DRITTER TEIL
XV. KAPITEL
Schon vor den Exmissionen hatte die Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G. das Lokal der Streikleitung räumen lassen. Nach der Zerstörung des Streiklokals hatte das Unterstützungslokal auch als Büro herhalten müssen. Der kleine Alte, der Eigentümer des Ladens, schien freundlich genug gesinnt. Fast alle Einwohner des Dorfes Alt-Stonerton sympathisierten mit den Streikenden.
„Ist doch fürchterlich, wie diese Bullen mit den Leuten umspringen!"
„Ich begreife nicht, wie die Leute so viel Geduld
haben."
„Ich staune nur, dass von der Polizei noch keiner erschossen worden ist."
„Die Polizisten sollten wirklich hohe Löhne kriegen, bei den langen Arbeitsstunden!"
Die Leute an den Straßenecken sagten fortwährend solche Dinge. Auch Herr Duncan, der Eigentümer des Ladens, redete von dem ,armen, bedrückten Volk' — aber er suchte Doris auf und sagte ihr, dass der Verband zum Monatsende ausziehen müsse. Er schien sich zu schämen, als er das sagte, und sah weg, indem er leise
murmelte:
„Ich hab Angst, der Mob wird auch meinen Laden
zerstören."
„Haben Sie denn so etwas gehört?" fragte Doris.
„Nein, Fräulein. Ich hab noch nichts gehört, aber ich hab Angst. Man sagt, dass der Hunderter-Ausschuss
immer stärker wird, und man sagt auch, dass die Basil-Schenk-A.-G. genug davon hat, wie dieser Verband durchhält, und sie wird unbedingt bald irgendeinen Krawall anzetteln. Ich trau mich nicht, ihnen den Laden zu lassen." Obwohl Fer den Alten aufsuchte und Roger mit Frau Thorn und Lissa, die mit ihm sehr befreundet waren, ebenfalls hinging, blieb der Alte fest. Frau Thorn sagte zu Roger:
„Wird wohl von Basil Schenk den Befehl bekommen haben. Man hat ihm wahrscheinlich gesagt, man würde es ihm besorgen, wenn er den Verband nicht an die Luft setzt."
Sie übersiedelten zunächst in eine winzige Laube, ein paar Häuser vom alten Lokal entfernt. Das Haus hatte ein Wellblechdach, war nur halb so groß wie das frühere Lokal und hatte zugenagelte Fenster. Es herrschte eine fürchterliche Hitze. Aber auch dieses notdürftige Obdach wurde ihnen bald genommen. Und obwohl es genug schäbige Lokale mit der Tafel ,Zu vermieten' gab, war keines von ihnen für den Verband zu haben.
Die gehetzten Besitzer machten faule Ausreden. Sie sagten den Kommissionen, die der Verband mit der Beschaffung irgendeines Raumes beauftragt hatte, dass ihr Lokal ,nicht zu vermieten' oder ,eben vermietet worden sei' oder dass sie eben ,im Begriffe wären, Reparaturen vorzunehmen' oder klipp und klar ,an den Verband vermieteten sie nicht'. Irgendeine Weisung war vom Unternehmer ausgegangen. Drohung oder Warnung — es reichte aus, um den Verband für jeden Besitzer eines leeren Speichers oder Ladens tabu zu machen.
„Sie haben Angst, dass man ihnen den roten Hahn aufs Dach setzt", erklärte Frau Thorn.
Zuweilen musste Doris die Lebensmittelverteilung im
Freien vornehmen. Ein Lastauto wurde auf ein leeres Baugelände gefahren, und die Leute holten sich dort ihre Pakete.
Sie kämpften noch mit diesem Problem, als die Massenexmissionen kamen. Von Anfang an hatte Fer eine Zeltkolonie für den Fall in Aussicht gestellt, dass Räumungen vorgenommen werden würden.
„Wir kümmern uns nicht um Räumungen, wir gehen einfach und wohnen in Zelten und machen Ferien."
„Der Sommer kommt, wir werden einfach in unseren eigenen Zelten leben." Die Leute wiederholten es: „Wir werden einfach in unseren eigenen Zelten leben" — und man schickte um Zelte.
Aber die Unterbringung der Menschen war letzten Endes Sache des Unterstützungsausschusses, während die Unterbringung des Verbandsbüros Fers Sache war. In einer Verbandsversammlung beschloss man, eine Parzelle zu pachten und ein eigenes Verbandsbüro zu bauen. Ein elektrischer Schlag durchzuckte die Arbeiter, besonders die Männer und Burschen.
„Wir bauen ein eigenes Verbandslokal." „Ja, wir werden ein eigenes Grundstück haben, wo uns keiner rausschmeißen kann."
Eine Sammlung zum Ankauf von Bauholz wurde von der Zimmererorganisation veranstaltet, die mit den Streikenden sympathisierte; aber noch immer gelang es nicht, ein verfügbares Stück Land zum Pachten zu
finden.
Lissa Thorn war es, die endlich eins fand. Das Land gehörte Freunden ihrer Mutter. Es lag an der Hauptstraße nach Braddock zu, jenseits des Eisenbahndamms; ein breites Feld zwischen zwei neuen Häusern. Dieselben
Leute besaßen auch ein kleines, von hohen Bäumen umgebenes Waldtal jenseits einer Schlucht. Ein kleines Flüsschen durchströmte das Tal, hier konnte man Wasser holen. Die Lichtungen zwischen den Bäumen gäben einen idealen Platz für die Zelte ab — wenn die Zelte da wären. An der Straße selbst lag der Versammlungsplatz, wo auch das Verbandsbüro erbaut werden sollte.
Lissa führte Fer auf der Parzelle herum. Auch sie hatte jetzt etwas für den Verband getan. Fers Gesicht trug den hellen Ausdruck, den er hatte, wenn er glücklich war. Er sah alles, wie es sein würde —, hier sollte der Verbandssaal erbaut werden; hier würden die Versammlungen abgehalten werden. Hier sollte die Zeltkolonie stehen.
„Unser eigenes Land, und wir können den Bullen den Zutritt verbieten, wenn wir wollen." Hier könnten die Kinder spielen und hier die Zelte stehen.
„Lissa, das ist ein feiner Platz. Wie hast du ihn dazu gebracht, dass er ihn uns gibt?" Sie standen im Tal unter den Bäumen — er fasste ihre Hände und schwang sie hin und her.
„Mutter hat mit ihm gesprochen", sagte sie scheu. „Wir stehen auf eigenem Boden. Wir haben jetzt zum ersten Mal einen eigenen Platz. Es ist ein feiner Platz, und du bist auch fein, Lissa." Damit küsste er sie flüchtig, aus bloßem Gefallen an ihr.
Lissa errötete. Das Unglaubliche war geschehen. Fer Deane, der große Führer, hatte sie geküsst. Ihr Herz schlug so, dass sie kaum atmen konnte. Ihr gesunder Verstand sagte ihr, dass er sie in einem Augenblick der Freude flüchtig geküsst hatte und dass in diesem Kuss mehr Dankbarkeit als Zuneigung lag. Aber doch hatte er sie geküsst. Er liebelte nie mit den Mädchen. Er hatte nur für den Streik und für die Streikenden Interesse.
Sie war vor allen anderen auserwählt worden. Dieser Kuss war etwas, das ihr keiner wegnehmen konnte, auch nicht den Augenblick der Zusammengehörigkeit, als er ihren Arm durch den seinen gezogen hatte und sie beide allein durch den sonnenbeschienenen Wald gewandelt waren.
Violet Black hatte die Arbeit wieder aufgenommen. Es war eine große Erschütterung für alle. Violet Black war mit einer Gruppe von Streikenden nach dem Norden gefahren, um bei den Gewerkschaften Streikspenden zu sammeln. Ihr Mann, der Streikbrecher war, versuchte, den Verband wegen ,Entfremdung seiner Gattin' gerichtlich zu belangen. Es war eine fingierte Klage, deren Zweck es war, dem Verband Ungelegenheiten zu bereiten und der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, dass die Roten im Verband an ,freie Liebe' glaubten, in ,freier Liebe' lebten und herumliefen, um Familien zu zerstören. Die Klage wurde abgewiesen, und Violet Black erklärte, dass sie auf eigenen Antrieb und aus eigenem Willen nach dem Norden gefahren war.
Jetzt war sie zur Arbeit zurückgekehrt —, ob bestochen oder eingeschüchtert, wusste keiner.
Keiner wusste genau, wie viel Leute zur Arbeit zurückkehrten. Ein Riss in den Reihen des Verbandes war nicht entstanden, auch hatte keine auffallende Anzahl von Arbeitern auf einen Hieb die Arbeit wieder aufgenommen.
Der alte Mason stand eines Tages in der Streikversammlung auf und sagte, der Streik sei verloren, er sei dafür, dass man ihn abblase.
Er wurde aus der Versammlung gejagt.
Man brachte jetzt keine Lastautos voll Streikbrecher aus andern Bezirken mehr herein, wie man es im An-
fang versucht hatte. Am Tage der größten Räumungsaktion, als über sechzig Familien obdachlos wurden, hatte die Werkdirektion erklärt, der Streik sei zu Ende —, sei schon seit langer Zeit zu Ende gewesen, und der Direktion stünden soviel Arbeiter zur Verfügung, wie viel sie nur gebrauchen konnte.
Gleichzeitig führten die Werkmeister eine organisierte Kampagne durch. Sie besuchten sämtliche im Verband organisierten Familien. Ganz besonders die Frauen. Man machte bei ihnen Staatsvisite. Man bat sie, die Arbeit wieder aufzunehmen. Auch Briefe wurden verschickt, in denen stand, dass man sich um Verbandstätigkeit nicht kümmern würde. Das Wort ,Gewerkschaft' wurde nicht ausgesprochen, man umschrieb den Sinn, da die Arbeitgeber und der Industriellenverband das Bestehen einer Gewerkschaft überhaupt nicht zugaben.
Das Ortsblatt hob den Großmut der Basil-Schenk-A.-G. hervor, die auch selbst auf einer ganzen Inseratenseite erklärte, 6ie würde jeden Arbeiter einzeln wieder einstellen und seine Beschwerden anhören.
Alle wussten, dass Violet Black in den Betrieb zurückgekehrt war. Auch andere Leute schlichen sang- und klanglos zurück. Sie kamen eben nicht mehr zu den Verbandsversammlungen —, wie die alte Whenck. Die Zeitungen beschäftigten sich mit dem Fall Violet Black. Sie brachten Aussprüche von ihr, die den Verband schädigten. Sie wäre zur Überzeugung gekommen, dass der Verband den Arbeitern nicht helfen könne und dass die Werkdirektion der beste Freund der Arbeiter sei.
Streiks sind in dieser Hinsicht eigenartig. Die Rückkehr zur Arbeit eines Einzigen, die Bestechung eines Einzigen kann mehr Wirkung haben als ein Dutzend andere Fälle. Violet Black hatte einen so ehrlichen Eindruck gemacht. Sie war im Unterstützungsausschuss
sehr aktiv gewesen. Und jetzt war sie wieder im Betrieb. Eine Regung der Unruhe ging durch die Arbeiter, die, in ihren engen Quartieren zusammengepfercht, ängstlich ihre wenigen Habseligkeiten bewachten.
Wes Elliott spürte dieses Beben in den Reihen der Streikenden. Fer war in den Alltag des Streiks vertieft, in die Einzelheiten der Pachtung des Geländes und der Besorgung des Materials, in die ewigen Probleme der exmittierten Streikenden.
Wes aber fühlte ein Gefahrenmoment. So konnte der Streik nicht enden. Dieses Wegsickern der Leute musste aufhören. Er stürzte sich in den Kampf um die Festigung der Moral. Er und Cuthbert, der junge Trent und ein aus weiteren Streikenden bestehender Ausschuss besuchten jeden einzelnen persönlich. Zuerst statteten sie solche Besuche bei einem halben Dutzend der treuesten exmittierten Frauen ab. Sie banden den exmittierten Kindern Armbinden um und schickten sie auffällig auf die Straße hinaus. Die Journalisten schnappten ein, und Bilder dieser Kinder liefen durch die gesamte Presse. Dann ließ man die Kinder in Gruppen zu zweien und dreien aufmarschieren und sich zuletzt, als sie sich dem Pachtgelände näherten, zu einem Zug formieren. Ein Stoßtrupp bildete sich aus von Leuten, die weder vor dem Terror, noch vor den Polizeibrutalitäten, noch vor der Exmission, noch vor dem Mob zurückschreckten. Männer und Frauen, die unerschütterlich blieben — ein Kern, von dem man ausgehen konnte.
Um diesen Kern herum gab es eingeschüchterte Leute, Leute, die man bestechen konnte, Leute, die den Pfaffen zugänglich waren, Leute, die einen Tag so und den nächsten Tag wieder anders dachten, Leute, die
immer dem Redner recht gaben, den sie zuletzt gehört hatten, die für den Verband waren, wenn sie ein Argument zu dessen Gunsten, und dagegen, wenn sie ein Argument zu dessen Ungunsten gehört hatten.
Dann aber traf, gerade im richtigen Augenblick, das Bauholz aus der Zentrale ein. Fer selbst war ein guter Arbeiter. Auf dem Gelände arbeitete man jetzt mit Volldampf. Man errichtete ein Holzgerüst für ein ziemlich geräumiges Gebäude, mit Fenstern und einer Tür, und all das gehörte dem Verband. Für das Volk war das eine Verheißung dessen, dass der Verband dauern würde. Für die Arbeitgeber war es eine Drohung: dieser Verband ist ein für allemal da. Ein eigenes Lokal, ein greifbares Zeichen der Solidarität der Gewerkschaften. Gespendet dem Verband der Textilarbeiter von anderen Verbänden.
Immer umringte eine Menschenmenge den kleinen Bau. Das Klopfen der Hämmer war Musik für ihre Ohren. Das Hämmern hörte von Morgen bis Abend nicht auf. Auch während der Lebensmittelverteilung ging das Hämmern weiter.
Der ganze Verband sah dem Einschlagen jedes einzelnen Nagels zu.
Das Gefühl der Unsicherheit war weg. Man machte sich über die Ortsblätter und ihre Leitartikel lustig.
„Wisst ihr noch, wie sie im Anfang schrieben, es würde keine Unterstützung geben?"
„Ja, sie haben geschrieben, es würde keine Unterstützung geben."
„Wisst ihr noch, wie sie schrieben, Fer käme nicht
zurück —, damals, als er zur Versammlung nach Johnson City war?"
„Ja, sie sagten, er wäre ausgerissen."
„Jetzt sagen sie wieder, es würde keine Zeltkolonie zu Stande kommen."
„Na ja. Diese alte ,Stonerton Times' sollte ,Stonerton Hard Times' (Anm.: „Stonerton Times" heißt wörtlich übersetzt: „Stonertons Zeiten", „Stonerton Hard Times" bedeutet: „Stonertons schwere Zeiten".) heißen."
Fer lief feixend herum; durch das wirkliche Erbauen eines eigenen Hauptquartiers hatte er ein Gefühl der Stabilität und Sicherheit wie nie zuvor. Seine eigenen Zweifel waren jetzt verschwunden. Er hatte neue Pläne und weitere Projekte. Auch hatte er das Gefühl, er könne sich auf Wes Elliott und seine Jungen verlassen und auf die Frauen, die mit ihnen zusammenhingen — auf diese Leute, die absolut zuverlässig waren und sich nicht verkrümeln würden.
Er hatte seine Leute nunmehr kennen gelernt und hatte keine Angst mehr. Der kleine Bau war für sie alle ein Symbol. Sie bauten nicht nur ein Dach und eine Wand, sie errichteten einen Bau, der für den Verband eine seine Größe und seine Kosten weit übersteigende Bedeutung annahm.
Es war das erste verbandseigene Verbandslokal im Süden, gespendet von organisierten Arbeitern, erbaut durch organisierte Arbeiter. Fer, die Funktionäre und alle redegewandten Streikenden übergossen das Haus mit einer Flut von Rhetorik.
Doris hatte es schwer. Der Geist der Rebellion und des Widerstandes, der das erste Ergebnis der Exmissionen gewesen war, hatte sich jetzt schon gelegt. Der feste Mut der ersten Räumungen war verflogen. Frau Robertson, die bei der Räumung den Polizisten ihre Herausforderung entgegengeschmettert hatte, jammerte jetzt ununterbrochen. Frau Wright, die ein so gutes Beispiel gegeben hatte, als sie ihrem Mann einen Brief schrieb, während das Baby im Wäschekorb schlief — eine Tatsache, die Ed Hoskins und Roger in ihren Artikeln groß aufgemacht hatten — war in aller Stille verschwunden und mit samt ihren hübschen Möbeln in die Werksiedlung zurückgekehrt.
Ihr Mann hatte die Arbeit wieder aufgenommen und dem Verband den Rücken gekehrt. Jetzt meinte jeder, er sei ein Spitzel. Frau Winstead klagte Tag und Nacht und sprach von nichts anderem als von den Bergen. Doris machte verbissen die Runde durch all die Räume, die der Verband zur Unterbringung der exmittierten Arbeiter gemietet hatte, und auch durch alle Orte, wo solche Arbeiter von Freunden beherbergt wurden. Sie war schon ebenso reizbar geworden wie die Leute, mit denen sie sprach.
„Wann kommen denn schon die Zelte, Fräulein Doris?"
„Um Himmelswillen! Ihr wisst genau so viel davon, wie ich."
„Was glauben Sie, was aus den Zelten geworden ist? Da hat einer gesagt, dass Basil-Schenk sie alle irgendwo auf ein totes Gleis hat schieben lassen. Ist das wahr. Fräulein Doris?"
„Um Himmelswillen! Ihr wisst genau so viel davon wie ich. Die Zelte werden hier sein, wenn sie da sind."
„Die Zeitung schreibt, dass die Zelte nie kommen werden, Fräulein Doris."
„Die Zeitungen schreiben ja immer nur die Wahrheit, nicht wahr? Die Zeitungen haben euch auch gesagt, dass es kein Verbandshauptquartier geben wird. Jetzt seht es euch an —, ist fast schon fertig."
„Was soll ich machen wegen der Einstellung meiner Möbel, Fräulein Doris?"
„Ich kann ja nicht für die Einstellung sämtlicher Möbel sorgen. Ihr müsst auch selbst etwas für euch tun." Die langen Jahre in der Werksiedlung, die Vormundschaft, unter der sie gelebt hatten, hatte ihnen die Initiative genommen. Es hatte den Anschein, als ob sie nicht imstande wären, ihrer Schwierigkeiten allein Herr zu werden. Einige Streiker verteilten ihre Möbel unter ihre Freunde oder fanden selbst Unterkunft für sie. Aber an vielen Stellen waren die rührenden Häuflein Möbel und Hausrat tagelang im Freien liegen geblieben. Die Matratzen schob man unter die Häuser, damit sie nicht durchnässt würden, aber feucht wurden sie doch. Die Möbel warfen sich. Aber es gab immer Leute, die sich darauf verließen, dass Doris für sie denken würde. Wenn sie dann nicht mehr aus noch ein wusste, sagten diese Leute:
„Die ist aber mächtig kurz angebunden." „Ja, sie ist reichlich hochnäsig."
„Sie hat ja leicht reden. Sind ja nicht ihre Möbel, die im Freien stehen."
„Na ja, sind ja nicht ihre Sachen, die leiden." Wie die Frauen so in ihren überfüllten Quartieren saßen und von den Räumungen sprachen, begannen sie schon, ihre Verluste zu übertreiben und vorzugeben, Dinge besessen zu haben, die nur in ihrer Einbildung existierten.
Endlich trafen die Zelte ein, und es gab einen großen Aufschwung der Aktivität. Dreißig Zelte wurden in zwei
Reihen die Schlucht entlang aufgestellt. Alle Mitglieder des Verbandes mussten mit Hand anlegen. Für alle Zelte mussten Fußböden gebaut, sanitäre Einrichtungen geschaffen werden. Fer war mit dem Bau des Hauptquartiers zu sehr beschäftigt gewesen, um auf das Murren der Frauen zu achten, und er lehnte es ab, Irma anzuhören. Endlich zogen die Familien in die Zeltkolonie ein. Die Überfüllung in der Stadt war behoben. Das Wetter war gut. Die Zeltkolonie machte den Leuten in dieser Frühzeit großen Spaß. Im kleinen Zeltdorf hörte man immer Singen.
Tagsüber kamen die ,Bullen' zu den Streikversammlungen herein, und mit dem Steigen der moralischen Kraft des Verbandes vermehrten sich auch die Gerüchte von der Tätigkeit des Hunderter-Ausschusses.
Roger Hewlett war während dieser Zeit abwesend, er machte eine Reise durch Südcarolina und Tennessee. Als er fortfuhr, war alles unsicher gewesen. Der Streik war wieder im Abflauen, nachdem er sich nach den Exmissionen wieder aufgerappelt hatte. Die Exmissionen hatten Widerstand erzeugt. Die von Wes Elliotts Mut angesteckten Arbeiter waren kampflustig.
Fer hatte sich Roger gegenüber gehen lassen wie mit keinem andern. In einem Augenblick der Mutlosigkeit hatte er sich und seine Handvoll Arbeiter neben dem ungeheuren Baumwollindustriellenverband gesehen, sein winziges Volk mit dem rührenden Mut und sich selbst, ebenso winzig, der sie führte, keiner wusste wohin.
Hundert kleine Ereignisse versicherten ihm, dass der Streik im Verbluten war.
Die Arbeiter, die in andere Betriebe arbeiten gingen, traten, wenngleich sie keine Streikbrecherarbeit leisteten, aus dem Verband aus. Die Arbeiter, die in ihre Berge zurückkehrten, traten aus dem Verband aus.
„Sie lassen nur die Krüppel, die alten Leute und die Schwächsten zurück. Sehr bald wird das hier kein Streik mehr sein, sondern eine Wohltätigkeitseinrichtung",
sagte er.
Die Zelte aber kamen und kamen nicht. Nach der großen Räumungsaktion waren die Journalisten nacheinander fortgefahren. Sie sagten:
„Na, der Streik ist so ziemlich vorbei." „Ich glaube, hier wird nicht mehr viel zu holen sein." «Ob die wohl die Zeltkolonie doch kriegen?" „Kommt auf eins heraus — der Streik ist ja doch erledigt."
Roger war also fortgefahren, mit dem Gefühl, dass aller Mut aus dem Streik herausgesickert sei. Es war eigenartig, wie rasch diese Niedergeschlagenheit kam, nach jenem frühen Morgen unglaublichen Heldenmuts der exmittierten Frauen.
Roger kehrte nun zurück. Er hatte diesen Tiefstand der Gefühle noch klar im Gedächtnis. Er fand den Weg zum neuen Streiklokal. Es war gerade Decoration Day (Anm.: Festtag.). Er begegnete einem Zug von Kindern, geführt von Irma und Lissa. Sie hatten amerikanische Flaggen in den Händen. Eine Demonstration von kleinen Kindern, die so nahe an den Betrieb herangingen, wie sie sich nur trauten. Zwei Pressephotographen fuhren nebenher. Um das neue Streiklokal, das in der Mitte eines freien Platzes stand, war eine feiertägliche Menschenmenge versammelt.
Fer eilte Roger entgegen. Er war wie verwandelt. Wenn er entmutigt war, schien er dicker zu werden, und sackte in sich zusammen; aber seine Stimmungen
verrieten sich auch in jedem Muskel, in den Falten seines Anzugs, ja in der Farbe seiner Haare und Augen. Er war geradezu beredt in der Mannigfaltigkeit seiner Stimmungen. Jetzt strömte Hoffnung von ihm aus. Wes Elliott folgte ihm mit glühenden Augen wie sein Schatten. Sein dunkles, schmales Gesicht schien asketischer denn je.
„Ist es nicht großartig?" fragte er. „Sie haben ja noch nicht die Hälfte gesehen. Kommen Sie, sehen Sie sich die Zeltkolonie an."
„Sie sehen ja ganz anders aus", sagte Roger. Fer nickte mit einer kurzen, ausdrucksvollen Bewegung.
„Ich bin jetzt erst richtig im Zug! Jetzt erst fangen wir eigentlich zu kämpfen an. Auch die Streikenden." Binney Jolas kam mit ihrem Vater vorbei. Sie hielt sich an seiner Hand fest, auf eine eigene Art, als wäre sie noch ein kleines Mädchen, und sah verzückt zu ihm hinauf. Die Liebe dieser beiden zueinander hatte etwas an sich, das Roger immer rührte.
„Binney!" rief Fer sie an. „Oh, Mr. Jolas, Roger ist wieder da. Komm und zeig ihm die Zeltkolonie. Die Familie Jolas hat ein feines Zelt, nicht?"
„Freilich haben wir das", zwitscherte Binney. Mr. Jolas lächelte und nickte mit dem Kopfe. Er brachte eine wohlwollende Zufriedenheit mit sich, die nichts erschüttern konnte. Er stützte sich ein wenig auf seinen Stock, denn sein Bein hatte sich nach einem Betriebsunfall nie richtig erholt.
Sie gingen durch die Schlucht. Die Zelte waren von Sonnenflecken gesprenkelt. Kinder spielten im freien Raum vor den Zelten. Mutter Gilfillin rührte etwas in einem Topf um. Die zahlreichen McLaughlins scharten sich um ein anderes Zelt. McLaughlins Holzbein ragte gerade heraus auf einem Hocker. Frau McLaughlins
dunkle Augen glühten. Sie sah jünger und unbefangener aus. Sogar Frau Winstead hatte ausnahmsweise das Jammern vergessen. Fer lächelte wohlwollend diese Szene an, als wäre er der Urheber von allem.
Die ungeheure Arbeit der Übersiedlung all dieser entmutigten, unzufriedenen Leute hatte nicht er leisten müssen. Die Verantwortung dafür war Doris, Irma und ihrem kleinen Komitee zugefallen. Jetzt zeigte Fer Roger die Kolonie, als ob er nur gesagt hätte: „Es werde eine Zeltkolonie", und dann sei sie geworden. Diese Einstellung war bei Fer durchaus unbewusst, aber sie versetzte die Mädchen in helle Wut. Sie, nicht Fer, hatten die Verantwortung für das Wohlergehen eines jeden einzelnen Säuglings und die schadlose Überführung eines jeden einzelnen Möbelstücks getragen. Sie und nicht Fer hatten tagelang Fragen anhören müssen: „Wo ist meine Kommode hingeraten?" „Ich kann eine von meinen Schüsseln nicht finden,
Fräulein Doris."
„Wenn ich nicht Geld für meine Möbel kriege, kommt man und holt sie ab!"
„Ich werde die Matratze brauchen, die ich Ihnen für Frau Wheelock geborgt habe."
Das Zustandekommen der Kolonie, das tatsächliche Vorhandensein der neuen Versammlungshalle hatten dem Verband eine neue Stellung verschafft. Eine veränderte Einstellung zur Organisation hatte sich durch die ganze Werksiedlung fortgepflanzt. Die Leute in Alt-Stonerton fingen an zu sagen:
„Na, der Verband wird bleiben."
„Ja, die werden mit Basil Schenk kämpfen bis ans Ende."
„Man sagt, dass sehr viel Arbeiter in dem Betrieb furchtbar unzufrieden sind."
„Ja, mich tat es nicht überraschen, wenn sie die Arbeit wieder niederlegten."
Frau Thorn machte in Frau Soams' Pension Propaganda für den Verband.
„Wärt ihr alle draußen geblieben, wie ich euch gesagt habe, hättet ihr den Streik jetzt schon gewonnen gehabt."
Die Arbeiter der Werksiedlung sahen sich nur Basil Schenk gegenüberstehen. Für sie war die Sache einfach. Sie wussten nichts von Märkten. Sie wussten nichts von der Macht des Bauniwollindustriellenverbandes. Sie brauchten nur gegen eine Sache zu kämpfen, gegen den Betrieb, den sie bestreikten. Es schien, als hätte diese Zuversicht auf Fer übergegriffen.
„Es kommt ein zweiter Streik, Roger, so sicher wie nur was."
„Glauben Sie, dass sie wieder herauskommen?" Fer blieb stehen. Er sah sich um. Binney Jolas und ihr Vater war in einiger Entfernung. Nur Wes, sein Schatten, war in der Nähe.
„Cuthbert und der junge Trent sind wieder im Betrieb. Sie bringen die Leute auf die Beine. Ich halte jeden Tag mit Streikbrechern aus verschiedenen Arbeitssälen Versammlungen ab. Die Frauen machen Hausagitation. Wenn es dunkel wird, kommen Streikbrecher zu Besuch in die Zeltkolonie. Wir kriegen sie bestimmt wieder aus dem Betrieb heraus."
XVI. KAPITEL
Die Feindseligkeit gegen den Verband flammte wieder auf. Der in den Herzen der gutsituierten Bürger gegen den Verband glimmende Hass schien von der Lebenskraft des Verbandes abhängig zu sein. Als der Streik abflaute, flaute auch der Hass ab. Jetzt, da die Bürger wussten, dass der Verband bleiben würde, jetzt, da sie den Kern des Widerstandes in den Arbeitern fühlten, loderte ihr Zorn auf, geschürt von den Leuten aus der Betriebsleitung.
Der Streik hatte wieder Leben. Neue Organisatoren waren aus dem Norden eingetroffen. Der Textilarbeiterverband schickte einen andern Sekretär an Stelle von Wood. Das war ein Betriebsarbeiter aus New Bedford, mit Namen Charley Clint, ein blonder, sommersprossiger Junge. Er kam von allem Anfang an gut mit den Textilarbeitern des Südens aus. Er war schon in vielen Streiks gewesen und erzählte gerne Geschichten davon, was sich die Arbeiter des Nordens gefallen lassen mussten. Diese Geschichten weckten in den Südstaaten ein Gefühl der Solidarität mit den nordischen Arbeitern.
Paul Graham und seine Frau waren zwei junge Radikale, die zu Fuß heruntergewandert waren, um beim Streik mitzuhelfen. Sie wohnten bei Thorns, und auch Irma hatte dort ein Zimmer. Die Ankunft all dieser neuen Leute munterte die Streikenden auf und gab dem Verband ein Gefühl der Stabilität. Die Industriellen und ihre Freunde versetzte es in Wut.
Es war der Basil-Schenk-A.-G. unangenehm, dass es eine Zeltkolonie mit täglichen Versammlungen gab, nachdem sie eine Verlautbarung herausgegeben hatte, dass der Streik vorüber sei. Der vom Werk organisierte Hunderter-Ausschuss erwachte zu neuem Leben. Er be-
stand aus Mitläufern der Industriellen — junge Leute von der Sorte, die gerne Negerjagden veranstalten — und einer kleinen Gruppe von Geschäftsleuten und deren Freunden.
„Etwas muss geschehen."
„Wir müssen unsere Pflicht tun und das Rattennest ausräumen."
„Man sollte sie aus der Stadt jagen." „Die städtischen Behörden sollten sich um diese Zeltkolonie kümmern und sie auflösen."
„Wenn sich die Stadt nicht drum kümmert, sollten es die Bürger tun. "
„Die Bürger haben das gute Recht, diese Vagabunden und Tippelbrüder auszuräuchern."
„Das schon, aber sie haben eine Schutzwache." Ein Schutz war wirklich vorhanden. Roger fragte Fer: „Habt ihr keine Angst, dass euer neues Hauptquartier ebenso zerstört wird wie das alte?"
„Der Verband hat beschlossen, das Grundstück bewachen zu lassen. Als wir die Zelte aufstellten, haben wir Leute gesehen, die sich nachts im Gebüsch herumtrieben. Wir können nicht erlauben, dass unsere Kinder geschreckt werden."
„Nein", sagte Wes, „wir können es uns auch nicht erlauben, für nichts und wieder nichts zu arbeiten und unser Hauptquartier zerstören oder anzünden zu lassen, da haben wir eben, wenn es dunkel wird, eine Patrouille, die die Runde macht."
„Warum habt ihr nicht Polizeischutz beantragt?" fragte einer der Journalisten.
„Einen schönen Polizeischutz würde man uns geben! Der einzige Schutz, den wir von denen je bekommen können, ist, dass sie uns verprügeln. Wissen Sie nicht mehr, wie in der Nacht, in der das Streiklokal zerstört
wurde, sie uns Burschen verhaftet haben? Wir haben genau so das Recht, einen Nachtwächter zu halten wie jeder andere auch."
In der ganzen Fabrik spitzten die Meister die Ohren. Die Disziplin war gelockert. Vorfälle, die sonst eine scharfe Rüge zur Folge gehabt hätten, ließ man unbemerkt durchgehen. Der Betrieb war höchstens zu zwei Fünfteln beschäftigt, und die Arbeiter waren dessen sicher, dass die Produktion nur ein Minimum der Sollmenge darstellte.
Es gab natürlich auch Spitzel. Sie berichteten von Erregung unter den Arbeitern, die die Arbeit wieder aufgenommen hatten. Auch die an Stelle der alten aufgenommenen neuen Arbeiter waren unruhig. Innerhalb der Fabrik gab es nur einen unentwegten Kern. Das waren die Werkmeister und die so genannten ,loyalen' Arbeiter, eine meist Hochbezahlte Minderheit, die den Streik nicht mitgemacht oder nur ungerne die Arbeit niedergelegt hatte.
Diese ,loyalen' Arbeiter waren gereizt wegen der geringen Produktion, der beunruhigenden Schlappheit, die in ihnen das Gefühl hervorrief, dass die Industrie nicht rentabel sei und dass jeden Augenblick etwas passieren könnte. Die Werkmeister pendelten in ihrem Verhalten zwischen dem Nachsehen der Schlappheiten und der unwesentlichen Verstöße gegen die Betriebsordnung und einer überheblichen Strenge hin und her. Diese Extreme belasteten die Nerven der Arbeiter. Die lange Arbeitszeit drückte schwer auf die nach den Streikferien Zurückgekehrten. Im ganzen Betrieb herrschte Unzufriedenheit.
Es war schwer, den Ursprung der Unzufriedenheit zu
finden. Woher kam sie? Die Betriebsleiter und Werkmeister, die Antreiber, versuchten, das zu erfahren. Es ging nicht. Ihre Quelle war überall und nirgends. Sie durchdrang die ganze Organisation. Jeder fühlte, dass etwas passieren würde.
„Wenn wir die Zeltkolonie ausräumen könnten, wäre alles besser."
Es war wohl bekannt, dass die im Betrieb arbeitenden Streikbrecher an Sonnabendnachmittagen die Streikvergammlungen besuchten, und dass sie nach Eintritt der Dunkelheit den Versammlungen auf dem Verbandsgelände beiwohnten.
„Wir schreiten da lieber nicht ein", beschloss die Direktion. „Wir können diese ganze Kolonie ausräumen. Wenn wir dort einen Zusammenstoß provozieren könnten — eine Schießerei, könnten wir die ganze Gesellschaft ausräuchern. Die Polizei würde eingreifen, und wir könnten dann mit dem Rest aufräumen."
In der Atmosphäre der Zeltkolonie trat eine Veränderung ein. Am ersten Tag nach Rogers Rückkehr war es ein friedlicher Ort gewesen. Er erweckte den Eindruck von Sonnenschein, von Kindern und Menschen, die glücklich waren, dass sie nach ihrer Exmission, nach ihrer Einpferchung in enge Behausungen, in Zelten leben durften. Aber schon nach einigen Tagen war ein Gefühl der Erregung da. Man konnte es sogar den Kindern ansehen —, auch Binney, mit den aus dem braunen Gesicht starrenden, überraschenden hellgrauen Augen, das Händchen in der Hand Jolas'.
Die älteren Leute kamen unter Schutz der Dunkelheit zu Jolas zu Besuch. Jolas und andere machten auch Besuche in der Werksiedlung. In der Werksiedlung
genoss Jolas große Achtung. Er war auch eine Art Laienprediger. Er konnte für den Verband predigen, nicht schlechter als ein anderer. Er hatte mit den ,Erlebnisversammlungen' angefangen: ,wie kam ich zum Verband', nach dem Muster der Sektenversammlungen, wo man angab: ,wie wurde ich gerettet'. Seine eigene Erzählung lautete:
„Brüder und Schwestern! Ich hörte eine Stimme, die da zu mir sagte: ,Tritt ein in den Verband! Tritt ein in den Verband!' Es war keine kleine, stille Stimme —, es war eine laute, heisere Stimme, die krächzte wie eine Krähe. Es war die Stimme von Bruder Wes Elliott. Sie ließ Tag und Nacht nicht von mir und sagte: ,Brüder Jolas, bist du noch immer nicht eingetreten? Bruder Jolas, warum bist du noch nicht bei uns eingetreten?' Und dann kam sie eines Tages zu mir, und ich konnte das Krächzen dieser Stimme nicht mehr mit anhören, und da zog ich los, und mit diesem meinem schlechten Bein rannte ich zwei Meilen und hörte nicht auf zu rennen, bis ich zum Verbandsbüro kam und eintrat. Und als ich da Bruder Wes Elliotts Kopf mit dem struppigen Haar auf mich zukommen sah, da schrie ich ihm zu, noch bevor er den Mund öffnen konnte, um irgendein Gekrächz loszulassen: ,Ich bin schon, Bruder Wes! Ich bin schon eingetreten'!"
Die Versammlung war zu Ende. Es dunkelte schon. Roger hatte versucht, die Ursachen zu ergründen, die ihn in diesen Versammlungen eine nur auf den Ausbruch wartende Erregung tief fühlen ließen. Diese Erregung hatte einen andern Inhalt als die gespannte Aufmerksamkeit bei den Streikenden in den ersten Wochen des Streiks. Die Versammlungen waren jetzt sehr ver-
schieden von den zusammengeschrumpften Versammlungen in jenen Tagen, als Fer niedergeschlagen war. Sie hatten andererseits auch nichts von der Entrüstung jener Versammlungen, die unmittelbar nach den Exmissionen stattgefunden hatten. Damals waren die Leute in großer Anzahl gekommen, um zu hören, was der Verband über die Exmittierung kranker Leute und Kinder zu sagen hatte.
Jetzt aber hatte man das Gefühl einer Spannung —, die Leute bereiteten sich auf etwas vor. Worauf sie sich aber vorbereiteten, war in den Komitees verborgen, denen nur wenige von ihnen angehörten, in den Komitees, die direkte Verbindung mit den Streikbrechern und mit Trent und Cuthbert hatten.
Roger ging mit Fer und Wes. Wes fragte:
„Warum bringst du ihn nicht mit?"
Fer sagte:
„Meinetwegen."
Roger begriff jetzt schon, dass sie auf einem wichtigen Gang unterwegs waren und vielleicht nicht gut gewusst hatten, wie sie ihn loswerden sollten.
„Ich möchte mich lieber hier verabschieden." Wes sah Fer an.
„Ach was, komm nur", sagte Fer. „Ist in Ordnung, Wes. Roger gehört doch zum Verband, oder nicht?"
„Er wird bald alles wissen", sagte Wes.
Sie gingen jetzt eine dunkle Straße entlang. Kein Mensch war zu sehen.
Auf Umwegen erreichten sie ein Haus an dem äußersten Rand der Werksiedlung. Kein Schimmer von Licht war sichtbar; es war still. In einigen Häusern war noch Licht. Die meisten gedämpft. Der einzige Laut war das Japsen eines Hundes. Sie gingen zu einer Seitentür. Wes kratzte an der Türe, anstatt zu klopfen. Eine Frau
öffnete einen millimeterbreiten Spalt. Durch den Spalt drang fast gar kein Licht durch. Wes sagte:
„Ich bin!"
Die Frau murmelte:
„Ich bin!" und ließ sie herein. Roger fühlte sich unbehaglich, als wäre er bloß da, weil er sich an Fer und Wes angehängt hatte und sie nicht genau gewusst hatten, was sie mit ihm anfangen sollten.
Zehn Männer waren in der Küche beim Licht einer gedämpften Petroleumlampe versammelt. Man hatte die Lampe auf den Boden gestellt, damit es durch die grünen Jalousien nicht durchschimmerte. Er erkannte Jolas, Trent und Cuthbert. Die übrigen waren die Verbindungsleute der verschiedenen Arbeitssäle. Sie waren da, um über die gebildeten Ausschüsse Bericht zu erstatten.
„Es ist beschlossen, dass sie herauskommen", berichtete jeder. „Nächsten Sonnabend legen sie nieder!"
In Arbeitskämpfen wird alles bekannt. Es gibt immer undichte Stellen, Unvorsichtigkeiten. Und ganz besonders immer Spitzel. Es gibt immer Leute, die zu bestechen sind —, Männer schwachen Mutes, schwache Männer, die dem, der zuletzt mit ihnen spricht, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sind. Notwendigerweise scheinen viele solcher Spitzel vertrauenswürdig. Erfahrene Führer hüten sich vor den Übereifrigen. Die Arbeiterbewegung Amerikas hat wenig unterirdische Traditionen. Die geringe unterirdische Arbeit, die geleistet wird, ist durchsichtig und dilettantisch.
Selbstverständlich wusste die Direktion, was los war. Es war durchgedrungen, durchgesickert, bis es jeder wusste. Jeder wusste ja sowieso alles. Es ist zweifelhaft,
ob solche Dinge je geheim zu halten sind. Auch die Journalisten wussten, dass etwas in Vorbereitung war.
„Sie legen wieder nieder, nicht wahr?"
„So?" fragte Roger.
„Jedenfalls versucht man, sie wieder herauszukriegen."
„Wann, glauben Sie, plant man, dass sie wieder niederlegen?"
„Ende dieser Woche, sagt man."
Auf die Unheilnachricht hin begannen sich wieder Journalisten in Stonerton zu sammeln. Die Berichterstatter der großen Tageszeitungen des Staates waren wieder da, und die Zeitungen von Washington hatten auch Leute geschickt.
Die Tage der Woche vergingen schleppend. Roger ging hinauf, um die Trents zu besuchen. Das junge Paar lebte bei einer viel älteren Schwester Frau Trents, einer Frau Wilcox. Wilcox war Klavierstimmer gewesen; jetzt verkaufte er Radioapparate, Grammophone und Platten. Sie hatten ein eigenes Haus, das nach demselben Plan gebaut war wie die übrigen Häuser in der Werksiedlung, nur mit etwas größeren Räumen und einem überschüssigen Schlafzimmer. Sie hatten ein Wohnzimmer, ohne Bett, mit einem Flügel darin. Sie sympathisierten mit dem Verband, sprachen aber nicht viel davon, wegen des Geschäfts von Wilcox, und sie waren froh genug, als der junge Trent die Arbeit wieder aufnahm. In sein Geheimnis waren sie nicht eingeweiht.
Die Tagschicht war zu Ende, als Roger ankam. Trent hätte schon da sein sollen. Lucy Trent, deren Kopf von der großen Masse langen Haares schwer und deren Gesicht blass war, begrüßte ihn mit den Worten:
„Dan ist noch nicht da." Dann schwiegen sie beide. Roger war sich sofort darüber klar, dass sie wusste, warum Trent in den Betrieb zurückgekehrt war. Er hatte es ihr selbstverständlich nicht verheimlichen können. Sie lehnte an die Wand, legte ihre Hände flach dagegen und beugte den Kopf lauschend vor.
„Jedes Mal, wenn er sich verspätet", flüsterte sie, „hab ich Angst. Ich hab Angst, sie tun ihm etwas an. Ich hab Angst." Ihre Augen waren starr, als sähe sie in die Zukunft. Als Trent ankam, legte er die Arme mit einer schützenden Gebärde um sie. Roger wandte sich ab. Diese beiden jungen Menschen liebten einander wirklich. Sie lebte in qualvollen Ängsten um seine Sicherheit.
„Liebling", sagte Dan, „wovor hast du Angst?" „Oh, ich weiß nicht. Ich hab bloß Angst. Ich hab vor allem Angst. Ich hab vor Sonnabend Angst."
Alles war auf den Gipfelpunkt des Sonnabends eingestellt. Jeder einzelne reagierte auf die Aufregung auf verschiedene Art. Fer wurde gesetzter. Sein Gesicht strahlte, und seine Füße schienen in der Erde verwurzelt, wenn er auf der Rednertribüne stand.
Irma war skeptisch. Vielleicht auch voller Hoffnung, aber auch skeptisch, wie sie es bei allen Unternehmungen Fers zu sein pflegte.
„Es ist nicht genug Organisationsarbeit im Betrieb selbst geleistet worden. Wir können uns nicht mit genügender Sicherheit auf die Streikbrecher verlassen. Ich habe das Gefühl, dass noch etwas mehr Not tut", sagte sie unter vier Augen zu Roger. Aber sie war gut zu Fer in dieser Zeit; außerdem fürchtete sie, als ,Defaitist' betrachtet zu werden.
Roger hatte Angst und war aufgeregt. Er wusste nicht, woher sein Vorgefühl eines Unglücks kam. Viel-
leicht von Mutter Gilfillin. Vielleicht von einem Gespräch, das er mit Frau Cuthbert gehabt hatte. Von den ortsansässigen Journalisten hatte er erfahren, dass der Hunderter-Ausschuss endgültig beschlossen hatte, eine Gegendemonstration zu veranstalten. Was sie eigentlich anfangen wollten, hatte er nicht erfahren können. Wahrscheinlich wussten sie gelber nichts Genaueres über das allgemeine Programm hinaus, dass ,das Rattennest ausgeräumt' werden müsse. Es lag etwas in der Luft, das Durgan, der Berichterstatter des ,Planet'' von Baltimore ein ,lynchiges Gefühl' nannte.
Sonnabend Nachmittag kamen die Leute früh zum Verbandslokal. Die träge Hauptstraße des kleinen Dorfs füllte sich mit Männern, die auf und ab schlenderten oder in Gruppen herumstanden. Der Hunderter-Ausschuss? fragte sich Roger. Er konnte es nicht feststellen. Die Versammlung begann später als sonst. Der Platz war überfüllt. Zuerst sprach Irma. Plötzlich hörte man einen Krach. Ein Ei war an der Tribüne zerplatzt — und dann noch ein Ei. Irma wurde rot im Gesicht und sprach weiter. In der Menge murrte man. „Raus mit ihnen." „Wo sind sie?"
„Hier." Aber aus der Menge warfen Leute weiter mit Eiern und Gemüse.
Eines von diesen Wurfgeschossen traf Irma. Ihre Augen funkelten.
„Keine Gewalttätigkeiten", warnte sie. „Wir wollen bloß die Unruhestifter hinausbefördern. Wenn Zusammenstöße vorkommen, wird sich die Polizei einmischen und unsere Versammlung auflösen."
„Werft nur immerzu!" rief sie. „Werft nur immerzu! Was ihr mitgebracht habt, wird doch bald alle! Ihr könnt mich nicht einschüchtern! Ihr könnt mich
nicht verletzen! Ihr könnt unsere Versammlung nicht sprengen! Ihr könnt keine Schlägerei provozieren!"
„Wir haben einen erwischt, Fräulein Irma! Wir haben gesehen, dass er geworfen hat."
„Schmeißt ihn hinaus", sagte Irma. „Ruhe da!"
Fer ging auf die Rednertribüne hinauf. Ein Pistolenschuss knallte. Die Menge schrie auf.
„Sie wollen Fer töten!" Die Versammlung brüllte. Man rief: „Hier ist er!"
„Er hat eine Pistole in der Hand!" Eine hysterische Frauenstimme schrie hoch und schrill am Rande der Menschenmenge:
„Oh! Oh! Oh! Sie schießen auf den Versammlungsplatz. Sie schießen auf den Versammlungsplatz!"
Fer stand ruhig und gelassen über der Menschenmenge.
„Nun macht mal einen Punkt!" rief er. „Jetzt ist's genug! Jetzt sind sie mit ihrer Weisheit zu Ende. Ruhe da! Ihr wisst alle, was dieser Krach hier heute bedeuten soll. Ihr wisst, warum sie herkommen mit Eiern und verfaultem Gemüse und uns beschmeißen. Sie glauben, damit können sie uns einschüchtern, sie glauben, dass sie diesen Verband einschüchtern können, wenn sie einen Knallfrosch loslassen. Aber sie haben noch einen Grund gehabt, um heute hierher zu kommen. Sie sind gekommen, weil sie genau wissen, dass es in diesem Betrieb wieder zu einem Streik kommt! Ihr wisst, und wir wissen, dass die Arbeitsbedingungen in diesem Betrieb miserabel sind, und wir wissen auch, dass die Arbeiter, die noch drin sind, unzufrieden sind. Wir wissen, dass nicht richtig produziert wird! Und was wir heute mit unserer Streikpostenkette zu tun haben, ist, zum Betrieb zu gehen und die Leute herauszuholen. Wenn die Leute, die noch drin sind, unsern Streikpostenzug sehen, einen
starken Streikpostenzug ihrer Arbeitsgenossen, die zum Betrieb marschieren, werden sie herauskommen und es ihnen zeigen."
Atemlose Stille herrschte unter den Zuhörern. Der frühere Wirrwarr hatte sich gelegt, war zu diesem Augenblick drohender Stille geworden.
„Ich möchte, dass jeder mit den Streikposten mitmarschiert", rief Fer. „Jeder einzelne in den Streikpostenzug! Jeder einzelne!"
„Jeder einzelne in den Streikpostenzug!" gab die Menge zurück.
Der Streikpostenzug formierte sich aus der Menge. Irma war an der Spitze. Wes Elliott machte ihr den Platz strittig.
Die Ordner, Burschen und Mädchen, junge Leute und ältere, liefen auf und ab, um die Reihenfolge der Marschierenden zu bestimmen.
„Zurück da, ihr kleinen Mädchen! Heute könnt ihr die Streikpostenkette nicht führen."
„Doch, lass uns führen, Wes!"
„Wir sind so lange nicht mehr verhaftet gewesen, Wes!"
„Zurück! Zurück, Mädels! Hier, Mutter Gilfillin, mach du den Ordner bei diesen kleinen Mädchen und bring sie nach hinten."
Der Streikpostenzug hatte eine stumpfe, harte Spitze. Dort marschierten ungefähr zwanzig Mann.
„Ist das der Schutztrupp?" fragte Roger Fer.
„Zum Teil. Fast alle Männer wechseln bei der Bewachung des Lokals ab."
Auch einige Frauen waren unter die Männer gemischt. Nicht zu alte und nicht zu junge. Die sichersten
und arbeitsamsten. Roger sah Mamie Lewes und noch eine Frau hinter Dewey Brison marschieren, und einer der Tetherow-Jungen ging hinter ihr, gleichsam, um sie zu beschützen. Die Augen Mamie Lewes funkelten vor Erregung. Aber im Innern hatte sie ein Gefühl der Ruhe. Sie hatte, ohne es in Worte zu kleiden, etwas in sich, das der Unerschütterlichkeit Fers ähnlich war — nur dass Fer, wie Roger wohl wusste, gar nicht unerschütterlich war. Plötzlich konnte es scheinen, als hätte sich die Erde geöffnet und alle Zuversicht Fers verschlungen.
Der Zug schlängelte sich langsam weiter. Die Dörfler, die Mitläufer der Versammlung, drängten sich zu beiden Seiten des Zuges und stellten sich hoch auf den Feldern über der Straße auf, als sich die Streikposten in der Richtung zum Betrieb in Bewegung setzten. Der Zug entrollte sich wie ein langes Band. Rogers Herz schlug schmerzhaft. Dieser Streikpostenaufmarsch bedeutete mehr als alle andern, die er bisher gesehen hatte.
Wenn sie bloß herauskämen!
Fer hatte auch früher schon erwartet, dass sie herauskommen würden, und dann war es doch nichts damit gewesen; nur einmal hatte sich ein Bäckerdutzend ihnen angeschlossen. Und doch brachten alle die Nachricht, dass die Arbeiter innerhalb des Betriebes nur auf irgendeine zwingende Gelegenheit warteten. Es war spät am Nachmittag. Es war Zahltag, und die Arbeiter würden heute spät aus dem Betrieb kommen. Auf diesen Augenblick hatte man gewartet.
Einige Journalisten hatten aus einem Auto Roger angerufen. Er stieg zu ihnen ein. Sie fuhren zum Werk hinunter. Auf halbem Wege, auf der Chaussee, wurden
sie von Werkpolizisten angehalten, ein Mann ging zurück, um jemanden im Betrieb zu befragen, und gab ihnen dann ein Zeichen, dass sie weiterfahren dürften. Sie fuhren um den Betrieb herum und dann zurück in Richtung der Streikposten. Der Streikpostenzug hatte den Eisenbahnkörper überschritten und marschierte ruhig in Zweierreihen weiter. An einer Stelle hatten sie sich beim Überschreiten einer Straße zu einem Haufen zusammengeballt, die andern, auf der entgegengesetzten Seite der Straße, bildeten eine dünne Linie.
Schrill heulten die Polizeipfeifen. Ein Polizeiauto voller Offiziere raste heran, dann kam ein zweites mit Offizieren und Polizisten und noch eins mit noch mehr Offizieren und Polizisten.
„Nanu!" sagte Dick Durgan. „Sieh dir die Kerle an. Das gibt ein Blutbad!"
„Sie lösen doch die Streikpostenkette jeden Tag auf, nicht wahr?" fragte jemand.
„In letzter Zeit hat es kaum richtige Streikpostenketten gegeben, bloß kleine Demonstrationen."
„Ich glaube nicht, dass die Offiziere heute auf viele Streikposten gefasst waren. Die Straßen waren nicht mit Patrouillen belegt."
Plötzlich schwärmte die Polizei aus und griff an.
Jemand schrie: „Los, Jungs!"
Murck, der Polizist, packte Irma und würgte sie. Roger sah, dass er sie wie einen Lappen hin und her schüttelte. Dann warf Murck sie auf die Erde. Mutter Gilfillin, ein winziger brauner Haufen Wut, kam Irma zu Hilfe.
„Lass sie! Lass sie los!" Murck streckte einen stämmigen Arm aus, und Mutter Gilfillin überschlug sich auf der Erde.
Ein anderer Polizist verfolgte einige kleine Mädchen. Überhaupt schien sich der Angriff in erster Linie gegen die Frauen zu richten, obwohl auch einige Männer misshandelt wurden. Polizisten sprangen plötzlich hervor, niemand wusste woher, schlugen mit ihren Gummiknüppeln zu und liefen den schreienden Frauen nach.
Die Streikpostenkette hatte zuerst tapfer standgehalten, jetzt aber zerschmolz der Zug unter dem gemeinsamen Angriff der Beamten und Hilfspolizisten. Rasch bildete sich ein Menschenauflauf. Durch die fliehenden Streikenden flog der Ruf:
„Achtung! Aufpassen! Der Hunderter-Ausschuss!"
XVII. KAPITEL
Nachdem die Streikposten fort waren, lag die Zeltkolonie fast völlig verlassen da — nur ein paar Frauen waren zurückgeblieben, die Abendbrot zurechtmachten und die kleinen Kinder zu Bett brachten.
Der alte McLaughlin mit dem Holzbein wartete auf dem Gelände der Streikenden auf Nachrichten. Er war zu müde, um auszugehen. Vor der Türe des Streiklokals saß Frau Winsteads Mann auf einer umgestülpten Kiste. Sein Gesicht war ein gelber Fleck im Grün der Wiese; seine großen erdfarbenen Hände hingen schlapp herunter, und er schaute ins Nichts. Pellagra ist eine üble Sache.
Ein kleiner Junge kam angerannt. Von seinem Platz konnte Holzfuß sehen, wie sich die Leute auf der Straße drängten. Er reckte den Hals. Vom Eisenbahndamm her hörte er Lärm: Geschrei, ein Brüllen; Polizeipfeifen; ein dunkler, drohender Haufen Menschen.
„Was ist passiert, Kleiner?" rief er dem Jungen zu.
„Sie würgen sie!" schrie Bunny. „Sie würgen sie!" schrie er noch einmal. „Sie würgen Großmutti! Großmutti liegt auf der Erde und flucht schrecklich! Die Bullen würgen sie alle! Sie haben auch Fräulein Irma gewürgt!" Er lief davon, als folge ihm eine Panik auf den Fersen, lief über die Wiese auf die Zelte zu.
Holzfuß stapfte hinunter zum Eingang. Die Nachzügler der Streikpostenkette waren umgekehrt und kamen in Gruppen von zwei drei Mann über die Eisenbahngleise. Von weit her konnte er Irma dahinschreiten sehen.
„Was ist passiert?" rief Holzfuß. „Sind sie herausgekommen?"
„Nein, keiner ist herausgekommen!"
„Wir sind gar nicht in die Nähe des Betriebs gekommen."
„Und wenn schon. Hätten die drin gesehen, was wir abkriegten, wären sie auch geblieben, wo sie waren!"
„Ist jemand verhaftet?" schrie Holzfuß. Stimmen antworteten aus der Menge:
„Ja, deine Frau ist verhaftet."
„Ist ja gar nicht wahr!"
„Nein, sie haben Frau McLaughlin bloß gewürgt!"
„Ja, heute haben sie uns gewürgt."
„Auch Fräulein Doris haben sie gewürgt!"
„Sie haben die Frauen mit den Fäusten geschlagen!"
„Ja, und mit dem Gummiknüppel."
„Sie haben die Männer mit dem Gummiknüppel auf die Köpfe geschlagen."
Fer kam mit zwei, drei Streikfunktionären, die sich auf Beschluss an der Streikpostenkette nicht beteiligt hatten, aus dem Streiklokal heraus. Er stand und wartete. Der junge Tetherow rannte keuchend zu ihm hin. Einen Augenblick herrschte Schweigen zwischen
der wartenden Gruppe und dem Burschen. Er war der erste unter den allmählich zurückfindenden Streikposten. Sie sahen im abendlichen Licht schwarz wie Ameisen aus, als sie die Straße herunterkamen. Fer konnte Irma kommen sehen, mit zurückgeworfenem Kopf, die Hand an der Kehle.
„Na also", sagte er mit veränderter Stimme. „Sie sind also nicht herausgekommen?" Tetherow schüttelte den Kopf.
„Wir konnten gar nicht in die Nähe des Betriebs!" Wes Elliott sagte: „Wir treffen ja Trent und Cuthbert heute abend."
„Ja", sagte Fer. „Jolas sagte, er wüsste bestimmt, dass sie die Arbeit niederlegen würden, wenn sie den Streikpostenzug zu sehen bekämen. Das sollte das Signal sein. Aber man kann nie wissen. Man kann diese Dinge nie wissen. Soweit wir feststellen konnten, waren sie ganz entschlossen, aus dem Betrieb herauszugehen." Sie sprachen rasch und leise.
„Dewey Brison hatte eine Zusammenkunft mit einem Haufen Streikbrecher?"
„Ja", nickte Fer. Er ging langsam den Bürgersteig
entlang, Irma entgegen. Der junge Trent steuerte bei:
„Sie haben Fräulein Irma gewürgt. Sie haben eine
Menge Frauen gewürgt. Sie haben Mutter Gilfillin auf
die Erde geworfen und gewürgt!"
Irma sagte trocken zu Fer: „Nein, sie sind nicht herausgekommen."
„Ich weiß schon", nickte Fer.
„Wenn wirs das nächste Mal versuchen, müssen wir besser organisiert sein."
Fer hasste sie für dieses Wort. Ihr Triumph über ihn war, als triumphiere sie über die Streikenden. In diesem Augenblick fühlte er sich eins mit den Streikenden, fühlte die ganze Enttäuschung der Leute mit, die so emsig gearbeitet und so große Hoffnungen gehegt hatten.
Er wusste, wie den Streikenden innerhalb des Betriebs zumute war. Er wusste, wie es tat, beinahe herauszukommen, aber es doch nicht ganz zu wagen, zitternd am Rande dessen zu stehen, was man ersehnte, und dann das Versagen, das nicht wagen zu erleben. Das Fehlen irgendeiner Kleinigkeit. Irgendeine Begeisterung, die nicht ganz hoch genug aufflammt. Irgendein mechanisches Stück Organisation, das schief geht. Ein Verräter an einem schwachen Punkt. Das Fehlen des ausschlaggebenden Mannes im entscheidenden Augenblick. Strohhalme, Streichhölzer, ein ungünstiger Wind, das genügt, um die am Rande des Überquellens bebenden Wasser zurückzudämmen.
Hätte man bloß ein Sickern erreichen können — es wäre zu einem rauschenden Wasserfall geworden —, der Betrieb hätte sich im Nu geleert. In diesem trostlosen Augenblick der Intuition konnte Fer jedes Zögern, jede Angst, jede Unsicherheit der Einzelnen fühlen, die in ihrer Summe das Ansinnen der Arbeiter innerhalb und außerhalb des Betriebs vereitelt hatten. Eine große Müdigkeit überkam ihn. Seine Gedanken irrten vom Gegenstand ab, drängten sich ziellos durcheinander. Nur das Gefühl der besiegten Arbeiter blieb mit ihm.
Er stand ganz still da mit der ruhigen Haltung der Leute, die viel öffentlich sprechen und dann wissen, wie man ruhig auf beiden Füßen zu stehen hat. Das Helle war aus seinem Gesicht verschwunden, aber die Sonne ging schon unter, und keiner würde es merken. Keiner würde es merken, dass er bloß die leere Hülle war, als
die er sich im Augenblick fühlte. Er würde dastehen müssen und warten, bis die Streikenden mit ihren Berichten kamen; bis die Streikpostenführer zurück waren. Er würde auch nachher noch warten müssen und im Streiklokal eine Sitzung abhalten und Irma anhören und Doris anhören, all ihren kaum verhüllten Hohn. Er stand allein, während sich die Leute um ihn drängten.
Lissa kam an ihn heran. Es war schön, zu fühlen, dass er in ihren Augen immer das Richtige tat und keine Fehler machte. Ihr Glaube war wie eine Säule und er lehnte sich an diese Säule an. Sie lächelte ihm zu, in ihren Augen lag Triumph, als sagte sie — ,Es ist alles in Ordnung. Ob sie heute oder morgen herauskommen, ist ja egal. Du weißt doch, dass sie bestimmt herauskommen!'
Er wollte nicht weich werden. Lieber bleiben wie er war. Lieber in dieser neutralen Zone bleiben, in der er nicht er selbst war, sondern ein Teil der Streikenden mit ihrer Unentschiedenheit —, ein Teil der Streikenden innerhalb des Betriebs, die nicht zu streiken wagten und auch der Streikenden außerhalb des Betriebs. Er wollte keine Gefühle haben. Und er empfand die Kraft ihres Gefühls und ihres Glaubens an ihn. Er verschanzte sich hinter die Barrikade der Rede:
„Du warst mit auf Streikposten?" fragte er.
„Ja", sagte Lissa.
„Erzähl mir, was passiert ist. "
„Die Polizei hat mit dem Gummiknüppel geprügelt, und die Leute sind davongelaufen."
„Das passiert mit den Streikposten hier immer."
„Haben sie irgend jemanden verhaftet?" fragte Wes. „Man sagt, Frau McLaughlin ist verhaftet worden."
„Nein, ich glaube, sie haben sie nicht gekriegt." Die Streikposten drängten sich um den Eingang zum Kontor, jeder mit seiner Erzählung, jeder mit seinem Wunsch, gehört zu werden, jeder mit andern Gerüchten über die Verhafteten.
Wes, die Hände tief in den Taschen und die Schultern hochgezogen, schlüpfte zu Fer durch.
„Komm herein ins Kontor", sagte er. „Machen wir, dass wir hier rauskommen." Jolas und Binney kamen herein und Dewey Brison. Sie gingen ins Kontor und stellten einen Burschen vor die Türe, damit die Streikenden nicht alle mit hereindrängten. Das Zimmer mit den kahlen Wänden hatte eine abgeteilte Ecke, die als Kontor diente. Hier konnten die Führer sich einigermaßen absondern. War die Tür nicht geschlossen, war das Streiklokal von früh bis abends überfüllt von Leuten, die einfach herumlungerten, und von solchen, die mit Beschwerden oder Anliegen kamen.
Sie setzten sich auf ihre Stühle, Fer kippte seinen Stuhl mit dem Rücken nach hinten an die Wand, Binney stand neben Jolas und legte den Arm um ihn, Doris stürzte ins Zimmer, schlug die Türe hinter sich zu und sagte: „Na also!", warf die Haare aus dem Gesicht zurück, ergriff einen Stuhl und setzte sich mit gespreizten Beinen nieder.
Sie alle sahen Fer an. Noch zwei Burschen kamen herein, die Leibwache Fers. Jolas nahm das Wort:
„Wir kriegen sie bestimmt noch heraus." Es war eine ruhige Feststellung, als verkünde der alte Mann einen Beschluss, als spräche er im Namen aller Anwesenden. Er war der Kern des Streiks. Unter diesem Dutzend
Männer und Frauen war er der Kern des hartnäckigen Widerstandes in diesem Streik.
Diesmal waren sie gescheitert. Tut nichts, das nächste Mal würden sie Erfolg haben. Diese Leute und noch ein paar ihresgleichen waren die Stoßtruppe des Streiks, die unerschrocken und unbeirrt immer weitermarschieren würde. Sie waren dem Verband verschrieben, der Verband war für sie eine Religion, der jedes Opfer gebracht werden musste.
Diese Wenigen würden die unsichere, furchtsame, leicht abzulenkende Masse der Arbeiter in Gärung bringen und führen müssen. Ihnen gegenüber standen die ungeheuren Kräfte des Baumwollindustriellenverbandes und hinter diesem all das investierte Kapital des Südens, das durch Mob, Polizei und Gerichte den Verband bekämpfte. Die Streikleitung hatte die Kraft des Feindes nie gemessen, würde sie nie kennen, aber was sie mit leidenschaftlicher Klarheit sah, das war ihre eigene unmittelbare Aufgabe. So saßen sie denn da und machten Pläne für ihre Arbeit, ließen den Gedanken an eine Niederlage nicht aufkommen. Es wurde dunkel.
Die Burschen, die an diesem Tag die Wache stellen sollten, kamen ins Kontor. Wes sollte heute auch Wache schieben.
„Kommst du heute Nacht auch mit?" fragte er Dewey
Brison.
„Nein, ich war gestern auf Wache. Irgendwann muss ich mich ausschlafen."
„Na, dann kommt mit, ihr Kerls", sagte Wes. Von draußen hörte man Lärm, und dann kamen zwei Mädchen zum Kontor gelaufen. Sie hörten sie rufen:
„Lasst mich herein! Lasst mich herein! Ich muss mit Fer sprechen!"
„Was ist denn los?" fragte Wes.
„Der Hunderter-Ausschuss versammelt sich unten beim Betrieb."
„Woher weißt du das?"
„Wir waren da unten und haben sie gehört." „Sie sagten: ,Los, kommt, wir räuchern sie aus'!" „Wer hat das gesagt?" „In der Menge hat’s einer gesagt!" „Die reden doch bloß. Wir können gar nicht auf die Straße gehen, ohne dass wir sagen hören ,räuchern wir sie aus!"'
„Na, die haben gesagt: ,Holen wir uns diesen Fer und hängen ihn an einen Baum und den Wes auch, den hängen wir auch auf!" schreien die Mädchen Wes zu.
„Wer hat das gesagt?"
„Ich weiß nicht, wer es gewesen ist. Ich hab’s gehört."
„Das sind dieselben, die Fer auf der Rednertribüne erschießen wollten."
Es wurde immer dunkler, aber das Lokal war noch immer voller Menschen. Einige junge Leute kamen jetzt hinzu.
„Fer, wir waren unten auf der Straße, und es scheint, dass sie einen Mob versammeln, um unser Streiklokal niederzureißen, ohne Zweifel."
„Ja, sie sagen, sie kommen her und reißen unser Hauptquartier nieder."
„Und sie wollen versuchen, dich zu kriegen, Fer!" Fer hatte in der Türöffnung gestanden, mit einer Hand gegen den Türstock gestützt, still und stumm, wie gewöhnlich. Sein Gesicht war ausdruckslos und leer, er sah beinahe blöde aus. Er sah Roger und Hoskins kommen und rief ihnen zu:
„Was ist's mit dem Gerede von einem Mob auf der Straße? Warst du dort, Roger? Glaubst du, sie wollen etwas unternehmen?"
„Schwer zu sagen", antwortete Roger. „Sie scheinen bloß herumzumurksen da unten. Es ist nicht viel anders als an andern Tagen. Sie könntens versuchen, vielleicht auch nicht! Ich dachte eben, ich wollte dich holen. Komm mit zu Lissa."
„Nein", sagte Fer. Er wäre gern mitgegangen, er sehnte sich nach der Stille bei Lissa, nach den Blumen und danach, frei zu sein von Verantwortung. „Nein, ich kann heute nicht. Ich hab viel Schreibereien und viel Arbeit zu erledigen." Seine Stimme war schmal und hörte sich müde an.
„Es wird ganz dunkel", sagte Wes. „Schicken wir die Leute raus, die nicht hergehören."
„Die Leute, die nicht zur Kolonie gehören, müssen jetzt raus. Ihr müsst alle weg von hier. Wir müssen jetzt das Grundstück bewachen." Ein Rinnsal von Menschen sickerte hinaus.
„Du brauchst nicht zu gehen", sagte Fer zu Roger. „Ich glaube, ich werde doch gehen", sagte Roger. „Ich hab auch zu tun. Ich muss über den heutigen Nachmittag einen Artikel schreiben."
Ein allgemeines Gefühl der Unlust vermischte sich mit einem bösen Vorgefühl. Noch mehr Zeltkoloniebewohner ebbten zurück. Alle brachten die Nachricht, dass ein Mob in Bildung begriffen war.
Die Wachen begannen ihren Patrouillengang um die
Zeltkolonie.
Wes machte die Runde. Am letzten Zelt angelangt,
hörte er eine Frauenstimme schreien:
„Wer ist das dort draußen?" Dann rief die Frauenstimme noch einmal:
„Bist du das, Wes? Ich hab jemanden hier im Gebüsch herumrumoren gehört. Jemand schleicht dort unten herum, ich hab’s gehört."
Die Ereignisse des Tages, die Eierschlacht, der Mob, der Pistolenschuss, die Polizeibrutalitäten, die Gerüchte von einem Mob, der die Kolonie überfallen wollte, hatten alle nervös gemacht. Fer, Doris und noch einige andere saßen im Hauptquartier. Fer machte irgendeine Arbeit fertig. Die jüngeren Burschen, Charlie Clint und Frank Gilfillin, bewachten den Haupteingang zum Gelände der Streikenden.
Ein Auto mit sechs Polizisten fuhr vor. Im Auto saßen Humphries, Murck, Zober, Philip Hunt und Grosman. Hatten die Nachbarn die Polizei angerufen? Das wurde später behauptet. Humphries stieg aus und sagte:
„Was soll denn hier los sein?" Hinter ihm kamen Murck, Zober und John Grosman. Philip Hunt blieb im Auto zurück. Er hatte eine abgesägte Schrotflinte in der Hand.
„Hier ist nichts los", sagte Clint, der Wache stand. „Ihr könnt jetzt nicht hereinkommen. Nach der gesetzlichen Zeit kann hier keiner herein."
„So siehst du aus", sagte Humphries.
„Ihr könnt nach der Zeit ohne Haussuchungsbefehl nicht hereinkommen."
„So, kann ich das nicht?" sagte Humphries noch einmal. „Leg das Gewehr hin. Nehmt ihm das Gewehr weg", sagte er zu Murck.
Ein Schuss kam aus der Richtung des Polizeiautos und pfiff an einem der Wachtposten knapp vorbei. Die Wache schoss.
Dann fielen mehr Schüsse, und aus dem Dunkel auf beiden Seiten ein Schnellfeuer.
Entsetzen ergriff die Kolonisten oben in den Zelten. Frauen stöhnten und schreien:
„Sie schießen! Sie schießen! Sie sind gekommen, um
uns zu kriegen!"
Die Burschen, — die Wachen, — wussten selbst nicht, was passiert war. Sie sahen nur die dunklen Gestalten da unten. Sie hörten nur die Schüsse. Leute kamen heraus und feuerten Schüsse ins Dunkel ab. Die Polizisten erwiderten das Feuer. Wie ein Alpdruck lag es auf der ganzen Kolonie.
Oben im Kontor war alles still. Fer sagte: „Mein Gott! Sie kommen uns holen!" Irma sagte: „Macht das Licht aus." Dann warteten sie. Irma ging zur Türe und sah hinaus. Die Schießerei schien ihnen stundenlang zu dauern, dauerte aber nur einige Minuten. Unten am Hintereingang war Humphries vornüber hingefallen. Sie hoben ihn auf und er sagte: „Jungs, ich hab mein Teil weg!" Die übrigen Polizisten waren verwundet. Verwundet war auch Clint, aber er konnte doch laufen und kam keuchend zum Kontor
gerannt —
„Fer! Fer! Humphries ist tot, und auch Murck und Zober! Komm, Fer, sie haben's auf dich abgesehen." Auch Wes kam angelaufen.
„Mein Gott! Das ist eine schreckliche Geschichte!" sagte er. „Der Hunderter-Ausschuss kommt!"
Schon herrschte Panik in der Kolonie. Eine gespenstische Stille einige Augenblicke, und dann — Panik!
Fer stand mit der gewohnten Ruhe da, er stand fest, als wäre er auf der Rednertribüne; sein Kopf stieß nach vorn. Er hörte Irma kaum, die ihn am Ärmel zupfte.
„Du musst fort, Fer", sagte sie. „Drei Polizisten sind tot. Der Mob kommt. Sie werden dich lynchen."
Er gab keine Antwort. Es ist da, dachte er, endlich ist es da. Er fühlte, dass er diesen Augenblick vom ersten Tag des Streiks an erwartet hatte. Er hatte immer gewusst, dass irgendwo ein Schuss losgehen würde. Jemandem würde etwas passieren. Dann würde man ihn dafür verantwortlich machen. Irma stand neben ihm und sagte mit leiser, erregter Stimme:
„Fer, Fer, du musst gehen! Du musst gehen! Sie werden dich lynchen!"
Er antwortete ruhig, wie im Schlaf: „Es hilft doch nichts, wenn ich davonlaufe." Es war, als sagte er: „Wozu noch davonlaufen, wo doch alles schon entschieden ist?"
„Mach rasch, Fer."
„Irgendeiner von unsern Jungs verwundet?"
„Nur Clint. Clint hat einen Armschuss. Nichts Schlimmes."
„Jetzt müssen sie jeden Augenblick hier sein. Die Polizei und der Mob."
Er stand da, in Gedanken versunken, rührte sich nicht. Jetzt war alles vorbei. Jetzt würden sie die Arbeit nicht mehr niederlegen. Alle Anstrengungen, alle Leiden waren umsonst gewesen. Ein Schuss hatte allem ein Ende gemacht. Darauf hatte der Feind gelauert. Aber er konnte ja die Zeltkolonie doch nicht ungeschützt lassen. Sie hatten das Recht, sich zu verteidigen.
Ein tolles Durcheinander beherrschte die Zeltkolonie. Frauen schreien, Kinder weinten. Plötzlich Stille. Dann wieder Geschrei.
„Sie haben unsere Jungs erschossen."
„Die Jungs liegen tot auf der Erde."
„Was ist passiert?"
„Sie haben Humphries erschossen."
„Humphries ist tot."
„Murck und Zober sind tot."
„Unsere Jungs liegen tot auf der Erde."
„Der Ausschuss kommt!"
„Sie wollen uns den Garaus machen."
„Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Was tun wir bloß?"
„Sie werden Fer lynchen."
„Sie kriegen uns alle."
„Verstecken wir uns im Wald."
Frauen schreien und weinten. Frau Winstead hatte einen hysterischen Anfall, und ihre Schreie gellten aufwühlend und scheußlich durch das Dunkel.
Frau McLaughlin sagte ihr fortwährend: „Sei still, Liebling, sei still!"
Jolas sagte: „Hier ist es gefährlich. Du, Binney, kommst mit mir."
Binney steckte die Hand in seine Hand. Sie gingen an den erschrockenen, weinenden Frauen vorbei, ganz ruhig, hinaus in den Wald und fort, noch bevor die Polizei ankam, noch bevor der Mob ankam.
„Wir gehen zu Thorns und holen Roger", sagte Jolas leise. Binney hielt sich an seiner Hand fest. Sie gingen die Straße entlang, ein lahmer, alter Mann und ein kleines Mädchen.
„Die Polizei muss sofort da sein. Sie werden als erstes
ins Hauptquartier telefonieren. Um Christi willen, Fer, mach dass du wegkommst!" sagte Wes Elliott.
„Wozu soll ich weggehen?" sagte Fer. „Sie kriegen mich ja doch."
„Wenn sie dich nur verhaften! Aber der Mob, Fer, — es ist der Mob!"
Tumult und Geschrei aus der Zeltkolonie. Ein Augenblick des Wartens, der bangen Erwartung, einer Erwartung, beladen mit dem Wissen von der kommenden Katastrophe. Lissa kam herbeigerannt.
„Fer, mein Onkel ist hier mit einem Auto, und Roger. Geh. Geh hinüber zu Burdette. Der wird dir sagen, was du tun sollst."
„Richtig", sagte Wes, „geh zu Burdette."
Irma ballte die Fäuste, als wollte sie sich auf Fer stürzen, und sagte:
„Geh doch! Geh doch schon! Ist es nicht schon schlimm genug, sollen sie dich auch noch lynchen?"
Ihre Wut drang durch Fers Erstarrung durch. Es war ihm jetzt ziemlich egal, was mit ihm geschah. Sie waren nicht herausgekommen; und der Schuss, dem er vom Tage seiner Ankunft, eine lange Allee von Tagen entlang, entgegengesehen hatte, war abgefeuert worden. Die zwei Mädchen, Lissa und Irma, packten ihn von beiden Seiten am Arm und zerrten ihn fort.
Polizei pfeifen schrillten. Frauen schrieen. Ein dunkler Menschenhaufen. Hoskins und Roger warten mit dem Auto.
„Wirf eine Münze, bitte, Roger", sagte Hoskins. „Einer von uns geht mit Fer, und einer bleibt hier, um zu sehen, was hier passiert."
Fer sagte stumpf: „Ich glaube, dass ich eigentlich nicht gehen sollte."
Sei kein Narr!" schrie ihn Irma an. Lissa sagte kein Wort und zerrte ihn weiter. Jetzt konnte man schon von der Straße her das Gebrüll des sich nähernden Mobs hören. Wie für sich
sagte Fer:
„Ich möchte fast, es wäre alles vorbei.
XVIII. KAPITEL
Der Mob überquerte die Eisenbahnschienen und wälzte sich zur Rednertribüne hinunter. Ein Teil der Wache hatte sich zerstreut. Von den Zeltkolonisten liefen einige davon, um bei Freunden Obdach zu suchen. Die Polizei war vor dem Mob zur Stelle. Noch mehr Polizei folgte dem ersten Schub. Eine große Anzahl Leute war noch schnell als Zeitpolizist eingeschworen worden. Eine Menschenjagd begann.
„Hier ist einer! Einen hab ich erwischt!"
„Verhaftet die ganze Bande!"
Einige Zeltkolonisten hatten sich verkrümelt, aber die meisten waren dageblieben und standen in einem schwankenden Haufen erschrocken zusammengedrängt.
„Was sollen wir tun?"
„Sie stürmen uns!"
„Humphries ist tot!"
„Auch Murck und Zober —"
„Sie stürmen uns!"
„Oh, oh, oh! Sie werden Fer kriegen!" Das war Frau Winsteads laute, schrille Stimme.
„Pst, Liebling, pst! Brauchst keine Angst zu haben."
„Ich hör sie schon! Los, laufen wir!"
Kinder weinten; Frauen schrieen.
„Jetzt lynchen sie! Jetzt lynchen sie bestimmt."
Man hörte einen Aufschrei und das Klatschen von Schlägen.
„Sie schlagen jemanden!"
„Los, lauft!"
Die erschrockenen Zeltkolonisten rannten. Große Bäume und Unterholz umgaben die Zeltkolonie. Frauen nahmen ihre Kinder und verbargen sich mit ihnen in der Schlucht. Frauen und Männer liefen in den Wald.
Nur Holzfuß saß ruhig mitten in der fast verlassenen Zeltkolonie. Mutter Gilfillin war mit ihm dageblieben. Sie sagte:
„Mein Bill war auf Wache. Es wird wohl sein Gewehr gewesen sein, das losging."
„Du glaubst, er hat Humphries erschossen?" „Lieber wär’s mir schon, er hätte Murck und Zober erschossen. Wenn schon Bill irgend jemand erschießen musste, hoffe ich, dass es diese zwei Bullen waren." „Wir wissen nicht, wer wen erschossen hat." „Keiner weiß etwas."
„Jetzt kommen sie. Hörst du, wie sie heulen und brüllen?"
„Haben sie von unsern Jungs welche gekriegt?"
„Weiß ich nicht."
Das Gebrüll des von den Zeitpolizisten geführten Mob war schon in der Kolonie. Raue Hände. Laute Stimmen.
„Komm raus, du da."
„Wo sind die andern?"
„Die andern sind weg."
„Na los, ein bisschen dalli."
Mutter Gilfillins Stimme schreit: „Er kann doch
nicht schneller laufen! Siehst du nicht, dass er einen Holzfuß hat?"
„Halt die Schnauze, du!" „Wo sind die andern?" „Los, los!"
Ein Krachen. Ein Splittern. Zelte werden niedergerissen. Die zerstörende Wut des Mob warf Möbel und Küchengeräte durcheinander. Das Krachen der Zelte machte ihnen Spaß. „Räumt aus!" „Putzt sie aus!" „Ich hab jemanden gefunden!" Kindergeschrei. Eine Männerstimme: „Deane!" „Wo ist Deane! Wir wollen Deane!" Als sich Mutter Gilfillin zur Wehr setzte, ließen sie ihren Arm los, und sie verbarg sich hinter einem Baum. Elektrische Taschenlampen blitzten wie riesige Leuchtkäfer. Die Menge stürzte sich rasend auf die Zelte, fürchterlich in ihrer barbarischen Zerstörungswut. Sie rissen die Zelte nieder, wie sie Fer umgebracht hätten. Die Zelte waren für sie ein Sinnbild Fers.
„Mein Gott", dachte Mutter Gilfillin, „wenn sie den armen Fer erwischen, lynchen sie ihn bestimmt."
Die weiße Masse der Zelte fiel krachend, flatternd und wogend zur Erde. Küchengeräte klapperten. Männer brüllten und riefen einander. Aus der Ferne hörte man ein Schreien, wie von einem geängstigten Tier. Sie hatten einen Zeltkolonisten im Wald gefangen. Ein Scheinwerferstrahl fiel auf Mutter Gilfillin. „Hier ist eine! Hier ist eine!" „Du nimm sie mit, Joe, du bist Zeitpolizist." „Verhaftet sie!"
Mutter Gilfillin schwieg. Sie wusste, der Mob war auf Lynchen aus. Sie presste den Mund fest zusammen und
ging zwischen einem Hilfspolizisten und einem zweiten Mann mit. Hinter ihr blieb Unheil und Verwirrung zurück. Aus der Stadt war eine Menschenmenge hergekommen, die nicht zu dem Hunderter-Ausschuss gehörte. Eine Polizeisperrkette umzingelte das Hauptquartier der Streikenden.
Gerüchte schwirrten durch die Stadt. Fer hätte die Polizei an den Ort gelockt. Er hätte telephonisch angerufen und Polizei angefordert. Die Streikenden hätten der Polizei aufgelauert und sie aus dem Hinterhalt niedergeschossen. Es war ein Komplott, eine Verschwörung der Anarchisten und Bolschewisten, und Fer war der Oberkonspirator.
Übertriebene Berichte liefen ein. Drei oder vier Polizisten tot! Humphries erschossen! Die Erregung lief wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die Nachricht flog von einem wohlhabenden Haus zum andern, sie eilte den Zeitungen voraus. Es gab keinen Menschen in Neu- oder Alt-Stonerton, in Ost- oder West-Stonerton, der nicht wusste, dass Humphries erschossen worden war.
Humphries war nicht nur erschossen, sondern erst in die Zeltkolonie gelockt und dort kaltblütig ermordet worden.
Davon waren die wohlhabenden Bürger in Stonerton fest überzeugt.
Die Unruhe des Streiks hatte sich hinaufentwickelt zur krönenden Tat, zum Mord. Der Anfang war Unruhe, das Ende Totschlag.
Ein Blutbad verdienten die Streikenden. Die Bürger von Stonerton forderten Blut als Vergeltung für das Leben ihrer Polizeibeamten.
Oben in der Zeltkolonie blieben nur Haufen von Zeltstoff und Hausrat übrig. Diesmal war es keine ordnungsmäßige Räumung gewesen. Es sah aus, als wäre ein Wirbelsturm durch die Kolonie gefahren, als hätten die Elemente selbst das Obdach der Streikenden zerstört. Dutzende von Hilfspolizisten waren mit dem Mob zurückgeblieben, um die Zelte niederzureißen. Die Streikenden flüchteten und verbargen sich in der Schlucht. Die wenigen, die Freunde in der Stadt hatten, suchten bei diesen Zuflucht. Viele verbargen sich in den Wäldern.
Die Menschenjagd war in vollem Gange.
Es war ein großer Spaß, Menschen durch den Wald zu jagen.
„Hier ist einer!"
„Hier hat sich einer versteckt!"
„Bringt ihn herein!"
Die Zeltkolonisten waren vollkommen demoralisiert. Sie waren ein fliehendes, gehetztes Rudel.
Es war ein großer Spaß, flach auf der Erde liegende Frauen aufzustöbern. Die Frauen, die kleine Kinder hatten, wehrten sich. Die ließ man größtenteils in Ruhe.
Frau Winstead wurde verhaftet, sie schrie nach ihrem Baby, nach ihren Kindern. Winstead hob das blöde Gesicht und sagte stumpf:
„Ich wer' schon aufpassen."
Es war ihm ganz gleich, ob man ihn durch die Wälder jagte, ob er in einem Haus oder einem Zelt wohnte, ob seine Frau verhaftet wurde oder nicht. Er passte immer wohl oder übel auf die Kinder auf, während seine Frau zur Arbeit ging. Er saß mitten unter den Ruhestörern, die Kinder um ihn her, das Baby auf dem Arm, gleichgültig gegenüber der Erregung krachen-
den Unterholzes, dem Blitzen der Scheinwerfer, dem Schreien der Frauen, dem uferlosen Aufruhr der Nacht. Ein kleines Kind lief laut schluchzend durch den Wald. Es hatte die Mutter verloren. Henry Tetherow kam aus seinem Versteck in der Schlucht hervor und fing es ab.
„Wo ist deine Mutti?" Das Kind heulte. „Wie heißt du?" Schluchzen. Lautes, schrilles Geheul.
„Hier ist einer! Hier ist einer!" Ein Mann packte Henry.
„Lasst mich in Ruh!"
„Den hab ich mit den Streikenden gesehen!" „Ich muss die Mutter von dem Kind da finden!" protestierte Henry.
Das Kind fing verängstigt zu weinen an. Man schleppte einen bewusstlos geschlagenen Mann durch das Gebüsch. Alpdruckgestalten. Alpdrucklaute. Nichts schien wirklich in dieser phantastischen Welt. Der Mob gab sich ganz der Menschenjagd hin. Jeden Augenblick kamen noch mehr Menschen im Gefängnis an. Man war dabei, die gesamte Zeltkolonie zu verhaften. Die Jagd wurde die ganze Nacht fortgesetzt. Die Gräuelnachrichten mehrten sich. In der Zeltkolonie wusste keiner, was mit den andern Zeltkolonisten geschehen war.
Frauen mussten zusehen, wie ihre jungen Söhne verhaftet und geprügelt wurden. Der Mob wollte etwas mehr als Verhaftungen. Leute wurden geschlagen und ihre Arme verdreht. Der Mob heulte nach Fer.
Das Gefängnis war zum Bersten voll. In die Zellen wurden noch und noch Leute hineingestopft, soviel nur drin stehen konnten. Sechs oder acht Personen in eine
Zelle. Bis zum Morgen betrug die Zahl der Verhafteten zweiundsiebzig Personen, darunter junge Mädchen und Burschen, Großmütter und kranke, alte Männer. Jeder wurde verhaftet, der erwischt werden konnte und von dem man wusste, dass er zur Zeltkolonie gehörte.
Fer war nicht verhaftet worden. Keiner wusste, wo er blieb. Keiner hatte ihn gesehen. Die Streikenden sprachen untereinander von ihm.
„Wo ist Fer?"
„Sie haben ihn wahrscheinlich gekriegt."
„Wenn ihn keiner gesehen hat, werden sie ihn bestimmt gelyncht haben."
„Ich wette, dass sie ihn gekriegt haben."
„Er ist tot."
„Sie haben ihn sehr gesucht."
„Sie waren ja nur darauf aus, Fer zu lynchen."
Man stöberte Dewey Brison in seiner Wohnung auf. Man fasste Del Evans. Sie wurden verhört. Sie wurden misshandelt. Sie wussten nichts von Fer. Die Überzeugung, dass Fer gelyncht worden war, wurde bei den Streikenden immer stärker.
Irma, Doris und Ruth Graham waren alle drei verhaftet. Die Grahams hatten bei den Thorns gewohnt. Als Jolas die Nachricht von der Schießerei brachte, gingen sie in die Zeltkolonie hinauf und wurden dort verhaftet. Irma und Doris blieben im Streiklokal und warteten die anstürmende Menge ab. Sie hielten mit Hilfe Wes Elliotts die jungen Leute bei der Stange.
„Mehr wie verhaften können sie uns nicht. Bleibt lieber hier."
Einige jüngere Burschen flüchteten trotzdem. Sie fuhren in einem alten Ford davon, den jemand dem Verband zur Verfügung gestellt hatte. Der eine Bursche
war der Chauffeur des Verbandes. Sie wurden im Bezirk Carabbas verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert.
Die drei Mädchen, Irma, Doris und Ruth, saßen zusammen in derselben Zelle. Sie unterhielten sich leise über Fer. Sie bezweifelten nicht im geringsten, dass der Mob ihn lynchen würde, wenn er ihn erwischte.
Besuche waren im Gefängnis nicht gestattet. Hoskins versuchte es, wurde aber nicht zugelassen. Man hielt sie vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen.
Die Polizisten gebärdeten sich wie toll. Sie bedrohten und beschimpften die Gefangenen. Sie hielten den Tod des Polizeichefs für einen vorsätzlichen Mord, und das gab ihnen allen ein Gefühl der Unsicherheit. Die Arbeiter, die sie gehetzt, gewürgt und verhaftet hatten, ließen sich das nicht mehr gefallen! Die Leute, die sie mit ihren Bajonetten stießen, schlugen zurück! Die Polizisten waren nicht darauf gefasst, dass sich die zahmen, fügsamen Streikenden auch einmal wehren könnten. Die gute Ordnung des Weltalls war gestört; das harmlose Kaninchen hatte sich als Menschenfresser entpuppt.
Im Gefängnis herrschte Schrecken. Es gab nicht genügend Essen für alle Gefangenen. Sie litten unter allen möglichen Entbehrungen, Hunger und Durst. Die drinnen waren, fürchteten für die Draußengebliebenen. In der Schreckensnacht schien es, als könnte man die Lynchwut des Mobs nicht länger eindämmen, als würde der Mob von einem Augenblick zum andern ein Blutbad anrichten.
Dann explodierte im Gefängnis eine Tränengasbombe. Die Streikenden brüllten. Eine Panik brach aus. Irma, die Hände vor den tränenströmenden Augen, versuchte, sie zu beruhigen, sagte ihnen, es sei bloß Tränengas.
Später erklärten die Behörden, die Gasbombe sei aus Versehen dort geplatzt.
Es gelang Hoskins, Burdette telephonisch zu erreichen. Dieser bat Hoskins, er möchte sofort nach Lafayette kommen.
„Ich wollte Roger nicht zurückfahren lassen", sagte er. „Kommen Sie auch herüber. Die Leidenschaften sind zu sehr aufgestachelt. Man identifiziert euch mit dem Verband. Ich kann es nicht zulassen, dass euch noch etwas zustößt. Es ist schon genug Unheil angerichtet." Durch Umschreibungen gab er Hoskins zu verstehen, dass Fer in Sicherheit sei. Er hatte sich geweigert, Fer nach Stonerton zurückkehren zu lassen, und hatte ihn in einen andern Bezirk geschickt, wo eine Verhaftung nicht mit Lynchjustiz gleichbedeutend wäre. Er hoffte, dass Fer irgendwo außerhalb des Bezirks Stonerton verhaftet und eingekerkert würde. Als Hoskins in Burdettes Büro eintrat, saß Roger bereits da.
„Jetzt wird nichts mehr passieren", sagte der alte Anwalt. „Man weiß aber, dass ihr verbandsfreundlich gesinnt seid. Es ist für euch gefährlich, zurückzugehen. Meine Freunde haben mir geraten, euch einen Tag oder zwei von Stonerton fernzuhalten, bis sich die Gemüter ein wenig beruhigt haben."
„Werden Sie sich denn auch von Stonerton fernhalten?"
„Das geht ja nicht. Ich muss ein paar von diesen Leutchen gegen Kaution auf freien Fuß setzen lassen. Dort platzen Tränengasbomben. Ich muss sie von dort herausholen. Aber ihr bleibt lieber weg. Ihr könnt sowieso nichts mehr tun. Eure Reportagen habt ihr ja schon. Bleibt hier in Lafayette. Hat keinen Zweck, nach Stonerton zurückzufahren, man würde euch sowieso wieder heraussetzen. Es handelt sich nicht darum, seinen Mut zu beweisen, es handelt sich darum, uns nicht noch mehr Ungelegenheiten zu bereiten."
Im Laufe des Tages wurde die Besorgnis um Fer im Gefängnis und in der Freiheit immer größer. Die Nachricht, dass Fer verschwunden sei, verbreitete sich im ganzen Bezirk. Keiner bezweifelte, dass er gelyncht worden sei.
Fer wurde mit Clint zusammen in Carabbas verhaftet. Er hatte gar nicht versucht, sich zu verbergen. Er hatte ein Zimmer gemietet und gewartet, während die Polizei die beiden Carolinas nach ihm durchsuchte. Zwei Tage waren vergangen.
Die Leidenschaften in Stonerton waren noch immer in Hochflut, aber der Mob hatte sich verlaufen. Alle Leute waren im Gefängnis, und der Mob, der die Zeltkolonie niedergerissen hatte, löste sich in einzelne menschliche Wesen auf. Die Leute waren wieder Väter und Brüder, gingen am Sonntag zur Kirche und an den übrigen Tagen ihren Geschäften nach.
Die Ausschreitungen des Mob schienen schon fern. Vielen Leuten war zumute, als hätten sie einen Traum erlebt; aber es war ein befriedigender Traum gewesen, und die vereinzelten Tropfen der Strömung waren bereit, im Nu wieder zu einer Flut zusammenzufließen.
Fer wurde von Carabbas ohne Zwischenfall nach Stonerton gebracht. Clint und er saßen stur da, ohne zu sprechen. Er war noch immer betäubt. Die Katastrophe, die so unerwartet und rasch über sie hereingebrochen war, ließ ihn ganz benommen zurück. Sie waren dem Sieg so nahe gewesen. Jetzt schien es ihm, als wäre alles vergeblich. Wie in der ersten Nacht wünschte er, der Mob möchte ihm den Garaus machen. Trotzdem litt sein Körper während der Fahrt Angst. Die Welt war für ihn plötzlich ein grauer, hoffnungsloser Ort geworden. Alle Anstrengungen dieser Leute, alle ihre Opfer schienen ihm jetzt zunichte geworden zu sein. Schritt für Schritt
waren sie standhaft vorwärts gekommen, bis diese fatale Schießerei passierte.
Er wusste auch, dass die Einwohner Stonertons die Vorfälle für einen wohldurchdachten Plan hielten, der Ansicht waren, dass er selbst, der Selbstschutz und die Örtlichen Verbandsfunktionäre den Mord mit Vorbedacht vorbereitet hatten.
Das ist eine fürchterliche Anklage, dachte er — Mord. Es scheint gar nicht möglich, dass irgend jemand glauben könnte, ich hätte die Ermordung eines Menschen geplant. Aber es war doch so. Als die Schießerei losging, wusste Fer gar nicht, wessen Gewehre abgefeuert wurden. Er hatte mit Sicherheit angenommen, es seien die Gewehre des Hunderter-Ausschusses, aber er wusste, dass keiner an seine Unschuld glauben würde. Der Streikführer wird unter solchen Umständen immer verhaftet.
Jede Faser seines Körpers sehnte sich nach Ruhe. Er wollte die ganze Sache los sein. Er wollte das so sehr, dass ihm der Tod als willkommene Befreiung erschien; aber sein Körper litt doch Angst. Irgendwo in seinem Innern wurde es ihm übel. Während sie auf den ruhigen Landstraßen Piedmonts dahinfuhren, hatte er das Gefühl, als wäre er leer, wie ein ausgenommener Fisch. Sah er zwei — drei Männer am Wegrand stehen, wurde es ihm physisch übel, und sein Herz klopfte schmerzhaft. Ein kaltes Gefühl entstand in seinem Mund. Er bemerkte das, ohne sich darüber zu erregen. Er betrachtete sein zurückschreckendes Fleisch, als gehörte es einem Anderen, mit leisem und erstauntem Ekel.
Stonerton aber raste weiter.
„Jeder einzelne von diesen Zweiundsiebzig gehört gehängt."
„Alle sollten an die Laternenpfähle."
„Ausbrennen, wie ein Hornissennest."
„Einfach umbringen ist zu gut für sie."
„Der elektrische Stuhl ist zu leicht."
„Man sagt, sie haben durch Astlöcher geschossen."
„Ja, sie haben Löcher gebohrt, um die Gewehrläufe durchzustecken."
„Sie haben nur Mord vor, von allem Anfang an." „Man hätte diese Hetzer aus dem Norden längst auf einer Stange aus der Stadt reiten lassen sollen." „Man hätte sie teeren und federn sollen." „Ich wollt, wir könntens jetzt noch tun." Als Humphries nach zwei Tagen starb, flammte ihre Wut noch einmal auf. Humphries war in der Stadt beliebt gewesen. Man nannte ihn einen guten Sheriff. Humphries selbst hatte den Kopf behalten, er hatte nie selbst Gewalttätigkeiten gegen die Streikenden begangen, diese schmutzige Arbeit überließ er den Hilfspolizisten und den sadistischen Polizeibeamten von der Art Murcks und Zobers.
Männer fuhren in Automobilen in der Stadt herum und musterten misstrauisch jeden Fremden. Ein Gerücht hatte sich verbreitet, dass der Textilarbeiterverband noch weitere Organisatoren nach dem Süden entsenden wollte. Ortsgruppen des Verbandes bestanden in vielen andern Städten. Die Steinigung und Zerstörung der Zeltkolonie hatte die Früchte der Arbeit des Verbandes nicht vernichtet.
Die Stadt Stonerton, schrieb ein Reporter, hatte aufgehört, ein Ort zu sein, sie ist zu einem Seelenzustand geworden. Sie wurde zu einem Seelenzustand, seitdem der Hass gegen die Gewerkschaftsführer zur Manie geworden war.
,Die wohlhabenden Bürger Stonertons glaubten', schrieb Hoskins, ,dass hinter jedem Busch Agitatoren und Rote saßen, mit wurfbereiten knallroten Bomben in der Hand.' In der Vorstellung der Bürger waren Kommunisten, Bolschewisten, Anarchisten und Sozialisten ein und dasselbe. In ihrer Vorstellung bestand ein ungeheures Komplott, dessen Kern und Wesen der Mord war. Das war das einzige, was alle diese Bolschewisten, Anarchisten und Sozialisten wollten —, sie wollten Menschen morden und so ganz nebenbei den Staat und die Wirtschaft vernichten. Alle organisierten Arbeiter waren niederträchtige, hinterlistige, mordgierige Radikale', die sich in das Vertrauen der einfältigen Arbeiter einschlichen, um sie für ihr verbrecherisches Vernichtungswerk als Werkzeuge zu benutzen. So lauteten die Leitartikel in den Zeitungen; so dachten die wohlhabenden Bürger. Die Hetze war, wie solche Raserei immer, aus Furcht geboren und von Furcht genährt. Man bildete sich ein, dass sich ein Netz von Komplotten über das ganze Land verbreite.
Fremde wurden von Selbstschutzstaffeln im Befehlston aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Eine Soziologin von einer Frauenhochschule, die den Ereignissen nachforschte, wurde ins Gefängnis geworfen und ausgewiesen.
„Wir brauchen keine Fremden mehr."
„Wir wollen keine Ungelegenheiten mehr in dieser Stadt."
„Wer hier Schwierigkeiten machen will, soll sich aus der Stadt scheren."
„Hier wird uns keiner mehr Scherereien machen."
„Wir brauchen in dieser Stadt keine Hetzer."
„Jetzt haben wir sie alle schön im Gefängnis beisammen, und die noch nicht im Gefängnis sind, sollen einen Bogen um Stonerton machen."
Selbsternannte Staffeln und Hilfspolizisten bewachten das Gelände des Verbandes. Ein eintreffender Reporter wurde beinahe gelyncht. Sie umringten ihn heulend:
„Her mit ihm! Her mit ihm!" „Raus mit ihm!"
„Wenn’s ein neuer Organisator ist, knüpft ihn an den nächsten Baum!"
„Der sollte kalt gemacht werden!" „Der sollte erschossen werden!"
Es war ein mulmiger Augenblick. Der Anführer der Rotte besah sich misstrauisch die Ausweise, die ihm der Reporter vorzeigte, und befahl ihm barsch, die Stadt zu verlassen.
Die Mehrzahl der zweiundsiebzig Verhafteten wurde auf freien Fuß gesetzt. Nach ihrer Enthaftung steigerte sich die hysterische Erregung in der Stadt noch mehr. Die Erregung äußerte sich nicht offen, und ein Fremder auf der Durchreise hätte die Stadt für einen friedlichen Ort gehalten. Gruppen von Männern standen an den Straßenkreuzungen und unterhielten sich; Ruhestörungen gab es keine. Aber die Menschen waren in Erwartung irgendeines neuen Ereignisses, des Auftauchens der Roten, der Hetzer, bis aufs äußerste angespannt. Hysterie.
Die drei Mädchen blieben länger in Haft als die meisten andern. Endlich wurden auch sie durch Burdettes Bemühungen freigelassen. Die meisten Mädchen aus der Zeltkolonie waren wieder frei, aber gegen neun Burschen wurde die Anklage wegen Mordes erhoben.
Auch Ferdinand Deane war des Mordes angeklagt.
Die Anklage gegen ihn lautete auf Bildung eines bewaffneten Haufens zwecks vorsätzlicher Tötung. Dieselbe Anklage wurde auch gegen Wes Elliott, Mutter Gilfillins Sohn Bill, Dan Marks, Will Tetherow, den Vetter Henry Tetherows, Lynn Cathcart und Sam Truitt erhoben. Auch gegen Paul Graham, der aus eigenem Antrieb nach Stonerton gekommen war, um den Streikenden behilflich zu sein, und gegen Charlie Clint, der vom Textilarbeiterverband aus dem Norden als Organisator geschickt worden war, wurde Anklage erhoben.
Die Wochen schleppten sich hin. Die Hysterie schlief ein, starb aber doch nicht ganz. Die Burschen wurden jetzt im Gefängnis besser behandelt, das Stadium der Gewalttätigkeiten war vorbei. Burdette hatte gegen die Einzelhaft, gegen die Misshandlung der Gefangenen mit Erfolg gekämpft. Er kämpfte gegen alles an. Das Ergebnis war zuletzt ein mehr oder weniger ruhiger Zustand.
Lissa ging an Besuchstagen regelmäßig ins Gefängnis. Sie und Fer unterhielten sich miteinander.
Fer sagte: „Ich kann mich an den Gedanken nicht gewöhnen, dass ich versucht hätte, irgend jemanden zu erschießen."
Lissa sagte: „Daran könnte sich wohl keiner gewöhnen."
Der Hass der Stadt gegen die Streikenden hörte an der Grenze des Stadtteils auf, wo Lissa wohnte. Die Arbeiter in diesem Stadtteil sagten:
„Die haben bestimmt in Notwehr geschossen." Lissa erzählte das Fer.
„Die Leute wissen alle, dass ihr bloß aus Notwehr geschossen habt, sagt Mutter Gilfillin. Sie hat's meiner Mutter erzählt."
„Es wird nicht möglich sein, in dieser Stadt ein unparteiisches Gericht zu finden. Ich dachte, sie würden dich kriegen."
„Mutter Gilfillin kommt ziemlich oft. Sie ist stolz drauf, dass ihr Bill im Gefängnis sitzt. Sie ist überzeugt, dass kein Schwurgericht einen jungen Burschen wie Bill, der nie jemandem was zu leide getan hat, verurteilen wird."
„Es gibt keine Geschworenen im ganzen Bezirk von Stonerton, die uns nicht verurteilen würden. Wenn es nicht gelingt, die Verhandlung in einen andern Gerichtsbezirk verlegen zu lassen, wird es uns schlecht ergehen."
Der Termin der Gerichtsverhandlung rückte heran. Es war Juli. Mit dem Herannahen des Termins flammte die Wut gegen den Verband wieder auf. Der Verband hatte im stillen weiter gearbeitet und organisiert. In Tesner wie in Stonerton bestanden Ortsgruppen, auch in Lafayette und High Hill und in vielen andern Städten.
Wenn sich Burdette auf der Straße zeigte, wurde er bedroht. Er erhielt anonyme Briefe. Leute traten im Restaurant an ihn heran und sagten ihm, er solle sich vorsehen, wenn er diese Mörder und Bankerte verteidigen wollte. Zeugen wurden eingeschüchtert. Der Tag der Hauptverhandlung war endlich da. Die Angeklagten nahmen Platz auf der Anklagebank.
Burdette ließ seine ganze südliche Rednerkunst spielen, um dem jungen, fein aussehenden Richter klar zu machen, dass ,ein Anwalt, Herr, in den Straßen dieser
Stadt bei der Ausübung seines Amtes bedroht und eingeschüchtert worden' sei. Zeugen waren eingeschüchtert worden.
Der Ort der Gerichtsverhandlung wurde von Stonerton nach Lafayette verlegt. Man brachte die Angeklagten ins Gefängnis zurück. Es stand ihnen noch eine langwierige Wartezeit bevor. |
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