschossen. Ich hab's gesehen. Die Streikenden haben keinen einzigen Schuss abgegeben. Wie Cooney den Jolas losließ, fiel er hin. Dann hat der Sheriff angefangen, auf die Streikenden zu schießen. Die rannten alle weg."
Die Arbeiter im Saal begannen zu flüstern. „Na ja, wir hatten ja keine Schießeisen! Wir haben von Anfang an niemals Schießeisen zum Streikpostenstehen mitgenommen."
Es wurde festgestellt, dass die Streikenden keinerlei Waffen bei sich geführt hatten, als die Schießerei ausbrach. Walter Minish bezeugte als nächster, dass der Sheriff Victor Jolas festgehalten und erschossen hatte. Minish war ein langer Kerl, mit grob behauenen Gesichtszügen. Er stand auf, zeigte mit dem Finger auf den Sheriff und rief mit tiefer Überzeugung:
„Das ist der Mann, der unsere Leute erschossen hat!" Während der Zeugenaussagen lehnte der Sheriff bequem in seinem Stuhl zurück. Er war ein großer, starker Mensch mit rotem Gesicht und schwerem Unterkiefer. Neben ihm saßen noch einige verhaftete Polizeibeamte, Wally Stoop und Abe Bland. Der Sheriff sprach von Zeit zu Zeit mit ihnen, lächelte und legte dabei seine große dicke Hand vor den dicklippigen Mund. Dann lehnte er sich wieder zurück, machte sichs unbekümmert bequem. Sein Betragen drückte aus, dass ja einem Hüter der Ordnung, der seine Pflicht so tapfer getan hatte, doch nichts passieren könne. Was er sich schon aus der ganzen Sache mache! Einem Sheriff geschehe ja doch nichts. Ihm auch nicht.
Bei der Gerichtsverhandlung wurde er freigesprochen, mit der richterlichen Begründung, als Hüter des Gesetzes habe er das Recht gehabt, zu jeder zur Aufrechterhaltung der Ordnung ihm nötig erscheinenden Gewaltanwendung zu schreiten.
Als Lonny Cones als Zeuge, allen giftigen Verwirrungsmanövern zum Trotz, bekundete, dass er den Sheriff rufen gehört hatte: ,Schießt sie nieder, Jungs!', da lächelte der Sheriff Isaac Cooney. War es ein Gefühl
der Sicherheit, fragte sich Roger, oder Stumpfsinn, oder Prahlerei?
Alle Führer der Streikenden waren wegen Aufruhr und Revolution gegen den Staat Nordcarolina' verhaftet worden, darunter Dewey Brison, Del Evans, alle Trents, alle Cuthberts, alle Cathcarts. Sie wurden dann gegen Sicherheitsleistung auf freien Fuß gesetzt.
Die Vernehmungen wurden pausenlos fortgesetzt. Sie wurden fortgesetzt während des Begräbnistages und darüber hinaus noch mehrere Tage. Das Beweismaterial häufte sich. Der Vormittag des Sonnabends war ganz ausgefüllt von der ruhigen selbstsicheren Aussage Ned Stolls. Die Verteidiger des Sheriffs und seiner Getreuen hellten ihn an, versuchten ihn einzuschüchtern, zu verwirren. Es gelang nicht. Ruhig, sicher, ohne Pose erzählte er, was er gesehen hatte. Er hatte Cooney und seine Leute am Fabriktor stehen gesehen. Er sah den Sheriff eine Tränengasbombe werfen. Das war das Zeichen zu den Zusammenstößen. Bis dahin war alles ruhig gewesen. Sam Evans hatte gesagt:
„Sheriff, wirf mir das Zeug nicht in die Augen!" Jolas hob den Arm mit dem Stock —, den er wegen seines Rheumatismus immer bei sich trug —, um seine Augen zu schützen. Der Sheriff nahm Jolas am Kragen, und einer seiner Leute, Wally Stoop, spritzte Jolas das Tränengas in die Augen.
An diesem Sonnabend waren schon von überall her Berichterstatter und Pressephotographen eingetroffen. Das lange Kreuzverhör war ermüdend, die Bedrängung der Zeugen durch die mit allen Hunden gehetzten Anwälte war kaum mehr zu ertragen.
Ed Hoskins und Roger gingen mit einem Journalisten in den Wandelgang hinaus. Hinter dem Gerichtssaal führte ein Hinterausgang ins Freie, so dass sie sich nicht durch die Menschenmenge zu drängen brauchten. „Glauben Sie, dass sie diese Kerle frei ausgehen lassen?" fragte Fallowes, der Journalist. „Nachdem sie doch die andern zu zwanzig Jahren verknallt haben?" „Selbstverständlich lässt man sie frei ausgehen. Kein Sheriff wird in dieser Sache verurteilt werden."
Seltsamerweise lagen für die Erschießung Fer Deanes keine Zeugenaussagen vor. Er hatte in einiger Entfernung vom Sheriff und seinen Leuten ein wenig abseits gestanden. Lissa war nicht weit ab. Das Tränengas war überall und Fer sagte:
„Mir scheint, ich bin getroffen." Dann fiel er ganz
still hin.
Dewey hielt ihm den Kopf und versuchte, ihn aufzuheben, aber er war schon tot. Ob der Schuss ein zufälliger gewesen wie die andern Schüsse, die so viele verwundet hatten, oder ob jemand absichtlich auf Fer gezielt hatte, konnte nicht festgestellt werden. Fer hatte außerhalb des Geplänkels gestanden, das Victor Jolas und Evans das Leben kostete.
Ein kleiner, geckenhaft gekleideter Mann stand da und wischte sich den Schweiß von der Glatze. Sein Gesicht war fast purpurfarben. Eine Uhrkette umspannte seinen runden Bauch. Er hatte winzige, wunderschön beschuhte Füße, verhältnismäßig breite Schultern und einen großen Kopf. Eine lächerliche, wichtigtuende kleine Gestalt. Er trat an den Journalisten heran.
„Sie sind Herr Fallowes", sagte er. „Sie sind aus dem Norden. Ich denke, Sie werden bestimmt beide Parteien
in dieser Sache anhören wollen. Ich bin Schenk. Ich kann Ihnen einwandfrei nachweisen, dass diese Leute sich alles selbst zuzuschreiben haben. Ich weiß, Sie wollen beide Parteien anhören. Ich weiß, Sie wollen fair sein. Sind Sie fair, so müssen Sie den Rädelsführern die Schuld geben. Dieser Duncan hat schon vor zwei Wochen den Zeitungen ein Interview gegeben und gesagt, es würde Zusammenstöße geben. Es ist sogar versucht worden, mein Herr, mich dazu zu zwingen, gewisse Leute wieder einzustellen, die den ganzen Betrieb zersetzten, die Hetzer und Unruhestifter waren." „Mit dem Verband haben Sie nicht verhandelt, Herr Schenk, nicht wahr?"
„Ein Verband existiert ja gar nicht!" rief der. „Es gibt überhaupt keinen Verband hier. Nur ein Haufen Anarchisten und Hetzer, die die Leute an der Nase herumführen. Die Basil-Schenk-Manufaktur hat überhaupt erst den Wohlstand dieser Stadt begründet! Wir haben vor zwölf Jahren den Betrieb vergrößert und umorganisiert, haben noch einmal soviel Arbeiter eingestellt als früher und haben die Herstellung von Autobezugstoffen aufgenommen. Nie hätten wir Schwierigkeiten zu haben brauchen. Und jetzt das! Sind Sie fair, dann werden Sie verstehen, dass die Leute nur selbst an allem Schuld tragen. Sie können gehen, wohin Sie wollen, Sie werden finden, dass sich die Basil-Schenk-A.-G. hinsichtlich der Arbeitslöhne und der Arbeitsbedingungen mit jedem andern Betrieb getrost messen kann. Die Arbeiter brauchten ja nicht hier zu arbeiten, wenn dem nicht so wäre. Das leuchtet ohne weiteres ein. Alles ging gut, bis dieser überführte und verurteilte Mörder Deane aus dem Zuchthaus herauskam." Die Purpurfarbe seines Gesichts wurde immer dunkler, und er wischte sich unaufhörlich den Schweiß ab. Seine Hände zitter-
ten, aber er stand auf seine kleinen Füße hingepflanzt da und baute um sich herum eine unwiderlegbare Verteidigung auf.
Es war ihm ganz klar, warum fünf Männer tot und einer im Sterben lagen, und warum es so viele Verwundete gab.
„Der Sheriff und seine Leute haben nur ihre Pflicht getan", wiederholte er fortwährend. „Wollen Sie fair sein, wollen Sie fair sein, werden Sie das begreifen. Ich möchte es mit Ihnen in aller Muße bereden. Ich möchte Ihnen von den Dingen erzählen, die skrupellose Außenseiter in dieser Stadt angestellt haben."
Er hatte kein Wort des Bedauerns über den Tod der Männer oder über das Schicksal ihrer Familien gesagt.
Er sah nur eins.
„Der da ist das Sprachrohr aller wohlhabenden Leute in Stonerton", sagte Hoskins. „Im Villenviertel glaubt jeder, was Basil Schenk sagt. Sie mögen sagen, dass sie den Tod dieser Ermordeten bedauern, aber sie stehen alle solidarisch hinter Schenk; alle Kaufleute, alle Geschäftsleute, alle Leute, die diesseits der Werksiedlung wohnen, und alle ihre Freunde. Die öffentliche Meinung, die etwas zu sagen hat, die öffentliche Meinung, die das Geld hat, die die Zeitungen, die Schulen, die Wirtschaft beherrscht, wird ganz genau das glauben, was Basil Schenk glaubt: ,Die Arbeiter haben alles nur sich selbst zuzuschreiben'."
XXVIII. KAPITEL
Die grauen Särge der Ermordeten standen aneinandergereiht, von Herbstblumen, weißen und roten Dahlien bedeckt. Die Kränze hatten die Spender selbst gemacht, die Blumen in ihren herbstlichen Gärten selbst
gepflückt. Wer keinen Garten hatte, machte einen Kranz aus Papierblumen.
Die Reihe des Todes war lang. Da lag Ferdinand Deane, der als Knabe in den Spinnereien gearbeitet hatte, früh in den Verband eingetreten war, an die Solidarität geglaubt und versucht hatte, die Arbeiter der Textilindustrien zu Gewerkschaftsverbänden zu organisieren. Er war neunundzwanzig Jahre alt geworden. Das war seine Lebensgeschichte.
Der nächste: Victor Jolas, siebenundsechzig Jahre alt. Er hatte sechzig Jahre in der Spinnerei gearbeitet. Er hatte das Kommen des großen Aufschwungs in Piedmont erlebt. Er hatte eine Familie großgezogen, sie teils sterben, teils sich in alle Winder zerstreuen gesehen. Sein Anteil an der Prosperität war der Tod gewesen.
Dann war Sam Evans da, mit sechsundfünfzig Jahren ein Greis. Seine Lebensgeschichte glich der von Jolas. Er war glücklicher gewesen, hatte starke Söhne um sich her.
Der junge Trent, dreiundzwanzig Jahre alt, jung verheiratet, schön, heiter, voller Hoffnung und Glück am Anfang seiner Laufbahn stehend. Er hatte vorerst alles; Jugend, Frohsinn, Liebe.
Vier offene Särge standen aneinandergereiht. Alle waren sie grau und alle mit Blumen und Kränzen bedeckt. Oben im Krankenhaus lag noch der tote Cuthbert; Cuthbert, der achtzehn Jahre alt war. Das war der Preis, der für die Organisation bezahlt werden musste, das Ende des langen Kampfes. Man wurde von der Hand des Gesetzes durch Erschießung vom Leben zum Tode gebracht.
Die offenen Särge standen vor der Rednertribüne auf dem Gelände der zweiten Zeltkolonie, wo die Arbeiter bei ihren Versammlungen und beim Volksfest ihren Rednern gelauscht hatten. Auch heute sollte eine Versammlung stattfinden. Auf der Rednertribüne stand ,Textilarbeiterverband von Amerika' mit hohen, roten Buchstaben angemalt. Dann waren noch Fahnen der Gewerkschaft da. Keine amerikanische Nationalflagge. Bei den früheren Versammlungen war immer eine amerikanische Flagge mit dabei gewesen.
Randolph Gaylord, der aus dem Norden zum Begräbnis gekommen war, hatte gesagt: „Wozu zum Teufel brauchen wir hier eine amerikanische Flagge?" Das war bei einer Zusammenkunft in Jim Trents Haus, wo ein halbes Dutzend Verbandsfunktionäre die Einzelheiten der Beerdigung besprachen.
„Nein", sagte Del Evans, „ich denke, wir kommen diesmal ohne amerikanische Flagge aus."
Die andern hatten stumm dazu genickt. Die amerikanische Flagge schien den Streikenden ein Hohn, wo doch alle zum Betrieb führenden Straßen von Militär besetzt waren. Wo doch ihre Freunde und Angehörigen tot dalagen, vom Sheriff in den Rücken geschossen, vom Sheriff, der das Gesetz repräsentierte und den sie selbst für sein Amt mit gewählt hatten.
Vor der Rednertribüne, hinter den Särgen, stieg der Hügel sanft bergan, von Kiefern beschattet. Eine natürliche Bühne, ein natürliches Amphitheater war hier geschaffen. Eine rote Straße führte unweit unter der Rednertribüne am Gelände vorbei. Sonst ein stiller, verlassener Ort, war die Straße jetzt verstopft von Autos und Lastwagen, die von nah und fern Leute zum Begräbnis gebracht hatten. Stand man am Abhang mit dem
Gesicht zur Rednertribüne, sah man die Berge in nicht: zu großer Ferne.
Hinter den blumenüberhäuften Särgen saß auf Stühlen eine Reihe von fünfzig Menschen: Männer, Frauen und Kinder. Sie waren alle in tiefes Schwarz gekleidet. Ein breiter, schwarzer Trauerrand hinter den Särgen. Das waren die Angehörigen der Ermordeten, ihre Schwestern, Mütter, Frauen und Verwandte. Sie saßen da, manche trockenen Auges, viele weinend. Am schattigen Abhang standen über tausend Menschen, ein Auditorium abgearbeiteter Gesichter. Sie kamen, mit ihrem ärmlichen Sonntagsstaat angetan. Ruhig standen sie da, als wollten sie sich photographieren lassen, diese ,fügsamen, hundertprozentig amerikanischen' Arbeiter. Sie büßten jetzt dafür, dass sie es gewagt hatten, gegen die ,Streckung' zu rebellieren, gegen den zwölfeindrittelstündigen Arbeitstag und den durchschnittlichen Wochenlohn von zwölf Dollar.
Da lagen ihre Toten in einer langen Reihe als Warnung für die andern, als ein Wahrzeichen dessen, was amerikanischen Arbeitern widerfährt, wenn sie aufhörten, ,loyal und fügsam' zu sein.
Die Blumenmädchen umringten die Särge, brachten Kränze. Sie hatten weiße Baumwollkleider mit breiten baumwollenen Armbinden an, auf denen in roten Lettern ,Ordner' stand. Sie sammelten eich vor der Tribüne, und ihre durchdringenden und doch unsicheren, dünnen Stimmen erhoben sich im Lied ,Näher, mein Gott, zu Dir!' Von der Reihe schwarzgekleideter, trauernder Frauen kam der leise, feine Laut verhaltenen Weinens und der schrille Klagelaut der Trauer. Sie waren lange still gewesen. Das stille Weinen wurde unbeherrschter, das hohe Klagen lauter. Die ganze Zuhörerschaft schaukelte im Takt. Ein fürchterlicher Protestlaut des Schmerzes hallte vom stillen Berghang wider. Einen Augenblick vermischte sich der dünne Faden des Gesangs mit dem Weinen der Männer und Frauen.
Duncan gab von der Rednertribüne aus ein Zeichen. Die Mädchen hörten mit dem Gesang auf. Kummer fegte wie ein Wind durch die Anwesenden. Dann wurden die Trauernden ruhiger. Die Mädchen stimmten eines der Lieder von Mamie Lewes an. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder in der Gewalt hatten. Aber die schwarze Reihe war nie ganz still. Man sah Frau Evans, von Tränen geblendet, vom Schluchzen geschüttelt, unbeherrscht. Binney saß da, ihr kleines, spitzes Gesicht war bleich, ihre Augen zeigten tiefe Schatten und schienen ganz groß. Der Schlaf hatte sie nicht erquickt. Ihre Augen blickten erschrocken, als sähen sie irgend etwas Grauenhaftes, das sie nicht glauben konnten. Auch die junge Lucy Trent weinte, es war der hohe Klagelaut, der rituelle Schmerzensruf der einfachen Leute vor dem Angesicht des Todes.
Es war ein seltsames Begräbnis, mehr eine Demonstration als eine Trauerfeier. Es sprachen mehrere Prediger und viele Leute vom Verband.
Trauerreden. Bruder Williams, der bärtige Wanderprediger der Berge, Verbandsfunktionäre aus dem Norden und aus Stonerton, mit den Arbeitern sympathisierende Geistliche aus dem Norden —, alle sprachen von derselben Plattform.
Nur ein einziger Prediger vom Ort war da. Seine winzige Kirche stand in Ost-Stonerton, aber nicht auf werkeigenem Grund und Boden. Auch wurde sie ohne finanzielle Hilfe der Unternehmer von den eigenen Pfarrkindern ärmlich erhalten. Das war der einzige
Geistliche des Südens, der auf der Rednertribüne stand. Er war gekommen, die Toten zu bestatten.
Es war ein seltsames Begräbnis. Die Worte der Redner waren für diese Zuhörerschaft keine leeren Worte mehr. Es war, als hätten Schmerz und Entsetzen das Bewusstsein dieser Zuhörerschaft bloßgelegt. Jedes ausgesprochene Wort fand Widerhall bei den Zuhörern, als antworteten sie stillschweigend mit dem Versprechen: ,Diese Männer sollen nicht vergeblich gestorben sein!' Das war das Leitmotiv aller Ansprachen. Was konnten sie denn sonst auch sagen? Diese Männer waren genau so für die Organisierung der Arbeiter gestorben, wie Männer auf dem Schlachtfeld ihr Leben für ihr Vaterland lassen. In diesem Augenblick war der Verband das Vaterland aller dieser hier versammelten Menschen. Ein anderes Vaterland hatten sie nicht.
Es war, als hätten die Pistolenkugeln ein Loch in das Bewusstsein dieser Menschen geschossen. Dieses Begräbnis auf einem entlegenen Berghang Nordcarolinas war nicht isoliert. Es war, als seien alle Textilarbeiter Piedmonts und des ganzen Südens mit dabei. Gab es denn an diesem Tag im ganzen Süden einen einzigen Textilarbeiter, der nicht von diesen Toten sprach? Wo waren die Leute, die heute nicht mittrauerten um ihre ermordeten Brüder?
Diese Menschen hörten nicht oberflächlich zu, sondern mit einer unheimlichen Intensität, als wären sie selbst, die Redner, die Toten und der Verband ein und dasselbe. Sie waren in einer Gemütsbewegung, die sie aus sich selbst hinausschwemmte, hinaus in die Welt aller Arbeiter, die, gleich ihnen, für ihre Befreiung kämpften. Roger schien es, als wäre neben dieser Zuhörerschaft,
die er sah, noch eine andere hier zugegen, ein unsichtbares Heer der Arbeiter Amerikas, die heute an diese Ermordeten dachten, und der Arbeiter anderer Länder, die auch gelitten und auch ihre Toten vor sich liegen gesehen hatten —, eine mächtige Armee.
Etwas Seltsames geschah hier auf diesem Berghang. Unausgesprochene Versprechen wurden an diesen offenen Särgen gegeben, für die Toten einen Verband aufzubauen, und unausgesprochene Gelöbnisse, sie nie zu vergessen — unausgesprochene Versprechen der Rache. Diese von den Schlotbaronen durch die Hand der Hüter des Gesetzes Ermordeten würden die Fabrikarbeiter des Südens nie vergessen. Nur eine siegreiche Organisation, ein Verband war das ihrer würdige Denkmal, das ihnen gesetzt werden sollte.
Bruder Williams betete. Er kniete auf der Rednertribüne nieder, streckte die Arme aus wie am Kreuz, schloss die Augen ganz fest und hob das Gesicht gegen den Himmel.
Die Spannung wuchs zusehends. Roger fasste den phantastischen Gedanken, dass hier ein Sakrament der Rache empfangen wurde, nicht jener Rache der Kugel für die Kugel, sondern des Rechts und der Menschenwürde gegen die erdrückende Macht des Geldes.
„Oh", sagte Prediger Williams, „unsere Toten liegen hier vor uns. Oh, Herr, sieh herab auf diese unsere ermordeten Brüder." Seine Stimme hob und senkte sich. Es war ganz gleich, was er sagte. Er redete jetzt die Sprache ihrer Gefühle, er entfesselte die Erregung, die sich in der Zuhörerschaft aufgespeichert hatte.
Sie antworteten ihm: „Ja, Bruder". „Wahr Bruder", und die Frauen und Männer beugten wieder ihre Köpfe
in Weinen. Kummer fuhr durch die Anwesenden, wie ein starker Wind.
Jetzt kam Bewegung in die Menge. Eine schmale Gasse öffnete sich, und eine Frau und noch eine Frau in Schwarz kamen langsam heran, auf den Arm einer Freundin gestützt. Die Frau bewegte sich wie ein Mensch, der kaum imstande ist, sich auf den Beinen zu halten, wie ein Nachtwandler, als wäre sie von Unwirklichem umgeben.
Es war die Mutter Cuthberts. Er war ganz früh am Morgen gestorben, und sie war jetzt hier, als begrüben sie auch ihn im Geiste gemeinsam mit seinen Genossen. Man brachte ihr einen Stuhl, sie sank langsam darauf nieder und sah starr vor sich hin wie Binney, als staune sie über den Anblick. Ihr Kommen verschärfte und konzentrierte den Schmerz der andern, die erschüttert neben ihren Toten standen.
Die Reden waren vorbei. Die Mädchen mit den Armbinden sammelten sich vor der Rednertribüne, um zu singen. Die Zuhörerschaft stimmte mit ein. Sie sangen lange. Dann war auch der Gesang vorüber. Die ganze Gesellschaft von tausend Personen zog langsam einzeln an den Toten vorbei. Jeder Mann und jede Frau und jedes Kind sah ihren vier ermordeten Arbeitsgenossen ins Gesicht. Aus der Mitte der Versammelten begann ein langsames Sickern. Die anderen warteten still, bis die Reihe an sie kam. Langsam, ohne Ende, defilierten sie an den Toten vorbei. Kein Laut war zu hören, als sie langsam, ganz langsam vorbeizogen und jeder jedem der vier Toten ins Gesicht sah.
Es war totenstill, als Binney an den Särgen vorüberging-
Sie hielt vor jedem Sarg an und berührte leicht die Stirn der Toten. Sie beugte sich zu ihrem Vater nieder und küsste ihn. Still, gesammelt, noch immer wie eine Nachtwandlerin ging sie weiter.
Aber Lucy Trent verlor völlig die Herrschaft über sich. Sie hatte zwei Tage lang neben ihrem sterbenden Mann gesessen, ohne eine Träne zu vergießen. Jetzt weinte sie vor der versammelten Arbeiterschaft der Werksiedlung ihren Schmerz laut hinaus, und alle weinten mit ihr. Endlich gingen die Leute in kleinen Gruppen langsam fort.
„Das ist noch nicht das Ende von dieser Sache", sagten Männer ernst zueinander.
Die roten Löcher in der Erde waren aufgefüllt. Hügel roter Erde wurden über die Toten aufgehäuft. Schwarzgekleidete Menschen standen um die Gräber herum. Sie weinten, als über jedem Toten einzeln nacheinander die Abschiedsworte gesprochen wurden. Der Friedhof in Ost-Stonerton war voll, fast die ganze Versammlung war da.
Dann war alles vorüber.
Fer war nicht mit den andern bestattet worden. Sein alter Vater war zur Trauerfeier aus dem Norden gekommen. Fer sollte auf einem Friedhof Neu-Englands bei den Leuten begraben sein, unter denen er aufgewachsen war. Fers Vater wohnte bei den Thorns und behandelte Lissa, als wär sie seine Tochter. Sie hatten einander gern.
Roger, Del Evans und Dewey Brison gingen schweigend zusammen fort. Dann sagte Dewey:
„Ich wollte, Fer wäre hier bei uns geblieben, anstatt dort im Norden begraben zu sein. Er war ein großer
Mann. Wir Textilarbeiter des Südens sollten ihm ein
großes Denkmal errichten."
Del Evans sagte: „Ja, er war ein großer Mann."
Sie waren Fers Leibwächter gewesen in der ersten
Zeit und hatten Nacht für Nacht mit ihm im selben
Zimmer geschlafen, um ihn zu beschützen.
Schon hatte der riesige Bogen der Ereignisse Ferdinand Deane auf das Piedestal eines großen Helden gehoben. Aber er war kein Held gewesen. Roger und Del Evans und Dewey Brison wussten, dass Fer, der für den Verband gelebt und gekämpft hatte und für den Verband getötet worden war, ein ihnen selbst sehr ähnlicher junger Bursche gewesen war. Jetzt, dachte Roger, war Fer schon eine Legende. Sein lebendes Andenken war schon im Erlöschen.
Er war noch nicht unter der Erde, und schon war der lebende, atmende Fer mit seinen Fehlern, seinen Unsicherheiten und seiner Güte vergessen. Er war schon ein großer Mann, ein Held. Nicht einmal in Irmas Gedanken würde er wirklich bleiben. Nicht einmal in Rogers Gedanken. Sie würden von ihm reden und ihn idealisieren und daher auslöschen und an seine Stelle einen unwirklichen Helden setzen, einen Inbegriff aller Tugenden, die Fer nicht besessen hatte.
Rogers Herz krampfte sich in plötzlichem Schmerz zusammen. Was hatte das alles für einen Sinn? Hatte es einen Zweck, dass Menschen kämpften, hatte es einen Zweck, gegen die ungeheure Maschine des Reichtums anzurennen?
Sieben Leben geopfert, vielleicht noch mehr. Frauen und Kinder aus ihren Heimen gejagt. Was hatte es genützt? Diese Leute, die gekämpft hatten, hatten sie etwas gewonnen?
Die Werkdirektion ließ anschlagen, dass der Arbeitstag ein wenig gekürzt, der Lohn um ein Weniges erhöht worden sei. Wog das all diesen Schmerz, all diesen Kummer, all diese Anstrengungen auf, an dessen Ende
der Tod stand?
Dewey sagte: „Also von jetzt ab bauen wir den
Textilarbeiterverband auf."
„Ja", sagte Del, „wir wollen Solidarität in den ganzen Süden bringen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen den Verband machen."
„Ja, damit sie alle, und auch Mamie Lewes, nicht umsonst gestorben sind. Wir müssen weitermachen."
„Ja", dachte Roger. „Das ist die Antwort: wir müssen weitermachen. Wir können nicht umhin. Diese Burschen sind ein Tröpflein im fließenden Strom der Arbeiter, Sie haben keine Wahl. Sie müssen weitermachen."
Aber auch er, Roger, musste weitermachen. Er hatte die eigene Klasse verlassen — zu der Klasse der Arbeiter würde er niemals gehören. Er war jetzt ohne Vaterland, und doch wusste er, dass er mit den Arbeitern gehen musste, wohin sie auch gingen, welchem Ziel sie auch zustrebten. |
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