ERSTER TEIL
I. KAPITEL
In Stonerton war Streik. Die Belegschaft der Basil-Schenk-Manufaktur hatte die Arbeit niedergelegt.
Dieser Streik gehörte zu jenen Kampfausbrüchen in der Textilindustrie, die im Frühjahr 1929 den Süden so überrascht und den Norden erfreut hatten. Der Norden freute sich, denn Piedmont, das hochgelegene Roterdengebiet in Nord- und Südcarolina, hatte in letzter Zeit die Vorherrschaft des Nordens in der Textilindustrie stark gefährdet. Von Seiten der Unternehmer setzte ein ,Zug nach dem Süden' ein, weil es im Süden angeblich keine Arbeitskämpfe und ein nie versiegendes Angebot hundertprozentig loyaler, fügsamer amerikanischer Arbeitskräfte' geben sollte.
Und nun streikten unter dem Druck des Antreibersystems — ,Streckung' nannte man das im Süden — auch diese ,fügsamen' Arbeiter. Kaum war ein Streik abgewürgt oder beigelegt, brach schon an anderer Stelle der nächste aus.
Die Streikenden waren nahezu führerlos. Sie hatten auch keine Organisation. Dafür aber hatten sie allzu lange für allzu geringen Lohn allzu viel arbeiten müssen. Es war eben das, was man hier so selten sieht, eine spontane Erhebung des Volkes'.
Auf Abenteuer bedacht, verschaffte sich Roger Hewlett den Auftrag, eine Artikelserie über den Textilstreik
von Stonerton zu schreiben. Der Streik dauerte schon zwei Wochen und hatte von Anfang an die Zeitungen beschäftigt. Es gab dramatische Aufmärsche und viele Verhaftungen. Den Streikenden war Gewalt, der Streikleitung Lynchjustiz angedroht worden. Straßenmob rottete sich gegen die Streikenden zusammen, angeblich von prominenten Bürgern der Stadt aufgehetzt.
Schließlich wurde eines Tages der Streikleiter Ferdinand Deane gewaltsam entführt und über die Grenze des Staates verschleppt.
Er kehrte sofort wieder zurück.
Roger Hewlett, der auch früher schon über Arbeitskämpfe berichtet hatte, eilte nach Stonerton, um zur Demonstration zurechtzukommen, die die Streikenden aus Anlass der Rückkehr Deanes veranstalteten und bei der man Zusammenstöße erwartete.
Hewlett gab seine Reisetasche im Hotel ab und fuhr zur Werksiedlung, eine Entfernung von ungefähr einer Meile. Anfangs hatten alle Häuser kleine Vorgärten; aber als die Taxe beim Streiklokal angelangt war, standen an beiden Seiten der Straßen hölzerne Baracken und elende Rohziegelläden, die laut verkündeten, dass die Leute hier nur wenig kaufen konnten. Die riesige stumme Fabrik überragte die ganze Siedlung. Rund herum lagen die Werkwohnungen, unordentlich bergauf und bergab verstreut, kahle Holzbaracken, die auf gemauerten Stelzen im roten Lehm standen. Die kleinen Häuser sahen aus wie Küken neben einer riesigen Henne, als hätte sie die Fabrik aus viereckigen hölzernen Eiern ausgebrütet. Na, eigentlich hatte sie das ja auch, überlegte Roger.
Er fand den Sitz der Streikleitung in einem düsteren Laden. Die Fenster waren bei irgendeinem Zusammenstoß eingeschlagen worden, und jetzt hatte man sie mit
Brettern vernagelt. Im Lokal lasen hagere Männer in Zeitungen. Als Roger sagte, er sei Zeitungsberichterstatter, sahen sie ihn misstrauisch und ohne Wohlwollen an. Böse Erfahrungen lehrten sie diese Haltung. Die Zeitungen des Ortes hatten den Verband angegriffen. Als Roger nach Ferdinand Deane fragte, sagte einer von den Männern kurz:
„Fer spricht gerade." Das war ein junger Mann mit eingefallenen Wangen und tiefliegenden Augen. Er sah aus wie ein ernster Jagdhund. Man erwartete fast, lange Ohren an beiden Seiten seines Gesichts baumeln zu sehen. Er rief:
„Henry Tetherow!"
Ein rothaariger Bursche tauchte wie ein Springteufel hinter dem Ladentisch auf. „Hier, führ den da zur Versammlung", befahl der andere und zeigte mit dem Daumen zu Roger.
Sie gingen durch Hintergassen, über Eisenbahngeleise.
Eine große Menschenmenge war dort auf einem öden, mit Müll und leeren Konservenbüchsen übersäten Feld versammelt. Roger und sein Führer standen auf dem Eisenbahndamm. Der Bursche sah auf den Redner hinunter, dessen Stimme zu ihnen herüberdrang —, eine tragende Stimme.
„Das ist Fer!" sagte der Bursche, ohne sich zu Roger zu wenden, die Augen auf den Mann geheftet, der da unten sprach. Die drei Worte, die er hinwarf: ,Das ist Fer!' zeigten Roger das Maß seiner Verehrung. Er hätte die Worte ,Das ist Gott!' nicht mit einer ernsteren Schlichtheit der Anbetung aussprechen können. Die Menge war ganz still. An den Rändern der Masse gab es keine Bewegung, kein Kommen und Gehen. Die Streikenden standen regungslos da und tranken jedes Wort Fers. Roger überkam das seltsame Gefühl, Zeuge eines wichtigen Ereignisses zu sein.
Der junge Tetherow und Roger kletterten den Dammabhang hinunter. Die Stimme Fers schien ihnen beim Näher kommen kaum lauter zu werden. Er sprach ohne irgendwelche Rednertricks, in einfachem Gesprächston, Er war mittelgroß, breitschultrig, und über seine Stirn fiel eine schwarze Haarlocke, die er ständig durch eine Kopfbewegung hochwarf wie ein feuriges Tier, das die Mähne aus den Augen zurückwirft. Sein dunkles Haar blitzte in der Sonne mit rötlichen Lichtern und ein Gesprenkel von Sommersprossen lag über seinem Gesicht, obwohl es von der Sonne dunkelbraun gebrannt war. Seine Züge waren schmal, adlerförmig —, vom Typ der dunklen Irländer. Er erzählte gerade eine Geschichte vom Sheriff Dick Humphries.
„Und Mumphries sagte... " Die Art, wie er den Namen des Sheriffs ins Komische verdrehte, ergab ein Bild des ganzen Mannes, — so ein mummliger Kerl, mit Hängebacken. Die Zuhörer brüllten und schüttelten sich vor Lachen. Jetzt, da er sie in gute Laune versetzt hatte, sprach Fer mit hastigem Ernst zu ihnen; immer in dem gleichen Gesprächston, der nichts von Rednermätzchen enthielt und doch außerordentlich durchdringend war.
„Ich will jetzt meine Predigt schließen", sagte er. „Es ist immer dieselbe alte Predigt. Dass ich keine Gewalttätigkeiten haben will. Sollen die andern zuerst mit der Gewalt anfangen, nicht wir. Ihr sollt allemal die Ruhe behalten. Ich sag euch das privat und sag euch dasselbe von der Tribüne aus." Und er hielt ihnen einen Vortrag darüber, wie töricht es sei, von Schießeisen zu reden.
Ich weiß, dass es für euch, Leute aus den Bergen, ganz natürlich ist, nach dem Schießeisen zu langen, aber wir sind hier in keinem Krieg und keiner Blutfehde, wir sind in einem Streik." Er schilderte, wie es ihnen und ihm selbst ergehen würde, wenn es zu Schießereien käme, und schloss seine Rede auf eine so ernste und doch so gewinnende Art, dass sich Roger einer starken Sympathie für Fer gewahr wurde. Er war ein Menschenfänger, ein großer Könner.
Andere Redner folgten Fer. Die Menge wurde unruhig. Neben Roger stand eine kleine Frau mit lockigem Haar, ärmlich gekleidet, aber von aufgeweckter, fröhlicher, lebendiger Art. Sie sah so erwartungsvoll drein, als ob sie nur darauf brannte, dass etwas Interessantes geschehe. Sie erkannte in Roger den Fremden, blickte ihn ein-, zweimal an und sah dann verlegen wieder weg.
„Sind Sie auch im Verband?" fragte er. Sie schüttelte den Kopf mit einer schnellen, anmutigen Bewegung.
„Nein", sagte sie. „Nein, ich bin noch nicht eingetreten, aber es kommt noch. Wo ich wohne, drüben in Tesner, vielleicht acht Meilen von hier, da hat man ihn eben erst organisiert. Herr Woods hat ihn organisiert."
Der Mann, den Roger im Halbdunkel des Streiklokals gesehen hatte, sagte:
„Nanu, Mamie Lewes, bist du noch nicht drin?" Er war groß, mit tiefliegenden, fanatischen Augen. Sein Gesicht war rot und sein dunkles Haar starrte steif in die Höhe. Eine wilde, treibende Kraft war in ihm.
„Nein, ich bin immer nicht dazu gekommen, Wes", antwortete sie.
„Aber den Streik machst du mit, nicht? Drüben in Tesner ist Streik, im Werk Nummer zwei, wo du bist.
Du wirst doch nicht Streikbrecher werden, Mamie Lewes?"
Sie lachte.
„Nein, Streikbrecher werde ich nicht, natürlich nicht. Du brauchst nicht so über mich herzufallen. Aber wo nimmt man die Zeit her, um nach dem Verbandsbüro zu gehen? Daran hat’s bei mir gelegen. Ich musste doch den Kindern die Kleidung in Ordnung bringen. Wenn ich arbeiten gehe, komm ich überhaupt nicht dazu, da kann ich machen, was ich will."
„Wie viel Kinder haben Sie?" fragte Roger.
„Jetzt vier. Und es ist mächtig schwer, ganz allein für sie zu sorgen, wo ich nur acht Dollar vierzig die Woche kriege. Ich gebe mir alle Mühe, aber der Lohn wird nicht mehr."
„Ich verstehe nicht, wie Sie auskommen können", sagte Roger und seine Stimme klang schal und unzureichend.
„Kann ich ja auch nicht", sagte Mamie Lewes mit einem Zittern des Unmuts in der Stimme und warf den Kopf zurück. „Ich kann es mir nicht einmal leisten, in der Werksiedlung zu wohnen! Die Miete ist nicht hoch, aber auch die kann ich mir nicht leisten. Ich wohne ganz weit draußen, anderthalb Meilen hinter der Stadt, in einer Holzbude bei Verwandten. Sie haben eine Stube mit Kochnische und ich die andere Stube."
„Arbeiten Sie auch nachts?" fragte Roger Mamie Lewes. Ihr Gesicht, bis dahin lustig und erregt, wurde blass. Sie blickte ihn mit düstern Augen an.
„Ich hab’s nicht durchsetzen können, die Nachtarbeit. Dabei hatte ich acht Kinder und die kriegten noch Diphtherie obendrein. Ich habe den Inspektor gebeten und angefleht, er solle mich doch Nachtarbeit machen lassen, damit ich tagsüber zuhause bleiben und auf die
Kinder aufpassen kann; aber er hat mich nicht gehen lassen. Er ist, glaub ich, der erbärmlichste Kerl der Welt." Sie hielt ein und sah starr vor sich hin; auch der lange Bursche, den sie Wes genannt hatte, stierte in die Luft. Dann sagte sie ruhig: „Vier Kinder sind mir gestorben".
„Du bist jetzt ganz allein, nicht wahr, Mamie Lewes?" fragte Wes sanft.
„Ja, Willi, was mein Mann war, hat, wie man so sagt, den Mut verloren, als uns die Kinder gestorben sind. Es hat ihn richtig hingeschmissen. Er ist in eine andere Stadt gefahren, Arbeit suchen, hat dann nichts weiter von sich hören lassen."
„Ich begreife nicht, wie Sie auskommen können", sagte Roger stumpfsinnig ein zweites Mal.
„Mein kleines Mädel, ist elf Jahre alt, die hilft mir tüchtig. Von den Kindern geht keins in die Schule. Wie sollten sie auch? Ich hab ja niemanden, der bei den Kleinen bleiben könnte, und wenn ich wen hätte, wo sollte ich die Kleider und Schuhe hernehmen?"
Die Versammlung war zu Ende. Mamie Lewes und Wes verschwanden in der Menge. Roger Hewlett sah sich nach bekannten Gesichtern um und erblickte Dick Durgan, den Berichterstatter des ,Baltimore Planet', der ebenfalls des Streiks wegen hier war. Er sprach Roger an.
„Kommen Sie mit", sagte er, „ich werde Sie mit Fer bekannt machen!"
Fer schlenderte ihnen entgegen, mit einer ihm eigenen, sonderbar schiebenden Bewegung der Schulter, als bahne er sich ewig durch eine Menschenmenge den Weg.
„Verdammt", sagte er zu Dick, „wie gerne möchte ich mir eins antrinken!"
„Warum denn nicht?" fragte Dick. „Es gibt genug Korn3chnaps in dieser Gegend." Fer wurde dunkelrot.
„Ich kann mich nicht betrinken, weil ich nicht trinke." Er sah sie an mit einem Blick, so offen wie das unschuldige Gaffen eines Kindes. „Ich trinke nichts", erläuterte er, „weil ich nicht trinken kann. Ich kann nichts behalten!" Er sprach in aller Unschuld und wusste nicht, dass er damit einer Meute alter Zeitungsmänner einen lebenswichtigen Mangel eingestand.
Fer hatte keinen guten Magen.
Einem Mann, der keinen guten Magen hat, fehlt etwas. Ein Mann sollte trinken können, wenn er will. Trinkt ein Arbeiterführer nicht, so sollte der Grund dafür eben der Grund sein, aus dem Bill Haywood in seinen späteren Jahren nicht trank: weil er sich vornimmt, nicht zu trinken.
Ed Hoskins, der Berichterstatter der ,Affiliated Press', sagte:
„Warum ist dir so mies zumute, Fer? Der Streik ist doch knorke."
„So-o-o?" sagte Fer mit einer vielsagenden Dehnung des Lautes nach oben.
„Das hast du aber schön gesagt, dieses ,So-o'" —, protestierte Hoskins. „Was ist denn los? Hat man vielleicht wieder vor, dich zu verschleppen?"
„Diese verfluchten Schießeisen. Diese verfluchte Demonstration morgen", sagte Fer. Er schob die Hände tief in die Taschen und brach sich mit den Schultern Bahn durch eine unsichtbare Menschenmenge. „Das hier ist kein Streik, Ed, wie jeder andere Streik. Das ist eine Hölle von einem Ort hier. Eines schönen Tages lässt
einer seine Kanone knallen und dann kriegen sie sie — und kriegen auch mich."
„Wer, meinst du, soll dich kriegen?"
„Der Mob, wenn nicht der Sheriff", sagte Fer. „Ich wollt, ich wär im Norden. Ich wollt, ich hätt dort einen Streik zu führen, bei den Kerlen, an die ich gewöhnt bin."
Sie waren auf dem Wege zu einem Automaten-Restaurant, das der amerikanische Volksmund ,Firma Schnell und Schmutzig' nennt. Hinter ihnen kam eine kleine Gruppe Journalisten. Roger und Ed, als Arbeiterreporter gewissermaßen bevorrechtet, gingen mit den Streikführern voran. Irma Rankin, eine Funktionärin des Verbandes, kam herbei, um etwas mit Fer zu besprechen. Ed Hoskins blieb mit Hewlett zurück.
Hoskins war ein alter Reporter der Arbeiterkämpfe. Er hatte 1912 die Berichterstattung über den Textilstreik in Lawrence gemacht. 1916 war er oben im Mesaba Range gewesen. In der ganzen Arbeiterbewegung gab es keinen, den er nicht kannte. Er war ein Freund Smittys von den Eisenbetonarbeitern und ein Freund der Mac-Namaras gewesen. Er hatte Knockles und Fitzpatrick von der Illinois Federation of Labor in der alten Zeit gekannt, als sie noch Kämpfer waren. Er hatte über Streiks berichtet, die von Haywood, Tresca und Gurley Finn geführt wurden.
Er fand als Fachschriftsteller für volkstümliche Magazine ein gutes Auskommen und wäre wohlhabend gewesen, wenn er die Arbeiterbewegung hätte sein lassen können. Aber das konnte er nicht. Er musste in jedem radikalen Heerlager herumschnüffeln. Er schwor, es nicht wieder zu tun, aber es brauchte bloß ein solcher Streik auszubrechen wie der in Stonerton, und schon war er wieder da.
„Was halten Sie von Fer?" fragte er und fuhr, ohne auf Antwort zu warten, fort. „Machen Sie nicht denselben Fehler wie ich, und glauben Sie nicht, dass er Angst hat. Zuerst dachte ich von Fer: der Bursche hat ja Bange. Aber das stimmt nicht. Unter ähnlichen Umständen, pflegten die ,Wackler'(Anm.: ,Wackler', englisch ,Wobblies', einer der zahlreichen Spitznamen der syndikalistischen I. W. W. (Industrial Workers of the World).) die Hölle loszulassen. Wir haben anscheinend keine fluchenden Radaumacher mehr in der Arbeiterbewegung. Es gibt keinen einzigen hartgesottenen Hurensohn unter ihnen allen. Sie sind kleine Kerle, junge Kerle. Sie wissen ja, die Radikalen fallen in Amerika etwas schmächtig aus. Wahrscheinlich, weil sie meistens Städter sind, während die ,Wackler' aus den Wäldern, Prairies und Bergwerken kamen. Ich wette, dass Fer wieder einmal so einen Drohbrief bekommen hat, wie er sie fortwährend kriegt. Sie deprimieren ihn. Diese Leute stehen ganz allein hier unten. Und es gibt einen richtigen Terror hier... "
„Schlimmer als gegen die ,Wackler'?"
„Anders", antwortete Hoskins. „Ganz anders. Der Süden ist schwer zu verstehen. Keiner versteht ihn, nicht einmal die eigenen Bewohner. Fer versteht den Süden auch nicht, und er weiß, dass er ihn nicht versteht."
„He, Hoskins!" rief Fer. „Hör zu, was mir Irma gerade sagt." Sie tauschten die Plätze.
Roger Hewlett war ein alter Bekannter Irmas vom Patterson-Streik her.
„Na", sagte sie, „was halten Sie davon?" „Wovon?" fragte er.
„Davon, dass man Fer hierher geschickt hat, um diese Organisation im Süden zu übernehmen?"
„Na, in Patterson hat er sich ja ziemlich gut bewährt, nicht? Und in Lawrence?"
„Oh", sagte sie, „er ist nicht von der Sorte, die man schicken sollte! Er ist ein netter Kerl, ein lieber Kerl, aber er hat nicht das Kaliber, um den Süden zu organisieren! Man will einen großen Führer aus ihm machen. Man versucht, ihn zu formen. Aber man kann aus einem Stück Holz kein stählernes Schwert machen. Man muss doch die Fähigkeiten des Menschen in Erwägung ziehen."
„Ich dachte, Sie wären Fers Mädel!" sagte Roger unumwunden. Sie warf den Kopf mit dem hübschen dunklen Haarschopf zurück. Er konnte die saubere Linie ihres hochmütigen Profils sehen, mit der kurzen Oberlippe, unter der blendend weiße Zähne sichtbar waren. ,Eigenartig, ein solches Mädchen, mit ihrer zurückhaltenden, gleichgültigen Art, in einer Massenbewegung. Verächtlich, gelehrte Bücherweisheit, unhöflich. Spricht man zu ihr, wüsste man gar nicht, ob sie zuhört oder nicht, wär nicht ihr etwas ironischer Sinn für Humor. Macht man einen Witz, hört sie schon gut zu. Sagt man etwas Komisches, belohnt einen ohne Fehl ein plätscherndes Kichern', dachte Roger. Sie schritt aus, erhobenen Kopfes, mit einem schönen, leichten Schwung. Roger gefiel sie jetzt besser als je zuvor.
„Ich weiß, dass ich überall im Ruf stehe, Fers Mädel zu sein", sagte sie gereizt.
„Na, sind Sie es denn nicht?" Sie drehte sich um und lachte. Es war ein plötzlicher Laut des Frohsinns, jugendlich, ganz verschieden von ihrer sonstigen beherrschten Art und der gedämpften konventionellen Haltung.
„Ja und nein", sagte sie. „Was verstehen Sie unter ,sein Mädel'? Wir sind aneinander gewöhnt. Ich bin
zur Genüge sein Mädel, um zu wissen, dass ich recht habe, wenn ich sage, dass er eigensinnig und faul ist und keine Phantasie hat. Er hat keine Stoßkraft!"
„Was halten Sie davon, dass man ihn angeblich lynchen will?" fragte Roger. „Glauben Sie, dass irgendeine Gefahr besteht?"
Sie überlegte. „Ich glaube, dass jeder Organisator, der aus dem Norden kommt, sehr viel Aussicht darauf hat, hier entweder gelyncht oder erschossen oder zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilt zu werden." In ihrer Stimme klang ein gewisser Unterton des Triumphs durch. Sie war von jenem Menschenschlag, der Märtyrertum erwartet und ein wenig enttäuscht ist, wenn nichts aus der Märtyrerkrone wird. Roger hatte sie nie für so romantisch gehalten. Sie war ihm so ziemlich als das kaltschnäuzigste Ding vorgekommen, das ihm je unter Mädeln begegnet war. Aber jetzt sah er eine verhaltene Kraft in ihr, eine verborgene, unausgesprochene Kraft.
Fer blieb zurück, um sich mit Hewlett zu unterhalten, und Irma schloss sich Hoskins an. Mit seinem schiebenden, tappenden Gang, mit dem gesenkten Kopf und dem gutmütigen, aber jetzt zu einer geraden Linie verkrampften Mund, machte Fer den Eindruck, als kämpfte er sich durch einen Sturm hindurch. In Wirklichkeit war es auch eine Art Sturm, durch den er sich seinen Weg bahnte. Männer warfen ihm zornige Blicke zu, Menschen brummten ihn an, als er auf der Straße an ihnen vorüberging. Ein Mann schrie laut: „Gott verdamm' dich, wir werden dir hier noch Beine machen!"
Hass lag auf den Gesichtern dieser Menschen. Die drei Streikenden, die Fer begleiteten, kamen etwas näher.
Ein kalter Schauer kroch Roger über den Rücken. Er hatte schon gespannte Situationen im Streik gesehen. Aber diesen Hass, diese unverhüllten Drohungen mit Lynchjustiz hatte er bisher noch nicht erlebt. Das war der Mob. Diese fluchenden, schimpfenden Leute waren wie die isolierten Tropfen einer Hochflut. Sie waren der Stoff, aus dem der Mob besteht. Man brauchte sie nur zusammenzutun und eine brüllende Meute würde auf Menschenjagd durch die Straßen rasen.
Man war beim Restaurant angelangt und suchte nach einem Platz, möglichst weit von dem grölenden Lautsprecher.
„Machen sie das immer so mit dir?" fragte Ed Hoskins Fer.
„Ja", sagte Fer. „Das tun sie immer." Er sah angeregt auf. „Es ist aber trotzdem ein eigenes Gefühl, dieses Gefühl des konzentrierten Hasses. Ich kriege jeden Tag anonyme Briefe, in denen steht, ich sollte sehen, dass ich fortkomme, sonst würde ich gelyncht!"
„Ja, es ist ein richtiger Terror!" bestätigte Irma mit finsterer Genugtuung.
„Na, mir gefällt es nicht", sagte Fer. „Man muss ewig auf der Hut sein."
„Tragen Sie eine Waffe bei sich?" fragte Roger.
„Nein", sagte er verächtlich. „Ich wüsste gar nicht, wie man mit einem Schießeisen umgeht. Aber drei von den Jungen laufen mit mir herum und schlafen mit mir im Zimmer."
Drei Streikende schlenderten hinter ihnen her. Zwei waren von der hochaufgeschossenen, schmalen Sorte, der dritte, Del Evans, war breitschultrig und tiefbrüstig. Das Haar auf seinem runden Kopf war rot und so kurz geschoren, dass es wie Plüsch aussah.
„Damals, als sie zu mir kamen, um mich zu entführen, hatte ich eigentlich gar keine Angst. Ich hatte das Gefühl, dass die Burschen mich nicht lynchen würden."
„Sie haben Sie nur zur Bahn gebracht und in den Zug gesetzt, nicht wahr?"
„Ja", sagte Fer nachdenklich. „Haben mich einfach in den Zug gesetzt. Komische Sache. Ich war in der Hotelhalle, weil ich einem von den Zeitungsfritzen versprochen hatte, dort zu sein. Dann waren auf einmal zwei Kerle da, die sagten, sie wollten mich sprechen."
Irma wandte den Kopf ganz seitwärts und sprach zu Roger. Er konnte sehen, wie sich ihre kleine Oberlippe verzog: „Man spürt es in der Luft. Es ist eine ganz seltsame Sache. Man würde nicht glauben, dass man eine Atmosphäre so fühlen kann."
„Ja!" sagte Fer. „Es ist, als ob man diesen Hass mit dem Messer schneiden könnte. In Lawrence und in Patterson wussten wir auch, dass sie uns fassen wollten. Wir wussten, sie würden uns schnappen, wenn sie nur irgend konnten, aber es war doch nicht so wie hier. Hier gehen sie nicht darauf aus, uns zu schnappen. Hier wollen sie uns töten!"
Der Kellner, ein Grieche, kam herüber und flüsterte im Verschwörerton: „Fräulein Rankin, Sie werden am Telefon verlangt." Die drei wachsamen Streikenden, die auf den pilzförmigen Sitzen vor der Theke saßen, wandten ihre Köpfe Fer zu. Ein eigenes Gefühl der Furcht lag in dieser Bewegung — als erwarteten sie irgendeine Explosion. Es war Rogers erster Vorgeschmack dieser bangen Erwartung, dieses Übels, das ihn in den nächsten Tagen und Monaten überall begleiten sollte. Er sah den Hass, der diese jungen
Menschen aus der Arbeiterbewegung umgab, wie ein greifbares Ding, als wäre der von der Gemeinschaft ausgehende Terror sichtbar, wie das Aufsteigen eines giftigen Dunstes.
Irma kam zurück. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen blitzten. „Diese schmutzigen Feiglinge!" sagte sie. „Diese schmutzigen Feiglinge!"
„Was ist denn los?" fragte Hoskins.
„Irgend jemand hat mich hier im Restaurant angerufen, telephonisch angerufen, verstehen Sie, um mir zu sagen, ich sollte schauen, dass ich aus der Stadt käme!"
„Dass Sie aus der Stadt kämen?" wiederholte Hoskins.
„Ja. Er beschimpfte mich durchs Telefon und sagte, ich sollte schauen, dass ich aus der Stadt käme."
„Und was haben Sie gesagt?"
„Ich hab ihm gesagt, er soll mal hierher kommen und es mir hier sagen."
„Was war das für einer, der Stimme nach?" fragte Fer.
„Ein gebildetes Subjekt, mit einer weichen, näselnden Stimme. Ich sagte: ,Kommen Sie mal her, damit ich Sie sehen kann'. Er sagte darauf: ,0h, Sie werden mich schon bald genug sehen und noch viele andere von meiner Sorte'."
„Siehst du, Hos", erläuterte Fer, „sie lassen uns keinen Augenblick vergessen, dass sie darauf aus sind, uns zu lynchen, dass es sie förmlich danach juckt, uns zu lynchen."
„Ja", sagte Irma, „das ist schon wahr. Sie schicken fortwährend Leute zu den Arbeitern ins Haus, die den Frauen die Köpfe vollreden und sie einschüchtern."
„Ja, und sie klopfen an die Fenster und schreien
,Huh' und spielen sonst noch allerhand dumme Streiche, um die Frauen zu schrecken und sie ewig nervös zu machen."
„Ich glaube, die Frauen haben mehr Courage als die Männer", sagte Irma. „Sie haben Kämpferzeug in sich, diese Frauen."
Es kam darüber zum Streit. Zwischen den beiden bestand eine alte Feindseligkeit. Irma versuchte ewig, eich Fer gegenüber durchzusetzen, ihm gegenüber recht zu behalten, ihn gewissermaßen unterzukriegen. Es lag etwas Hochmütiges und Provokatorisches in der Art, wie sie sich zu dieser Drohung verhielt, die ihr telephonisch zugekommen war. Sie gefiel Roger jetzt weniger, aber er bekam mehr Respekt vor ihr.
„Es gibt einem einen eigenartigen Ruck", unterbrach Hoskins den Streit zwischen Fer und Irma, „wenn man erfährt, dass es in dieser Stadt Männer gibt, die imstande sind, eine Frau durchs Telefon zu bedrohen." Es war, als wäre diese Gewaltandrohung leibhaftig in das Automaten-Restaurant hereingekommen und hätte sich neben sie niedergelassen. Sie waren alle ein wenig verlegen und beeilten sich, irgend etwas zu schwatzen, um diese haßerfüllte Drohung zu vergessen.
„Wie hat denn der Streik angefangen, Fer?" Fer antwortete: „Der Textilarbeiterverband hat mich nach dem Süden geschickt, um hier Ortsgruppen aufzuziehen. Was man weder hier noch im Norden versteht, ist, dass sich die Leute hier unten schon selbst organisiert haben. Es hat in vier oder fünf verschiedenen Staaten schon spontane Streiks gegeben. Diese Kerle hier hatten schon eine kleine Organisation, ganz für sich allein. Zwei Burschen, Wes Elliott und Dan Marks kamen zu mir
nach Rockhill, wo ich mich aufhielt, dann bin ich hierher gekommen. Wir haben uns in Privatwohnungen getroffen. Die Betriebsleitung ist sehr bald dahinter gekommen, dass wir uns versammelten und da hat man mit dem Rausschmiss der Organisierten angefangen. Die Arbeiter wählten einen Betriebsausschuss und schickten ihn zur Direktion, mit der Forderung auf Wiedereinstellung der Entlassenen. Na, ihr wisst ja, wie es gekommen ist, die Direktion hat die ganze Gesellschaft entlassen. Drauf haben alle für den Streik gestimmt und die Arbeit niedergelegt. Mensch, das war ein feiner Anblick. Wissen Sie, das ist eines der eigenartigsten Dinge in der Arbeiterbewegung."
Er beugte sich vor und sprach rasch und eifrig, mit einer Begeisterung, die begreiflich machte, warum die kleinen Tetherow-Jungen zu ihm aufblickten, als wäre er der liebe Herrgott selbst.
„Die Bewegung scheint tot zu sein, und man glaubt, da ist nichts zu machen. Dann wird sie plötzlich wieder lebendig. Sie ist nie tot. Wenn man bei den Arbeitern Kampfwillen findet, so ist das das Aufregendste in der Welt. Na, die Arbeiter im Süden sind ja jetzt aufgewacht."
„Haben Sie nicht auch beim Wecken mitgeholfen?"
Fer schüttelte den Kopf.
„Es war alles schon im Gange, als ich herkam. Die Arbeiter könnten viel mehr ausrichten, wenn sie einen Kerl aus dem Süden zum Führer hätten. Sie können mich gut leiden, aber ich gehöre doch nicht zu ihnen."
„Das ist wahr", sagte Irma. „Wir fühlen uns viel behaglicher unter den ausländischen Arbeitern im Norden. Wir verstehen sie. Wir verstehen sogar ihren religiösen Hintergrund besser."
„Ja", sagte Fer, „die Prediger hier in der Werksiedlung sind Fundamentalisten (Anm.: Anhänger einer amerikanischen Glaubensbewegung auf biblischer Grundlage.) und die Hälfte ihres Gehalts wird von den Fabrikanten bezahlt. Dafür glauben sie freilich, dass die Gewerkschaftsorganisation in jeder Form ein Blendwerk des Teufels ist."
Sie standen auf, um zu gehen. Irma und Fer gingen voraus, hinter ihnen die drei Streikenden, die Leibwache Fers, ein Symbol der Drohungen des Mobs.
Plötzlich sah Roger diese jungen Führer ganz isoliert und einsam dastehen, belastet mit einer ungeheuer schwierigen Arbeit und mit dem Hass der ehrbaren Bürger — und nicht weniger belastet mit der Liebe und der Anhänglichkeit der Spinnereiarbeiter —, einer Last von Liebe und Hass, die für ihre Schultern zu schwer war.
II. KAPITEL
Die beiden Reporter verließen zusammen das Restaurant. Roger sagte: „Kein Wunder, dass der Norden sich soviel mit diesem Streik beschäftigt."
„Der Norden braucht sich gar nicht so mausig zu machen und sich so tugendhaft zu geben", sagte Hoskins. „Wenn die Arbeiter streiken, ist der Unterschied zwischen der Behandlung der Textilarbeiter im Norden und Süden gar nicht so groß."
„Man bedroht aber die Streikführer im Norden doch nicht mit Lynchjustiz", sagte Roger.
„Man hat da oben auch genug gedroht. In Lawrence herrschte im Jahre 1912 genau derselbe Terror der ehrbaren Bürger'. Ich habe damals Leitartikel der konservativen Bostoner Zeitungen gesammelt, die eine glatte Aufreizung zu Gewalttätigkeiten, Aufreizung zur Lynchjustiz waren. Es gab eine ganze Serie davon und der Verband hat sie als Broschüre herausgebracht. Auch Truppen wurden eingesetzt. Die Stadt sah aus wie ein Heerlager. Jede Spur von Rede- und Versammlungsfreiheit war den Arbeitern genommen. Es gab damals dort eine Ärztin. Sie hatte eine Statistik über Kindersterblichkeit aufgestellt, die ja in den Textilstädten von jeher verheerend war. Sie stellte auch eine Tabelle über Tuberkulose-Erkrankungen von Jugendlichen, die zwischen dem vierzehnten und vierundzwanzigsten Lebensjahr in den Textilwerken gearbeitet hatten, zusammen und verglich diese Zahlen mit den allgemeinen Tuberkulose-Ziffern von Massachusetts.
Ich war damals noch jung und unschuldig. Ich dachte, ich könnte aus dem Material einen guten Artikel machen. Ich wollte diese Tatsachenangaben benutzen, und einige prominente Persönlichkeiten, Ärzte und Geistliche veranlassen, sich über die Zustände zu äußern. Aber alle, die ich darum anging, wüteten nur gegen die Textilarbeiterorganisation. Sie waren so außer sich, dass man sie nicht einmal dazu bringen konnte, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass in Lawrence Hunderte von Kindern überflüssigerweise starben.
,Wie haben sie es denn in der alten Heimat gehabt?' brüllte mich einer der Ärzte an. ,Wenn ihnen die Zustände hier nicht passen, sollen sie doch zurückfahren, woher sie gekommen sind'."
„Hat sich denn keiner gefunden, der wissen wollte, worum es beim Streik ging, warum achttausend Arbeiter die Arbeit niedergelegt hatten?"
„Keine Menschenseele. Die wussten schon alle, wo der Haken war. Der Haken, das waren die Führer. Die
Textilarbeiter lebten glücklich und zufrieden, bis ein halbes Dutzend I. W. W.s kam, Haywood, Ettor, Arturo Giovanitti, Gurley Flynn, Tresca. Diese Kerle hetzten dann in ein paar Tagen die glücklichen und zufriedenen Textilarbeiter auf, führten sie mit ihren ,roten' Reden irre und veranlassten sie, die Arbeit niederzulegen. Deshalb hätten es die ,ehrbaren Bürger' gerne gesehen, dass man diese ,fremden Hetzer' gehängt und gevierteilt hätte. Am liebsten hätten sie sie in Öl gesotten."
„Das war doch der Streik, nicht wahr, über den Professor Vida Scudder in Wellesley sagte, dass die Frauen von Amerika bestimmt keinen Meter Stoff mehr kaufen würden, wenn sie wüssten, wie die Gewebe in Lawrence hergestellt werden und wie viel Menschenleben sie kosten."
„Ja, das war dieser Streik. Und Frau Scudder war eine große Ausnahme. Auch heute gibt es Frauen hier in Nordcarolina, wahrscheinlich mehr als in Massachusetts im Jahre 1912, die begreifen, dass es bei einem Streik um das nackte Leben geht und dass Menschenleben wichtiger sind als Geschäfte. Es gibt heute in Nordcarolina auch wirklich liberal gesinnte Frauen und Männer, die über diese Probleme nachdenken und gerne Abhilfe schaffen möchten."
„Man würde meinen, dass das jeder möchte." „Das glaubt man, wenn man jung ist. Das habe ich auch geglaubt, als ich meinen Artikel über Lawrence schreiben wollte. Ich bin herumgelaufen und hab allen erzählt, in diesem Streik geht's um das nackte Leben. Hier sterben zwanzig Prozent der Kinder, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben. Und die Ursache ihres Todes ist, dass ihre Eltern nicht genug verdienen und ihre Mütter zu schwer arbeiten müssen. Ich kann beweisen, dass Hunderte von Jugendlichen Tuberkulose
haben, obwohl man das verhüten könnte. Man würde meinen, dass es in einer Stadt wenigstens einen einzigen Geistlichen gäbe, der solchen Erwägungen zugänglich war. Es hat aber keinen einzigen gegeben. Nein, der Norden braucht nicht so von oben herab darauf zu schauen, was hier unten vor sich geht. Sobald bessere Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitszeit, etwas höhere Löhne im Norden den Wettbewerb mit dem Süden erschwert hatten, verlegte das Kapital seine Werke einfach hierher nach dem Süden."
„Sind auch in nordischen Städten die Streikführer auf der Straße bedroht worden?"
„Das vielleicht nicht. Aber man hat einen systematischen Terror gegen sie organisiert. Haywood musste immer von einer Gruppe italienischer Arbeiter bewacht werden. Er musste zu seinem eigenen Schutz in Arbeiterwohnungen wohnen, genau so wie Fer hier. Ein anderer Führer, Muste, wurde verprügelt. Es hat keinen Zweck, über Dinge, die stets vorkommen, immer wieder empört und überrascht zu tun. Wenn sich die Arbeiter zum ersten Mal auflehnen, ist es stets die erste Regung der ,ehrbaren Bürger', die Rebellion mit Gewalt zu unterdrücken, mit aller Gewalt, mit jeder Gewalt. Man braucht nur ein wenig in der Geschichte zurückzublättern. Denken Sie nur daran, was im neunzehnten Jahrhundert in England im Zusammenhang mit dem Einhegungsgesetz, das die Enteignung der Landarbeiter bewirkte, vor sich ging. Nach der außerordentlich friedfertigen Auflehnung wurden Dutzende hingerichtet, weitere Dutzende deportiert."
„Aber letzten Endes nützt doch die Gewalt nie."
„Nein. Gewalt wird die Arbeiter nicht aufhalten. Sie sind schon sehr lange auf dem Vormarsch. Und sie werden noch einige Zeit auf dem Vormarsch sein."
Sie gingen in die Hotelhalle und setzten sich. Eine Gruppe von Journalisten schloss sich ihnen an.
„Was halten Sie von der Rede Fers?" fragte jemand Hoskins. „Ziemlich gewalttätiges Pack, diese Streikenden hier im Süden."
„Da irren Sie sich aber sehr", sagte Hoskins geduldig, mit der Miene eines Menschen, der ein und dieselbe Sache schon zum tausendsten Male erklärt. „Die Arbeiter sind meistens geduldig, fürchterlich geduldig, und die Arbeiter hier sind genau so geduldig wie alle andern Arbeiter. Die Führer, wie auch Fer heute Nachmittag, drillen sie zur Selbstbeherrschung. Denken Sie nur an den Stahlstreik. Dort jagten die Gendarmen Leichenbegängnisse auseinander, ritten Schulkinder nieder, verhafteten die Männer vor ihren eigenen Haustüren, brachen nachts ohne Haussuchungsbefehl in die Häuser ein. Die Arbeiter rächten sich nicht, taten nichts, nicht einmal, als die Organisatorin, Fanny Sellins, rücklings angeschossen wurde, als sie sich schützend vor zwei Kinder stellte."
„Na, Fer schien doch Angst davor zu haben, dass die Leute ihre Schießeisen gebrauchen würden."
„Jeder Mensch, der ein Schießeisen bei sich hat, kann natürlich bei Gelegenheit davon Gebrauch machen. Man trägt im Süden viel öfter Schießwaffen bei sich als im Norden. Das ist hier gesetzlich zulässig. Was die Leute bei einem Streik nicht verstehen, das ist, dass in neunundneunzig Fällen unter hundert die Polizei es ist, die Zusammenstöße provoziert. Besonders bei den Textilarbeitern. Die Textilarbeiter sind immer friedlich gewesen. Sie haben keine kämpferische Tradition. Man fühlte sich richtig erleichtert, als in New Bedford die portugiesischen Arbeiterfrauen ein paar Mal den Polizisten die Knüppel wegnahmen und sie ihnen um die
Ohren schlugen. Das war einer der seltenen Fälle, wo ich Textilarbeiter sich wehren sah. Die Bergarbeiter, die lassen sich nichts gefallen. Die Bergarbeiter sind wehrhaft, genau so wie die Bauarbeiter und Eisenbetonarbeiter. Die Nadelberufe haben auch kämpferische Traditionen, aber die Textilarbeiter nicht. Lassen Sie sich das gesagt sein, wenn Sie über Streiks berichten wollen, und lassen Sie sich obendrein gesagt sein, dass die Führer keine Unruhen haben wollen. Diese paar Leutchen aus dem Norden wollen selbstverständlich keine Gewalttätigkeiten."
„Wie viel Leute sind aus dem Norden hier, außer Fer und Fräulein Rankin und Doris Pond?"
„Es ist ein Mann namens Woods drüben in Tesner, das ist sechs Meilen von hier entfernt. Er macht die organisatorische Arbeit. Dann gibt es einen, der jetzt nicht hier ist, von der Roten Hilfe. Summers mit Namen. Dann ist noch eine dritte Organisatorin, Elisabeth Black, in einer andern Stadt. Dann waren noch ein oder zwei Männer und einige Frauen vorübergehend hier, für die IAH- und Rote-Hilfe-Arbeit, aber die waren in der Organisation nicht aktiv tätig."
„Wollen Sie damit sagen, dass die Zeitungen dieses ganze Geschrei über die ,Hetzer' und die ,Roten' aus dem Norden wegen dieser drei jungen Leute und der drei Mädels machen, und dass das eine Mädchen noch dazu nur in der Unterstützungsaktion arbeitet? Diese ganze Angst, diese langen Leitartikel, alles wegen dieser paar Kinder?"
„Jawohl, so ist es", sagte Hoskins. „Man hat ja nicht vor diesen Kindern Angst, sondern davor, was hinter ihnen steht. Dann hat es natürlich auch ungeheure Übertreibungen gegeben. Die Leute hier sind überzeugt, dass
der ganze Ort mit ,Hetzern' aus dem Norden durchsetzt ist."
„Was soll denn das für eine Demonstration werden, die Sie heute abend bei der Jellico-Versammlung veranstalten wollen?"
„Was ist das für eine Versammlung?" fragte Roger.
„Ach, das ist eine Versammlung, die die Handelskammer veranstaltet. Haben Sie nichts davon gehört? Man hat einen Redner aus Chicago kommen lassen, der über ,Amerikanismus' sprechen soll. Der Redner hat den Spitznamen ,Alter Herzerweicher'."
„Man erwartet, dass er den Verband angreifen wird, um die Arbeiter wieder zu Verstand zu bringen."
„Sind Sie noch zurecht gekommen, um zu hören, was Irma von der Rednertribüne aus den Streikenden über den Besuch dieser Versammlung sagte?" fragte Hoskins. „Man forderte auf, in Massen zu erscheinen."
„Die Streikenden werden versuchen, zu Wort zu kommen, nicht wahr?"
„Ja, sie wollen es versuchen, aber ich glaube nicht, dass es gelingen wird."
Hoskins begann wieder über die Arbeiterbewegung zu erzählen und davon, wie es den Führern der Arbeiter ergeht, wenn es irgendwo zu Schießereien kommt. Er erwähnte, wie Ettor und Giovanitti ein Jahr lang wegen Beihilfe zum Mord im Käfig gehalten wurden, weil beim Streik in Lawrence eine Frau durch eine abprallende Kugel getötet worden war. Im Jahr 1916 wurden Carlo Tresca und noch neun andere in Mesaba Range wegen Beihilfe zum Mord verhaftet, weil ein Polizist bei einer Wirtshauskeilerei in einem Streit, der mit dem Streik
nicht das geringste zu tun hatte, getötet worden war. Es sei unvermeidlich und historisch belegt, behauptete er, dass jede Gewalttätigkeit der Arbeiter gegen ihre Führer ausgenützt wird.
Hoskins war offenbar drauf und dran, ein Kolleg über die Geschichte der gesamten Arbeiterbewegung zu lesen. Roger war an dem Punkt angelangt, wo er nicht weiter zuhören konnte. Es fiel ihm ein, dass er Bekannte in der Stadt hatte; die Parkers, Freunde seiner Mutter, wohnten da. Sie verbrachten den Sommer in Maine, wo die Familie Rogers ihren Sommeraufenthalt hatte. Jean Parker war ihm als sehr hübsches Mädchen im Gedächtnis geblieben. Er wollte diesem Gerede über Streik und Arbeiterbewegung entgehen und das alles in Gesellschaft angenehmer Frauen vergessen, die ihn über seine Mutter befragen und über unwesentliche Dinge angenehm plaudern würden. Er empfand ein Bedürfnis nach Ruhe und nach gutgelaunten, alltäglichen Menschen in behaglichen Zimmern. Er war sich bewusst, dass er sich in jenem Zustand des Stumpfsinns befand, der von einer Überfülle gleichzeitiger Eindrücke herrührt.
Wie sollte er seinen Artikel schreiben? Wie sollte er andern Menschen den Eindruck vermitteln, den er selbst bekommen hatte? Wie kann man Menschen, die nie einen Streik gesehen haben, überhaupt begreiflich machen, was ein Streik für die Streikenden selbst bedeutet? Wie kann man auf wenigen Seiten auch nur andeuten, was Menschen zum Streiken veranlasst? Wie kann man Unbeteiligten den Terror fühlbar machen?
Am späten Nachmittag, als Roger an Rosengärten und Lauben vorbei die schattigen Straßen durchwanderte, stand er noch immer unter dem Eindruck seiner Begegnung mit Fer und der Drohungen der Straßenpassanten. Er empfand nichts von der philosophischen Ruhe Hoskins', der meinte, solche Dinge passierten doch immer. Er war ein Neuling im Spiel, und der Terror hatte ihn bestürzt und aufgewühlt.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er das Parkersche Haus fand. Er war daran bereits vorbeigegangen, als er merkte, dass er es gefunden hatte. Das Haus war weiß und stand weit ab von der Straßenfront; es war von Rasen umgeben und von hohen Bäumen beschattet. An beiden Seiten der Straße standen behagliche Häuser, die Wohlstand und Wohlleben ausstrahlten.
Der Salon, in dem Roger wartete, war schattig und kühl und voll von Blumen. Es schien ihm unmöglich, dass diese Welt und die Welt des Streiks in ein und derselben Stadt nebeneinander bestehen könnten. Im nächsten Augenblick rief schon Jean Parker:
„Mutter, Mutter, rate, wer hier ist? Roger Hewlett!"
Sie war hochgewachsen, hatte weiches, rötliches Haar und war von jener Anmut, die man gewöhnlich mit südlicher Herkunft gleichstellt. Frau Parker war noch immer schön, mit tiefen, dunklen Augen und schneeweißem Haar. Bald waren sie im Gespräch. Es war genau so, wie Roger es sich vorgestellt hatte, er war auf einmal in eine wohlbekannte, verständnisvolle Welt zurückversetzt. Dann fragte Jean:
„Was hat Sie hierhergeführt, Roger?"
„Ich bin gekommen, um über den Streik zu berichten."
„Das ist schön", sagte Frau Parker. „Sie können den Leuten da oben im Norden erzählen, was hier vor sich geht. Herr Schenk ist jetzt, wie ich höre, nicht hier, er ist nach Roanoke zurückgefahren, wo er wohnt. Aber wenn er wiederkommt, möchte ich Sie mit ihm bekannt
machen. Er kann Ihnen sagen, wie viel er für diese Leute getan hat, die sich jetzt gegen ihn wenden."
„An allem sind nur diese Agitatoren aus dem Norden schuld", sagte Jean. „Sie haben keine Ahnung, Roger, wie dumm diese Fabrikarbeiter sind. Eine Schulfreundin von mir, Marian Scott, ist Lehrerin an einer der Werkschulen. Sie erzählt, dass man diesen unwissenden Weibern gar nichts beibringen kann. Natürlich kann dann ein geschickter Agitator, wenn er so skrupellos ist wie dieser Deane und einmal an die Leute herankommt, mit ihnen machen, was er will."
„Sie haben keine Ahnung, wie viel besser es den Leuten geht, seitdem sie aus ihren Bergen heruntergekommen sind", sagte Frau Parker. „Mein Vater kann sich noch an die Zeit erinnern, da Fabrikarbeiter so unwissend waren, dass sie nicht einmal ihren eigenen Zunamen kannten. Sie sagten, sie hießen Johann, Sohn des David. Sie sind aus elenden Hütten mit festgestampftem Lehmboden gekommen und wohnen jetzt in netten Häusern, haben auch elektrisches Licht, und das kostenlos. Viele haben sogar Badewannen."
„Sie benutzen ja die Badewannen nie, auch wenn sie sie haben. Sie gebrauchen sie nur, um Sachen darin aufzubewahren", sagte Jean.
„Wo sie früher keinen roten Cent hatten, verdienen sie jetzt mehr als ein Akademiker. Nehmen Sie als Beispiel einen Vetter von Jean. Er ist ein junger Architekt, ist auf der Hochschule gewesen, hat Architektur studiert, war auch im Ausland; man hat Tausende von Dollars für seine Ausbildung verausgabt, und jetzt verdient er alles in allem nur vierzig Dollar die Woche. Nehmen Sie eine Familie von vier Fabrikarbeitern, die je achtzehn fünfzig die Woche verdienen, die haben ein Einkommen von vierundsiebzig Dollar die Woche."
„Verdienen die denn so viel?" fragte Roger. „Ich dachte, dass die Durchschnittslöhne viel niedriger wären."
„Oh, sehr viele verdienen sogar bedeutend mehr, mein lieber Junge. Früher kamen die Bauern mit Eiern und Gemüse und Hühnern fortwährend bei uns angefahren, um etwas zu verkaufen. Jetzt kommen sie nie über die Werksiedlung hinaus; die Leute in der Werksiedlung kaufen alles auf."
„Sie sind furchtbar verschwenderisch und leichtsinnig im Einkaufen", sagte Jean. „Man kann ihnen das richtige Einkaufen überhaupt nicht beibringen. Du weißt ja, Mutter, wie sehr sich Marian bemüht, um sie zu belehren, und wie es auch Fräulein Walters, die Fürsorgerin, versucht."
„Es scheint aber, dass sie sich jede Teufelei schnell genug beibringen lassen", sagte Frau Parker. „Sie würden kaum glauben, Roger, was für Dinge hier passiert sind. Dieser Bursche Deane hat ihre Leichtgläubigkeit missbraucht. Wie die Dämonen sind sie aus dem Werk herausgestürmt! Und als die Polizei vor dem Werk ein Seil quer über die Straße zog, packten die Streikenden das Seil und rissen es der Polizei so brutal aus den Händen, dass der Polizeichef selbst auf den Rücken fiel. Und dann bellten sie ihn an wie die Hunde."
„Ein Seil ist also quer über einen öffentlichen Verkehrsweg gezogen worden? Ist es nicht gesetzwidrig, Verkehrsstraßen abzusperren?"
„Was sollten sie denn sonst tun? Diese Teufel dort brüllten Streikbrecher! Streikbrecher!' und tobten und schrieen ,Pfui!' und wollten die Fabrik stürmen, da hat die Polizei natürlich ein Seil über den Weg gezogen, um den Betrieb zu schützen."
„Schreiben Sie das nur alles auf, Roger. Wir haben erfahren, dass einige Zeitungen im Norden die Entführung von Deane, diesem Kerl, abfällig kritisiert haben. Warum man ihn nicht teert und federt und auf einer Stange aus der Stadt reiten lässt, ist mir unbegreiflich. Die Männer haben heutzutage gar keinen Mut mehr. Man sollte für ihn eine Beschäftigung finden, die ihn von hier fernhält."
Frau Parker und Jean zitterten beide vor Zorn.
Die Journalistenneugierde Rogers hatte über seine Höflichkeit die Oberhand gewonnen.
„Aber Sie sind doch nicht für gewaltsame Entführungen, nicht wahr?" fragte er.
„Ich bin für Wahrung der Ruhe und Ordnung", sagte Frau Parker. „Wenn Polizei und Gesetz nicht rasch genug eingreifen, bin ich dafür, dass die Männer zeigen, dass sie Männer sind."
„Diese Leute", wiederholte Jean, „diese Fabrikarbeiter waren ganz ruhig, bis Deane hierher kam."
„Wir haben mit unsern Arbeitern nie Schwierigkeiten gehabt", warf Frau Parker dazwischen. „Es geht ihnen jetzt viel besser als damals, als sie aus ihren Bergen kamen. Das habe ich Ihnen schon gesagt. Jetzt spazieren diese Leute mit Schießwaffen herum und zünden Dynamit an! Kein Mensch ist seines Lebens sicher! Nur weil dieser Anarchist aus dem Norden hierher kommt und ihre Leichtgläubigkeit missbraucht! Er verdient dabei massenhaft Geld."
„Das ist doch selbstverständlich. Wozu wäre er denn sonst hier?" sagte Jean. Frau Parkers Stimme unterbrach eine kurze Pause wieder:
„Ich verstehe nicht, warum man ihn nicht aus der Stadt vertreibt. Warum sie sich mit solchen halben Maßnahmen begnügen, kann ich nicht begreifen."
Roger verabschiedete sich bald. Hier war also der Ursprung jenes Hasses, dem er auf der Straße begegnet
war, als er mit Fer ging. Hier war die Heimat des Mob. Die ,ehrbaren Bürger', die ,gutsituierten' Leute von Stonerton waren wütend und empört über die Revolte der Fabrikarbeiter.
Er dachte an den kleinen Haufen von Funktionären, an Woods dort drüben in Tesner, an Ferdinand Deane, an Doris Pond mit ihrer Hilfsarbeit, an Irma. Sie erschienen ihm unglaublich isoliert und fern.
III. KAPITEL
Ein Rudel von Journalisten wartete in der Hotelhalle.
„He, Hewlett", rief einer. „Ich hab Sie im Restaurant mit Fer sprechen sehen. Wird es Zusammenstöße geben?"
„Sieht ganz danach aus, meinen Sie nicht?" rief Durgan, der Berichterstatter vom ,Planet'. „Man wittert Lynchgefühle in der Luft."
Drei Journalisten, mager und dunkelhaarig, von eigenartiger Gleichmäßigkeit des Typs, sie standen neben Otis Bingham, einem blonden, unauffälligen kleinen Kerl mit Brille. Er war selbst Stonertoner und sympathisierte insgeheim mit den Streikenden. Ein grotesker Einfall ließ sie Roger plötzlich als eine Meute von Jagdhunden erscheinen. Sie waren so aufgeweckt und lustig, man konnte richtig sehen, wie ihre Nasenflügel vom Geruch der kommenden Zusammenstöße witterten: es drängte sie, unter Gekläff auf der Fährte des Unheils mit dem Wind dahinzujagen.
Er ging allein zu Tisch. Die Welt um ihn wirbelte und ballte sich zum Gleichnis. Da waren die Führer, beschwert von Hass und Liebe, die sie umgaben. Da waren die Werksiedlung und die Arbeiter, diese schwache
Brustwehr zwischen dem Häuflein Führer und dem Hass. Der Hass aber, das waren die wohlhabenden Bürger. Der Hass und der Mob waren nur eine Vervielfältigung der Familie Parker. Roger sann über den Grund ihrer Wut nach, die ebenso spontan war wie die Auflehnung der Arbeiter. Na ja, so kam es ja immer.
Er kam zu keinem Ergebnis, aber er hatte in diesem Augenblick ein klares, scharfes Bild vom Zwiespalt in der Gesellschaft, so scharf umrissen wie die Gefühle in einem Bürgerkrieg.
Ein dicker Berufsredner aus Chicago, Jellico, war von der Handelskammer mit großem Kostenaufwand verpflichtet worden, um über das Thema ,Was ist Amerikanismus?' zu sprechen.
Kein Saal war groß genug, um die erwarteten Massen zu fassen. Man hatte daher den Platz vor dem Gerichtsgebäude mit Seilen abgesperrt. Eine Tribüne war mit amerikanischen Fahnen ausgeschmückt. Es dunkelte schon, und der offene Platz war von Arbeitern, die harmlos und friedlich herumstanden, überfüllt. Es waren braune, hagere Gestalten, ärmlich gekleidet, dunkeläugig, mit langen, locker gefügten Gliedern. Gruppen von jungen Mädchen in kurzen Röcken, mit rotgeschminkten Lippen. Eine Menschenmenge, begierig auf alles, was die Eintönigkeit des Alltags unterbrechen konnte.
Das Volk des amerikanischen Südens kann mehr Reden vertragen als irgendein anderes Volk, obgleich auch anderswo Arbeiter Tag für Tag gerne herbeiströmen und stundenlang dastehen, um Reden anzuhören.
Es spielte die Kapelle der höheren Schule. In die
Menge kam Bewegung. Eine Delegation der Streikenden hatte höflich und schüchtern darum gebeten, im Laufe der Kundgebung das Wort ergreifen zu dürfen. Der Bürgermeister hatte geantwortet, dass nur der Gast sprechen sollte.
„Da hat man’s!" sagte Hoskins, der neben Roger Hewlett stand. „Jetzt wird es nichts mit der Demonstration. Die Arbeiter sind zu höflich und zu schüchtern. Aber diese Dinge kommen nie in die Zeitungen. Die Arbeiter lassen sich alles gefallen. Sie scheuen sich von Natur aus vor jeder Initiative. Sie handeln nicht eher, bis ihnen die Geduld reißt. Wenn wir dann in den Zeitungen über sie schreiben, schreiben wir immer nur von den Momenten, wo ihnen endlich die Geduld reißt. Das sieht dann so aus, als ob die Arbeiter ewig aktiv wären, ewig Unruhe stiften wollten."
„Ich weiß, dass es so ist, aber wie wollen wir das dem großen Publikum begreiflich machen?" fragte Roger.
„Nehmen Sie als Beispiel diesen Fer; das ist ein anständiger, ruhiger Kerl, der den Arbeitern sagt, sie sollten ihre Schießeisen zuhause lassen, und der sich große Sorgen darüber macht, dass es zu einer Schießerei kommen könnte. Der Bursche ist kein Dummkopf; er hat auch die Geschichte der großen Streiks gelesen. Er weiß, was passiert, wenn jemand in einem Streik erschossen wird. Die Arbeiter verlieren den Streik, und die Führer kommen ins Zuchthaus. Aber glauben Sie, dass er das Ihren Freunden, den Parkers, erzählen könnte? Die glauben ja, dass Fer Pferdehufe, einen Schwanz und Hörner hat."
„Sie glauben, dass Fer und nur Fer die Arbeiter zum Streik veranlasst hat, und sie glauben, dass ein Streik eine ansteckende Krankheit ist wie Pocken." Sie unterhielten sich, während die Kapelle spielte. Ein hoch-
gewachsener, bärtiger alter Mann bahnte sich an ihnen vorbei seinen Weg. Hoskins sagte zu Roger:
„Das ist Oskar Williams, der Prediger aus den Bergen."
Der Redner war ein ungeheuer dicker Mann. Jeder, auch die Handelskammer, erwartete, dass er die Gewerkschaften angreifen würde. Aber Jellico war von der Sorte von Menschen, die Tränen vergießen, wenn das Wort ,Mutter' fällt. Er sprach von seiner eigenen Mutter und vergoss Tränen. Dann sprach er von brüderlicher Liebe. Er sprach von diesem ,sonnigen, blühenden Lenz', und das brachte ihn auf die Besprechung der Blumenembleme der verschiedenen Staaten der Union, und das wieder erinnerte ihn an alle durch den Krieg bedrückten Länder, die er gesehen hatte und daran, wie viel besser es in Amerika wäre, besonders in diesem schönen, sonnigen, blühenden Staat Nordcarolina.
Man sah eine leise Bewegung die Menge ergreifen. Eine Gruppe streikender Kriegsteilnehmer, die vorhatten, zu demonstrieren und das Wort zu verlangen, rührte sich unruhig. Irma kam an Hoskins heran und flüsterte ihm zu:
„Was redet der da?"
Denn gerade in diesem Augenblick hatte der dicke Redner angefangen, mit kindischem und einnehmendem Behagen von den gekrönten Häuptern Europas und den Generälen zu erzählen, mit denen er Bekanntschaft gemacht hatte. Die Verbandsfunktionäre hatten einen wuchtigen Angriff, eine erbitterte Anklagerede gegen die Gewerkschaften erwartet. Anstatt dessen wurden sie aufgefordert, an die Blumenembleme und Wachstumsverhältnisse der einzelnen Staaten zu denken. Ein fetter,
sentimentaler, gutmütiger Mensch, vor sich eine amerikanische Fahne, neben sich auf der Tribüne die führenden Männer der Stadt, alle verbündet gegen Gewerkschaft, Sozialismus, Kommunismus, Anarchie, erzählte diesen Fabrikarbeitern Plattheiten. Denn in den Köpfen der dort neben Jellico versammelten maßgebenden Herren' waren alle diese Dinge gleichbedeutend. Jeder wartete auf den Angriff. Doch es kam keiner. Nur eine klebrig sickernde Süßigkeit kam. Alle waren enttäuscht.
Die Menschen schoben unruhig hin und her. Kleine Gruppen gingen vorbei und kamen wieder zurück. Die Menge schmolz zusammen.
„Na, Irma", sagte Hoskins, „hätten Sie doch lieber auf Fer gehört. Was ist denn aus den Kriegsteilnehmern und ihrer Demonstration geworden? Was Sie gebraucht hätten, wäre ein Haufen von Müttern und Kindern gewesen, und Mamie Lewes hätte dazu eins ihrer Lieder singen sollen."
„Die Arbeiter sollen nicht Mitleid erregen", sagte sie dogmatisch. „Sie müssen wehrhaft sein!"
„Wir aber sind überhaupt nichts gewesen", sagte Fer in seiner sachlichen Art. „Wir sind bloß ein Kuckucksei gewesen, Irma." Seine Vernunft, sein Mangel an Fanatismus waren mit die Gründe, weshalb ihn Irma nicht für eine Führernatur hielt.
„Wo sind Sie abgestiegen, Hewlett?" fragte Fer Roger.
„Im Hotel", sagte Roger.
„Erlauben Sie mal!" protestierte Fer. „Dort sollten Sie doch nicht wohnen. Das ist das Streikbrecherhotel." Er sagte das ohne jede Feindseligkeit. „Von dort wurde ich ja entführt."
„Wo wohnen Sie denn?" fragte Roger.
„Nirgends. Ich bin ein paar Nächte hier, ein paar Nächte dort. Manchmal wohne ich bei den Landors. Der ist Zimmermann. Sie haben ein großes Haus. Manchmal gehe ich nach Lafayette. Auch Irma wohnt bei den Streikenden, genau so wie ich. Man kann mich viel schwerer kriegen in so einem Streikerhaus", erläuterte er sachlich. „Irma wohnt bei den Streikenden, weil wir ja kein Geld für regelrechte Gehälter haben."
„Ich bekomme kein regelrechtes Gehalt", warf Irma beiläufig dazwischen. „Manchmal wohne ich bei Doris, sie hat ein Zimmer bei den Bisphams."
„Ja, das ist eine gute Idee", sagte Fer. „Auch Hewlett könnte bei den Bisphams wohnen. Nachts wird das Haus bewacht. Man ist dort gut aufgehoben."
„Bewacht?" fragte Roger.
„Ja, die Jungs bleiben die Nacht auf und lösen sich ab. Damit das Haus nicht mit Dynamit in die Luft gesprengt und niemand mehr entführt wird."
Der junge Hewlett, der in leichtfertiger Abenteuerlust nach Stonerton gekommen war, sah sich jetzt plötzlich gewaltsam aus der eigenen Bahn gedrängt und in das Lager der Arbeiter hinübergeschoben. Die Parkers glaubten, dass all der Unfrieden hier in Stonerton von Fer verursacht wurde und dass es ihre Pflicht wäre, ihn zu ,entfernen'. Roger erinnerte sich daran, wie Frau Parkers Kopf im Glorienschein ihrer weißen Haare gezittert hatte, als sie ihm feierlich versicherte:
„Gibt es kein Gesetz, um diesen Mann und seine Kumpane zu entfernen, so werden wir gezwungen sein, zur Selbsthilfe zu greifen. Wir haben das Recht, unser Leben und unser Eigentum zu schützen."
Und hier war dieser Fer, der jede Nacht wo anders
schlief, ohne Geld, ohne die Möglichkeit, einen Augenblick allein zu sein.
Als Gradmesser für die Unwissenheit der Außenstehenden stand der ,alte Herzerweicher' Jellico da mit seinem Geschwätz von den gekrönten Häuptern Europas, von der Überlegenheit Amerikas, von brüderlicher Liebe und den Blumenemblemen der Staaten.
Roger packte seine Koffer in eine Autodroschke und fuhr hinunter zu den Bisphams. Die Hauptstraße von Stonerton ist eine Straße, wie man sie hübscher nicht wünschen kann. Ein Fluss durchströmt die Stadt, eine schöne Brücke überspannt in sanftem Bogen den Fluss. Die schlichte Säule eines Denkmals zu Ehren der Veteranen des spanisch-amerikanischen Krieges steht am Ende der Straße. Diese Straße mündet in einen dunklen, schönen Berg. Dem Denkmal gegenüber steht das Gerichtshaus mit einem Säulengang im Kolonialstil und einer Treppenflucht aus weißem Stein.
An dieser Straße stehen weiter unten die Häuser, in denen die wohlhabenden Leute seit Generationen leben. Auf dem Platz vor dem Gerichtsgebäude verkündet eine Gedenktafel die Tatsache, dass hier die Stelle sei, an der die ersten Siedler auf der Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung sich niedergelassen hatten. Die Stonertoner ehren fromm das Andenken ihrer revolutionären Ahnen. Sie erinnern sich der Pioniere, sie erinnern sich der Tage des Bürgerkriegs. Diese Leute, die immer von Vaterlandsliebe sprachen und am 4. Juli Reden über die Freiheit schwangen, waren dieselben Leute, die Fer mit Gewalt entführt hatten und die streikenden Arbeiter mit solchem Hass verfolgten, dass das Bisphamsche Haus bewacht werden musste.
Das Bisphamsche Haus, ein roter Ziegelbau, stand an einer Ecke des Platzes. Unten war ein kleines Restaurant, oben war die Herberge. Neben Bispham gab es noch einen Krämerladen und daneben eine Tankstelle mit Garage. An der Hinterfront des Hauses zog sich eine Galerie entlang. Diese Galerie führte auf ein leeres Grundstück, dem man es noch ansah, dass es vor Zeiten ein Garten gewesen war. Jetzt war es mit Kisten, Blechbüchsen und andern Abfällen des Krämerladens übersät.
Bispham war ein schwerfälliger, schweigsamer Mensch, breitschultrig und stoppelbärtig. Frau Bispham zeigte Roger ein Zimmer, das ein Bett, einen Waschtisch und einen Stuhl enthielt. Die weite Halle hatte Oberlicht, einen großen eisernen Ofen und mehrere Stühle.
Max Harris und seine Frau wohnten auch hier. Er war in der Spinnerei Maschinenmeister gewesen und hatte gut verdient. Mit den andern zusammen hatte auch er die Arbeit niedergelegt; dann wurde eines Abends das Haus, das er sich selbst gebaut hatte, mit Dynamit in die Luft gesprengt. Während Frau Bispham geschäftig frische Handtücher auslegte, teilte sie Roger mit: „Die Stücke, die übrig geblieben, waren nicht groß genug, um einen Zahnstocher daraus zu machen."
Auch Doris Pond von der Roten Hilfe, ein überarbeitetes, geplagt aussehendes Mädchen, wohnte hier, und Irma nahm von Zeit zu Zeit bei ihr Quartier. In den Zimmern war kein fließendes Wasser, aber am einen Ende der Halle gab es neben einem Fenster, das auf den Berg hinausging, einen Wasserhahn. Alle kamen morgens hierher, um sich zu waschen. Es war einfach und primitiv und sauber genug. Roger war froh, hier zu sein.
Nach kurzer Zeit kamen vier Burschen mit Schießeisen herein. Sie waren vom gleichen schlenkernden Gebirgstypus, den er schon kannte. Einer von diesen war
Del Cuthbert, ein auffallend schöner Junge. Alle waren sich ihrer Würde bewusst. Zwei saßen im Vorderzimmer, das mit einem Flügel, einer Salongarnitur von der Art, die man auf Abzahlung kauft, einem Erkervorsprung und zwei Bildern — billige Dutzendware — ausgestattet war. Die beiden andern Wächter gingen auf die hintere Galerie hinaus. Frau Bispham sagte laut zu Frau Harris: „Nee, Frau Harris, der Baugrund da hinten macht mir Sorge. Ist doch gar zu leicht, einen Klumpen Dynamit dort einzustecken."
„Das schon", pflichtete Frau Harris bei. Sie war eine hübsche, dunkelhaarige Frau mit rundem Gesicht. Sie erzählte gern die Geschichte, wie sie die Explosion gehört hatte und nach Hause gegangen war, „ohne sich träumen zu lassen, dass es ihr eigenes Haus gewesen war". Auch Hoskins wohnte hier, er saß im Gespräch mit Fer und Bispham, während Cuthbert, auf sein Gewehr gestützt, hinter ihm stand.
Man hörte rasche Schritte auf der Treppe. Frau Bispham rief: „Wie geht’s, Frau Trent?"
Frau Trent sah mit ihren kurzen Haaren und sehr weiten Augen wie eine ,höhere Tochter' aus.
„Ich bin hier grad die Straße heruntergekommen, und da meinte ich, ich komme mal herein und sag euch allen guten Tag. Wie steht’s?" Sie versuchte, unbefangen zu sein, zupfte fortwährend nervös an den Fingern. Ihre Augen verließen das Gesicht Rob Trents keinen Augenblick. Er war von der Galerie hereingekommen. „Wie steht’s?" wiederholte sie. „Ist alles ruhig? Erwartet ihr, dass etwas passiert?"
„Es ist alles recht ruhig", sagte Frau Bispham und schaukelte sich im Stuhl.
„Was ist denn los, Lucy?" sagte Max Harris. „Hast
du's wieder mit der Angst? Brauchst keine Bange zu haben."
„Sie hat keine Bange", sagte der junge Trent. Er stützte sich auf sein Gewehr.
„Nein, ich hab keine Bange", versicherte sie. Bald sagte sie gute Nacht. Die Burschen mit den Gewehren gingen wieder auf die Galerie hinaus.
„Armes kleines Ding", sagte Frau Bispham. „Diese kleine Lucy Trent ist kaum zwei Monate verheiratet, und sie weiß ganz genau, dass ihrem jungen Mann was passieren wird. Man sollte einen andern Jungen zur Wache nehmen."
Roger wachte am nächsten Morgen früh auf. Als er in die Halle kam, stieg eine Frau die Treppe herauf. Sie trug ein schweres, graues Tuch in der Hand. Die Wächter schliefen in unbequemen Stellungen, einer auf der kurzen Sitzbank, der andere auf dem harten Sofa des Vorderzimmers, wo sie Wache hielten.
„Ich komme, meinen Jungen zuzudecken. Der hat die ganze Nacht aufgepasst. Wenn's hell wird, können sie ein Schläfchen tun."
Sie ging geräuschlos zu dem schlafenden Cuthbert bin. Sie sah zu jung aus, um schon so einen erwachsenen Burschen zum Sohn zu haben.
Bald begann sich der Platz mit Menschen zu füllen. Lastwagen und Autos kamen von den Bergen. Das Gemurmel einer Menge wurde laut. Die Polizei war schon zur Stelle.
Lastautos kamen, mit roten und weißen Bändern geschmückt. In die Menge mischten sich weiß gekleidete Mädchen, mit blauen Schleifen und weißem Band über die Brust, auf dem in roten Lettern das Wort ,Verband'
stand. Hochgewachsene, grobschlächtige alte Männer schlürften durch die Menge. Auch Frauen waren da, von den Bauernhöfen des Hochlands, deren Gesichter so sonnengebräunt waren, als hätte man sie mit Butternusssaft gefärbt.
Da waren auch die Familien der Arbeiter der neuen Fabrik. Das waren Arbeiter, die für die Industrie neu angeworben worden waren zusammen mit Arbeitern aus der alten Werksiedlung. Sie waren von nah und fern gekommen, manche waren schon vor Tagesanbruch unterwegs. Ihre Kleidung verriet, wie wenig sie verdienten. Ihre zerfurchten Gesichter und mageren Leiber zeigten, wie schwer sie arbeiteten. Roger sah jetzt zum ersten Mal eine solche Arbeitermasse, und es überkam ihn eine unerwartete Ergriffenheit. Er schämte sich nicht, Hoskins das zu sagen.
„Ich kenn das", antwortete der, „mir geht’s genau so. Ich muss immer daran denken, dass das die ,fügsamen hundertprozentigen Amerikaner' sind. Sehen Sie sich die mal an." Roger sah sie an und der Anblick machte ihn wütend.
„Das bringt mich aus dem Häuschen", sagte er. „Sie sind schon zu lange fügsam und hundertprozentig gewesen."
„Ich bin schon vor siebzehn Jahren in Lawrence aus dem Häuschen geraten", bemerkte Hoskins ohne Nachdruck, „und hab mich seitdem noch nicht beruhigt".
Die Menschenmenge auf dem Platz war gewachsen. Die Polizei war unruhig und ängstlich. Harris, Wes Elliott, Irma, Doris Pond und andere Führer waren dabei, die Arbeiter in einer gewissen Ordnung aufzustellen. Roger hatte schon allerlei Aufzüge gesehen, und Hoskins
noch mehr. Er hatte den schönen Marsch von Passaic nach Lodi erlebt, wo eine ernste, imposante tausendköpfige Menschenmenge um die Farbstoffwerke zog, unbehelligt ihre Lieder singend. Tausende und aber Tausende Arbeiter schritten dort ruhig, voller Kraft und voller Zuversicht über die grauen, winterlichen Felder.
Aber der Zug dieser nordkarolinischen Gebirgsbewohner wird ihm immer im Gedächtnis bleiben als etwas Ergreifenderes, in einem gewissen Sinne Bedeutsameres als jede andere Demonstration, die er bisher gesehen hatte.
Die Arbeiter marschierten in guter Ordnung. Sie führten selbstverfertigte Transparente mit. Männer und Frauen gingen zusammen, die Mädchen in Gruppen, manche fuhren in Lastautos und alten Fordwagen. Sie strömten hin mit der Aufschrift: „Willkommen Fer!" auf ihren Fahnen und demonstrierten vor jedem, der es sehen wollte — vor den ,ehrbaren Bürgern', vor dem Staate Nordcarolina, vor ganz Amerika.
Hier gingen Menschen, Männer und Frauen und Kinder zusammen. Reihe auf Reihe jugendlicher Fabrikarbeiter marschierte mit Schildern, auf denen zu lesen war: „Wir wollen Schulen." Das war die Brigade der Spinnereikinder.
Es gab auch kleinere Kinder mit Schildern: „Müssen wir in die Fabrik gehen?"
Hier demonstrierten Männer, Frauen und Kinder, mit Fahnen und Musik durch die Straßen ziehend, um etwas mehr Lohn und einige Stunden weniger Arbeit.
Die Arbeiter von Tesner kamen auf zwei Lastautos, die benachbarte Farmer ihnen geliehen hatten. Mamie Lewes saß auf einem dieser Autos. Ihr Herz klopfte schnell. Sie war allein, vereinsamt gewesen. Seitdem ihr Mann fortgegangen war, verdiente sie so wenig, dass sie
nicht einmal in der Werksiedlung wohnen konnte. Sie kannte wenig Leute. Jetzt war sie hier mit dabei, sie war ein Teil des Zuges. Gestern war sie in den Verband eingetreten, gleich nachdem sie nach Tesner zurückgekommen war, und da hatte man sie gefragt, ob sie auch gern mit im Zug sein möchte. Eine Kapelle spielte. Fahnen flatterten. Mamie Lewes war, als müsste sie vor Aufregung vergehen. Jetzt kam Fers Auto vorbei und alle schrieen: „Fer! Fer! Fer!", so laut sie nur konnten. Auch Mamie Lewes schrie.
Sie fühlte sich als Teil der Menge. Alle marschierten im Takt für ein und dieselbe Sache. Sie waren alle in ein Ganzes aufgegangen, das größer war als sie selbst —, das sie alle zusammenführte und zusammenschweißte zu etwas, das außer ihnen stand. Das wird die Solidarität sein, von der sie immer sprechen, dachte Mamie Lewes und empfand das als eine neue, wertvolle Entdeckung.
Die Fenster waren von ,ehrbaren Bürgern' besetzt, von Leuten, die angstvoll auf die vorbeimarschierenden Arbeiter herunterglotzten. Polizeistreifen waren auf allen Straßen. Die Zeitungsberichterstatter flitzten in Erwartung von Zusammenstößen in ihren Autos hin und her.
Es gab zwei Parteien: Spinnereiarbeiter und Städter. Es war beinahe wie im Bürgerkrieg. Außenseits eine Menge zorniger Menschen, Menschen, die brummten wie die Hornissen um ihr aufgestöbertes Nest. Die Arbeiter hätten mit ihrer ,unzeitgemäßen' Revolte den Anmarsch der Prosperität aufgehalten. Die Grundstückspreise wären im Steigen, der Zuzug zur Stadt wäre groß, und gerade jetzt müssten diese Spinnereiarbeiter streiken und unerwünschtes Aufsehen erregen.
Der Strom der Arbeiter floss eindrucksvoll dahin. Eine Drohung lag in ihrer Zahl, eine Drohung auch in
ihrem Ernst. Sie glichen keiner Gruppe von Arbeitern an irgendeinem andern Ort. Nichts dergleichen war in diesen Bergen je geschehen. Diese Arbeiter hatten einander noch nie, von Angesicht zu Angesicht, in solchen Massen gesehen.
Es war ermutigend und begeisternd. Kleine Flaggen, rote, weiße und blaue billige Dekorationen. Es war seltsam zu bedenken, dass alle diese Menschen wegen Fer zusammengekommen waren, wegen diesem netten Burschen mit dem schwachen Magen. Durch welchen Zufall war gerade dieser Fer dazu ausersehen, diese Leute zu führen? Solche Gedanken fuhren Roger flüchtig durch den Kopf, während sein Herz im Rhythmus ,Etwas wird passieren! Etwas wird passieren!' rascher klopfte.
Hoskins sagte: „Gefährlich ist die Sache schon. Amerikaner verstehen den Sinn von Demonstrationen nicht. Die europäischen Länder verstehen es, denn es ist lange ihr einziges Recht gewesen."
In diesem Augenblick geschah es. Keiner wusste genau, was es eigentlich war.
Einer von den Zuschauern hatte höhnisch gekräht. Jemand hatte die Demonstranten mit etwas beworfen.
Die Demonstranten schrieen zurück: „Menschenräuber!"
Steine flogen aus der Menge, die die Bürgersteige besetzt hielt. Die Demonstranten lösten ihre Reihen.
Eine Schlägerei begann.
Einen Augenblick zögerte der Zug. Es sah aus, als würde gleich die Hölle losbrechen. Es sah aus, als würde der Aufmarsch in einem Tumult enden.
Mit knapper Not hielt Dan Marks die Arbeiter in Reih und Glied. Er stand gerade vor denen, die die Reihen lösten und rief laut:
„Weitermarschieren!"
Andere verantwortungsbewusste Arbeiter wiederholten den Ruf: „Weitermarschieren!"
Harris, der alte Trent und die Trentschen Frauen fuhren gerade rechtzeitig von hinten an die Kämpfenden heran und hielten die übrigen in der Reihe.
Der Zug bewegte sich weiter und ließ nur einige Leute inmitten einer Schlägerei zurück.
Einige Verhaftungen wurden vorgenommen. Aber die Masse der Demonstranten marschierte weiter.
Bald war sie unversehrt außerhalb der Stadt und nahm Richtung auf die Werksiedlung. Autos mit einigen der älteren Männer und Frauen bildeten die Nachhut.
Der abmarschierende Zug ließ eine zornig lärmende Menge auf den Straßen zurück.
„Alle hätten sie verhaftet werden sollen."
„Man hätte ihnen das Republikschutzgesetz vorlesen sollen."
„Jetzt wird man wohl die Miliz einsetzen."
„Das wird man auch wirklich tun", sagte Hoskins.
Die Zeitungsberichterstatter waren auf dem Wege zum Telegraphenamt, um dort ihre Berichte zu schreiben, jeder von seinem Standpunkt aus. Der Mann der ,Times' hatte gerade den Gouverneur angerufen. Dick Durgan hatte mit dem Polizeichef gesprochen. Ein anderer hatte Fer interviewt.
„Na", sagte Dick, „da hat man die Bescherung. Der Gouverneur schickt Miliztruppen — werden heute abend hier sein."
„Wer hat den Krach angefangen, habt ihr gesehen?"
„Einer hat von außen mit Klamotten geworfen, und darauf haben die Leute die Reihen verlassen."
Über die Drähte lief die Nachricht, dass es versucht worden war, den Aufmarsch zu stören. Diese Berichte, die ihrem Kern nach nicht sehr auseinander gingen, erhielten in den Schlagzeilen der verschiedenen Blätter sehr verschiedene Deutungen. Alles war da: Von der Schlagzeile ,Werkpolizisten überfallen Aufmarsch' in der einen Presse bis zur Schlagzeile ,Gouverneur fordert Truppen an, da Streikende Tumult herbeiführen' in den örtlichen Blättern, die am selben Abend den berühmten Leitartikel brachten: ,Wie lange soll noch dieser Kerl Deane unsere Geduld missbrauchen? Wie lange sollen wir noch müßig zusehen, wenn der Mob durch die Straßen unserer schönen Stadt rast'.
Als die Reporter fertig waren, war der Aufmarsch längst vorbei. Die Leute zerstreuten sich. Aber das Gefühl der Spannung ließ nicht nach. Man spürte noch immer, dass Gewaltausbrüche bevorstanden.
Bei Bisphams lehnte sich Fer im Polstersessel zurück und fächelte sich mit seiner Mütze.
„Das wär um ein Haar schief gegangen. Pfüh! Bin froh, dass das vorbei ist." Er schöpfte tief Atem. „Ich wollte diesen Aufmarsch nicht. Ich wollte ihn gar nicht, aber die Streikleitung wollte es haben und die Arbeiter auch. Ich möchte weg von hier, wenn auch nur für diese Nacht."
Einer von den langen, schmalgesichtigen Männern kam herein, ihm folgte ein großes Mädchen, das lachte. Das Mädchen blickte Fer in die Augen und lächelte ihn an.
„Na, Fer", sagte der Mann, „ich hab einen Moment gemeint, es gibt Krieg. Es wär gut, wenn du für heut
Nacht herauskämst, zu meinem Sohn in die Wohnung. Kommt alle heraus und esst einen Happen mit uns." Er bezog Hoskins und Roger in die Einladung mit ein. „Die Jungs haben ein Auto draußen."
„Wer soll denn die Verbandsversammlung abhalten?" fragte Fer im Zweifel. „Es muss jemand vor dem Gerichtsgebäude sprechen."
„Sie bereiten dort schon alles vor", sagte der große alte Mann, Trent. „Du sprichst zuerst, Fer, und wir warten dort auf dich."
„Schön", sagte Fer, „aber was ist mit der Verbandsversammlung?"
Harris und einige andere junge Leute waren hereingekommen. Harris sagte: „Es ist besser, du läufst heut abend nicht zu viel in der Stadt herum. Wir sind heut abend empfindlich und die andern auch. Du red man ganz kurz, Fer, und mach dann, dass du wegkommst. Wir und die andern Jungs werden die Versammlung schon ohne dich abhalten."
Sie fuhren fünf Meilen in die Berge hinauf. Fer und Roger und Trent und Hoskins und das Mädchen, alle in einem klapprigen, alten Auto. Eine Haarsträhne hing dem Mädchen ins Gesicht, ihre zart geröteten Wangen waren mit blassen Sommersprossen übersät. Ihre Nase war fein geschnitten, doch mit einer leisen Sinnlichkeit in den breit geöffneten Nüstern. Sie war gut gebaut und rundlich und hatte ein heiteres, spöttisches Lachen. Sie schien in die Strenge dieses Lebens in den Bergen nicht hineinzupassen und war doch ein wesenhafter Teil der ganzen Landschaft.
Ein Enkel des großen alten Mannes steuerte den Wagen. Das Mädchen war die Tochter der schwer-
fälligen Frau in mittleren Jahren, die die Gäste empfing. Das Haus war ein einfacher Fachwerkbau, ganz neu. Es war von dem Geld gekauft worden, das die Kinder in der Fabrik verdienten. Es machte, obwohl es in einer so alten Gemeinde stand, den Eindruck eines Grenzerhauses. Vielleicht lag dies an seiner Neuheit oder daran, dass Gewehre an den Wänden hingen.
Als sie hereinkamen, standen auf allen Seiten junge Männer auf. Es waren im ganzen sechs Burschen von fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren. Nur der älteste war verheiratet und wohnte hier mit seiner Frau.
An die Wand gelehnt saß ein älterer Mann mit einem freundlichen, lustigen Gesicht, launigen Falten um den Mund und einem wohlgeformten, kahlen Kopf. Neben ihm saß ein sehr kleines, 6ehr dünnes Mädel. Ihre Züge waren zart und scharf, aber abgeschlossen geformt wie die einer Frau. Ihre graugrünen Augen schienen zuerst ungeheuer groß. Später überlegte sich Roger, dass diese Augen nur darum so groß aussahen, weil das kleine Gesichtchen so schmal war. Sie und ihr Vater saßen Hand in Hand.
Frau Trent sagte: „Fer, du kennst Herrn Jolas und Binney."
„Aber gewiss", sagte Fer und schüttelte ihnen die Hände.
Die Frauen machten sich daran, Kaffee und Grütze, heißen Zwieback, selbsterzeugte Marmelade, saure Gurken und gebratenes Pökelfleisch aufzutragen. Die Männer unterhielten sich mit ernster Miene. Binney Jolas und ihr Vater saßen in vollkommener Zufriedenheit nebeneinander. Von Zeit zu Zeit sah sie mit einem raschen Blick, wie ein Vogel, zu ihm auf, von Zeit zu Zeit sah er auf sie herab. Sie waren sehr arm, aber sie hatten wenigstens einander. Sie hatten etwas, was
ihnen niemand nehmen konnte. Binney arbeitete schon über ein Jahr in der Fabrik. Es schien unmöglich, dass sie schon fünfzehn Jahre alt wäre.
Die Gäste und die Mannsleute setzten sich alle an den Tisch, und die Frauen bedienten sie. Roger spürte bald die Atmosphäre gegenseitiger Anhänglichkeit, die hier herrschte. Diese jungen Menschen hatten einander wirklich gern. Hier in den Bergen hatte Blutsverwandtschaft noch Bedeutung. Man sah es an dem Verhalten der jungen Leute zu ihren Eltern und zueinander, man sah es an Binney und ihrem Vater. Fer entspannte sich in dieser Atmosphäre der Wärme und Gutherzigkeit.
Als sie mit dem Essen fertig waren, brachte einer der Burschen eine Geige heraus. Sie begannen, geistliche Lieder zu singen. Sie sangen niemals Schlager, nur ihre eigenen Balladen und Hymnen der Berge. Als Hoskins und Roger wegfuhren, hatte Käte Trent ihren Stuhl dicht an Fer herangezogen. Ihr tiefes Lachen schien ein Teil der Wärme zu sein, die in diesem kleinen Fachwerkhaus herrschte. Als sie den Berg hinunterfuhren, hörten sie es noch, wie es sich mit dem Gesang vermischte.
IV. KAPITEL
Früh am Morgen traf die Miliz ein. Eine Kompanie uniformierter Burschen marschierte vom Bahnhof zum ,Streikbrecherhotel'. Dort schwärmten sie im kleinen Speisesaal aus und frühstückten. Meist waren es hochgewachsene Burschen mit ausgeprägten Zügen.
Diese Burschen waren auch aus den Bergen. Sie waren mit den Burschen und Mädchen verwandt, die sie bewachen sollten. In den Streiks, die Roger bisher im
Norden gesehen hatte, waren niemals Truppen eingesetzt worden. Im Norden nehmen die Leute die Streiks mit viel mehr Ruhe hin. Hier, wo es bisher so gut wie keine Arbeitskämpfe gegeben hatte, hatte jeder das Gefühl, das Ende der Welt müsse nahe sein.
Roger sah zu, wie die Miliz stramm die Straße entlangrückte, mit ihren jungen Offizieren, von denen der eine von sich sehr eingenommen war. Er stolzierte umher, eine Tränengasbombe auffällig am Koppel befestigt. Vor der Fabrik der Basil-Schenk-A.-G. schlugen sie ein Lager auf. Auf dem Dach brachten sie Maschinengewehre in Stellung. Es waren nur zwei Kompanien, aber doch schien alles voll von Uniformen.
Die Reporter unterhielten sich mit den jungen Leuten. Diese wussten nicht, wozu sie hergekommen waren. Sie hatten von einem gefährlichen jungen Mann gehört, der Fer hieß und der die Leute aufhetzte und zu Tumulten anstiftete. Roger dachte an den armen gehetzten Fer da hinten bei Trents, der sich nichts Besseres wünschte, als ein paar Tage dort bleiben und die Bäume ansehen zu dürfen.
Mutter Gilfillin und die alte Frau Whenck kamen an die Soldaten heran, während die Journalisten dort herumstanden.
„Junge", sagte Mutter Gilfillin, „was denkt ihr denn, was ihr hier machen sollt? Gegen mich wollt ihr die Fabrik schützen, Junge?"
Die Soldaten traten verlegen von einem Fuß auf den andern und einer von ihnen sagte: „Nee, Mutter, das glaube ich nun nicht, dass wir da etwas gegen euch beschützen sollen."
„Aber wir zwei sind Streikende, mein Junge, und wenn ihr da etwas schützt, dann schützt ihr es gegen
uns. Sieh zu, dass du kein Bajonett in so 'ne alte Dame piekst."
„Aber nein, Madamchen", sagte der Bursche, „da brauchen Sie keine Bange zu haben."
„Artiger Junge", sagte Frau Gilfillin, „ich denke, ihr wisst ja überhaupt nicht, warum wir streiken, nicht wahr?"
„Viel habe ich nicht davon gehört", sagte der Soldat.
Dann warf ein anderer ein: „Man hat uns bloß gestern Nacht gesagt, dass wir hierher müssen. Dass hier Tumulte sein sollen oder so was."
„Tumulte? Quatsch!" sagte Frau Gilfillin. „Wir haben einen Umzug gemacht, und dann haben ein paar Spitzel Klamotten geschmissen, und dann war ein kleiner Rummel, und wie der Sheriff gekommen ist, hat man Pfui geschrieen. Euch braucht man hier nicht, hier gibt es nur so 'ne guten, ruhigen Menschen wie ich."
Die Soldaten lachten betroffen. Ein paar Mädels kamen feixend die Straße entlang. Die Truppen sahen verlegen drein. Auf alte Damen und Mädchen waren sie nicht gefasst. Sie hatten Straßenmob und Tumulte erwartet. Alte Frauen, die mit ihren nussbutterfarbigen Gesichtern genau so aussahen wie die Frauen in ihren eigenen Gebirgsdörfern, riefen den Soldaten zu:
„So, nun seid man artige Jungs und seid vorsichtig mit euren Bajonetten."
Roger hatte in zu kurzer Zeit zuviel Eindrücke empfangen und war müde. Vom eigenartigen, nervenreizenden Gefühl der Furcht. Vom Versuch, den besonderen Geruch dieser Menschen, ihre von anderen Menschen abweichende Eigenart sich selbst zu erklären. Vom hartnäckig bohrenden Bewusstsein: in diesen Menschen steckt etwas anderes, etwas sehr Gutes, etwas zugleich Vollkommenes und Beschränktes. Vom Hass
auf die Parkers. Von der Demonstration, die schön, begeisternd und nervenzerrüttend zugleich war.
Dann war noch die Sache mit Fer. Roger sah einen bestimmten Fer und Irma einen ganz anderen. Den Parkers wiederum erschien Fer als der leibhaftige Antichrist und den Arbeitern als Messias. Und er war das eine wie das andere. Dieser überlastete, geplagte Jüngling war wirklich all dies zugleich.
Roger beschloss, sich zu erholen, indem er in der Stadt herumfuhr und sich damit zerstreute, die Dinge anzusehen und die Geschichten zu belauschen, die die Steine und Ziegel ihm erzählten. Die Steine lügen nicht und verraten einem, wenn man sie gewähren lässt, alle Bestrebungen eines Volkes. Sie nennen seine Herren und seine Götter und erzählen von seinen Siegen und Niederlagen. Die Geschichte, die die Steine Roger erzählten, war dies:
Die Altstadt von Stonerton war Kreisstadt gewesen und war es auch jetzt noch. Man konnte noch die Spuren des alten Südendorfs sehen, das schläfrig, aber doch mit einer eigenen, stolzen Würde dalag. Vor Jahren hatten dann die Taliaferros und die Cuthberts hier eine Hausse entfesselt. Um diese Zeit wurde auch der prächtige Boulevard angelegt und die ruhige Brücke gebaut, auf der jetzt der Name Taliaferros, der sie erbaute, in Stein gemeißelt steht.
Dann kam der Aufschwung der Baumwollspinnerei, und die Neustadt Stonerton wuchs aus der Erde. In Slonerton-Altstadt gab es nur eine einzige Werksiedlung, die Basil-Schenk-A.-G., die über tausend Arbeiter beschäftigte. Diese Werksiedlung umgab den Betrieb im Tal und schlängelte sich unregelmäßig den Hügel hinauf und hinunter. Es waren das verwahrloste Holzhäuser, die auf Ziegelstelzen im roten Lehm standen. Der
Bindestrich von Straße, der die Werksiedlung mit der Stadt Stonerton verband, zeigte ein paar erbärmliche, armselige Läden. Die Arbeiter verdienten bei den niedrigen Lohnsätzen so wenig, dass sie mehr Läden nicht gebrauchen konnten. In der Werksiedlung war alles schlapp und entmutigend.
Die zwei Meilen entfernt liegende Stadt Neu-Stonerton war wie von einer andern Welt. Es fehlten ihr das zeitgereifte Amtsgebäude im Kolonialstil und das schöne Flüsschen unter der sanft gewölbten Brücke, aber dafür hatte sie eine surrende, jugendliche Vitalität. Es gab da zwei parallel laufende Geschäftsstraßen, gekreuzt durch zwei andere ebensolche Straßen. Alle waren voll moderner Läden. Vor dreißig Jahren war hier bloß ein Kreuzweg gewesen; jetzt konnte die Stadt sich beinahe rühmen, der Mittelpunkt der Piedmonter Textilindustrie zu sein. Überall standen neue öffentliche Prachtbauten, nach den Plänen tüchtiger Architekten und guten Mustern, meist aus hellen Ziegelsteinen im Kolonialstil erbaut. Die Stadt besaß alles: Krankenhäuser, Schulen und — noch etwas, in einer Stadt des Südens ganz Ungewöhnliches —: ein schönes Bibliotheksgebäude mit Garten.
Würdevoll und angenehm war auch das Villenviertel mit gutgeschnittenen Grundstücken, Rasen, Rosengärten und schattigen Bäumen. Außerhalb der Stadt, wo das hübsche Flüsschen zu einem Schwimmbassin und einem künstlichen Teich geformt worden war, lag der Landklub. Junge Burschen im Flanellanzug, Mädchen in weißen Kleidern flitzten auf den Tennisplätzen hin und her. Das weite Gelände des Landklubs war ein angenehmes Gemisch von ungezähmter Natur und Landschaftsgärtnerei.
Um die Stadt herum lagen die Betriebe. Eine
Spinnerei neben der andern, jede umgeben von ihrer Werksiedlung. Einige der älteren Werksiedlungen zeigten schattige Bäume, Gärten und Pflanzenwuchs. Meist bestanden sie aus hässlichen, gleichförmigen Fachwerkhäusern, die aus rotem Lehm hervorwuchsen. Der ganze Anblick war für einen Nordstaatler ebenso verwunderlich wie etwa Amerika für einen Engländer. Innerhalb eines Menschenalters waren Hunderte von Spinnereien erbaut und Millionen über Millionen investiert worden. Eine ganz neue Lebensordnung war eingezogen. Die aus Glas und Ziegelsteinen erbauten Betriebe waren alle neu und sahen den abstoßenden grauen Ziegelbaracken Fall Rivers, New Bedfords, Passaics oder Pattersons nicht im entferntesten ähnlich. Die Leute, die diesen Wohlstand geschaffen, und die Arbeiter, die diesen Wohlstand ermöglicht hatten, waren alle Amerikaner. Hier gab es keine Ausländer. Zwar war aus dem Norden Kapital zugeströmt, aber die Initiative des Ganzen gehörte dem Süden. Eine Industrie war hier erstanden, ebenso neu und ebenso mächtig wie die Industrie des Westens in den neuen Automobilstädten — und nun boten die Arbeiter diesem Fortschritt mit ihren Forderungen Halt. Wut, Angst und Terror waren die Antwort darauf.
Als Roger zurückkam, fand er Dick Durgan und Hoskins im kleinen Restaurant bei Bisphams im Gespräch mit Fer.
„Hallo! Hören Sie sich das mal an!" rief ihm Dick zu.
„Wissen Sie, wie es hier mit dem Streikpostenstehen gemacht wird?" fragte Fer. „Die Burschen und Mädels fahren in Autos hinaus, manchmal zwanzig, dreißig
Meilen weit, und verstellen die Straßen, die nach Stonerton führen. Man bringt nämlich Streikbrecher aus Gaston und Carrabus und andern Orten."
„Wie viel sind draußen?"
„Über achtzig Prozent", sagte Fer, „ganz bestimmt soviel."
„Die Spinnereien behaupten, sie hätten genug Arbeiter."
„Das sagen sie immer. Das ist ihr ewiges Lied. Was sie damit sagen wollen, ist, dass sie genug Streikbrecher kriegen können —, wenn wir nämlich die Streikbrecher hereinließen. Aber es würde schon eine Weile dauern, bis sie mit Streikbrechern die Produktion in Gang halten könnten."
Er sah erfrischt und jugendlich aus, seine Haut und seine Augen waren klar. Der Schatten des Terrors war für einen Augenblick von ihm gewichen.
Wer ist im Streikposten-Ausschuß?" fragte Hoskins.
„Oh, es sind 'ne ganze Menge Jungens drin. Sie kommen bei den Verbandsversammlungen alle zusammen und machen ihre Pläne. Jetzt kommen viele zusammen."
Ein Rudel junger Männer kam herein. Sie schreien durcheinander. „He, Fer! Fer! Wir wollen mit dir reden!" Hinter ihnen kam eine Menge junger Mädchen. Sie waren alle voll Leben und jugendlicher Initiative. Sie zeigten nicht die geringste Unlust. Es waren alles stramme, junge Leute, erdnahe und ihrer eigenen, unverdorbenen Kraft bewusst.
„Diese Kinder", sagte Hoskins, „sind Individualisten. Dort oben in den Bergen wissen sie beinahe gar nicht, dass sie im Zeitalter der Maschinen leben. Sie glauben, sie haben genug politische Macht, um die Dinge so zu machen, wie sie wollen. Sie haben keine blasse Ahnung
davon, welchen Kräften sie gegenüberstehen, davon, dass hinter den hiesigen Fabrikanten der Textilunternehmerverband steht und hinter dem noch die organisierten Arbeitgeber de3 ganzen Südens."
„Du glaubst also, dass sie keinerlei Aussicht auf Erfolg haben?" fragte Dick Durgan.
„Nee, Jungs", sagte Hoskins, „über Erfolgschancen möchte ich lieber nichts sagen, wenn ich an Rom und die frühen Christen und die Katakomben denke und mir dann überlege, wie es Rom erging. Ich muss dann dran denken, dass letzten Endes das Römische Reich die Oberhand behielt und die christlichen Bildwerke genau so kostspielig wurden wie die Statuen Caesars!"
Roger wurde vor Morgengrauen durch Dan Trent, den Sohn des alten Trent, geweckt, der an seine Türe klopfte, vorsichtig den Kopf durch den Türspalt hereinsteckte und leise sagte:
„Wollen Sie raus zu den Streikposten?"
Er hatte eine angenehme, einschmeichelnde Stimme. Vor dem Hause stand ein alter Ausflugsomnibus, und Roger stieg mit einem ganzen Rudel Streikender mit ein. Der Morgen brach klar und rein über den herrlichen Bergen an. Sie bogen ab, ohne Neu-Stonerton zu passieren. Die Menschenleere ließ die Straßen Alt-Stonertons breit erscheinen. Sie bogen in eine ungepflasterte Landstraße ein, die einen schlängelnden Bach entlang in eine schmale Bergschlucht führte. Sie hörten vor sich die Hupen zweier anderer Wagen und sahen eine Menge junger Streikender draußen an der Streikpostenkette.
„Eine ganze Menge von den Jungens sind die ganze Nacht hier die Berge auf und ab gerast. Es gibt welche, die sagen, wenn sie nächtelang für den Unternehmer
haben arbeiten können, werden sie auch noch für'n Verband die Nacht durcharbeiten können", sagte Dan.
Er war ein großer Bursche mit rostbraunem Haar, braunen Augen, von der warmen rotbraunen Farbe, die allen Trents eigen war und mit einer stattlichen Anzahl Sommersprossen auf seiner dunklen Sonnenbräune.
Die Straße schlängelte sich immer weiter aufwärts. Von Zeit zu Zeit passierten sie ein sauberes Bauernhaus. In der ganzen Gegend hatte der wachsende Wohlstand mit den altmodischen Blockhäusern und den geschwärzten Fachwerkhütten aufgeräumt. Neue Bauernhäuser waren erbaut worden, klein, aber sauber und verputzt.
Bald hörten sie Rufe und Pfui-Geheul, die das Motorgeräusch übertönten. Es war dies ein Lärm, den Roger noch nirgends gehört hatte. Er hatte Nieder-Rufe gehört, und darin steckte Furcht, er hatte Katzengeheul gehört, und im Katzengeheul steckte Bosheit. Aber die Pfui-Rufe Stonertons hatten etwas Lustiges und Höhnisches und Gefährliches zugleich. Es war wie das Bellen von Hunden, und war doch nicht so. Der frische Morgenwind brachte das hohe Kläffen der Mädchen.
„Pfui! Pfui! Pfui!" kam es höhnisch und beharrlich und herausfordernd.
„Das sind sie", sagte Dan.
Sie bogen um eine Ecke und hielten mit einem plötzlichen Ruck an. Sie standen am Ende einer langen Reihe von Autos und Lastwagen.
Mamie Lewes und vier andere Streikende aus Tesner standen auf Streikposten. Sie waren in einem alten Ford gekommen. Woods, der Verbandssekretär von Tesner. hatte vorgeschlagen, dass Tesner als Zeichen der Solidarität der Arbeiter ein Auto mit Streikposten herüberschicke.
Williams hatte gesagt: „Ich möchte, dass du auch mitkommst, Schwester Mamie Lewes. Kannst du von den Kindern loskommen?"
„Ich hab doch immer von ihnen loskommen müssen, wo ich hab arbeiten müssen. Seitdem wir streiken, hab ich mehr mit ihnen sein können als je. Kann ich sie allein lassen wegen der Arbeit, kann ich sie auch allein lassen zum Streikpostenstehen."
Sie war erschrocken und trotzig zugleich. Wenn sie mich anrühren, schlag ich zu, dachte sie bei sich und dann erblickte sie die Streikbrecher und vergaß in ihrer Feindschaft alles andere. Sie stellte sich ihnen entgegen, als ob sie allein sie vom Betrieb fernhalten könnte. Erregung stieg in ihr auf. Sie sah einen jungen Soldaten, der aussah, als wäre er mit ihr blutsverwandt, und schrie ihm zu:
„Ihr solltet für uns kämpfen, nicht gegen uns." Der Soldat wurde rot und seine Verlegenheit machte ihr Mut. „Ihr solltet uns helfen, nicht uns hinderlich sein!" rief sie.
Irgend jemand neben Mamie Lewes begann „Pfui! Pfui! Pfui!" zu rufen, und sie fiel in den Ruf ein, ohne richtig zu wissen, was sie tat.
„Pfui! Pfui! Pfui!" schrie sie mit ihrer hohen, reinen Stimme.
Die Burschen und Mädchen waren ausgestiegen und hatten sich längs der Straße aufgestellt. Ihnen gegenüber standen die Soldaten, schrecklich verlegen, ein wenig aufsässig, ein wenig aggressiv. Ihre Haltung war frech und schuldbewusst zugleich.
Beide gegnerischen Parteien waren jung. Wenig ältere Leute kamen bis zu dieser fernen Streikpostenkette heraus. Sie waren alle nicht nur aus derselben Gegend, sondern auch desselben Blutes. Etwas Heraus-
forderndes, Glitzerndes, Gefährliches lag zwischen ihnen. Hier konnte alles passieren.
Alle schlichen herum wie Hunde, wenn sie im Begriff sind, ein Wild anzuspringen. Alle bewegten sich mit unheimlicher Behutsamkeit. Alte Männer sagten zueinander:
„Wir wollen keinen Krieg, aber wenn es sein muss, wenn sie uns den Krieg bringen, müssen wir eben kämpfen."
Aus beiden Richtungen ertönte Rädergeräusch. Ein Lastauto voller Streikbrecher fuhr um die Biegung der ungepflasterten Straße. Auf dem Kühler saßen Nationalgardisten. Hinterher fuhr ein Auto mit Zeitungsberichterstattern.
Die Streikposten stürzten vor. Das ,Pfui! Pfui! Pfui!' schwoll zu einem richtigen Geheul an, schrille Mädchenstimmen bellten Streikbrecher! Streikbrecher! Streikbrecher!' Der herausfordernde junge Leutnant schrie: „Zurück da, alle!"
Steine flogen durch die Luft.
Ein Mädel stand mitten auf der Straße mit ausgestreckten Armen, ein kleines, lachendes Mädel mit lockigen Haaren. Sie riss einem überraschten Hüter der öffentlichen Ordnung die Pistole aus der Hand und stand damit mitten auf der Straße, eine lächerliche und romantische, kleine Gestalt.
Wieder ertönte Rädergeräusch, und ein zweites Lastauto voller Streikbrecher fuhr heran. Die Arbeiter riefen etwas und traten vor. Die Mädchen waren heiter, die jüngeren benahmen sich, als spielten sie vor einem Kinoapparat.
„Immer gibt es solche Mädels, die sich hervortun wollen, in jedem Streik", brummte Hoskins. „Und sie richten viel Unheil an."
Die Streikposten schoben sich vor. Roger erlebte das weitere Geschehen wie eine Zeitlupenvorführung; beide Parteien erschienen ihm tastend, unsicher.
Das zweite Lastauto versuchte weiterzufahren. Streikende hatten ihm den Weg verstellt. Die Soldaten der Nationalgarde griffen in Erwartung eines Befehls zu ihren Gewehren. Roger hatte den Eindruck einer fürchterlichen Unsicherheit, die zugleich alle Elemente einer Posse wie einer schrecklichen Tragödie in sich hatte. Einen Augenblick schien alles Handeln aufzuhören, jede Aktion schien einen Augenblick stillzustehen wie Wasser, bevor es den Damm überflutet.
Während des Bruchteils einer Sekunde herrschte ein seltsamer Zwiespalt zwischen der Wahrscheinlichkeit dessen, was geschehen könnte, und der Aktion. Die Streikposten und die Streikbrecher beschimpften einander und schreien erregt. Der junge Leutnant, noch immer nervös und herausfordernd, gab einen Befehl. Jemand warf eine Tränengasbombe. Alle bemühten sich, ihre Augen zu schützen. Die Streikposten wichen zurück. Der neben dem Führer des Lastautos sitzende Soldat gab einen Befehl. Das Auto schob sich durch die Menge und zerstreute sie.
Man hörte Schreie. Das Lastauto fuhr davon. Streikende taumelten, die Augen mit den Händen schützend, vorwärts, um ein Mädchen aufzuheben. Ein anderes Mädchen richtete sich mitten auf der Straße von selbst auf, das Gesicht ein einziger Blutklumpen. Ein drittes schrie laut auf.
„Ich bin hin! Ich bin hin! Er ist mir über den Leib gefahren!"
Das kleine, rot gekleidete Mädchen, das mit der Pistole des Polizisten herumgefuchtelt hatte, gab kleine abgerissene Laute von sich. „Oh! Oh! Oh! Sie haben Anni überfahren! Oh! Oh! Oh!"
„He, hilf mir mit dieser da. Diese gottverdammten Bankerte haben das Mädel überfahren!"
„Habt ihr's gehört, wie der Befehl kam ,Gas geben! Räumt sie weg, Jungs!'?"
Jemand sagte: „Alle verhaften. Los!" Die Hilfspolizisten und Schutzleute sprangen vor.
Eine Mädchenstimme, laut: „Kommt nur! Spart ihnen die Mühe, Jungs! Sie verhaften ans."
Einige wischten sich noch die Augen, aber die meisten hatten ihren Mut wieder gefunden. Trotzig und heiter gingen sie auf die Lastautos los. Von der Menge von zweihundert Streikenden wurden so viele wie möglich zusammengetrieben. Fast hundert von ihnen wurden verhaftet oder begaben sich freiwillig in Haft. Sie kletterten selbst auf die Lastautos und sagten: „Ich habe dasselbe getan wie die andern. Wenn ihr die andern verhaftet, verhaftet mich auch."
„Verhaftet uns alle. Wir waren alle zusammen dabei."
Wie der Schatten einer Wolke war das Unheil im Nu vorübergegangen. Die Burschen in Uniform feixten wieder, ein wenig ärgerlich, ein wenig missmutig, aber unendlich erleichtert. Die Streikenden murrten leise.
„Hast du gesehen, wie sie auf uns losfuhren?" „Ja, wie die Hunde haben sie uns überfahren."
Rogers Auto führte den Zug aus dem Engpass der Straße in die Stadt zurück. Hinter ihnen fuhren in den
Lastautos die verhafteten Streikposten. Sie sangen Arbeiterlieder, schreien ,Pfui' und johlten.
Die verhafteten Streikposten sperrte man bis zur Verhandlung in den Gerichtssaal ein. Der lag in der ersten Etage, zu der eine schöne weiße Marmortreppe führte. Man sperrte die Verhafteten hier ein, weil das Gefängnis bereits mit andern verhafteten Streikenden überfüllt war. Der Ziegelbau des Gerichtshofes mit seinen zwei hohen Säulen sah aus wie eine Bühnendekoration. Die Miliz stand, mit Gewehr und Bajonett bewaffnet, am Fuße der Säulen herum. Sie hatte sich über die ganze Länge der Treppenflucht malerisch verteilt. Die streikenden Mädchen steckten die Köpfe aus dem Fenster und sangen:
„Hört, Ihr Streikbrecher, diese Mär,
Von einem grausamen Millionär,
Basil Schenk wird der Millionär genannt,
Mit seinem Geld kauft er das Gesetz im Land,
Doch er kann nicht kaufen unsern Verband!"
Vor dem Gerichtsgebäude standen noch Truppen bereit, andere wieder hatten die Spinnerei umzingelt. Die verhafteten Burschen und Mädchen weigerten sich, ihre Namen zu nennen, oder gaben phantastische Namen an. Einige Berichterstatter schickten Artikel ab: „Streikposten liefern Miliz eine Schlacht!" Hoskins schrieb für seine Presseagenten einen Artikel, der lautete:
„Ungefähr hundert Burschen und Mädchen, alles streikende Textilarbeiter, wurden im Gerichtssaal eingesperrt und warten nun da auf ihre Aburteilung. Sind die Krankenhäuser von Stonerton mit verwundeten Streikbrechern gefüllt? Läuft die Ortspolizei in Verbandmull und Heftpflaster vermummt herum?
Nichts dergleichen. Das einzige Blut, das geflossen ist, war das Blut der Streikenden. Warum also dieser verschwenderische Einsatz bewaffneter Kräfte? Wozu die Maschinengewehre und Posten an den Betrieben? Warum halten die Milizsoldaten das Gerichtsgebäude besetzt, als wären sie die ,Besatzungsarmee'? Na, weil doch die streikenden Arbeiter die ganze Grafschaft mit Streikposten belegen. Sie wünschen eben nicht, dass Streikbrecher aus andern Bezirken hergeführt werden. Sie sperren die Straßen ab, die in die Berge, nach Virginien und Tennessee führen."
Hoskins schrieb seinen Artikel mit großem Genuss. Die jungen Leute und Mädchen schwirrten in Massen in Bisphams Logierhaus aus und ein oder saßen unten und tranken Kaffee. Von weit und breit kamen die Leute zur Gerichtsverhandlung herbei. Der Platz vor dem Denkmal füllte sich wieder mit hochgewachsenen, sanftstimmigen Farmern; diesmal waren mehr alte Frauen mitgekommen; sie wollten bei der Aburteilung der Jungen dabei sein.
Gerichtsverhandlungen und Massengottesdienste unter freiem Himmel sind in den Bergen des Südens die natürlichen Formen der Volksbelustigung. Es bestand ein ungeheurer Kontrast zwischen den braunen Frauen mit ihren langen, grauen Kalikoröcken, manche noch mit altmodischen Schuten auf dem Kopf — und den Mädels der Streikpostenkette mit ihren kess wirbelnden Röcken und Lippenstiften.
„Sie haben vielleicht keine Zeit, sich die Haare zu bürsten, bevor sie auf Streikposten gehen, aber eine jede malt sich ihren Cupidobogen auf, bevor sie hinausgeht", bemerkte Hoskins.
Die Stunde der Gerichtsverhandlung kam heran. Roger stieg die Treppe hinauf und stieß auf sechs Soldaten, die ihn mit gekreuztem Bajonett nach seinem Ziel fragten. Die Verhandlung hatte bereits begonnen. Ty Burdette, der Anwalt der Streikenden, nahm gerade einen Polizisten ins Kreuzverhör. Im Gerichtssaal waren viele Leute, ungeachtet der vielen Fragerei, der sie sich unterwerfen mussten. Eine Reihe Milizsoldaten war an der Schranke aufgestellt, die das Gericht vom Zuhörerraum trennte.
Der junge Leutnant, der wie ein Kinoschauspieler aussah, schlenderte den Gang entlang, gefolgt von seinen riesigen Mannen. Es war der Leutnant mit der kleinen Tränengasbombe am Koppel. Das ganze: die Zuhörer, die Farmer, die Streikenden draußen und drinnen, mutete wie eine Bühnendekoration an. Die hundert Angeklagten waren erregt und von dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit erfüllt. Die Szene hier war, genau wie vorher die Demonstration, genau wie die Streikpostenkette, voller Gefahren, aber jetzt in diesem Moment voller Gelächter. Burdette, grauhaarig, hakennasig, der Held von sechzig Mordprozessen, war gerade dabei, Thomas A. Dixon, einen Anwalt, der sich als Hilfspolizist betätigt hatte, anzubohren.
„Haben Sie nicht gewusst, dass sich nach dem Gesetz ein Anwalt nicht als Hilfspolizist betätigen darf?" knurrte Burdette. Dixons Antwort war nicht zu hören; dann erzählte er lauter die Geschichte eines Zusammenstoßes mit einer streikenden Frau.
„Hat diese Frau Sie verletzt, geschlagen oder verwundet?" bellte Burdette mit scharfem Spott.
„Sie hat mich angeflucht und alle Arten von Sohn geschimpft — Sie wissen schon, was für einen Sohn sie mich geschimpft hat!"
„Ich kann es mir vorstellen", sagte Burdette trocken. Der Zuhörerraum erdröhnte vor Lachen. Der Richter, ein Riese mit einem Gesicht blaurot wie eine Pflaume, klopfte mit einer leeren Brauseflasche auf den Tisch.
„Das ist hier kein Rummelplatz, sondern ein Gerichtssaal", erklärte er. Aber das da war einer Komödie weit ähnlicher als einem Gerichtshof. Alle waren allzu typische Gestalten, die langen, hageren Bauern, die Bauernweiber, der Richter mit dem roten Gesicht, der aussah, als ob er gerne einen höbe, der scharfe grauhaarige Anwalt mit seinem feinen pergamentfarbenen Gesicht und seiner schneidigen Art; alle waren sie allzu typisch, als ob sie ihres Typs wegen ausgesucht worden wären. Und doch geschah alles wirklich.
„Welches ist das kleine Mädchen, das Sie nach Ihrer Aussage eingeschüchtert hat?" fragte Burdette. Das kleine kraushaarige Mädchen mit der roten Jacke — genannt Kaktus-Käte — stand lächelnd auf. Wieder gab es schallendes Gelächter und Trampeln.
Der junge Leutnant gab dem Feldwebel einen Befehl, und dieser versuchte, einen Mann aus dem Saal zu entfernen. Der protestierte. Mit einem Schlag war der Gerichtssaal im Tumult.
Ein Stöhnen ging durch den Saal.
Der Richter hämmerte mit seiner Brauseflasche.
Hinten im Saal stand Fer auf. Seine Stimme klang sehr klar und beherrschte den drohenden Tumult.
„Jeder soll sich setzen, es ist alles in Ordnung." Sie setzten sich ruhig hin. Fer stand unter ihnen, die Schultern vornüber; er sah ein wenig schwer aus, als wollte er vorwärtsstoßen; dann ließ er sich wieder auf seinen Sitz zurückfallen.
V. KAPITEL
An diesem Abend saßen sie alle in der Oberlichthalle bei Bisphams, um den kalten, gusseisernen Ofen herum und unterhielten sich. Sie versammelten sich lieber hier als in dem schlecht gelüfteten und unbequemen Wohnzimmer. Frau Bispham, dick und anspruchslos, saß mit gefalteten Händen. Irma war sehr erregt. Sie stritt sich mit Hoskins wegen Kaktus-Käte. Irma sagte, sie sei ein aktiver Kämpfer. Hoskins sagte, sie sei eine Komödiantin, die gern im Scheinwerferlicht stünde, er hätte schon Hunderte von derselben Sorte gesehen — die verwickelten sich immer in Unannehmlichkeiten. Doris Pond saß auf der unbequemen Sitzbank und stützte den Kopf mit der Hand, über die eine Haarsträhne vornüber fiel.
„Müde, Doris?" fragte Irma.
„Ueh-hüm", bejahte sie. „Ich glaube, sämtliche Mütter der verhafteten Mädchen sind heute im Streiklokal gewesen, um nach ihren Töchtern zu fragen."
„Das sollte doch die Hilfsaktion fördern", sagte die praktische Irma.
„Etwas müsste sie fördern", sagte Doris.
„Bekommt ihr denn von den Bauern keine Unterstützung?" fragte Hoskins.
„Die Zeiten sind jetzt für die Bauern furchtbar schlecht", sagte Doris. Sie war in sehr schlechter Stimmung, und das ganze Leben mutete sie finster an. In jedem Streik sind alle für die Streikunterstützungsarbeit unmittelbar Verantwortlichen sehr schwer belastet. Diese Last fällt natürlich auch auf die Streikleitung, aber der Streikleiter hat mit den Problemen der Streikführung, mit der Stärkung der moralischen Widerstandskraft und mit den ewigen Versammlungen so viel zu tun, dass die
praktische Unterstützungsarbeit nicht auf ihm liegt. Die Sammlung von Geldmitteln am Ort und die Verwaltung der von der IAH in den Arbeiterorganisationen und bei Sympathisierenden gesammelten Summen bleibt dem Leiter der Unterstützungsaktion und einem Unterstützungskomitee überlassen.
Hier in Stonerton war Doris der verantwortliche Funktionär. Sie war auch sonst jeden Abend ausgepumpt, aber an Tagen wie der heutige ergoss sich eine wahre Sturmflut von Menschen über sie. Ausgehöhlt hockte sie da, während Irma auf der Armlehne ihres Sessels saß und ein wenig überschwänglich wurde. Roger hörte, wie sie sagte:
„Dieser Kampfwille! Diese Kampfbereitschaft!" „Ihr werdet nicht zufrieden sein, bevor ihr nicht bis
auf den letzten Mann im Gefängnis sitzt, was?" sagte
Hoskins.
Irma sagte im beleidigten Ton: „Ich will nicht im Gefängnis sitzen, aber gefasst bin ich drauf."
„Wenn Sie Leute wie diese Kaktus-Käte herumtobe»lassen, werden sich Ihre Erwartungen bestimmt erfüllen", sagte Hoskins. „Wo ist Fer heute?"
„Woher soll ich das wissen?" sagte Irma und wurde rot. Käte Trent hatte hier gewartet, um Fer zu Gesicht zu bekommen, aber Fer war mit den Verhaftungen an diesem Morgen zu beschäftigt gewesen, um irgend etwas anderes zu beachten. Roger schien es, als dachte Irma jetzt daran. Käte Trent war ihm schon aufgefallen, als er mit Irma auf der Straße ging. Sie war eine von jenen erdgebundenen Frauen, die ein Mädchen von Irmas intellektuellen Ansprüchen in helle Wut versetzen, wenn sie als mögliche Rivalinnen auftreten. Irma war nicht in Fer verliebt, aber sie hatte doch genügend Anteil
an ihm, um ein Mädchen von Kätes Art nicht dulden zu wollen.
Die Leute von der Streikleitung, vom Kampfapparat des Streiks, hatten sehr wenig Zeit für Romantik oder auch nur Sexualität; aber an den Rändern trieb sich immer ein Rudel hübscher kleiner Mädchen herum, die sich wegen der Streikführer aufregten und die erregte Stimmung des Streiks dazu ausnützten, die jungen Leute an sich heranzuziehen.
Die ersten Streiktage, die fast mit der Erregung erster Kriegstage ansetzen, mit Gefahr, mit verletzten Mädchen, mit Automobilen, die Menschenmengen durchbrechen, mit Verhaftungen, mit Gerichtsverhandlungen, diese Tage versanden gewöhnlich in einer Ermüdungsdepression. Man saß und starrte sich gegenseitig an. Doris war zu müde, um schlafen zu gehen. Die stämmigen Bisphams schienen an ihre Stühle angewachsen. Die Harris-Burschen und andere junge Leute standen herum. Bruchstücke der Ereignisse des Morgens trieben durch ihre Reden. Bald kamen die Posten herein. Sie klapperten mit ihren Gewehren, luden sie, während die andern nacheinander zu Bett gingen. Roger schlief nicht sofort ein. Er hätte gerne gewusst, wo Fer jetzt sein mochte. Das führte ihn zu Gedanken darüber, wie abwegig es sei, einen Arbeitskampf durch Herbeiführung eines kriegsähnlichen Zustands beilegen zu wollen.
Als Roger durch eine Explosion geweckt wurde, schien es ihm, als hätte er gar nicht geschlafen. Der Krach war so laut, dass er vom Hinterhof zu kommen schien. Er sprang aus dem Bett und dachte: „Man hat uns in die Luft sprengen wollen." Alle erschienen gleichzeitig an ihren Zimmertüren, wie die handelnden
Personen in einer Schlafzimmerposse —, die schwerfälligen Bisphams, die beiden Harris, Irma und Doris, Hoskins und noch einige andere jungen Leute.
„Was war das? Scheint in der Nähe gewesen zu sein!' „Wes, hast du jemand gesehen?" „Nein, hab gar nichts gesehen." „Ich glaub, ich hab ein paar Kerle vor einer Weile vorübergehen gesehen."
„Wo war es, was glaubt ihr?" Keiner zweifelte daran, dass irgendein Arbeiterhaus gesprengt worden sei.
Jeder ehrbare Bürger, der durch die Explosion geweckt worden war, wusste ebenso bestimmt, dass es die Streikenden gewesen waren.
Man saß über eine Stunde und wartete gespannt darauf, dass etwas geschehe. Zweimal kamen Schritte die verlassene Straße entlang. Ein paar Autos fuhren vorüber. Sonst war es still. Dann kam, etwas weiter entfernt, eine zweite Explosion. Wie Granatenfeuer fuhr es durch die Wartenden. Hier zu sitzen und so zu warten war fast noch nervenzerrüttender als eine Beschießung. Sie saßen und starrten einander an.
Dann kam der Feueralarm. Da gab es etwas zu tun. Sie zogen sich an und strömten auf die Straße. Schon sahen sie Flammen auf einem der Hügel hochschlagen. Erregte Gesichter hoben sich von dem Feuerschein ab. Sehr bald stellte sich heraus, dass es die Hühnerställe und Schuppen eines Mannes waren, der mit dem Streik nicht das geringste zu tun hatte. Der Brand war aufreizend und sinnlos.
„Was ist denn mit den Explosionen gewesen?" fragte Roger einige Zeitungsleute, die im Polizeiamt vorgesprochen hatten.
„Sie wissen nicht, wo es war, sie konnten es nicht feststellen. Man hat die alte Wassermühle unten im
Fließ gesprengt. Sie gehört dem Bruder von Trent." Der Brand und die Explosionen hatten etwas verwirrend Zweckloses an sich. Man hatte das Gefühl, dass Unheil im Anzug war, ein indirektes, unheimliches, unberechenbares Unheil.
Roger schlief lange. Er wurde von einem Klopfen an seiner Tür geweckt. Irmas Stimme, dringend, besorgt, weckte ihn vollends. Er schlüpfte in seinen Bademantel und sie kam herein.
„Ziehen Sie sich schnell an, bitte. Fer ist noch nicht nach Hause gekommen. Eine Frau ist verhaftet worden, Lisa Robertson, sie ist lahm. An der Streikpostenkette hat man heute morgen noch zwei Frauen verhaftet. Woods ist fort und Doris ist auf Unterstützungsarbeit unterwegs. "
Während er sich anzog, hörte er sie draußen im Flur auf- und abgehen.
„Woods ist fort?"
„Er ist nach New York gefahren", sagte Irma kurz. „Ich möchte, dass Sie mit mir zu Burdette nach Lafayette mitkommen. Ich konnte ihn telephonisch nicht erreichen."
Burdette hatte sein Anwaltsbüro in einer Nachbarstadt, zwanzig Meilen von Stonerton entfernt. Lafayette ist älter und größer als Stonerton und besteht schon recht lange als Stadt. Hier hatte Burdette sein Hauptquartier. Einer der Streikenden fuhr mit seinem alten Ford Irma und Roger hinüber; sie bezahlten das Benzin. Roger fuhr jetzt zum ersten Mal durch Piedmont. Es war eine aufregende Landschaft. Piedmont ist rot.
Manche Felder waren von zartrosa Farbe, anderswo wieder lag ein purpurner Reif auf der Erde. Sie rollten über eine an beiden Seiten von schönen Bergen eingefasste Hochebene.
Hier war Schönheit, die ausgereicht hätte, um ein europäisches Fürstentum reich zu machen. Die Straße schlängelte sich durch eine enge Schlucht schroff aufwärts. Der Hang war über und über mit Rhododendronbäumen bedeckt. Weißer und rosa Lorbeer streckte sein wunderbares Geäst durch die Wälder und überall blitzten orangefarbene Azaleen. Der Weg war herrlich. Die Häuser an der Straße waren neu, die Höfe sahen nach Wohlstand aus. Wo war der träge, schläfrige Süden geblieben, von dem wir so viel lesen? Vielleicht irgendwo versteckt, in Virginia und Südcarolina. Aber nicht hier in Piedmont. Sie fuhren an langen Reihen gartenumgebener, stattlicher Häuser vorbei. Dieser Stadt war der Reichtum nur so zugeströmt. Hier waren die Häuser noch besser als die guten, gediegenen Häuser Stonertons. Einige waren alt, die meisten verhältnismäßig neu, im Kolonialstil des achtzehnten Jahrhunderts erbaut.
Sie bogen in ein ärmliches Stadtviertel ab, das von staubigen Bäumen beschattet war. Die Höfe waren schäbig und ungepflegt. In einer Stadt Neu-Englands hätte man einen solchen Gegensatz kaum finden können. Die Häuser wären wenigstens gestrichen gewesen, die Höfe sauber, die Zäune instand gehalten.
In diesem vernachlässigten Teil der Stadt machten sie Halt. Eine Frau mit einem angenehmen Gesicht und sauber gestärktem Waschkleid kam an die Tür. Bevor sie noch den Mund auftun konnte, fragte Irma: „Ist Fer hier?"
„Fer schläft, Irma", antwortete sie. „Er ist furchtbar müde."
„Oh, er ist also hier!?"
„Wo sollte er denn sonst sein?"
„Ich wusste nicht... ", sagte Irma. Roger fiel es plötzlich ein, dass sie gedacht haben mag, Fer sei ausgerissen. Sie hatte während der ganzen Fahrt weder selbst ein Wort gesagt, noch Roger zugehört, wenn er zu ihr sprach. In Gedanken versunken hatte sie auf seine zeitweisen Bemerkungen nicht im geringsten reagiert. Dabei war sie sich ihrer Unhöflichkeit ebenso wenig bewusst wie der Anwesenheit Rogers.
Fer kam gähnend heraus. Er sah müde und blass aus.
„Hallo, Irma!" sagte er. „Hallo, Roger! Was ist los?" Er ließ sich schwer und träge auf einen Stuhl fallen.
„Was machst du hier?" fragte Irma. „Warum hast du dich nicht sehen lassen nach den gestrigen Verhaftungen und all dem? Was ist geschehen? Warum hältst du dich so im Hintergrund?"
„Aber Irma, ich musste gestern mit der Streikleitung lange aufbleiben. Es wurde drei Uhr, und dann musste ich noch hierher fahren. Burdette sagte, ich sollte nicht in Stonerton schlafen. Auf keinen Fall. Er sagte, man hätte es auf mich abgesehen."
„Na gut. Woods ist fort", rief ihm Irma zu. Er glotzte sie starr an.
„Woods fort! Wohin?"
„Nach New York. Jawohl! Oder jedenfalls nach dem Norden."
„Fort und hat diese streikreife Lage drüben in Tesner im Stich gelassen! Fort und seine Arbeiter im Stich gelassen!" sagte Fer.
„Ja, das hat er getan. Du weißt, sie haben gedroht, ihn mit Gewalt zu vertreiben. Er sagte, er hätte dir schon gesagt, dass er keine Lust habe, hier für dich den Märtyrer zu spielen, du könntest hier bleiben und zum
Märtyrer werden, wenn du wolltest, er aber nicht. Das hat man davon, wenn man solche Leute nimmt, die nur solange in der Arbeiterbewegung sind, solange es ihnen Vergnügen macht."
„Aber Irma", sagte Fer, „in Tesner ist die Lage doch
streikreif. Es war jetzt gerade soweit."
„Er sagte, er hätte dir gesagt, dass er fortfährt." „Und ich hab ihm gesagt, dass er nicht fort soll." „Ach, du hast ihm gesagt, dass er nicht fort soll",
sagte Irma herausfordernd, „und damit sollte die Sache
erledigt sein, ja?"
„Ich hab ihm gesagt, er soll nicht fort, solange ich keinen andern habe." Er sah Irma mit einer Härte an, die Roger bei ihm noch nicht gesehen hatte. „Großer Gott", sagte er, „ich möchte ihm den Kragen umdrehen."
„Du kannst nur dir selbst die Schuld geben, Fer. Bist du hingefahren und hast du etwas unternommen? Nein. Du wusstest, dass Woods drauf und dran war, davonzugehen. Was hast du gemacht? Bist zu Trents gegangen, Geige zu spielen und dich mit Käte Trent herumzutreiben."
„Halt die Klappe!" sagte Fer kurz. „Du hast kein Recht, herzukommen und so mit mir zu sprechen, Irma, und die Überlegene zu spielen, wie du das immer machst. Du läufst mir bei der Führung dieses Streiks immerfort in die Quere. Auf einmal wirst du plötzlich merken, dass auch du raus bist."
„Dass ich herkommen muss, um dir zu sagen, dass Woods auf und davon ist! Dich aus dem Bett holen, das Streikkomitee und das Unterstützungskomitee heute morgen zusammenhalten — aber von euch Männern zeigt sich keiner im kritischen Augenblick!"
Fer sah sie mit abweisender Verachtung an. „Wir
wissen alle, dass du vollkommen bist, Irma", sagte er. „Kommen Sie, Roger, ich will einen Kaffee herunterstürzen, dann muss ich zu Burdette hinauf."
Sie tranken Kaffee. Fer und Irma sprachen nicht mehr miteinander, außer wenn er ihr eine plötzliche Frage hinwarf und sie ihm ihre Antwort mit einer ebenso beleidigenden Kürze zurückgab. Die Reibung zwischen ihnen war aber doch kein Krieg. Unter der gegenseitigen Gereiztheit lag zwischen ihnen eine tiefere Eintracht. Sie glichen eher Eheleuten, die sich streiten, aber dabei wissen, dass der Stoff, auf den sich ihre Einigkeit gründet, dauerhaft ist — als jungen Leuten, die eine Liebschaft miteinander haben. Es herrschte beständig zwischen ihnen dieser Zug und Druck, der dem Kampf zwischen Mann und Frau um die Übermacht eigen ist.
Burdette erwartete sie in seinem Büro. Sein Gesicht war pergamentähnlicher denn je. Der kühne Haken seiner Nase und seine vorstehenden, prachtvollen weißen Brauen steigerten seine Ähnlichkeit mit einem Adler noch mehr. Er war in seinem Element. Er war eine echte Kämpfernatur. An Fers Stelle hätte er gewiss keine dunklen Augenblicke des Zweifels und der Angst gehabt. Er hatte schon um das Leben von über sechzig Menschen gekämpft und war einer der prominentesten Strafrechtsverteidiger im Bezirk, ja im ganzen Staat. In alten Zeiten war auf ihn oft geschossen worden. Er hatte nie gewusst, was Angst heißt, er kannte nur den Drang, seinem Gegner auf den Leib zu rücken, und er hatte mit seiner feinen, abgerundeten, südlichen Redekunst eine ganze Menge über die Leiden der Arbeiterschaft zu sagen.
„Zu keiner Zeit und in keinem Staat sind die Freiheiten und Rechte des souveränen Volkes derart mit Füßen getreten worden. Zu keiner Zeit und an keinem Ort hat es die mörderische Habsucht weniger Einzelner gewagt, die gerechte Forderung eines Volkes nach Besserung seiner Lebensverhältnisse mit Füßen zu treten. Haben diese Arbeiter etwas mehr Lohn verlangt? Was bekommen sie denn jetzt? Sie bekommen 6 Dollar 90 bis 14 Dollar die Woche, für elf Stunden Arbeit am Tag. Was ist ihr Verbrechen? Warum sind die Gefängnisse überfüllt? Haben die Arbeiter irgend jemanden gewaltsam entführt? Haben sie Häuser in die Luft gesprengt? Haben sie Feuersbrünste entfacht? Haben sie Menschen überfallen oder mit tödlichen Waffen bedroht? Das behauptet auch niemand. Nur ihre verfassungsmäßigen Rechte haben sie ausgeübt und dafür werden militärische Kräfte dieses Landes gesetzwidrig gegen sie eingesetzt. Maschinengewehre, Tränengas, Bajonette, Einschüchterung, Drohungen, Dynamitsprengungen. Terror, der nachts umgeht, und Terror, der bei helllichtem Tag in dreister Weise die Straßen unserer friedlichen Stadt unsicher macht."
Er hätte genau so gut vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten plädieren können. Seine Augen blitzten, und bei aller Rhetorik war er ganz aufrichtig, ein guter Demokrat Jeffersonscher Schule, der an die verfassungsmäßigen Rechte', an solche Dinge wie Freiheit und Demokratie' wirklich glaubte. Es gibt noch immer Menschen, die sich ohne Zynismus zu einem Glauben solcher Art bekennen.
Burdette ließ sich von Irma den Zusammenstoß mit der lahmen Frau schildern.
„Fer", sagte er, „wie wär's, wenn ihr mir eine eidesstattliche Erklärung von der Frau besorgen würdet?"
„Roger", sagte Fer, „hier ist die Gelegenheit, mit den Arbeitern Fühlung zu nehmen, wie Sie es gewünscht haben. Sie könnten diese eidesstattliche Erklärung besorgen, und noch ein paar andere dazu. Sie können sich im Streiklokal aufhalten und die Leute, wenn sie hereinkommen, um ihre Aussagen bitten."
Im Streiklokal war es finster. Der Raum lag immer im Dämmerlicht, weil die Fenster mit Brettern vernagelt waren. Früher einmal war es ein richtiger Laden gewesen, und seine leeren Regale schienen sich jetzt gewissermaßen in höhnischem Symbolismus breit zu machen. Der Laden war immer voll von Menschen, von Frauen mit Säuglingen im Arm, von Kindern, die auf der Erde spielten, von Männern, die sich in Gruppen in den Ecken unterhielten. Die Frauen warteten auf die Verteilung von Lebensmitteln.
„Warten Sie einen Tag lang in einem Streiklokal, da können Sie die ,amerikanische Prosperität' an Ihren Augen vorbeiziehen sehen", sagte Irma. Hier an den Schuhen, an den verschossenen, dürftigen Kleidern konnte man die Lage dieser amerikanischen Arbeiter erst erkennen. Sie besaßen nichts. Kirche und Staat mögen die Lage in der Textilindustrie im Norden und Süden untersuchen, soviel sie wollen —, was der Durchschnittsmensch darüber zu wissen braucht, ist nur, dass Mütter kleiner Kinder Nachtarbeit leisten müssen, um ihren Familien Brot und anderes Lebensnotwendige zu geben.
Hier sah man alte zahnlose Frauen mit zarten, feinen Gesichtszügen. In einer Ecke saß ein apathischer Mensch mit der eigenartigen gelben Gesichtsfarbe, an der man in Kriegszeiten die Kriegsgefangenen erkennt. Er saß da, zum Skelett abgemagert, und starrte mit trottelhaftem Ausdruck vor sich hin.
„Was fehlt ihm?" erkundigte sich Roger bei Doris, die neben ihm stand.
„Pellagra", antwortete sie kurz. „Kommt alles von der Arbeit hier. Liegt an der Ernährungsweise."
„Warum essen sie nicht mehr Kohl und grünes Zeug?" fragte er. „Können sie das nicht kriegen?"
„Erst müssten sie mehr Geld haben, dann könnten sie besser essen. Jetzt reicht es eben nur für Mehl und Grütze und Schweinespeck."
Die Menschenmenge schob ziellos hin und her. Sie hatte das geduldige Aussehen von Menschen, die in einem luftleeren Raum leben und nichts zu tun haben. Die älteren Männer und Frauen waren fast alle hager und dürr.
Nirgends sah man die blühenden Pfingstrosen gleichenden Frauen, die man in jeder Gruppe italienischer, portugiesischer oder ungarischer Arbeiter unvermeidlich findet. Doch gab es hier und da auch Männer und Frauen von auffallender Schönheit. Obwohl sie jetzt ruhiger hin- und hertrieben, war doch in ihnen eine leichte Erregung vorhanden. Selbst an diesem Ort, der einem Bahnhofswartesaal glich, von dem nie Züge abfuhren, gab es einen Schimmer von Hoffnung.
Eine dicke Frau von ungefähr dreißig Jahren hinkte herein. Wegen ihrer Beleibtheit fiel sie auf.
„Hallo, Galgenvogel", rief man ihr zu, „wann bist du herausgekommen? Wieso hat man dich verhaftet?" Das war also Lisa Robertson. „Wieso haben sie dich verhaftet?"
„Na, ich stand da drüben beim Fabrikkontor und schaute zu, wie sich das Militär aufstellt, gestern war
das. So ein Wachsoldat, der kommt ran und sagt zu mir: ,Machen Sie, dass Sie fortkommen, auf die andere Seite.'
Ich sag zu ihm: ,Sie brauchen mir nicht so frech zu kommen.'
,Machen Sie verdammt schnell, dass Sie auf die andere Seite kommen', sagte er.
,Sie haben nicht zu fluchen und nicht so frech zu sein.' Er flucht aber wieder, sagt mir, ich soll mich zum Teufel scheren, wenn ich nicht verhaftet werden will. Na, ich geh weiter, über den Damm. Aber das war ihm nicht schnell genug. Wie ich noch so einen Meter vom Bürgersteig bin, kommt so ein Bub in Uniform, und fängt der nicht auch wieder zu fluchen an.
,Gott verdamm dich', sagt er zu mir. ,Schau, dass du weiterkommst. Am liebsten tät ich dich verhaften. Kriechst hier so langsam weiter, bloß um einen zu
ärgern.'
Ich sag zu ihm: ,Fällt mir nicht ein, schneller zu gehen. Ich könnt ja gar nicht schneller gehen, du Dussel', sag ich zu ihm. ,Siehst du nicht, dass ich ein Krüppel bin?'
Seitdem ich fünf Jahre alt war, bin ich ein Krüppel. Ihr wisst ja alle, ich bin, als ich fünf Jahre alt war, gefallen und hab mir eine Hüfte verrenkt, und ich kann nicht schneller gehen. Daher kommt's, dass ich so dick bin, weil ich nicht herumgehen kann, wie andere Leute.
Na, der Kerl hebt nur sein Gewehr und Bajonett quer über die Brust, packt zu und gibt mir einen Stoß. Ich war in Wut, ich erhob meine zwei Arme und komm an ihn heran und geb ihm einen Stoß, und der nimmt sein Gewehr und stößt mich schier über den Bürgersteig, dass ich fast hinfalle, aber ich hab eine solche Wut, dass ich auf ihn losgehe, und dann geb ich ihm einen Stoß, und dann kommt die Polizei gerannt, und der gemeine
Kerl, der Murck, und noch der Zober, die packen mich, jeder an einem Arm, und drehen mir die Arme um, und ich fang an zu schreien.
,Halt die Schnauze', sagen sie, ,du gottverfluchte... .' Und schmeißen mich in das Polizeiauto. Ich meine, sie haben mich gepackt und richtig hingeworfen. Drei oder vier Mann haben zugepackt und mich aufs Auto geschmissen.
Dann, unterwegs zum Gefängnis, haben sie angefangen und mir alle Schimpfworte gesagt, die es nur gibt. Sie haben mich eine große dicke, ihr wisst schon, was, genannt, und ich sage: ,Lasst mich in Ruh', und da drehen sie mir wieder den Arm um, und ich sage: ,Ihr seid keine Männer, ihr gemeines Gesindel!' und der Murck rutscht vor und schlägt mir fünfmal hintereinander ins Gesicht und sagt: ,Gott verdamm dich zur Hölle, wir werden dir deine fetten Arme ausrenken.' Und das haben sie dann auch fast getan."
Die Leute standen im Kreis herum und hörten dieser Erzählung ernst zu. Dieser Streik hatte ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt. Der Sheriff, den sie selbst mitgewählt hatten, wandte sich jetzt gegen sie. Die Polizisten — das ,Gesetz' — drehten anständigen Frauen wie Lisa Robertson den Arm herum und schlugen ihnen ins Gesicht.
Die Fabrikarbeiter des Nordens, fast ausschließlich ausländischer Geburt, haben eine Streiktradition. Sie wissen, was sie zu erwarten haben. Sie wissen von vornherein, dass die Polizei gegen sie ist. Sie können Brutalitäten ertragen, ohne so von Wut erfasst zu werden wie diese Südländer.
Die folgenden Tage waren ruhig. Das Interesse war auf den Gerichtssaal gerichtet, wo Burdette dem Volk ein unentgeltliches Schauspiel bot. Spinnereiarbeiter und Bauern füllten knüppeldick Tag für Tag den Gerichtssaal. Die Miliz war nicht mehr da. Burdette hatte darauf hingewiesen, dass die Polizei bisher immer genügt hätte, die Ordnung im Bezirk aufrecht zu erhalten, und dass die Leute viel eher auf ihren eigenen Sheriff hören würden als auf einen achtzehnjährigen Grünschnabel. Burdette machte die Anklagevertretung lächerlich. Der riesige Richter mit dem roten Gesicht schüttelte sich lautlos vor Lachen, wenn der alte Anwalt mit seinem Sarkasmus lospeitschte, spottete, die Aussagen der Belastungszeugen ins Gegenteil verkehrte.
Inzwischen trat in der Stimmung der Arbeiter ein eigenartiger Umschwung ein. Am ersten Tag, als das Militär kam, waren sie voll Argwohn. Aber als Roger ein, zwei Tage später mit Irma und Fer die Straße entlang ging, sagte Irma schroff:
„Seh einer das mal an!"
Er folgte ihren Augen über die Straße. Da gingen Kaktus-Käte und noch zwei andere Mädchen, jede mit einem Milizsoldaten Arm in Arm. Die uniformierten Burschen waren halb verlegen, halb erfreut...
„Ich sollte meinen, dass du dem ein Ende zu machen hast", sagte Irma.
Fer grinste.
„Sie verbrüdern sich", sagte er. „Auf meine Anweisung hin."
„Auf deine Anweisung?"
„Aber sicher", sagte Fer. „Es sind doch alles dieselben Leute, dasselbe Blut. Warum sollten sie nicht begreifen, worum das alles geht? Sollen sich nur richtig schämen
lernen, dass sie sich zu so einem Dienst missbrauchen lassen."
„Du verwirrst nur die Arbeiter", sagte Irma. „Die Polizei und die Soldaten sind ihre natürlichen Feinde, und sie sollten es lernen, sie als solche zu betrachten." „Das hast du in einem Buch gelesen", sagte Fer. „Du solltest jetzt ein anderes Buch lesen, wo etwas von der Zersetzung des Militärs drin steht."
Sie stritten lange über diese Frage. Irma hatte eine besondere Art, Fer ducken zu wollen, sein Selbstgefühl zu untergraben und ihm sein Vertrauen zu sich selbst zu rauben. Er aber leistete ihr hartnäckig Widerstand. „Irma", sagte er endlich, „du bist ein tüchtiges Mädel, aber auch du weißt nicht alles. Diese Geschichte mit der Verbrüderung muss durchgeführt werden,"
VI. KAPITEL
Die Menge umflutete die Rednertribüne. Eine Reihe Männer saß auf der Eisenbahnböschung. Am Rand der Menschenmenge gab es kleine Familien — Mann, Frau und spielende Kinder. Sie saßen auf der Erde. Mutter Gilfillin und die alte Whenck kreuzten durch die Menge und fragten überall:
„Kommt Fer nicht? Habt ihr Fräulein Irma gesehen?"
Sie trugen beide lange graue Kalikokleider, geflickt und abgetragen, aber sauber. Sie hatten keine Zähne, kauten aber energisch und spuckten ebenso. Es war ihnen bisher noch nichts auch nur annähernd so Interessantes im Leben widerfahren.
Ein berauschendes Gefühl strömte durch die Menge,
ein erregtes Vibrieren. Alle waren voll Erwartung. Man unterhielt sich über aufregende Begebenheiten.
„... Der Meister ist zu mir ins Haus gekommen. ,Wann kommst du zurück zur Arbeit?' fragt er —"
„... ,Mach mal ein bisschen schneller oder ich verhafte dich', sagt er zu mir. Und ich ihm: ,Verhaft mich nur. Ist mir ganz egal.'"
„... Habt ihr gehört, dass Mamie Pratt wieder angefangen hat?"
„... Die Leute nebenan, das sind Streikbrecher —"
„... Was glaubt ihr, wo Fer steckt? Ob die ihn wieder entführt haben?"
Dan Marks sagte zu Max Harris:
„Ich denke, wir sollten mit der Versammlung anfangen. Fer wird wohl aufgehalten worden sein." Sie warfen einander einen verständnisvollen Blick zu. Sie waren beide Männer Ende Zwanzig oder Anfangs Dreißig, kräftig, gut gebaut, fähig. Sie zeigten nichts von der Unsicherheit, die Arbeitermassen zuweilen befällt, wenn sie führerlos sind. Diese beiden Männer, die die Arbeiter zuerst organisiert hatten, konnten gut Versammlungen leiten und Streikpostenketten halten.
Dan eröffnete die Versammlung.
„Unser Redner hat sich ein wenig verspätet, Freunde", sagte er, „so dass wir lieber anfangen wollen. Und wir können mit nichts Besserem anfangen, als Bruder Williams uns vorbeten zu lassen."
Bruder Williams hingen lange Haare unter seinem breitkrempigen Hut herab und vermischten sich mit seinem langen grauen Bart. Er schloss fest die Augen, hob das Gesicht zum Himmel, breitete die Arme in der Form eines Kreuzes aus und begann:
„Oh, wie hat dies Volk gelitten, Herr!
Oh, Herr, erhöre sie in ihrem Kampf!
Oh, Herr, oh, erweiche die Herzen der Arbeitgeber! Oh, ich hab sowas noch nie gehört, wie sie diese Leute behandeln!
Oh, ich komme aus den Bergen, wo die Geschöpfe Gottes freie Luft frei atmen dürfen!
Oh, ich hab Frauen und kleine Kinder in den Fabriken arbeiten sehen, und dazu sind sie nicht bestimmt!
Oh, der Herr hat die Kinder Israels aus der Knechtschaft befreit!
Oh, wird Basil Schenks Herz nicht erweicht werden?
Oh, der Herr hat Pharaos Herz erweicht!
Oh, ich alter Mann habe' so etwas wie diese Miliz mit ihren Tränengasbomben und ihren Bajonetten noch nie gesehen!
Oh, sie stolzieren in der ganzen Stadt herum! Oh, sie verhaften Mädchen und Frauen!" Er fuhr mit seinem Singsang fort, staccato, aufpeitschend, bis die Versammlung im Takt seiner Rufe mitschwankte, bis ein leises Seufzen durch die Zuhörerschaft ging. Die alten Frauen standen mit fest geschlossenen Augen. Die jungen Männer und jungen Frauen beobachteten gespannt den Prediger. Das Gebet hatte sie zusammengeschweißt und ihre Rührung, in einem Brennpunkt vereinigt, zu einer Flamme auflodern lassen.
Dan sagte: „Wir können unsere Versammlung weiter abhalten, bis Fer und die andern hier anlangen. Hier haben wir eine Schwester, die Balladen gedichtet hat. Sie hat sie selbst geschrieben. Vielleicht habt ihr sie oben im Unterstützungslokal schon singen hören. Jetzt hab ich Mamie Lewes dazu gebracht, hier vor euch allen laut zu singen, wenn sie auch sagt, dass sie sich schämt."
Mutter Gilfillin rief hinauf:
„Mamie Lewes, brauchst dich gar nicht zu schämen. Wir alle bewundern dich, dass du deine Balladen singst."
Mamie Lewes wurde auf die Tribüne gehoben. Sie hatte wieder ihre erwartungsvolle Miene aufgesetzt, als wünschte sie, dass etwas Angenehmes und Aufregendes passiere. Sie warf den Kopf zurück und sang leicht und ohne Anstrengung. Sie hatte eine natürliche Stimme, unausgebildet, aber sehr angenehm.
„Wir müssen frühmorgens zur Arbeit,
Die Kinder bleiben allein,
Wir schuften an der Maschine,
Die Kinder zuhause schrei'n.
Und wenn wir die Lohntüte holen,
Die Schulden beim Kaufmann bezahlen,
Bleibt kein Cent übrig für Kleidung,
Keinen Cent können wir sparen.
Wie das dem Mutterherz weh tut,
Weiß jede von euch schon allein,
Doch wir können den Kindern nichts kaufen,
Der Lohn ist viel zu klein.
Es ist für unsere Kinder,
Die uns über alles gehen,
Denn was kümmert die Arbeitgeber
Der Kinder Wohlergehen."
Sie hörten mit feuchten Augen zu. Es war ihre eigene Geschichte, in unglaublich einfache Worte gekleidet. Jeder hatte das erlebt. Es war nicht irgendeine Gefühlsduselei, es war die Geschichte eines jeden einzelnen dort, in der Form eines Liedes.
Die Polizei war auch da — das ,Gesetz' war erschienen. Gewöhnlich stand nur ein Polizist irgendwo am Rand der Menschenmenge. Heute waren es mehrere; sie schlichen durch die Masse der Streikenden, und als sie sahen, dass nichts Besonderes vorging, schickten sie sich an, wieder zu gehen.
Mutter Gilfillin kletterte auf die Tribüne. „Ich hab was zu sagen", erklärte sie. „Ich hab die Bullen sich hier herumtreiben gesehen. Wir haben sie nicht gerufen, in unsere Versammlung, mit ihren blutigen Händen, die uns geschlagen und verhaftet haben. Ihre Herzen sind zu hart, um erweicht zu werden, auch wenn sie Bruder Williams beten hören. Und ich will dem Herrn Polizisten Zober sagen, dass der einzige Teil von ihm, den ich gern sehe, sein Hinterteil ist, wenn er nämlich weggeht wie grade jetzt!"
Schallendes Gelächter setzte ein. Alle schüttelten sich vor Lachen. Etwas Lebendiges und Flinkes ging von ihnen aus. Sie hatten ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Macht. Die Menge atmete eine eigene mächtige Lebenskraft. Sie hatte ihre eigene Schönheit, die auch ein wenig gefährlich war. Diese Leute, einzeln so arm und schwach, waren hier stark. Die Augen der jungen Mädchen und jungen Männer blitzten. Sie waren zu allem bereit. Die Gefahr lockte sie an.
Während das Gelächter noch durch die Menge brauste und hallte und der puterrote Polizist sich seinen Weg zur Straße bahnte, kam Fer herangetappst. Zurufe begrüßten ihn von allen Seiten.
„Fer!" schrie man, „Fer! Fer!"
Fer betrat die Rednertribüne. Er fühlte das ganze Gewicht ihres Glaubens an ihn und fühlte sich selbst klein und unzulänglich.
Eine große, starke junge Frau, die Tochter Mutter Gilfillins, trat an Mamie Lewes heran.
„Du singst wirklich schön, Mamie Lewes", sagte sie.
„Du willst mich verkohlen?"
„Nein, ich verkohl dich nicht. Es ist wirklich wahr. Du wohnst ein ganzes Ende ab von hier?"
„Ja, ein ziemliches Ende."
„Mutter sagt, du sollst zu uns herüberkommen und ausruhen und einen Happen essen." Die junge Frau war größer und stärker als Mamie Lewes und sah älter aus. „Hat dich dein Mann auch verlassen, Mamie Lewes?" fragte sie.
„So, eigentlich hat er mich nicht verlassen. Er ist nur auf Arbeitssuche gegangen und dann nicht wiedergekommen. Ich hab’s nicht gedacht, dass er mich verlässt."
„Ja, so machen sie's. Mein Mann und ich — na, ich dachte schon, dass er mich sitzen lassen will. Er sagt zu mir: ,Daisy, du, bring das Kind hinüber zur Mutter, bis ich Arbeit finde und sieh zu, dass du in der Nurenschen Fabrik Arbeit bekommst, und ich werde mich nach einem guten Platz umsehen.' Dann hab ich nichts mehr von ihm gehört."
„Ja, mit meinem Willi wars genau so."
„Ich glaub, sie haben gar nicht immer die Absicht, uns zu verlassen. Es gibt viele in der Werksiedlung, da gehen die Männer weg und kommen dann nicht wieder." „Sie verlieren halt die Courage. Mein Mann hat die Nase vollgekriegt, als die Kinder an der Diphtherie gestorben sind."
„Na, man kann ihnen das gar nicht verdenken. Ist wahrscheinlich schön, wenn man seinen Lohn ganz allein verbrauchen kann. Joe West hat vierzehn Dollar und vierzig Cent die Woche verdient, manchmal auch acht-
zehn, und wenn ich dann auch Arbeit hatte, ging es uns eine Weile recht gut, aber so'n Glück dauert nie lang."
„Nein, so'n Glück dauert nie lang bei uns Fabrikarbeitern. Hast du nur ein Kind, Frau West?"
„Es waren vier, drei hab ich verloren. Wie lange arbeitest du in der Fabrik, Mamie Lewes?"
„Ich, erst seit ich verheiratet bin. Ich hab vor elf Jahren geheiratet, bin jetzt neunundzwanzig."
„So? Na, da warst du aber ziemlich alt, wie du angefangen hast. Wieso warst du so alt?"
„Wir haben oben in den Bergen gewohnt, und da ist ein Mann aus der Fabrik gekommen und hat erzählt, wie viel die Leute hier verdienen. Ich und Willi meinten. das Geld wächst hier unten auf den Bäumen, so schön hat er erzählt, und so sind wir, wie wir dann geheiratet haben, hierher gezogen. Aber seither haben wir fast immer nur Pech gehabt. Wie lange arbeitest du schon?" „Oh, ich? Ich hab mit zehn Jahren angefangen. Ich bin jetzt sechsundzwanzig, arbeite schon sechzehn Jahre. Wie ich angefangen hab, gab es 75 Cent die Woche für zwölf Stunden am Tag."
„Gottchen, das war ja sehr jung! Oben bei uns in den Bergen haben wir nicht viel, aber frische Luft ist genug da. Man kann wenigstens atmen. Ich hab furchtbar Heimweh nach den Bergen. Wir haben hinter Asheville gewohnt."
„Warum gehst du denn nicht zurück? Was hält dich hier, wenn du da oben Verwandte hast."
„Oh, Verwandte hab ich schon. Ich hab meine Mutter und meinen Vater, aber wo soll ich das Geld hernehmen, um wegzufahren? Für mich und die vier Kinder kostet das an die achtzehn Dollar." Daisy West schüttelte den Kopf. Sie sahen beide die Unmöglichkeit ein, achtzehn Dollar zu beschaffen.
„Übrigens will ich hier bleiben und mithelfen, dass wir diesen Streik gewinnen. Ich will sehen, wie der Verband wächst, damit unsere Kinder nicht so zu arbeiten brauchen wie wir. Etwas anderes kann ich ja meinen Kindern sowieso nicht geben, keine Schule, keine Kleider, keine Schuhe, aber vielleicht hinterlass ich ihnen einen Verband."
„Jedenfalls wird man sie besser behandeln als mich damals in der Fabrik. Wie die Hunde haben sie uns behandelt dort unten in Südcarolina. Wie oft hat man mich niedergeschlagen, weil ich nicht schnell genug sauber machte. Uns Kinder haben sie gehauen und geprügelt. Oft, sehr oft haben mich die Meister übers Knie gelegt und windelweich gehauen, und keiner hat sich getraut, etwas zu sagen. Sie haben uns Kinder genommen und mit Riemen feste geschlagen. Das macht man jetzt nicht mehr so viel. Sie kriegen auch die Kinder nicht mehr ganz so jung. Wegen der Schule ist das." „Du bist viel herumgekommen, was?" „O Gott, das möcht ich glauben, wir sind umgezogen und umgezogen. Mutter zog viel herum, und ich auch, seitdem ich verheiratet bin. Kann mich gar nicht mehr an alle Betriebe erinnern, wo ich überall gearbeitet hab. Immer wieder woanders. Man hoffte doch, was Besseres zu finden. Aber es war immer dasselbe. Bist du nicht auch herumgekommen?"
„Ja, mein Mann und ich, wir müssen in so an die zehn oder zwölf Betrieben gearbeitet haben, aber acht oder neun waren’s bestimmt." „Sie waren alle gleich, was?"
„Ja, es war immer und überall dasselbe, schimpfende Meister und stinkende Aborte und schlechter Lohn.
Alles so voll Staub, dass man keine Luft kriegt. Immer dasselbe, in all den vielen Betrieben, wo ich gearbeitet hab."
Sie waren beim Haus angelangt, das dicht an der Bergseite stand. Der rote Grund war rundherum festgestampft, aber hinten stand ein Baum und auf der einen Seite ein paar Blumen.
Sie gingen hinein. Das Haus hatte vier Zimmer. Mutter Gilfillin, Flora, ihre Jüngste, Daisy und ihr Kind schliefen in dem einen Zimmer, zwei andere waren vermietet, das eine an ein Ehepaar mit einem Kind; im Vorderzimmer wohnten vier junge Leute, Will Gilfillin, ein Bursche von achtzehn Jahren mit feinen, energischen Gesichtszügen, Dewey Brison und zwei andere, die erst vor kurzem gekommen waren. Die drei jungen Leute nahmen auch ihre Mahlzeiten im Hause ein und zahlten fünf Dollar die Woche für volle Verpflegung, einen Dollar weniger, als sie in einer richtigen Pension hätten zahlen müssen. Das Ehepaar mit Kind beköstigte sich selbst und beabsichtigte, eine eigene Wohnung zu mieten, sobald es die Raten für die Möbel aufbringen konnte. Sie waren sehr jung und sahen aus wie Schüler und Schülerin.
„Alle sind sie in den Verband eingetreten", sagte Mutter Gilfillin. „Jones wollte nicht recht, aber ich hab ihm nicht erlaubt, hier den Streikbrecher zu spielen. Ich sag zu ihm: ,Eintreten oder raus mit dir', so ist er dann eingetreten. Ich denke, er hat Angst gehabt, mein Junge oder Wes würden ihm sonst den Schädel einschlagen."
„Ich wollt, ich könnte in einem so schönen Haue wohnen, wie das hier ist. Ihr habt auch elektrisch Licht, nicht?"
„Ja, Licht haben wir."
„Und Wasser?"
„Nein, Wasser haben wir keins, wir müssen alle raus zur Leitung, um Wasser zu holen. Sie sagen, sie werden das Wasser hereinleiten, aber geschehen ist's noch nicht."
„Das muss aber schön sein, in einem Haus zu wohnen, wo fließendes Wasser ist, man geht nur zum Abwasch und dreht den Hahn auf. Das muss wunderbar sein, und dann eine eigene Küche."
„Wie machst du das, dass dir deine Lieder einfallen, Mamie Lewes?" fragte Mutter Gilfillin.
Mamie Lewes faltete die Hände übers Knie und sah mit ihrem klaren, aufgeweckten Blick drein. Sie wusste selber nicht darüber Bescheid.
„Ich kann’s dir nicht genau sagen. Ich hab bloß das alte Lied so für mich hergesummt und auf einmal merk ich, dass ich die ersten zwei Zeilen laut singe. Ich hab
gesungen:
,Wir müssen frühmorgens zur Arbeit, Die Kinder bleiben allein__'
und das hab ich dann immer wieder gesungen, und dann sind die letzten zwei Zeilen gekommen und ich hab die auch gesungen, und dann bin ich gegangen und hab’s niedergeschrieben. Ich war froh, dass ich schreiben kann."
„Du bist zur Schule gegangen, ja, Mamie Lewes?" „Ja. Wir waren nicht gar so weit von der Schule. Ich bin bis zur fünften Klasse durchgekommen und war noch weiter gegangen, wenn Mutter nicht die Plage mit dem Rücken gehabt hätte."
„Und wie hast du den Rest von dem Lied gemacht, Mamie Lewes? Ist's dir nur so eingefallen?"
„Ja, anscheinend fällst mir nur so ein. Es gibt auch noch andere Lieder, über die ich mir den Kopf zerbreche. Es scheint, als hätt ich die Zeile schon, und dann rutscht sie wieder weg, als wär’s ein lebendiges Ding, das davonlaufen will."
Wes Elliott kam herein.
„Nanu, Mamie Lewes, wie geht’s?" sagte er. „Wie kommst du denn her?"
„Frau West, sie hat mich eingeladen. Ich hab gar nicht gewusst, dass du hier wohnst. Das war er ja, der Wes, der mich für den Verband geworben hat."
„Ja, Wes versteht das Werben für den Verband sehr gut. Kriegt er sie mit guten Worten nicht heran, dann sieht er zu, ob sie mit einer Beule auf dem Kopf nicht zu kriegen sind." Mutter Gilfillin lachte, schrill und unheimlich. Sie saßen da zusammen, seltsam vereint durch ihren Glauben an den Verband. Alle gehörten sie zu dem wandernden Volk der Fabrikarbeiter, die unstet hin und her, auf und ab treiben, von einem Betrieb zum andern. Wie die Gilfillins, wechseln sie jedes Jahr, manchmal auch öfter, ihren Wohnort, wenn ihnen nur irgendeine eben in Betrieb gesetzte neue Fabrik Vergünstigungen bietet, wie etwa die unentgeltliche Überführung der Möbel, das heißt, der paar Kisten, die sie besitzen. Etwas anderes haben sie nicht.
Mutter Gilfillin hatte acht Kinder geboren. Drei lebten noch bei ihr. Eine Tochter war verheiratet und arbeitete in einer Strumpffabrik in Marion. Ein Sohn war verschollen und zwei waren gestorben. Sie besaß vier Doppelbetten, ein paar Stühle, einen Tisch, zwei Kommoden, einige eingerahmte Bilder, eine aus zweiter Hand gekaufte Nähmaschine, mehrere Linoleumteppiche und eine Stehuhr. Dazu einen Kohlenofen.
Die Diele ging mitten durchs Haus hindurch. An jeder
Seite waren zwei Zimmer. Drei dieser Zimmer hatten kleine, seichte Kamine. Wie alle andern Häuser in dieser Werksiedlung und in den meisten andern Werksiedlungen war auch dieses Haus ein Fachwerkbau, durch den der Wind frei durchfegte. Bei Sturm heulte der Wind unter dem Haus und blies durch Fugen und Astlöcher herein. Es gab da auch eine Veranda mit einer Schaukel.
Mutter Gilfillin wusste selbst nicht mehr, wie oft sie ihre Betten und ihre zwei Kommoden, ihren Tisch und ihre Schaukelstühle auf einen Karren geladen hatte und umgezogen war. Jeden Montag und Freitag kamen die Möbelwagen in die Werksiedlung und die Leute traten wieder ihre Pilgerfahrt an. Sie gewahrten kaum etwas von den verschiedenen Städten, in denen sie lebten. Trotzdem hatten die Gilfillins seit vielen Jahren immer in der Nähe irgendeiner ziemlich großen Stadt, wie Greenville oder Spartanburg oder Gastonia oder Stonerton sich niedergelassen.
Hier gefiel der Pastor Mutter Gilfillin gut, auch war sie gerne an Orten, wo man am Sonnabendnachmittag in die Einheitspreisläden gehen konnte.
Das Fabrikvolk wird nie zu einem Bestandteil der Stadt. Die Fabrikarbeiter bleiben ,Fabrikhände', die für immer getrennt sind von der städtischen Bevölkerung der ,ehrbaren Bürger'. Sie heiraten untereinander und leben und sterben unter sich. Seitdem der Erlass von Schulgesetzen in verschiedenen Staaten des Südens den Schulbesuch der Kinder bis zum vierzehnten Lebensjahr vorschreibt, sind schöne moderne Schulen im ganzen Land entstanden. Die Kinder besuchen die Werkschulen in Erwartung des Tages, da sie selbst in die Fabrik gehen und Geld verdienen dürfen. Das ist ihre natürliche Bestimmung, und sie stellen es nicht in Frage.
Dass dagegen etwas getan werden könnte, kam ihnen erst in den Sinn, als die ,Streckung' einsetzte. Die Löhne wurden gekürzt und die Arbeit gesteigert. Da begannen sich die Arbeiter zu organisieren. Damals wurden sie einander zum ersten Male gewahr. Bis zu dieser Zeit hatte jeder für sich gelebt. Die alten, abgedroschenen Parolen der Solidarität: ,Ein Unrecht des einzelnen ist ein Unrecht für alle', ,die Kraft der Arbeitermassen', die sie jetzt von der Rednertribüne hörten, trafen sie wie eine Offenbarung.
Der Streik war ein gefährliches Abenteuer, neu und aufregend wie ein Krieg. Sie saßen vor Mutter Gilfillins Ofen, während die Grütze gar wurde, und sprachen von der Zeit, die kommen würde, wenn der Streik einmal gewonnen ist.
„Was hast du denn für einen Kratzer am Hals?" fragte Mamie Lewes Elliott.
„Wes hat beim Streikpostenstehen Verdruss gehabt, damals, als das Militär kam."
„Haben viele Leute Verdruss gehabt, wie das Militär gekommen ist?"
„Ja, die Soldaten waren ziemlich wild. Wollten uns damals wohl gleich am ersten Tag einschüchtern." „Was ist denn passiert, Wes?"
„Ich war da am Fabriktor und sah zu, wie sie hineingingen. Sie kamen gelaufen, um die Menge wegzujagen, und die Menge wich zurück. Da sah ich zwei Mädchen, die ich kannte, und ich ging in die Menge hinein, um die Mädels zu schützen, damit ihnen nichts geschieht."
„Ja, ich hab dich in der Menge gesehen, und ich hab gesehen, wie du vorgegangen bist, und dann hab ich gesehen, wie dich die Polizei gepackt und in ein Polizeiauto geladen hat."
„Ja, sie haben mich aufs Auto geworfen und zwei Hilfspolizisten, die haben mich geschlagen, und dann haben sie mich im Gefängnis vorgenommen und mit Schlüsselbunden und Knüppeln geschlagen. Sie haben mich getreten und beschimpft."
„Haben sie dich nicht auch gewürgt?" soufflierte Mutter Gilfillin.
„Ja, sie haben mich gewürgt, bis ich bewusstlos wurde. Ich wusste nichts von mir, als sie mich in meine Zelle brachten."
„Hast du Widerstand geleistet?"
„Na, ich hab mit ihnen ein wenig gerauft, wie sie mich ins Auto schoben. Ich war richtig erstaunt, wie sie mich so packten und dann im Auto angefangen haben, dreinzuhauen. Da konnte man nicht viel machen, sie hatten mich gepackt und mir den Arm umgedreht, ich hab ihnen ein paar Fußtritte versetzt, und wie sie mich dann im Gefängnis hatten, ließen sie's mich spüren. Aber mich bis zur Bewusstlosigkeit zu würgen, hätten sie doch nicht brauchen."
VII. KAPITEL
Die ,Verbrüderung' ging weiter. Junge Leute in Uniform gingen, je ein Streikermädel rechts und links am Arm, die Straße entlang und grinsten verlegen. Mutter Gilfillin und die alte Frau Whenck trieben sich immer dort herum, wo drei oder vier Soldaten zusammenkamen.
„Jungs, was habt ihr hier zu suchen? Jungs, denkt ihr nicht, dass wir genug Lohn kriegen sollten, um davon leben zu können?"
„Aber gewiss, Muttchen."
„Was glaubt ihr denn, was ihr tut, wenn ihr mit
euren dicken Bajonetten vor dem Betrieb Wache steht? Wir sind keine schlechten Menschen, wir sind genau so wie ihr auch." Verlegenes Grinsen. Die jungen Soldaten unterhielten sich untereinander.
„Ich will ja meine Pflicht tun, aber ich hab nicht gewusst, dass ich gegen alte Frauen und Kinder Krieg führen soll. Sie haben das Recht zu streiken. Das steht in der Verfassung."
„Aber nicht Tumulte zu machen."
„Wer hat Tumulte gemacht? Und ihren Führer verschleppen, das darf man auch nicht,"
„Wie sie selbst gesprengt und Leute verschleppt haben, da hatte man uns noch nicht eingesetzt."
„Wer hat gesprengt?"
„Die Streikenden haben gesprengt."
„Woher weißt du, dass es die Streikenden waren? Ich weiß genau, dass sie es nicht gewesen sind. Wären sie es gewesen, hätte man die Streikenden verhaftet."
„Ich bin nicht in die Miliz eingetreten, um mit alten Frauen Krieg zu führen. Sie haben das Recht, friedlich Streikposten zu stehen."
So ging es die ganze Zeit.
Gerüchte gingen um, dass etwas geschehen würde. Alle spürten es. Die Luft in der Stadt war schwer, wie die Luft vor einem Sturm. Bei Bisphams gingen viele Leute aus und ein. Der alte Trent saß da und unterhielt sich mit Bispham und Jolas.
„Die führen was im Schilde, scheint es."
„Ja, es scheint, als ob sie irgendeine Gemeinheit vorhätten."
„Wahrscheinlich wieder Dynamitsprengungen." „Man kann nie wissen. Ich bin immer etwas besorgt wegen dem Hinterhof dort. Er ist ziemlich ungeschützt." „Hast du gestern Schießen gehört?"
„Ja, ich hab irgendwo Schüsse gehört. Aber es gehen doch immer Schüsse los. Jede Nacht scheint’s, als ob etwas los wäre."
„Ich hab gehört, dass noch mehr Leute von der Werkpolizei als Hilfspolizisten eingestellt werden."
„Man sagt, das Werk organisiert einen Hunderter-Ausschuss."
„He, Fer, hast du von diesem Hunderter-Ausschuss gehört?"
„Was soll denn das für ein Ding sein?"
„Sieht ganz so aus, als ob es ein Komitee sein sollte, um die Streikführer zu kaschen und den Verband zu zerschlagen."
„Wer ist denn alles drin, Fer?"
„Na, verschiedene Werkmeister und ein paar Spitzel und Lagerschreiber. Ihr wisst ja, was das für Leute sind." Er setzte sich, streckte die Beine aus und lächelte sie freundlich an. Harris kam aus seinem Zimmer und ein halbes Dutzend Streikende war die Treppe heraufgestiegen. „Ihr wisst, ich hatte früher mal einen Freund. Er war im Friseurverband und war sicher, dass der Bolschewismus vom Erdboden verschwinden würde, wenn nur der Friseurverband nach Russland könnte und dort seine Pflicht täte. So ist’s auch mit diesen Leuten hier. Sie glauben, dass der Verband verschwinden wird, wenn sie mich einsperren und alle Führer loswerden können." Schallendes Gelächter. Dann eine Pause. Alle sahen Fer an. Wes Elliott fragte:
„Glaubst du, Fer, dass sie etwas gegen dich vorbereiten? Dass sie etwas vorhaben?"
Junge Leute standen an den Straßenecken und unterhielten sich. Junge Leute, die der Hafer sticht. „Man sollte endlich etwas gegen diesen Verband unternehmen.
Wenn die Polizei und die Miliz nichts tun, sollte es jemand anders machen."
„Sag, warst du je hinter einem Neger her?"
„Nein, das ist nicht so einfach, es gibt nicht viel Neger in Stonerton."
„Das muss aber ein Hauptspaß sein, hinter einem Neger herzujagen."
„Ja, das wär sicher schön."
„Man sagt, dass man diesen Streikführer aus der Stadt jagen wird."
„Man sollte ihn teeren und federn und auf einer Stange reiten lassen."
„Man sollte ihn aus dem Staat jagen. Habt ihr gehört, dass man einen Hunderter-Ausschuss bildet?"
„Was soll denn der Hunderter-Ausschuss?"
„Das ist, um die Leute zu schützen. Um nicht zuzulassen, dass diese Verbandsführer unsere Stadt auf den Kopf stellen und die Leute zu Tumulten aufreizen."
Frau Parker saß in ihrem kühlen, geräumigen Wohnzimmer.
„Ich höre, man bereitet einen Hunderter-Ausschuss vor, um etwas gegen diesen Streikführer zu unternehmen."
„Es ist höchste Zeit", sagte Jean.
„Mein Herz blutet für diese armen irregeführten Menschen. Hast du heute die Zeitung gesehen, Jean?"
„Ja, es war ein schöner Leitartikel."
„Wenn die Bürger ihre Pflicht täten, wie der Artikel vorschlägt, hätte der ganze Spuk bald ein Ende."
„Ich höre, dass ein Berichterstatter vor der Streikpostenkette von einem Polizisten bewusstlos geschlagen wurde. Sie sollten besser aufpassen."
„Oh, meine Liebe, verschwende dein Mitleid nicht für diesen Kerl, man hat gesehen, dass er die Streikführer in seinem Auto nach Lafayette gefahren hat."
„Na, dann ist’s kein Wunder, wenn man ihn verhaftet. Ich glaube, es muss recht bald etwas geschehen."
„Oh, sicher, etwas muss geschehen."
Jeder empfand es, auf dem Werkhügel und in den bequemen Behausungen der ,ehrbaren Bürger', dass etwas geschehen müsse. Jeder, mit Ausnahme einiger ,ehrbarer Bürger', die es vorzogen, den ganzen Streik zu ignorieren. Sie pflegten zu sagen:
„Wir wissen nichts davon, dass Streik ist. Man sagt, dass Tag für Tag Arbeiter in die Betriebe zurückgehen. Der Streik ist praktisch zu Ende."
„Wo gehst du hin, Wes?"
„Ich hab Wachtdienst im Streiklokal, Mutter."
„Nimm dich nur gut in acht."
„Oh, uns passiert schon nichts. Von uns wird man keinen verschleppen wollen."
„Aber jemand könnte unsere Vorräte stehlen wollen, aus reiner Gemeinheit."
„Ja, es gibt schon welche, die so gemein sind, dass sie unsere Vorräte stehlen möchten."
Die sechs Burschen ließen sich im Streiklokal auf Stühlen und Ladenpulten nieder. Drei spielten eine Weile Karten und drei würfelten, aber keiner hatte Geld, und es war darum ziemlich öde.
„Sag, Wes, hast du dein Gewehr mitgebracht?"
„Nein, ich hab’s bei den Jungen drüben im Logierhaus gelassen. Die haben gehört, dass das Logierhaus überfallen werden soll. Glaubt ihr das?"
„Na, etwas werden sie wohl überfallen, wenn so viel
davon geredet wird. Wenn nichts passiert, wird’s nicht an den Zeitungen liegen. Die hetzen aber mächtig."
„Seit wir streiken, bin ich jede Nacht auf Posten gewesen."
„Na, hast du nicht auch im Betrieb jede Nacht gearbeitet?"
Alle legten sich schlafen außer Wes. Sie lösten einander auf Wache ab. Oft döste Wes, wenn er auf Wache saß; blieb gerade nur wach genug, um zu wissen, dass er wach sei. Heute aber war er ganz und gar wach. Seine kleinen Augen glänzten in ihren tiefen Höhlen. Sein blondes Haar umrahmte gerade seinen Kopf. Ein junger Fanatiker. Er wartete und wusste selbst nicht worauf.
Er wartete auf etwas, das aus dem Finstern kommt. Auf etwas Verborgenes, Sprungbereites.
Die andern Burschen schnarchten und lagen schlafend auf Stühlen und Ladenpulten. Wes hörte etwas. Weit entfernt. Etwas kam von hintenher, um den Laden herum. Er sprang auf, ging zur Tür und lauschte. Geräusche, gedämpft.
Sein Gewehr. Er sah sich danach um, es war nicht da. Keiner von ihnen hatte Waffen. Jemand kommt. Leute, viele Leute. Das trübe elektrische Licht warf seltsame Schatten. Wes hatte ein Gefühl, als stünden seine Haare am Hinterkopf zu Berge.
Jetzt wusste er, dass er richtig gehört hatte. Menschen schlichen um den Laden herum.
Er rief laut. Zwölf maskierte Männer brachen ein. Scheinwerfer und Schießeisen richteten sich auf die schlafenden Burschen.
„Raus! Raus von hier!" Die kleine Gruppe von Wächtern wurde über die Straße getrieben. Die Straße brodelte von maskierten Männern. Maskierte Männer
überall. Einige hatten sich Strümpfe über das Gesicht gezogen, mit Löchern darin, für die Augen. Ein Mann hatte eine grüne Maske.
Sie gingen daran, das kleine Gebäude einzureißen. Wütend hackten sie mit Äxten darauf los, rissen die Balken mit Hakeneisen auseinander. Dann begannen sie, das Mehl auf die Straße zu werfen.
Wes machte eine Bewegung. Ein Maskierter richtete sein Gewehr auf ihn. Wes wusste, wer das war. Es war Will Fallon, ein Werkpolizist. Diese Leute waren also der ,Hunderter-Ausschuss' des Werks.
Von maskierten Männern mit Gewehren bewacht, stand die kleine Gruppe der Streikenden auf der Straße. Sie sahen dem phantastischen Treiben zu und unterhielten sich leise:
„Sieh mal, die reißen ja das ganze Haus ein." „Ja, sie zerschlagen alles." „Jetzt sind die Fenster hin." „Sie werfen die Vorräte auf die Straße." „Sie bringen die Säcke mit Maismehl heraus." „Wes, schau! Siehst du, wie die Kerle unter dem Bogenlicht das Mehl herausholen und darauf herumtrampeln."
„Wo die Miliz wohl bleibt?" „Dass die Miliz den Krach nicht hört!" „Schau, Wes, schau! Da kommt Major Furness und welche von der Miliz."
Der Major der Staatsmiliz kam mit einer kleinen Gruppe Soldaten die Straße entlang. Auch Polizei war mit dabei. Der Mann mit der grünen Maske, der der Führer zu sein schien, rief jetzt: „Fünfzig hinten!"
Das war offenbar irgendein verabredetes Zeichen, denn die maskierten Männer liefen hinter das zerstörte Haus auf den leeren Baugrund zu. Einer von den Leuten, die die Streikenden bewacht hatten, lief die Gasse hinab und kam dann ohne Maske wieder zurück. Es war Olsen, auch einer von den Werkpolizisten. Alle Burschen hatten ihn erkannt. Ein Maskierter ging dicht am Major und seiner Miliz vorbei. Die Burschen staunten. Er war knapp an ihnen vorbeigegangen, die Milizsoldaten hätten nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Und doch hatten sie ihn nicht verhaftet. Die Streikenden standen da und murmelten:
„Hast du das gesehen?" „Nanu, den haben sie nicht verhaftet." Der Major trat an den kleinen Haufen der Streikenden heran.
„Was habt ihr hier zu suchen?" fragte er. Er wandte sich zu den Polizisten. „Verhaftet diese Kerle." „Wir haben ja nichts getan." „Man hat uns überfallen, Herr Major." „Wir haben im Streiklokal geschlafen und es bewacht. Die da sind gekommen und haben es zerstört." „Man los!" sagte der Polizist. „Das könnt ihr morgen dem Richter erzählen."
Vom Lärm angelockte Streikende wurden jetzt die Straße hinuntergetrieben. Vom Lärm geweckte Streikende, die herauskamen, um zu sehen, was der Lärm bedeuten sollte, wurden auf Grund der Annahme verhaftet, dass die Streikenden ihr eigenes Streiklokal zerstört hätten. Irma und Doris wurden verhaftet. Die maskierten Männer waren verschwunden. Kein einziger war verhaftet worden. |
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