ZWEITER TEIL
VIII. KAPITEL
Die Fenster des Streiklokals waren schon wieder mit Brettern vernagelt. Der zentrale Unterstützungsausschuss hatte die Trümmer weggeräumt. Die maskierten Banditen hatten alle Literatur, die sie vorfanden, zerrissen —, mit der sinnlosen Zerstörungswut eines unzurechnungsfähigen Kindes hatten sie alles zerhauen, zerhackt, zerbrochen.
Auf der Straße vor dem Streiklokal zeigten weiße Flecken die Stellen an, wo sie die Mehlsäcke in den Dreck ausgeleert, und gelbe Flecken die Stellen, wo sie das Maismehl verstreut hatten. Wie ein elektrischer Schlag fuhr dieser Anblick den Streikenden durch die Glieder.
Maskierte Männer zertrümmern das Streiklokal! Vorarbeiter und Meister ziehen sich Strümpfe übers Gesicht, mit Löchern für die Augen!
Die glauben wohl, man wüsste nicht Bescheid? Na, man weiß schon sehr gut, wer es gewesen war. Die Jungs haben genug unter ihnen erkannt. Das haben sie.
Das Schöffengericht trat sofort zusammen. Dutzende von Leuten wurden vernommen. Die Burschen, die die Werkangestellten erkannt hatten, machten ihre Aussagen. Doch Verhaftungen fanden nicht statt. Die Tage vergingen schleppend, und noch immer wurde niemand
verhaftet.
Die Zeitungen erhoben im ganzen Land großes Geschrei. Der ganze Süden forderte Verhaftungen, weil die
Tatsache, dass eine Schar von über hundert maskierten Männern straflos ein Haus verwüsten und für Frauen und Kinder bereitgestellte Lebensmittelvorräte zerstören konnte, den guten Ruf des Südens schädigte.
Reporter strömten in die Stadt. Stonerton wurde zum allgemeinen Streitobjekt. Die ,Stonerton Times' schrieb verschwommen von ,stadtfremden Elementen' die eigens gekommen wären, um Häuser zu zerstören, und ließ durchblicken, dass wahrscheinlich die Streikenden selbst das Attentat verübt hätten.
Inzwischen schritt die Verbrüderung mit den Truppen fort. Die Streikenden bildeten kleine Gruppen um die Milizsoldaten.
„Wieso habt ihr unsere Jungs verhaftet? Ist doch seltsam, dass ihr keinen von den maskierten Leuten habt fassen können."
„Wir sind nicht dran schuld. Wir können ohne Befehl keinen verhaften. Befehl ist Befehl."
„Ulkige Befehle habt ihr. Wes erzählt hier, dass die Kerle mit den Strümpfen überm Gesicht knapp am Herrn Major vorbeispaziert sind und der kommt ran und verhaftet unsere Jungs und führt sie ins Gefängnis ab."
Bald danach kam man zum Schluss, dass die Miliz nicht länger benötigt würde —, die Lage sei ruhiger geworden. Das war sie auch. Drohbriefe waren seltener geworden, und die Leute hörten auf, Fer auf der Straße zu bedrohen.
Es schien, als hätte diese Demonstration sinnlosen Hasses, diese Gewalttat des Mobs die Gemüter besänftigt. Der Wutausbruch wirkte wie das Aufschneiden eines Geschwürs. Die Gemeinde hatte vor der eigenen
Courage ein wenig Angst bekommen. Die gutsituierten Bürger neigten dazu, die Verantwortung für das Attentat von sich abzuwälzen —, vielleicht waren es wirklich die Streikenden gewesen, wie die Zeitungen durchblicken ließen. Die Zeitungen des Nordens machten viel Aufhebens von der Zerstörung der für Frauen und Kinder bestimmten Lebensmittel und Vorräte. Stonerton wollte die Verantwortung nicht auf sich sitzen lassen.
Jetzt sollten die Soldaten abrücken. Sie wurden angeblich nicht mehr benötigt — aber man munkelte, sie seien unbrauchbar geworden. Fer war dessen sicher — seine Verbrüderungspolitik hatte Erfolg gehabt. Bisher hatten Streikende bei der Miliz noch nie und nirgends Sympathien gefunden.
„Ist ja verständlich —, sind sie denn nicht unser eigenes Blut? Es ist Unsinn, dass man sie einsetzt, um Betriebe gegen Frauen und Kinder zu schützen, die streiken, weil sie nicht zwölf Stunden zwanzig Minuten am Tag arbeiten und dazu eine Lohnkürzung von fünf Prozent sich gefallen lassen wollen."
Die Truppen wurden abkommandiert, aber die Zahl der Zeitpolizisten vermehrt. Auch wurden sie mit Gewehren und Bajonetten bewaffnet. Die Streikenden murrten wegen der Auswahl der Hilfspolizisten.
„Skinflint —, der ist doch eben erst aus dem Zuchthaus entlassen."
„Tom Farris —, jeder weiß doch, dass der sauft und seine Frau prügelt und sich mit Weibern herumtreibt."
„Murck und Zober sind schon schlimm genug, aber diese neuen Hilfspolizisten, das ist doch ganz gemeines Gesindel."
Ein städtischer Erlass gegen ,Aufmärsche' kam heraus. Burdette, der Anwalt, erhob bei Gericht Einspruch gegen die Gültigkeit dieses Verbots. Streikpostenstehen, behauptete er, sei kein ,Aufmarsch'. Die Ortsbehörden dagegen behaupteten, Streikpostenstehen falle unter den Begriff ,Aufmarsch', ließen die Streikposten auseinanderjagen und Streikende verhaften. Die stärkste Streikpostenkette war die vom Nachmittag, beim Schichtwechsel. Die Zufahrtsstraßen wurden nicht mehr mit Streikposten belegt. Streikbrecher wurden nicht mehr in Lastautos herangebracht.
„Wir müssen noch stärkere Streikposten haben als früher, um es diesen Zeitpolizisten zu zeigen", hatten die Funktionäre beschlossen.
Die Miliz rückte am Sonnabend ab. Sonntag waren die Betriebe geschlossen, aber die neuen Zeitpolizisten stolzierten mit ihren langen Bajonetten vor den Toren auf und ab.
Die Streikpostenkette formierte sich nach der Versammlung auf dem Versammlungsplatz.
Zwei kleine Mädels in Overalls stellten sich an die Spitze, hinter ihnen kamen Mutter Gilfillin und die alte Frau Whenck. Die beiden Mädel kauten Gummi, denn sie waren sich ihrer Verantwortung bewusst, und die älteren Frauen kauten Priem.
„Was ist denn mit euch Männern los?" fragte Irma. „Warum lasst ihr die Frauen und Kinder so allein gehen?" Die Männer zögerten ein wenig. Es verletzte ihre Würde, dass den Mädels in Overalls, mit ihren geschminkten Lippen, die Ehre zufallen sollte, den Zug zu führen. Die jungen Organisatoren aus dem Norden hatten das nicht begriffen.
Hier im Süden waren noch immer die Männer die Herrscher. Mochte ein Mann noch so arm sein, er war
doch das Oberhaupt der Familie und wahrte seine Würde. Er sah es nicht gerne, wenn junge Mädels sich des von Natur aus ihm gebührenden Platzes bemächtigten.
Die Funktionäre liefen hin und her, und endlich ordneten sich Männer, Frauen, Burschen, Mädchen zu Reihen und marschierten geschlossen ab.
Irma führte den Zug. Aus taktischen Erwägungen hatte man beschlossen, Fer nicht mitgehen zu lassen, da er sonst zu leicht verhaftet und durch Forderung einer zu hohen Kaution für ein paar Tage aus dem Streikgebiet entfernt werden konnte. Irma ging nicht immer mit den Streikposten mit, aber heute fühlte sie, dass es wegen der neuen Hilfspolizisten erwünscht sei. Sie schritt aus, den Kopf ein wenig hochmütig zurückgeworfen, etwas erregt durch die Gefahr und den Gedanken, dass sie heute eine Verhaftung zu erwarten habe.
Daisy West rief zu Mamie Lewes hinüber.
„Kommst du mit, Mamie Lewes?"
„Aber sicher komm ich."
„Glaubst du, die Polizei wird grob werden?"
„Gemein wie die sind, würde es mich nicht wunder
nehmen."
Der Zug kroch wie eine Schlange vorwärts, wie eine tastende Raupe. Die Funktionäre liefen an den Seiten hin und her, schlossen die Lücken, lösten die Stauungen. Dewey Brison hatte sich an die Spitze des Zuges gestellt.
„Ihr kleinen Mädels geht nur nach hinten", sagte er zu den beiden jungen Führerinnen. „Das ist Männersache. Fräulein Irma, ich wollte, auch Sie gingen nach hinten. Es wäre besser, wenn Sie dafür sorgen würden, dass die Reihen in Ordnung bleiben."
Irma fügte sich vorerst, kam aber bald wieder nach vorne. Alle waren nervös. Sie wussten, was sie von den Soldaten zu erwarten hätten, aber das hier war etwas Neues.
Die lange Streikpostenkette schlängelte sich die Straße entlang und bog um eine Ecke, in der Richtung nach dem Betrieb. Es war dies keine direkte Zugangsstraße, sondern eine Nebenstraße; sie führte an einem kleinen Landvorsprung aus rotem Lehm vorbei, an dessen Hängen Häuser talwärts glitten. Frauen, Kinder, Neugierige hielten den Hügel besetzt, als der Zug vorbeimarschierte. Jemand stimmte das Lied an:
„Hört ihr Streikbrecher nun die Mär
Von einem grausamen Millionär.
Basil Schenk wird er genannt,
Er kauft das Gesetz im ganzen Land..."
Der Gesang, der erst nur als schrilles Piepen einiger kleiner Mädchen begonnen hatte, schwoll an und klang mit fröhlichem Spott: ,Er kauft das Gesetz im ganzen Land', und dann mit dem lauten Ruf aus: ,Doch nicht kann er kaufen unsern Verband!'
Sie waren jetzt am Ende der Straße angelangt. Eine Pfeife schrillte, und ein Überfallauto fuhr heran, dann ein zweites und noch eins. Ein kurzer Befehl ertönte. Plötzlich, ohne Warnung, stürmte die Polizei mit gefälltem Bajonett den Zug der Streikposten. Die Streikenden waren überrumpelt. Bisher hatte man die Züge immer mit dem Knüppel aufgelöst. Noch mehr Polizei kam an. Die Streikenden lösten ihre Reihen und flüchteten.
Roger saß mit einigen anderen Journalisten in einem Auto.
„Bei Gott, das ist ein Tumult", sagte Dick Durgan. „Sieh mal einer an. Sie jagen sie wie die Ratten."
Villa King, eine von den jungen Mädels, fiel hin. Sie wurde verhaftet und im Polizeiauto weggebracht. Viele von den andern wurden noch verhaftet.
Die Streikenden rannten schreiend wild umher. Polizisten schlugen fürchterlich auf Dewey los. Mit dem Gummiknüppel auf den Magen. Etwas Unzurechnungsfähiges, Wahnsinniges war in dieser Polizei.
Der Wagen der Berichterstatter fuhr langsam weiter. Roger wollte aussteigen.
„Machen Sie keine Dummheiten", sagte Hoskins. ,.Sie kämen gleich als nächster dran. Verlieren Sie nicht gleich den Kopf. Seien Sie vernünftig."
„Sehen Sie diese Frau dort", sagte Dick Durgan. „Sie blutet". Eine langhalsige Frau reckte den Kopf hoch und
brüllte.
„Er hat mich gestoßen! Er hat mich gestoßen!"
„Jetzt jagt man sie die Straße runter."
Eine Gruppe von Streikenden lief, von Hilfspolizisten verfolgt, zum Streiklokal und stürmte hinein.
Die Panik ergriff Mamie Lewes. Sie versuchte zu denken: ,Brauchst keine Angst zu haben, die können dir gar nichts tun.' Das Wort der Daisy West ,Sie können mich umbringen, aber fressen können sie mich nicht' fiel ihr immer wieder ein. Dann hörte sie sich selbst lachen und erschrak über das eigene Gelächter.
Frauen und Männer wehrten sich mit Händen und Füßen gegen die Polizisten. Ein Zeitpolizist drehte einem Knaben den Arm um. Der Junge schrie. Eine Welle der Wut überflutete Mamie Lewes. Sie wollte hinspringen und den Jungen dem Polizisten entreißen
—, aber sie vermochte es nicht. Sie war ein gejagtes Wild, sie lief. Sie sah Daisy West zwischen zwei Polizisten, die sie abführten. Die haben sie verhaftet, dachte Mamie Lewes —, wenn sie mich erwischen, verhaften sie auch mich.
Sie lief auf das Streiklokal zu. Ein Haufen Menschen wartete schon im Lokal auf die allabendliche Verteilung von Lebensmitteln. Diese Leute waren gar nicht beim Streikpostenaufmarsch dabei gewesen. Die Verfolgten, darunter Mamie Lewes, rannten ins Lokal, die beiden Polizisten Murck und Zober hinter ihnen her. Sie hatten noch sechs mit Bajonetten bewaffnete Zeitpolizisten bei sich. Sie verfolgten die Streikenden. Mit gefälltem Bajonett jagten sie alle Leute heraus.
Zwei junge Leute, Dan Marks und Wes Elliott, Mitglieder des Unterstützungsausschusses, saßen hinter dem Ladentisch. Wes saß lesend da, er wartete auf die Vorräte, die zur Verteilung kommen sollten. Murck lief auf ihn zu und stieß mit dem Bajonett nach ihm. Wes Elliott war vom Angriff überrascht. Er erwartete nichts dergleichen. Man hatte ihm gesagt, er dürfe einige Tage nicht Streikposten stehen, da er schon zweimal verhaftet worden und der Polizei bekannt war.
Als Murck mit dem Bajonett nach ihm stieß, wich er aus. Das Bajonett blieb in der Wand stecken. Murck zog es heraus und verfolgte Wes. Er stach ihn mit dem Bajonett in die Hüfte, aber Wes sah den Stich kommen und drehte den Schenkel, so dass die Wunde nur unbedeutend wurde. Aber wie er später sagte — ,eine gute Hose war kaputt'.
Draußen bat Dan Murck, er möchte ihn zurückgehen lassen, um seine Bücher zu holen.
„Ich muss die Bücher haben", sagte er. „Ich muss sie holen." Man ließ ihn gewähren.
Wie in einer komischen Kinoszene fanden sich die von der Polizei hinausgejagten Leute, die sich durch Hinterhöfe und Seitengassen verkrümelt hatten, nach und nach wieder im Streiklokal ein. Die Zeitpolizisten trieben sie wieder hinaus. Mamie Lewes lehnte gegen eine Wand. Man hatte sie nicht verhaftet. Man hatte sie nicht erwischt, aber andere Frauen aus der Menge hatten Bajonettverletzungen davongetragen.
Sie weinte vor Wut.
„Wir haben nichts getan", schluchzte sie. „Wir haben ja nichts getan."
Kein Streikender hatte einen Finger gerührt, kein Streikender hatte einen einzigen Stein geworfen, keiner war auch nur mit einem Stock bewaffnet gewesen.
„Ich wollte, sie hätten ihre Gewehre gehabt", dachte sie. „Ich wollte, Irma und Fer hätten sie ihre Gewehre mitbringen lassen." Ihre Knie zitterten. Die Straße wurde leerer —, die Polizei trieb die Leute weiter die Straße hinunter. Mamie Lewes sah die alte Frau Holly die Straße entlanggehen.
„Unerhört!" sagte sie zu Mamie Lewes. „Ich war grad unterwegs, um mein Abendbrot zu holen, und da stürzten sie hinter mir her. Schau her." Ihr Kleid flatterte, an der Seite mit Blut befleckt.
„Sie waren hinter mir her und haben mit dem Bajonett nach mir gestochen, und ich war doch nicht auf Streikposten. Nie bin ich auf Streikposten gewesen", schwatzte sie weiter mit hoher, erschreckter Stimme.
„Vorsehen!" schrie Mamie Lewes. Murck trieb die Leute die Straße entlang. Er war außer sich, in einer sadistischen Ekstase. Er hielt die alte Frau Holly an und
schlug auf sie ein. Mamie Lewes schrie auf. Frau Holly schwieg.
Mamie Lewes sah, wie der Polizist die alte Frau wieder und wieder schlug.
Frau Hollys Gesicht war dunkelrot, ihre Augen geschlossen. Mamie Lewes schrie noch einmal. Sie hörte Murcks Fäuste klatschend auf das Gesicht der alten Frau aufschlagen. Es war wie ein böser Traum, wie etwas, das in den Straßen einer amerikanischen Stadt doch unmöglich wirklich geschehen konnte. Endlich ließ Murck Frau Holly los. Er stieß sie beiseite und lief die Straße entlang, um fliehende Streikende einzuholen.
Mit einem Schlag war die Straße menschenleer. Die Polizeiautos mit den verhafteten Streikenden ratterten ab. Alle waren von der Straße verschwunden, nur Mamie Lewes stand da und hielt Frau Holly fest, von deren Gesicht das Blut in Strömen floss. Die alte Frau stöhnte, aber sie schlug keinen Lärm. Ein hochgewachsener Mann kam die Straße entlang, — es war Holly. Er war schon zu Hause gewesen. Es war Frau Hollys Sohn, der seine Mutter suchte.
Doris und Irma waren im Gefängnis. Die meisten Funktionäre waren verhaftet. Zehn Personen hatten Bajonettwunden abgekriegt; viel mehr waren grün und blau geschlagen — man hatte sie gejagt, getreten, mit dem Gummiknüppel verprügelt.
„Das Sonderbare dabei ist", sagte Roger, „dass sie anscheinend überhaupt keinen Widerstand geleistet haben."
„Ich hab’s ja gesagt", sagte Hoskins, „die Arbeiter sind unglaublich geduldig."
Die Straßen waren von Menschen gesäubert, nur kleine Gruppen standen vor den Läden und ließen in Worten ihre Wut aus. Die Leute, die in Ost-Stonerton
wohnten, waren kleine Kaufleute, und die wenigen, die hinter dem Eisenbahndamm ihre Häuser hatten, sympathisierten mit den Streikenden.
.,Mit diesen Grünen müsste etwas geschehen."
„Es ist eine Schmach und eine Schande, was diese armen Leute sich alles gefallen lassen müssen. Zwölf Stunden am Tag arbeiten für nichts und wieder nichts, um dann, wenn sie streiken, windelweich geschlagen und verhaftet zu werden."
„Und wie die auf diese Frau eingeschlagen haben — als wär’s eine Sau —, hat nur auf sie losgestochen mit dem langen Mordspieß."
„Das hätt ich nicht gedacht, dass ich das erlebe — weiße Frauen so durch die Straßen zu jagen."
„Ja, und ich bin im Kriege gewesen und dieser alte Drückeberger hat mich mit seinem Bajonett gejagt. Ich wollt, ich hätt mein Gewehr bei mir gehabt."
„Man sollte sie erschießen, diese Bullen!"
IX. KAPITEL
Die Handelskammer veranstaltete ein Frühstück zu Ehren der Journalisten, um ihnen die prominenten Männer der Wirtschaft vorzustellen und sie mit den Problemen, denen man gegenüberstand, vertraut zu machen.
Im großen Saal der Handelskammer waren lange Tische gedeckt. Alle Journalisten wurden gebeten, aufzustehen und ihre Zeitungen oder Zeitschriften zu nennen. Es waren ihrer sechzehn, Vertreter von großen New Yorker Tageszeitungen, von Telegraphenagenturen, von kleinen Provinzblättern, von liberalen Wochenschriften und sogar von Magazinen. Hierher gelockt hatte sie erst die Zerstörung des Streiklokals durch den Mob
— dann blieben sie wegen der sensationellen Verhaftungen und Bajonettattacken jenes Tages, den einer der Boulevardjournalisten den ,blutigen Montag' genannt hatte.
Die Art, wie die Presse des Nordens zur Lage Stellung nahm, missfiel dem Süden. Man hatte das Gefühl, dass eine Aufklärung erwünscht sei. Daniel Jameson, ein in der Textilindustrie wohlbekannter Mann, sollte das Wort führen. Die Geschäftsleute stellten sich den Journalisten vor. Alle waren da, sogar einige der großen Unternehmer aus Lafayette.
Nach dem kühlen, unfreundlichen Frühstück stand der berufsmäßige Lobredner der Stadt auf:
„Es ist jetzt nicht an der Zeit", begann er, „an die kleinen Zwischenfälle zu denken, die sich hier ereignet haben und die bloß einen kleinen Kieselstein auf einem großen, weiten, sonnigen Ozean darstellen.
Unsere kleine Stadt, die zur Zeit des Weltkrieges nur elftausend Einwohner zählte, hat im Laufe von zehn Jahren die Zwanzigtausend überschritten. Begehen Sie die Straßen unseres Bezirks, so werden Sie finden, dass wir einhundertzwölf Betriebe haben. Über vierzig Prozent dieser Betriebe sind in den letzten zehn Jahren erbaut worden. In der Umgebung der Städte Lafayette und Stonerton gibt es über fünfzig Betriebe. Überall stehen neue Bauten, die zeigen, dass hier Millionen verdient und verausgabt werden.
Der Krieg hat unserer Industrie einen Anstoß gegeben, den wir, ungeachtet der ungünstigen Verhältnisse der letzten zwei, drei Jahre, nicht haben abflauen lassen. Und sollten wir das jetzt tun? Nein, nicht, solange dieser Ort der Garten der Welt bleibt. Die natürlichen Vorzüge unserer Lage haben in keinem andern Gebiet oder Teil der großen Vereinigten Staaten ihresgleichen.
Was wir also jetzt zu tun haben, ist: der Mendleburg-Kunstseiden-A.-G., die für ihre Niederlassung einen Ort sucht, ein so verlockendes Angebot zu machen, dass wir diesen Betrieb kriegen —, wie wir auch die Bendberg und Glensdorf-A.-G. hätten kriegen sollen, die uns Tennessee weggeschnappt hat. Eine kleine Stadt in Tennessee hat Piedmont geschlagen, das Herz und Zentrum unseres herrlichen Bezirks. Tennessee hat Bendberg gekriegt und Asheville die Enka. Jetzt müssen wir Mendleburg-Kunstseide kriegen.
Ich will den Herren von der Presse hier gleich sagen, dass diese Stadt bald der hervorragendste Mittelpunkt der Textilindustrie sein wird. Mit unsern Kunstseidefabriken haben wir den Anfang gemacht. Wir haben die Stadt, wir haben das Wasser, wir haben die Transportmittel, wir haben die Arbeitshände, und zwar im Überfluss. Man darf sich nicht von unbedeutenden Zwischenfällen blenden lassen, man darf sie nicht überschätzen. Denken Sie immer an die Prosperität." Damit überschüttete er seine Zuhörer mit Tatsachen und Zahlen über Piedmont und Nordcarolina, ganz besonders aber über die unerreichte Prosperität Stonertons, das die andern Textilstädte bald von der Landkarte schieben würde.
Dann erhob sich das Liederquartett und sang alte Schmachtfetzen in fest gefügter Harmonie.
Nun war die Reihe an Mr. Jameson. Er war ein dicker, gutmütiger Mensch, ein nach einem großzügigen Modell gebauter Mann. Er sprach mit der Überzeugungskraft des Biedermannes, der weiß, dass er im Recht ist.
Im Leben war es ihm immer gut ergangen. Er war gütig, rücksichtsvoll, weitherzig, und er hatte die gewinnende Art der Menschen, die diese Welt als einen recht angenehmen Aufenthalt betrachten. Er sagte den Anwesenden die Dinge, die sie gern hören wollten und führte für alles gute Gründe an. Nach einer kurzen Einleitung schnitt er den Gegenstand an, der seinen Zuhörern am meisten am Herzen lag.
„Ich glaube nicht, dass der gewerkschaftliche Zusammenschluss der Baumwollspinnereiarbeiter zu den Maßnahmen gehört, die ein besseres soziales und wirtschaftliches Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu schaffen geeignet sind.
Unsere Gesellschaft wimmelt von Reformern, die ihre Allheilmittel anbieten, ohne eine Diagnose der Übel zu geben, an der unsere Industrie krankt. Eines dieser Allheilmittel ist die gewerkschaftliche Organisierung der Textilarbeiter. Ich bin mir vollständig damit im Klaren, dass sich in den gegenwärtigen ungünstigen und verworrenen Verhältnissen kaum etwas Verderblicheres für Arbeitgeber und Arbeitnehmer denken lässt als der Versuch, durch ausländischen Einfluss und die Einmischung landfremder, verständnisloser Organisationen die Arbeiter unserer Baumwollspinnereien zu organisieren. Kein rechtlich denkender Mensch wird einem Bürger das Recht strittig machen, in eine Gewerkschaft einzutreten.
Das Recht, einer Gewerkschaft beizutreten, steht nicht nur im Einklang mit den verfassungsmäßigen Garantien, sondern ist eines jener heiligen, unveräußerlichen, auf Gerechtigkeit und persönliche Freiheit gegründeten Rechte, die jedem Menschen zustehen, solange sie nicht mit den höheren Interessen der Gesellschaft in Widerspruch geraten. Die Frage aber, wie weit sich die
Rechte der organisierten Arbeit in unserem sozialen und industriellen Gebilde fortentwickeln dürfen, ist eine Streitfrage von sehr ernster Bedeutung, um deretwillen die meisten Meinungsverschiedenheiten und Unruhen der letzten Zeit entbrannt sind."
Der Redner legte Statistiken vor, die zeigten, dass während des letzten Jahrzehnts verschiedene Schlüsselindustrien große Gewinne erzielen konnten, die Baumwolltextilien dagegen in der ganzen Welt mit einer schweren Depression zu kämpfen hatten.
„Was die Ursachen der allgemeinen Unrentabilität der Industrie betrifft", sagte er, „lagen sie in der Hauptsache an der verfehlten Politik vieler Spinnereien, die es unterließen, ihren Betrieb der Nachfrage anzupassen. Betriebe dieser Art verlieren die Tatsache aus den Augen, dass das Kernproblem der Produktion heute die Anpassung an die Nachfrage der Verbraucher ist, während sich in früheren Jahren die Probleme der Produktion um die Notwendigkeit einer gesteigerten und rationelleren Erzeugung drehten. Es ist bedauerlich, dass so viele Unternehmer bei dieser Taktik der absoluten Missachtung der Gesetze von Angebot und Nachfrage verharren.
Die Lohnsätze mögen niedrig sein, aber die Leichtigkeit der Anlernung neuer Arbeitskräfte und die Lohnsätze der Landarbeiter im Süden müssen dabei doch auch in Erwägung gezogen werden. Da die Arbeitskräfte der Textilindustrie hauptsächlich aus den Bauernwirtschaften stammen, müssen wir unbedingt die niedrigen Einkommen berücksichtigen, denen diese Pächterschichten zu entfliehen trachten. Sie überfluten die Spinnereien unter dem Ansporn ihres wirtschaftlichen Egoismus. Die Löhne sind hier höher, die Arbeitszeit kürzer, die Wohnungen besser, die Annehmlichkeiten
des Lebens größer und die allgemeinen Verhältnisse unvergleichlich günstiger als auf den Farmen."
Er zitierte Berichte des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten, wonach es im Piedmonter Gebiet einhunderttausend weiße Bauernfamilien mit einem durchschnittlichen Bareinkommen von dreihundertsechsunddreißig Dollar im Jahr gäbe.
„Dieselben Familien", sagte er, „zwei Arbeitskräfte pro Familie vorausgesetzt, können in der Industrie gleich bei ihrer Einstellung jährlich eintausend Dollar in bar verdienen und haben Aussicht auf eine Steigerung bis zu zweitausend Dollar und mehr, je nach Geschick und Leistungsfähigkeit. In den Staaten von Maine bis Pennsylvania betragen die Landarbeiterlöhne durchschnittlich drei Dollar fünfundsiebzig für den Tag, in Nord-und Südcarolina, Georgia, Tennessee und Alabama einen Dollar fünfundvierzig.
Die Arbeiterfrage im Süden ist in der Hauptsache ein Problem der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte", fuhr er fort. „Der zweite Teil der Frage, der in den Betrieben zutage tritt, kann erst restlos gelöst werden, wenn auch für die Farmbevölkerung eine Lösung gefunden ist. Verfallen wir nicht in den Fehler, uns mit dem Überbau zu beschäftigen, wenn das Fundament am Zerbröckeln ist.
Die meisten Unternehmer sind für die Abschaffung der Nachtarbeit. Das würde jedoch ein ungeheures soziales und wirtschaftliches Problem auf die Tagesordnung stellen. Wollte man die Nachtarbeit einstellen, würden Tausende auf dem Pflaster liegen.
Eine Erhöhung der Löhne bei sinkenden Gewinnen ist wirtschaftlich ebenso undiskutierbar, wie es physisch unmöglich ist, zwei Gegenpole zusammenzubringen. Die Betriebe zahlen die beim gegenwärtigen Stand der Profite höchstmöglichen Löhne, die noch mit gesunden Geschäftsprinzipien in Einklang zu bringen sind. Der einzige Weg zur allgemeinen Erhöhung des Lohnniveaus ist die Entwicklung der Industrie zur Erzielung höherer
Gewinne."
Ein Gefühl der Zufriedenheit und des Trostes ging durch die Zuhörerschaft bei diesen anheimelnden Worten. Mr. Jameson war so beruhigend! Er hatte allen das gesagt, was sie hören wollten. Die ,Streckung' war eine gute Sache, nur bei der Einführung war man taktlos verfahren. Die Zeiten waren vorbei, da die Arbeitgeber den Arbeitern ihren Willen aufzwingen konnten — auf solche Weise könne man keine Arbeitsgemeinschaft zwischen Arbeitern und Direktion erzielen. Das waren die richtigen Reden für diese Journalisten aus dem Norden. Das war der richtige Kerl —, leutselig und gemäßigt in seinen Äußerungen.
„Na", sagte Hoskins, als sie fortgingen. „Ich hoffe, Sie sind jetzt aufgeklärt, Hewlett. Sie verstehen jetzt: die Tatsache, dass die Bauern nicht genug verdienen, ist der Grund dafür, warum die Spinnereiarbeiter auch nicht genug verdienen sollen. Was ja zu beweisen war."
Als Ergebnis der Veranstaltung der Handelskammer wurde Roger mit einigen andern Journalisten eingeladen, Hastings zu besuchen. Hastings war eine der Musterwerksiedlungen. Jedes Mal, wenn Roger Frau Parker auf der Straße traf, fragte sie ihn:
„Haben Sie Hastings schon besichtigt?"
Jedes Mal, wenn sich die gutsituierten Bürger über die Zustände in den Fabrikstädten unterhielten, schlossen sie immer mit den Worten:
„Aber sehen Sie sich mal Hastings an."
Hastings war die Rechtfertigung des ganzen Systems. Hastings demonstrierte, was eine Werksiedlung alles leisten konnte.
Die Familie Hastings hatte die ganze Industrie aufgebaut. Der ältere Hastings hatte mit einer kleinen Spinnerei den Anfang gemacht. Jetzt war Hastings eine Stadt mit achthundert Familien. Als man durch die kleine Stadt fuhr, lag sie sauber und fröhlich da. Reihen hübscher Häuschen, jedes mit Rasen- und Staudengarten, standen an der Hauptstraße. Es gab eine Kirche, eine Schule, einen Laden. In der Ferne lag ein reizender See. Die Stadt selbst zog sich am Abhang eines Hügels entlang, dem Wasser zu. Berge umringten das Ganze.
Sie hielten vor dem Kontor. Der jüngere Hastings begrüßte sie. Er war ein Mann in den dreißiger Jahren, angenehm und klug. Er hatte nichts von der bei Arbeitgebern alten Schlags so häufigen Auffassung: „Da ist mein Betrieb und ich tue darin, was mir gefällt."
„Es ist natürlich weit davon entfernt, ein ideales System zu sein", sagte Mr. Hastings. „Es hat Unzulänglichkeiten genug an sich. Aber ich weiß nicht, wie die Industrie anders überhaupt hätte zustande kommen können. Als wir die Fabrik bauten, kamen die Arbeiter, um zu arbeiten. Sie mussten untergebracht werden. Die Fabrikbesitzer konnten nicht umhin, ihnen Häuser zu bauen und einen Laden bereitzustellen, auch beim Kirchenbau und sogar bei den Schulen zu helfen. So viel Macht wird natürlich in bestimmten Fällen missbraucht. Es ist mit dem demokratischen Ideal nicht in Einklang zu bringen. Aber können Sie sagen, auf welche andere Art die Industrie unter den gegebenen Umständen entstanden wäre?"
„Was halten Sie von der Gewerkschaftsbewegung?" fragte jemand.
„Die Frage ist bislang noch nicht gestellt worden. Wir hätten nichts dagegen einzuwenden, wenn eine konservative Gewerkschaft die Textilarbeiter organisieren würde. Natürlich würden wir den ,Textilarbeiterverband' hier nicht gerne sehen."
Roger dachte daran, dass — wie er zufällig wusste — auch in diesem besten aller Betriebe schon ein gehöriges Stück Organisationsarbeit geleistet worden war.
„Wir würden uns freuen, wenn der Arbeitstag gekürzt werden könnte. Wir selbst können ihn über eine bestimmte Grenze hinaus ebenso wenig kürzen, wie wir die Löhne nicht über eine bestimmte Grenze hinaus erhöhen können, wenn wir nicht das Geschäft aufgeben wollen. Mit oder ohne Gewerkschaft könnten wir den Arbeitern nur sehr wenig über das schon Vorhandene hinaus geben. Die Firma Hastings hat nie eine Dividende gezahlt. Wir besitzen praktisch alle Aktien selbst und was wir verdienen, stecken wir wieder in die Stadt hinein. Wir haben tausende Dollars für Straßenbauten ausgegeben. Wir unterhalten eine Musterfarm. Wir versuchen nicht, diese Musterwirtschaft rentabel zu machen. Wir verkaufen Milch, Gemüse und alles andere zum Selbstkostenpreis an die Arbeiter. Manchmal auch mit Verlust."
„Ihre Leute leiden nicht an Pellagra, nehme ich an?"
„Nein, ich glaube, diese Krankheit ist in der Stadt so gut wie unbekannt. Hat einer Pellagra, muss er es schon mitgebracht haben." Er erzählte weiter, dass der Betrieb die Pflege der Rasen und Stauden an der Hauptstraße bezahle und Bäume und Sträucher unentgeltlich an die Arbeiter liefere. „Drüben am See haben sie auch einen Golfplatz."
„Spielen viele Arbeiter Golf?"
„An die dreißig. Wir bestreiten die Kosten des Golfplatzes und sorgen für die Instandhaltung."
„Könnte ein Arbeiter hier selbst ein Eigenheim besitzen?"
„Es ist immer eins der hauptsächlichsten Einwände gegen den Betrieb gewesen, dass die Arbeiter nicht selbst Eigentümer ihrer Häuser sein können. Wir hätten ja nichts dagegen, dass die Arbeiter selbst ihre Häuser besitzen, wenn wir dessen sicher wären, dass die Häuser dann Wohnheime blieben. Wir haben als Experiment versucht, außerhalb der Siedlung Parzellen an Arbeiter zu verkaufen, aber diese Parzellen sind sofort mit Gewinn an Leute weiterverkauft worden, die Wurststände mit Glücksspielen als Nebenbetrieb und dergleichen dort errichten wollten. Unser Dorf ist verhältnismäßig wohlhabend, und eine Menge solchen Ungeziefers würde an den Arbeitern schmarotzen, wenn wir es zuließen. Wir wollten auch nicht, dass der Autobus von Gastonia durch die Siedlung fährt, die Ruhe stört und es den jungen Leuten in den Kopf setzt, für nichts und wieder nichts in die Stadt zu fahren. Wenn sie wirklich einen Grund zum Hineinfahren haben, haben sie es bequem genug. Der Autobus kommt nahe genug heran."
Sie gingen durch Farm und Betrieb und fuhren in der hübschen Siedlung herum. Roger konnte sich leicht den Stolz dieser beiden Männer vorstellen, die tatsächlich eine Stadt geschaffen hatten, wo früher ein Nichts gewesen war. Welche Wut würden sie empfinden, wenn sie wüßten, dass der ,Textilarbeiterverband' sich dort, unter ihren glücklichen und zufriedenen' Arbeitern, schon eingenistet hatte.
X. KAPITEL
Mamie Lewes stand um fünf Uhr morgens auf. Sie zog einen Unterrock, ein Kleid und ein Paar Strümpfe an, alles aus Baumwolle. Es war etwas Tunke zum Aufwärmen da, und Brot und Grütze. Kaffee und Milch gab es nicht. Sie machte Bohnen mit einem Stück Speck zurecht und setzte sie aufs Feuer als Mittagessen für die Kinder. Sie summte vor sich hin, während sie in der Küche wirtschaftete. Das Kleinste, zweieinhalbjährig, setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Es schlief mit Mamie Lewes, die drei andern Kinder schliefen im zweiten Bett. Die beiden Betten nahmen fast den ganzen Raum ein. Rosie, das älteste Mädchen, schlüpfte aus dem Bett und begann sich anzukleiden.
„Rosie", sagte Mamie Lewes, „du gibst auf die Kinder acht und pass auf die Bohnen hier auf. Gieß immer Wasser zu, damit sie nicht anbrennen. Wenn ihr noch Brot haben wollt, müsst ihr es euch backen; Mehl und Fett ist da."
„Kommst du nicht nach Hause, Mutti?" „Ich komm bis Abend nicht nach Hause. Ich bin jetzt im Streikausschuss, Mausi."
„Oh, Mutti, wirklich?" Rosie wusste zwar nicht, was ein Streikausschuss war, aber es hörte sich so großartig an.
„Ja, und im Unterstützungsausschuss bin ich auch".
prahlte Mamie Lewes.
„Bist du wirklich?"
Die beiden kleinen Jungen wachten auf, kletterten aus dem Bett und schlüpften nicht ohne Mühe in Hemd und Hose. Mamie Lewes zog das Kleinste an, machte die Betten, wusch das Geschirr ab und fegte das Zimmer aus.
Die Streikleitung sollte sich um neun Uhr versammeln. Wenngleich die Sitzung gewöhnlich erst um halb zehn oder gar zehn richtig in Gang kam, aber der Weg dorthin war acht Kilometer lang. Vielleicht würde sie unterwegs ein Wagen mitnehmen, vielleicht auch nicht. Rechnen konnte man darauf nicht.
Sie machte sich auf den Weg zur Landstraße, die sich glatt und grau gegen Stonerton schlängelte. Kleine Wölkchen roten Staubes stiegen bei jedem Schritt von der Erde auf. Die Hütte von Mamie Lewes stand an einen Feldweg. Blutrot glühende, kahle Felder lagen an beiden Seiten. Ein Feld trug grünen Weizen — schreiendes Grün und blutiges Rot. Ein Berg ragte steil vor Mamie Lewes, dunkles Grünblau hob sich von dem blassen Morgenhimmel ab. Die Sonne strahlte herab. Die Welt roch nach Staub und nach wachsendem Grün. Mamie Lewes war voller Erwartung. Etwas Aufregendes würde passieren. So ein Gang zur Streikausschusssitzung war genau so, als ob man zu einem Vergnügen ginge. Jede Abteilung im Betrieb wählte einen Delegierten zu ihrer Vertretung in den Streikausschuss. Der Streikausschuss kam täglich zusammen, besprach alle Fragen des Streiks und fasste Beschlüsse. Betrieb Nummer Zwei in Tesner hatte die Arbeit niedergelegt. Von den Betrieben Tesners wurden fünf Leute nach Stonerton delegiert. Der Betrieb war klein, beschäftigte nur 300 Arbeiter. Davon hatten zweihundert die Arbeit niedergelegt; daraufhin wurde der Betrieb stillgelegt, so dass es jetzt in dieser Sache nicht viel zu tun gab, man musste nur den Mut der Streikenden nicht sinken lassen. Irma fuhr fast jeden Tag nach Tesner hinüber. Auf freiem Feld hielten sie dort Versammlungen ab.
Der Streikausschuss bestand aus ungefähr vierzig Mitgliedern. Sie waren meist junge Leute, nur wenig ältere Frauen und Männer waren dabei. Mutter Gilfillin war mit im Streikausschuss, ebenso Käte Trent und Victor Jolas.
Mamie Lewes sah sich um. In der Streikleitung saßen viele Leute, die sie kannte, obwohl es meist Stonertoner waren. Da war Dewey Brison, der vor langer Zeit einmal mit ihr im selben Betrieb gearbeitet hatte, nur dass er Weber war. Sie selbst hatte nie Zeit gehabt, das Weben zu erlernen oder überhaupt irgend etwas, das besser bezahlt wurde. Man musste zu lange lernen, und ,weil doch immer noch und noch Kinder unterwegs waren, hat sie gar keine Zeit zum Lernen gehabt'.
Da waren Wes Elliotts und Dan Marks, stark und leistungsfähig sahen sie aus, wie sie da hinten im Zimmer standen.
Fer kam nicht. Irma klopfte um Ruhe.
„Genosse Deane ist aufgehalten worden. Wir müssen also heute morgen unsere Sitzung ohne ihn abhalten. Wir werden die Gegenstände in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit vornehmen. Auf der Tagesordnung stehen: Streikbrecher, Hausagitation, Unterstützungsangelegenheiten, Funktionärberichte über Streikpostenstehen, Berichte der Vertreter der Ortsgruppen", zählte sie die verschiedenen Momente der Tätigkeit des Streikausschusses auf.
„Genossin Gilfillin wird über Streikbrecher sprechen."
Mutter Gilfillin stand auf, ihre dünne, gerade Nase bebte, das dunkelbraune zerfurchte Gesicht schien hundertjährig, aber sie sprühte Leben.
„Schwestern und Brüder", begann sie mit der Geläufigkeit eines geübten Vorbeters. „Leute schleichen in den Betrieb zurück, von denen man es nie erwartet
hätte. Ich hab bei Mary Ann im Fenster heut früh Licht gesehen, und da bin ich raus und hab aufgepasst. Kommt da nicht der Mary Ann ihre Tochter Nancy, um vom jungen Joe ganz zu schweigen, und tippelt schön stille aus dem Haus und geht hintenrum nach dem Betrieb hinunter. Und dann kommt Mary Ann am Abend zur Verbandsversammlung und ruft ,Hoch' und schreit, was das Zeug hält, und holt sich vom Streiklokal ihre Lebensmittel."
„Was ist da nach deiner Ansicht zu tun?" „Da gibt’s nur eins zu tun", rief Mutter Gilfillin, „holt ein paar Jungs und Mädels und verhaut Nancy und Joe, haut sie so, dass sie in keinen Betrieb mehr gehen."
„Ich möchte einen Bericht darüber haben, wie viele Leute im Betrieb noch arbeiten."
Dan Marks sagte: „Einer, den ich kenne, der arbeitet drin, und der hat nachgezählt; es werden wohl an die hundert Leutchen sein; in der Spinnerei sind so wenig da, dass man den Betrieb kaum weiterführen kann." Er gab diesen Bericht, an die Wand gelehnt, den Kopf zurückgeworfen, die Arme gekreuzt. Sein Kopf mit dem lockigen, hellbraunen Haar saß ausgeglichen auf seinem starken Hals •—, ein stolzer, ruhiger Mann. „Das Schlimme dabei ist, dass wir keine richtigen Angaben darüber haben, wie viel Leute wirklich im Betrieb drin sind. Wir haben nicht in jeder Abteilung Verbindungen. Mein Gewährsmann ist in der Spinnerei, aber er darf in die andern Abteilungen nicht hinein, der Meister passt gut auf. Ich glaube, wir sollten einen Ausschuss bilden und verlässliche Leute in den Betrieb hineinschicken." „Ich bitte um Anträge", sagte Irma. Jemand stellte den Antrag. Es wurde abgestimmt. Den Streikenden machte diese formale Beratungsweise Vergnügen —, sie gab ihrer Versammlung Gewicht und
Würde. Es war wie eine gesetzgebende Versammlung —, sie machten hier die Gesetze und Regeln, nach denen ihr Streik zu führen war.
Irma forderte den Streikpostenausschuss auf, seinen Bericht zu erstatten.
„Also es scheint ziemlich schwer zu sein, jetzt Leute zum Streikpostenstehen zu kriegen, seitdem diese Hilfspolizisten mit ihren Bajonetten aufgetaucht sind. Unsern Leuten geht das gegen den Strich, da draußen Streikposten zu stehen und sich aufspießen zu lassen und sich nicht verteidigen zu dürfen. Wenn sie ihre Gewehre mitnehmen könnten und Waffe gegen Waffe stände, dann wär’s ihnen schon recht." Ein beifälliges Murmeln lief durch das Zimmer.
„Ja, bringen wir unsere Gewehre."
„Und wenn es nur ungeladene sind." Ein leichter Hauch der Erregung blies durch das Zimmer.
Irma stand auf beiden Füßen fest hingewurzelt, ihr Kinn war eigensinnig hochgehoben und ihre Hände hinterm Rücken gefaltet.
„Genossen," sagte sie, „ihr könnt eure Gewehre auf Streikposten nicht mitnehmen. Wie oft müssen wir euch noch sagen, dass es keinen Zweck hat, mit Gewehrkugeln gegen Maschinengewehrkugeln anzugehen? Das ist ebenso dumm, wie mit Steinen gegen Kugeln anzugehen."
Ein Stimmengewirr unterbrach sie.
„Wenn die andern Gewehre haben, warum nicht auch wir? Sollen wir zusehen, wie besoffene Polizisten unsere Frauen herum jagen, und keinen Finger rühren?"
„Wenn wir uns einmal wehren, werden sie uns schon in Ruhe lassen. Sie wissen nicht, Irma, was für gemeine Kerle diese Polizisten sind. Wenn die uns Streikende einmal bewaffnet sehen... "
Irma klopft energisch um Ruhe.
„Es hat keinen Zweck, darüber zu reden. Es wäre einfach Selbstmord, Gewehre zum Streikpostenstehen mitzunehmen. Ihr könnt das nicht tun. In der Geschichte der Streiks hat es keinen einzigen Fall gegeben, wo man es nicht den Streikenden in die Schuhe geschoben hätte, wenn irgend jemand erschossen wurde."
„Na gut, Fräulein Irma," rief eine Stimme vom Ende der Halle, „aber das nimmt uns jede Lust, wenn wir alle diese Stinktiere und Iltisse mit ihren Gewehren und Bajonetten sehen und wir nur herumgehen sollen und sie bitten, sie möchten uns doch ihre langen niederträchtigen Bajonette in den Hintern stechen. Das ist ganz schlimm, sich so Bajonetten entgegenstellen zu müssen. Seitdem sie die Streikbrecher nicht mehr auf der Landstraße herbringen, sondern mit der Eisenbahn, ist das Streikpostenstehen eine schlimme Sache."
Irma klopfte ungeduldig.
„Der nächste Punkt der Tagesordnung ist der Bericht aus Tesner," sagte sie; „Genossin Mamie Lewes, gib bitte diesen Bericht."
Als Roger das Streiklokal erreichte, stand dort die übliche müßige Menge herum. Männer, Frauen und Kinder kauten fleißig und spuckten lange Strahlen von Tabaksaft aus. Alle kauten und priemten.
„Der Unterstützungsausschuss hat jetzt Sitzung —, werden wohl bald fertig sein."
Ein breitschultriger Bursche, Bunny Wright mit Namen, der infolge eines Betriebsunfalls ein wenig lahmte, kam atemlos angehinkt.
„Wo ist Fräulein Doris? Habt ihr Fräulein Doris gesehen? Drüben an der Schlucht exmittieren sie eine Frau!"
„Wen denn?"
„Frau Winstead. Sie hat vier kleine Kinder. Habt ihr Fräulein Doris gesehen?"
„Sie ist in der Sitzung des Unterstützungsausschusses," sagte Roger.
„Also Frau Winstead wird aus der Wohnung hinausgeworfen."
„Ist das nicht eine Gemeinheit, mit so viel kleinen Kindern?" brummten die Männer und spuckten Tabaksaft aus. Bunny drängte sich, der eigenen Wichtigkeit bewusst, bis zur Türe vor —, die Frauen umringten ihn eng.
„Ja, sie exmittieren Frau Winstead."
„Es war das die erste Räumung während des Streiks —, ein großes Ereignis. Zwar hatten einzelne Hauswirte außerhalb der Siedlung mit Räumung gedroht, und auch die Basil-Sehenk-A.-G. hatte Räumungsurteile erwirkt, aber geschehen war bisher noch nichts.
Roger fiel ein Mann von angenehmem Äußeren auf, der in Begleitung eines jungen Mädchens aus einem Auto stieg. Er ging höflich an den Mann heran.
„Suchen Sie jemanden?" fragte er. Er hatte das Gefühl, als trüge er irgendeine Verantwortung in diesem Streik und hätte gegenüber den Besuchern des Streiklokals gewisse Verpflichtungen.
Der Mann, Dr. Kingsley, war Geistlicher einer benachbarten Stadt. Er, seine Frau, die im Auto blieb, und das junge Mädchen, Eleanor Thurston, eine Studentin der Nationalökonomie an der Universität Nordcarolina, waren gekommen, um den Streik unmittelbar aus nächster Nähe zu studieren. Dr. Kingsley stellte sich und das Mädchen vor.
Fer schob sich durch die Menge. ,Wieder kommt er zu spät zur Streik- oder Unterstützungsausschusssitzung'
dachte Roger, ,Irma wird sich ärgern'. Roger machte ihn mit dem Geistlichen bekannt, der die üblichen Fragen stellte.
„Was ist die Ursache des Streiks?"
„Zu niedrige Löhne und zu lange Arbeitszeit. Man hat hier elf Stunden gearbeitet. Der unmittelbare Grund war die ,Streckung'."
Die Tür des Streiklokals ging auf, und der Unterstützungsausschuss kam heraus. Die wartende Menge flutete in den schäbigen Raum hinein. Schließlich konnte man sich hier wenigstens aufhalten, sich treffen. Trotz allem war es für sie doch anregend, hier zu sein. Hier trafen sich die Leute und lernten sich gegenseitig kennen, hier besprachen sie alle Einzelheiten des Streiks, die Lebensmittelrationen, die neuesten Gräueltaten. Hinten in der Halle saßen sie beisammen und sangen geistliche Lieder und die neuen ,Balladen' vom Streik.
Hier wurde Geschichte gemacht, und alle waren darauf stolz. Die langwierige Eintönigkeit der Arbeit im Betrieb war unterbrochen. In letzter Zeit liefen Gerüchte um, dass viele Arbeiter Streikbrucharbeit leisteten. Bei der Sitzung des Unterstützungsausschusses und der Streikleitung war es heute zur Sprache gekommen, dass auch Leute die Streikunterstützung in Anspruch nahmen, deren Angehörige im Betrieb Streikbrecherarbeit leisteten.
Irma unterbrach Fers Gespräch mit Dr. Kingsley, um ihm zu sagen:
„Da müssen wir aufräumen. Man sagt, dass Streikbrecher die Unterstützung in Anspruch nehmen. Wir müssen eine genauere Kontrolle einführen. Wann willst du eine Sitzung machen, Fer, um das zu besprechen?"
Bunny hatte sein Ziel erreicht. Er erzählte Doris in erregtem Ton:
„Sie exmittieren Frau Winstead und die Kinder!"
Doris schob mit einer fassungslosen Geste das Haar aus dem Gesicht zurück.
„Ich komme gleich hinüber."
„Sie will wissen, was sie mit den Möbeln anfangen soll."
Eine andere Streikende stürzte herein.
„Fräulein Doris, wegen dieser kranken Frau, Mitty Jones, ist der Arzt dagewesen und hat gesagt, sie muss gleich gehen und sich operieren lassen."
„Ich dachte, du pflegst Mitty Jones?"
„Jawohl, aber der Doktor hat mich hergeschickt, um zu sagen, dass er nichts ausrichten kann —, sie hat Blinddarmentzündung und muss sofort operiert werden."
Doris ging zum Telefonapparat und rief das nächste Krankenhaus an. Dort wurde die Aufnahme der Patientin, einer Streikenden, verweigert, wenn nicht sofort gezahlt würde. In Stonerton gab es noch drei andere Krankenhäuser, von verschiedenen Kirchengemeinden unterhalten. Aber keines der drei wollte die kranke Frau aufnehmen.
„Es bleibt nichts anderes übrig", sagte Doris zu Fer. „Ich werde einen Krankenwagen nehmen und sie nach Lafayette überführen müssen. Jemand anders wird sich um die Exmission zu kümmern haben. Ich muss die Sache mit Mitty Jones erledigen. Irgendwer wird heute für mich einspringen müssen und die Lebensmittel besorgen." Sie lief wie von Sinnen herum. Ein Streikender nach dem andern kam an sie heran.
„Fräulein Doris, kann ich Medizin für meinen Alten haben?"
„Fräulein Doris, sind die alten Kleider schon da, die uns ein anderer Verband schicken wollte? Mein Junge braucht unbedingt Schuhe, ganz gleich, was für welche."
Sie waren freundlich, aber schonungslos. Roger wusste, dass das den ganzen Tag so ging. Den ganzen Tag dauerte dieser Strom von Kranken, die um Medizin baten. Doris watete durch die wartende Menschenmenge und ihre unaufhörlichen Forderungen.
Bunny Wright wiederholte ununterbrochen:
„Sie exmittieren Frau Winstead drüben an der Schlucht, Fräulein Doris. Sie fragt, was sie mit ihren Möbeln machen soll."
„Oh, wir werden schon einen Platz dafür finden. Sei doch endlich ruhig," sagte Doris. „Roger, gehen Sie hinüber und erledigen Sie die Sache mit Frau Winstead. Fer muss den Streikpostenführer sprechen."
Die Menge zeigte Anzeichen von Unruhe. Keiner schien eigentlich zu wissen, was er tun sollte. Leute drängten sich vor, sie wollten von der Exmission, von der kranken Frau, von den zur Arbeit Zurückgekehrten, von den Streikposten und den Zeitpolizisten mit Bajonetten hören und reden. Ein Gefühl der Auflösung, ein Sinken der moralischen Widerstandskraft war zu spüren. Alle blickten auf Fer. Alle erwarteten Ermutigung von ihm, alle warteten darauf, dass er ihnen die erste edle Begeisterung wieder einflöße.
Als Roger mit den Kingsleys ins Auto stieg, hörte er eine Frau sagen: „... und meine Schwester meint, ich bin rein verrückt, dass ich im Verband bin."
Diese beiden Leute, Eleanor Thurston und Dr. Kingsley, waren die ersten Fremden, die das Streikgebiet besuchten, um sich aus erster Hand über die Lebensbedingungen der Arbeiter zu unterrichten. Dr. Kingsley
selbst war aus dem Norden, aber Eleanor Thurstons Familie lebte in Nord-Carolina, in der Stadt Charlotte.
Sie fuhren hinüber zur ,Schlucht'. Vor dem Hause lag unordentlich aufgehäuft das Zeug, das noch vor kurzem die Einrichtung eines Heims gewesen war. Regale, Matratzen, Betten, Stühle waren aufeinander getürmt; Kleidungsstücke quollen aus Schubfächern, andere Kleidungsstücke waren auf Küchengeräte und Schüsseln obenauf geworfen.
Zwei Kinder mit gelbem Haar und blauen Augen saßen, feierlich dreinschauend, wie Rotkehlchen, oben auf einem Haufen Bettzeug. Eine Frau bewachte das Ganze. Sie war eine breitschultrige Person mit einem frischen Gesicht und weitgestellten blauen Augen, die den Augen der Kinder ähnlich waren. Roger erinnerte sich, dass er sie schon im Streiklokal gesehen, nur nicht als Frau Winstead dem Namen nach gekannt hatte.
„Kommen Sie vom Verband?" begrüßte sie die Ankommenden und fuhr, ohne die Antwort abzuwarten, fort: „Wo soll ich meine Sachen einstellen? Ich muss doch meine Sachen unterstellen. Das ist alles, was ich habe. Ich kann doch meine Sachen nicht verlieren?"
„Man wird die Sachen schon irgendwo unterbringen," sagte Roger, „selbstverständlich wird man sie unterbringen."
„Ich kann meine Sachen nicht verlieren!" schrie sie. „Meinen Küchenherd bin ich schon los! Ich hab neunzehn Dollars für den Küchenherd angezahlt, und dann konnte ich die Raten nicht mehr bezahlen, und man hat mir den Herd weggenommen. Aber ich kann doch die Sachen, die ich bezahlt hab, nicht verlieren. Wie soll ich denn wieder zu Sachen kommen?"
„Man wird die Sachen schon unterstellen," sagte Roger und beschloss, sich selbst darum zu kümmern, dass für Frau Winsteads Einrichtung gut gesorgt werde. Ein älteres Kind mit demselben Flachshaar und denselben blauen Augen kam heran, ein Baby schleppend, das bei einem der Nachbarn geschlafen hatte.
„War es wegen Krankheit, dass Sie die Raten für den Herd nicht mehr bezahlen konnten?" fragte Dr. Kingsley.
„Ja, Herr, mein Mann war krank, und ich musste ihm Medizin kaufen, versteht sich, da konnte ich keine Raten bezahlen. Es ist sehr schwer, die Raten für irgend etwas aufzubringen, wenn man nur zwölf Dollar fünfzig verdient und sechs Mäuler damit stopfen muss, und die Miete auch noch bezahlen. Mein Mann, der hat schon zwei Jahre fast nichts mehr gearbeitet."
„Was fehlt ihm denn?" fragte der Geistliche.
„Pellagra. Dort sitzt er jetzt. Meist sitzt er so da. Sitzt nur und lässt die Hände hängen. Manchmal antwortet er gar nicht und ich denke, er verliert den Verstand, und sein Mund blutet schrecklich."
Sie folgten mit den Augen ihrer Handbewegung zum Mann, der gleichgültig dasaß; die beiden blassen Hände hingen ihm über die Knie herunter, die Augen starrten blöde vor sich hin, das Gesicht war gelblich-aschfarben. Er war ein großer, gut gebauter Mann und musste stark und schön gewesen sein, bevor er an Pellagra erkrankte.
„Heut morgen sind sie gekommen und haben mir nichts weiter gesagt, nur dass ich heraus muss. Der Sheriff und seine Leute waren da, und der Sheriff hat alles angeordnet. Sie haben einfach alles herausgeworfen, haben das Baby aufgeweckt und richtig herübergeschmissen zu mir. Mein Mann, der lag im Bett, und sie haben ihn gezwungen aufzustehen und sich anzuziehen. Jetzt sitzt
er schon die ganze Zeit so da, als ob er gar nicht wüsste, was passiert ist."
„Warum haben Sie nicht in der Werksiedlung gewohnt?" fragte Roger.
„Hier ist’s billiger. In der Werksiedlung verlangen sie fünfzig Cents für das Zimmer, und hier brauch ich für vier Zimmer nur einen Dollar fünfzig zu bezahlen. Meist sind ja die Häuser außerhalb der Werksiedlung teurer, aber einige gibt es doch, die billiger sind. Und dann nehmen sie mich ja in der Werksiedlung gar nicht. Es müssen zwei Paar Arbeitshände in der Familie sein, sonst vermietet die Gesellschaft einem kein Haus." „Zwei Paar Arbeitshände?" fragte Eleanor Thurston.
„Ja, Fräulein, und wir haben in der Familie nur eins, das arbeitet. Das bin ich, und es müssen zwei in der Familie sein, sonst vermietet die Gesellschaft kein Haus. Wenn eine Frau ein Kind bekommt und nachher nicht gleich wieder zur Arbeit zurück kann, wirft man sie einfach aus der Werksiedlung heraus."
„Das tun sie nicht immer", erläuterte Roger, „nicht alle Unternehmungen machen es so, aber sehr viele."
„Kommen Sie herein", lud sie Frau Winstead bitter ein, „kommen Sie nur herein und sehen Sie sich's mal an, wie wir wohnen!" Wie die meisten billigen Häuser im Süden, war auch dieses nicht unterkellert und stand auf den üblichen Ziegelpfeilern. Das Holzwerk war aus billigstem Material, an vielen Stellen hatte das Dach Astlöcher, durch die der Regen nur so hereinströmte. Es regnete herein, wie durch ein Sieb.
„Wenn es regnet, müssen wir unsere Betten herumschieben, damit sie trocken bleiben." Elektrisches Licht war zwar da, aber es war nie eingeschaltet worden.
„Wo sollte ich die fünf Dollar hernehmen für die Vorauszahlung?" fragte sie zornig. Sie war zornig —, zornig wegen des Hauses, wegen ihrer Lebensverhältnisse, wegen der Exmission.
XI. KAPITEL
Sie gingen schweigend weiter. Der Zorn der Frau war ansteckend. Alle waren sie zornig. Die Empörung, die bisher in Roger von Zeit zu Zeit aufflammte, wurde zum verzehrenden Feuer. Er konnte verstehen, dass Hoskins vor siebzehn Jahren ,aus dem Häuschen geraten' war und sich seither noch immer nicht beruhigt hatte. Roger fühlte, dass auch er sich nie beruhigen würde.
Eleanor Thurston platzte heraus: „Aber das wissen doch die Leute nicht. Es ist unmöglich, dass sie das alles wissen! Sie würden das nicht zulassen, wenn sie davon wüßten. Ich werde es ihnen sagen. Und wenn es mein Leben lang dauert, ich sag es ihnen. Und Sie auch, Sie können das besser als ich," wandte sie sich an den Geistlichen. „Sie müssen es den Studentinnen an der Universität sagen."
„Ja, ich werde erzählen", antwortete der, „wie die Arbeiter erst überarbeitet und dann unterbezahlt werden. Man zahlt ihnen so wenig, dass sich die Mütter von Familien zu Tode arbeiten müssen. Wenn sie sich dann organisieren wollen, verleumdet und misshandelt man sie. Zuletzt wirft man sie aus ihren Wohnungen heraus. Das ist der Kreislauf, den man schildern muss."
Sie waren beim Haus der Frau Holly angelangt. Ein Besuch bei Frau Holly gehörte zu den Sehenswürdigkeiten des Streiks. Der Geistliche wollte aus erster Hand eine Schilderung der Polizeibrutalitäten hören.
Frau Hollys Haus war dem Haus Frau Winsteads
sehr ähnlich, nur etwas besser gebaut. Einer ihrer Söhne öffnete die Türe. Sie selbst kam herein, schwer, eine große mütterliche Frau, bestimmt zu freundlichen Worten und freundlicher Art. Ihre Augen waren noch immer von blauschwarzen Flecken umrändert, auch das Gesicht war verfärbt. Sie erzählte den Vorfall:
„Ich ging bloß auf der Straße, wollte zum Abendbrot einholen. Dachte gar nicht an Streikposten und Streiks oder sonst was, und da kommen schon die Bullen und jagen mich mit ihren Bajonetten."
„Haben sie Sie verwundet?" fragte Eleanor. „Na, ich kann gerade nicht sagen, dass ich verwundet worden wäre, aber ein tüchtiger Kratzer wars schon, mein Bein hat genug geblutet. Burdette, der Anwalt, hat mir gesagt, ich hätte mein Kleid so aufheben sollen, wie es war. Aber ich hab nicht genug Kleider, konnte es nicht so beiseite legen."
„Und das war nicht alles", mischte sich der junge Holly ein. „Der Bulle, der Murck, ist auch dazugekommen und hat Mutter mit dem Gummiknüppel und mit der Faust ins Gesicht geschlagen!"
„Nicht einmal hat er mich geschlagen, wenigstens zwanzigmal", erklärte Frau Holly gelassen. „Der muss aber bestimmt besoffen gewesen sein."
„Freilich war er besoffen! Waren sie ja alle, die von der Polente! Die armen Leute so mit dem Bajonett herumzujagen, ihnen die Kleider und die Haut zu zerschinden!"
Als Holly zu Ende war, war es still. Keiner sagte etwas; denn was konnte man schon dazu sagen? Was kann man sagen, wenn eine alte Frau auf der Straße so lange geprügelt wird, bis ihr Gesicht angeschwollen war wie ein Kürbis', wie sie es selbst beschrieb.
Tränen der Wut standen in Eleanors Augen. Sie fühlte, dass sie nur eins zu tun hätte: ins Land hinauszugehen, um Schluss zu machen mit dieser Niedertracht. Roger sah sie mitleidsvoll an. Er sah sie alle drei, wie sie waren, winzige, ohnmächtige Leutchen, und ihnen gegenüber den gut durchorganisierten Apparat, dessen Aufgabe es unter anderem war, die Organisation der Arbeiterschaft zu zerstören, und der auf eine Politik der Gewerkschaftsfeindlichkeit festgelegt war. Hinter diesem Apparat stand die Masse der Indifferenten. Scheuchte man diese aus ihrem Gleichgewicht auf, wüteten sie nur gegen die Arbeiter und deren Führer. Diese gutsituierten Indifferenten lieferten, wenn sie aus ihrem Gleichgewicht aufgescheucht wurden, den Boden für das Entstehen eines Mobs.
Die andern mussten gehen. Roger verabschiedete sich.
„Es wird fast unmöglich sein, andere davon zu überzeugen, dass das, was wir heute gesehen haben, wirklich wahr ist. Man kann es nicht glauben, dass solche Sachen in Amerika wirklich passieren können", sagte Mr. Kingsley.
„Ich werde sie zwingen, es zu glauben!" sagte Eleanor Thurston.
Roger ging zum Versammlungsort hinüber. Fer sprach gerade. Er war ernst, wie immer, aber Roger fühlte, dass heute seiner Rede etwas fehlte. Er wartete darauf, dass Fer zum Streikpostenstehen auffordern würde, aber die Aufforderung blieb aus. Fer sprach von den Aufgaben der Gewerkschaften, von Solidarität, er hielt eine Stimmungsrede ohne einen belebenden Funken darin. Er kam von der Tribüne herunter und wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht.
„Pfüh!" sagte er zu Roger, „manchmal weiß man wirklich nicht, was man ihnen sagen soll."
„Werden denn heute keine Streikposten ausgeschickt?" fragte Roger.
„Hören Sie, Roger, ich habe nicht die Stirne, den Leuten zu sagen, dass sie raus sollen. Man kann sie einfach nicht gegen diese Bajonette ausschicken."
„Aber man kann doch das Streikpostenstehen nicht einfach bleiben lassen, Fer. Das kann man doch nicht."
„Ich hab’s einfach nicht geschafft", wiederholte Fer verbissen. Er stand mit gespreizten Beinen da, mit nach vorn fallenden Schultern, die ihm den Anschein gaben, als wolle er durch einen Menschenhaufen durchbrechen. „Sie reden fortwährend von ihren Gewehren, wenn ich unter vier Augen über Streikpostenstehen mit ihnen spreche. Sie wissen ja, Roger, wie diese Kerle über Schießgewehre denken. Sie fühlen sich entmannt ohne Schießeisen. Wissen Sie, was ein Bursche zu mir gesagt hat? ,Ich hab das Gefühl, dass ich kein Mann bin, wenn ich mein Gewehr nicht hab'."
Jetzt war Wes Elliott am Sprechen. Roger empfand einen Alpdruck. Er hatte Fer gerade bei tiefster Ebbe seines Mutes getroffen. In diesem Augenblick glaubte Fer nicht an die Arbeiter.
„Warum lassen Sie nicht die Funktionäre die Verantwortung für je zehn Mann übernehmen?"
Fer wandte sich ein wenig gereizt weg. „Verantwortlich kann man sie machen, so viel man will, aber man kann sie jetzt nicht hinauskriegen zum Streikpostenstehen. Da hilft alles Reden nichts, man kann hier mit den Arbeitern nicht so umspringen wie oben im Norden. Dort gehen sie auch dann hinaus, wenn sie wissen, dass die Polizei sie verprügeln wird. Aber diese Kerle hier, wenn sie verprügelt werden, die wollen wieder prügeln."
„Ich sag Ihnen, Sie müssen eine Streikpostenkette haben", sagte Roger.
Es schien lächerlich, als Außenseiter so mit dem Streikleiter zu rechten. Aber Roger hatte an der Stimmung der Leute ersehen, dass sie ein sichtbares Symbol ihrer eigenen Kraft nötig hätten. Er hatte gesehen, wie sich Fers Unglauben in der Menge widerspiegelte. Was er spürte, war unsichtbar und ungreifbar, aber doch genau so lebendig für ihn vorhanden, als sähe er mit Augen eine eingestürzte Brücke.
„Glauben Sie nicht, dass Streikposten ausgestellt werden müssten?" fragte er Dewey Brison. Er hatte ein Gefühl der Verzweiflung, als bemühe er sich, Leute von dem Kommen eines Hochwassers zu überzeugen, von dem er wusste, dass es kommen würde, an das aber die anderen nicht glaubten.
Oder glaubte Fer vielleicht doch daran? Vielleicht spürte Fer das Abflauen des Streiks. Vielleicht fühlte er, der Streik sei verloren und wollte schon das Ende sehen.
Der Streik durfte aber jetzt nicht zu Ende sein. Das wäre wie eine Kapitulation ohne Kampf. Roger hörte sich selbst mit Dewey und Fer diskutieren, während Wes sprach, hörte sich eintreten für Streikpostenstehen und Weiterkämpfen, für den Streik. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, als hätte Fer den Kampf wirklich schon aufgegeben.
„Sieh doch die Menge, die heute da ist. Ist doch ein feiner großer Haufen Menschen. Da könnte man eine herrliche Streikpostenkette daraus kriegen."
„Willst du als nächster sprechen, Dewey?" fragte Fer. „Du wirst der letzte sein. Ruf doch du zum Streikpostenstehen auf."
Dewey errötete unter seiner Sonnenbräune. Er hatte erst vor kurzem angefangen, öffentlich zu sprechen und war sehr stolz darauf. Eine ganze Anzahl dieser Arbeiter des Südens waren zu ziemlich guten Stegreifrednern geworden. Sie hatten ein natürliches Talent zur Rednerkunst. Noch immer mit demselben Gefühl der Unwirklichkeit der ganzen Szene sprach Roger aufgeregt auf Dewey ein, über Streikposten und ihre Funktion in einem Streik. Der ganze aufgespeicherte Zorn des mit der Besichtigung verbrachten Tages machte sich Luft.
Die Streikposten marschierten los. Die alte Frau Whenck und Mutter Gilfillin, unzertrennlich, braun wie Leder, mager wie Hexen, spuckten braune Ströme von Tabaksaft und liefen zwischen den Männern herum, um sie anzufeuern.
„Ihr habt alle gehört, was Dewey Brison gesagt hat."
„Bruder Gil, gehst du nicht auf Streikposten?"
„Komm nur, Robert Macdonald. Du wirst höchstens verhaftet. Auffressen können sie dich nicht."
„Frau Block, wo sind deine drei Söhne? Ich hab sie oben an der Eisenbahn herumlungern gesehen."
Der Zug setzte sich in Bewegung, mehr Frauen und Mädchen als Männer, aber immerhin ein nicht unerheblicher Teil Männer dabei. Dewey Brison und Mutter Gilfillins Junge nahmen die Spitze ein, dahinter klapperten die beiden alten Frauen, ihre ungestärkten Kalikoröcke flatterten ihnen um die Füße. Als letzte marschierten Binney Jolas und May Macdonald. Mamie Lewes und Daisy West gingen wieder zusammen.
Roger sah dem Ausmarsch mit einer fast unerträglichen Erregung zu. Das war seine Streikpostenkette. Ein Zwang, den er sich nicht erklären konnte, hatte ihn
veranlasst, aktiv einzugreifen, Fer zu überzeugen, Dewey Brison Worte in den Mund zu legen.
Seit zwei Tagen hatte keiner Streikposten gestanden. Bei der Nachmittagsversammlung war keine Polizei zugegen gewesen. Der Zug der Streikposten marschierte sehr diszipliniert, voll von unterdrückter Erregung, durch Nebenstraßen zum Betrieb. Die zwei alten Frauen riefen den Zuschauern Grüße und Scherze zu. Roger folgte dem Zug auf dem Bürgersteig.
Plötzlich ertönten Polizeipfeifen und der Lärm der Überfallautos. Der Zug bog in eine Nebenstraße ab. Drei Lastautoladungen Polizisten schwärmten aus. Roger konnte von einer Erhöhung sehen, wie sie die Streikenden zurückzutreiben versuchten und mit dem flachen Seitengewehr auf sie zuschlugen. Aber die Streikpostenkette hielt stand. Sie hatte sich nach außen umgedreht, so dass jetzt Binney Jolas und May Macdonald die Spitze hielten. Roger stand inmitten einer Gruppe West-Stonertoner Bürger. Jetzt kam Bewegung, Unruhe in die Reihen der Streikposten. „Seht, was sie machen!" „Seht, wie sie sie mit Bajonetten jagen!" „Es ist ein Skandal, wie sie die armen Kerle schlagen!"
„Diese Bullen sollte man aus der Stadt verjagen!" „Diese Bullen sind die gemeinsten Kerle in der ganzen Stadt!"
„Seht mal, sie verhaften die Leute!" „Schau, was sie mit der Frau machen!" Ein Polizeiauto war ganz in der Nähe Rogers stehen geblieben. Die Polizisten schleppten eine Frau von angenehmen Äußeren zum Auto.
„Das ist doch Mary Graham", sagte eine Frau, die neben Roger stand.
„Ich hab gesehen, wie sie ihren Jungen aus dem Zug geholt hat."
„Frau Graham steht doch nicht Streikposten!" „Nein, sie tut das nie. Sie kann’s gar nicht. Sie hat ein ganz kleines Kind."
„Schaut, schaut, schaut, was sie mit ihr machen!" Die Stimmen der Frauen schlugen in einen Schrei um.
Die verhaftete Frau widersetzte sich den Polizisten. Die zerrten ihr die Arme nach hinten, zwei Beamte hielten sie fest, und zwei versuchten, ihr den Kopf niederzudrücken und sie in den Wagen hineinzuzwängen. Die kleine Gruppe schwankte hin und her, die Frau wehrte sich verzweifelt. Sie gab keinen Laut von sich, während sie mit den vier Polizisten kämpfte.
Die Frau, die neben Roger stand und geschrieen hatte, krallte sich zitternd an seinen Arm fest. Eine Frau, die an der andern Seite neben ihm stand, weinte. Ein Gemurmel lief durch die Reihen der Zuschauer. „Man sollte sie erschießen."
„Wenn das so weitergeht, gibt’s Mord und Totschlag." „Oh, sie zerren sie an den Haaren!" „Ihr Mann ist da drüben in der Menge. Da steht er! Graham ist da drüben mit bei! Wie wird er noch das Gesicht zeigen können, wenn er jetzt seiner Frau nicht hilft?"
„Nützt ja alles nichts. Sie würden ihn bloß auch mitnehmen."
„Doch nützt es! Doch nützt es! Er soll es doch tun!"
Roger fühlte, dass sie recht hatte. Er fühlte, dass auch er selbst sich hineinmischen sollte. Dieses hin und her wogende Menschenknäuel schien sich lange Zeit zu halten, während die Zuschauer entsetzt dastanden.
Endlich war der Widerstand der Frau gebrochen. Endlich warfen sie die Polizisten ins Auto und fuhren mit ihr fort. Roger ging mit der Frau weiter, die neben ihm gestanden hatte und die noch immer zitterte. Sie erreichten die Hauptstraße. Ein Menschenhaufen stand da und besprach die Ereignisse. Neu Hinzukommende brachten Einzelheiten.
„Frau Graham war gar nicht auf Streikposten. Sie hat sich widersetzt, weil sie Angst hatte, ihr kleines Kind allein zu lassen."
„Jetzt haben sie sie eingesperrt, und sie hat einen Säugling zu Hause."
Die Ungerechtigkeit des Ganzen überwältigte alle. Die Frau, die sich an Roger angeklammert hatte, packte ihn am Arm und sagte ernst:
„Ich weiß nicht, was in Stonerton werden soll. Was soll aus den Leuten werden? Ich kann an gar nichts mehr denken. Ich kann nur zu den Versammlungen gehen."
„Streiken Sie auch?" fragte Roger.
„Nein. Ich vermiete Zimmer. Meist an Arbeiter aus dem Betrieb. Aber jetzt hab ich gar keine Lust zur Arbeit, wo doch solche Dinge passieren, wie wir sie eben gesehen haben." Und sie blieb stehen und erzählte einem neu Hinzugekommenen die Geschichte von Mary Grahams Verhaftung.
„Sind Sie im Verband?" fragte sie Roger. „Nein, ich bin nur Zeitungsberichterstatter." „Aber Sie sind für den Verband. Sie schreiben doch darüber, was diese armen Leute hier durchmachen müssen, damit die Leute es auch anderswo wissen, nicht wahr?" Sie legte impulsiv die Hand auf seinen Ärmel. „Ich möchte, Sie kämen zu mir wohnen. Sie hätten es
viel bequemer als in einem Hotel. Ich würde mich wirklich freuen, Sie da zu haben."
Noch bevor Roger antworten konnte, drängte sich Victor Jolas durch die Menge. „Haben Sie Fer gesehen?" fragte er. „Haben Sie Irma gesehen? Binney ist verhaftet, und ich kann niemanden finden!"
„Haben Sie Doris schon gesucht?" fragte Roger.
„Ja, die hab ich schon gesucht. Ich denke, sie ist wegen Frau Graham unterwegs. Ich glaube, sie holen Frau Grahams Kind und bringen es ihr ins Gefängnis."
„Wie haben sie denn Binney gekriegt? Sie ist doch so ein kleines Ding."
„Ja, wissen Sie, wie sie den Zug umgekehrt haben, da war Binney mit May Macdonald an der Spitze, und da haben sie sie eben mitgenommen. Ich weiß, es ist nicht recht von mir. Ich weiß, dass auch schon andere verhaftet sind, die genau so jung und zart sind wie meine Binney. Ja, und sind die ganze Nacht im Gefängnis geblieben. Ich weiß, dass ich, wenn ich meine Binney auf Streikposten gehen lasse, auch gefasst sein muss, dass sie ins Gefängnis kommt. Aber ich kann es einfach nicht aushalten. Ich kann es einfach nicht ertragen, dass meine Binney im Gefängnis sein soll. Ich spüre, dass etwas Verrücktes in mir aufsteigt, wenn ich dran denke, dass diese Bullen meine Binney anfassen. Andere Mädchen waren auch schon im Gefängnis, Della Barstow und Eva King. Die Bullen sind zu ihnen gekommen und haben ihnen gemeine, beleidigende Dinge gesagt. Wenn das einer mit meiner Binney machte, ich glaub, ich würd ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen."
„Kommen Sie mit zum Gefängnis", riet Roger, „und sehen wir zu, was sich machen lässt. Wir wollen ver-
suchen, Binney noch heute herauszukriegen. Kaution ist genug da und Burdette, der Anwalt, kann darüber nach seinem Gutdünken verfügen."
Sie fanden Burdette im Hotel. Er war schon von Lafayette herübergekommen. Zusammen gingen sie zum Gefängnis. Jolas war leichenblass. Man sah ihm sein Alter an. Die Haut seiner dünnen, humorvollen Nase straffte sich. Er war sehr ruhig, als er seine Geschichte Burdette erzählte. Aber trotzdem kam er Roger vor wie ein hochwertiger Sprengstoff.
Sie erhielten ohne Schwierigkeit Zutritt zum Gefängnis. Es war eine moderne Anstalt und erträglich sauber. Die beiden kleinen Mädchen saßen hinter dem Gitter auf ihren Betten. In der nächsten Zelle saß der Tetherow-Junge und sein Freund, Bob Postwait.
„Binney", sagte Jolas ruhig, „ist alles in Ordnung? Du hast keine Angst?"
„Alles in Ordnung, Vater." Ihre Augen glänzten. Ihr winziges Elfengesichtchen war fröhlich. Es war ein großes Abenteuer.
„Hat keiner grob zu dir gesprochen, Binney?"
„Nein, Vater, keiner war grob zu mir. Hier im Gefängnis waren alle sehr freundlich. Wir haben gesungen, die Jungen und wir."
Von einer andern Zelle hörte man das Selbstgespräch eines Betrunkenen herüber. Die Jungen kicherten: „Sie hätten ihn vor einiger Zeit hören sollen", sagte der kleine Tetherow, „der hat was durcheinander erzählt!"
Die Kinder glänzten vor Aufregung.
„Na, diesen verzweifelten Bösewicht werde ich bestimmt gegen Kaution herausholen, wenn sie sie nicht zu hoch anschlagen. Aber die Jungen lass ich die Nacht über hier", sagte Burdette.
„Und was ist mit Frau Graham geschehen?" fragte Roger, der sie angesichts der Not von Jolas ganz vergessen hatte.
„Der Verband hat mich angerufen, und ich hab ihnen geraten, mit dem Säugling zum Gefängnis zu marschieren und zu verlangen, dass das Kind hereingelassen werde. Na, wie sie das kleine heulende Baby kommen sahen, da haben sie die Frau schnell herausgelassen."
„Wie lange kann es dauern, bis Binney herauskommt?" fragte Jolas.
„Oh, ich bin gleich zurück. Es dauert nicht lange, Herr Jolas."
„Ich warte hier im Gefängnis auf sie", sagte Jolas finster. Er konnte den Anblick Binneys hinter Gittern nicht ertragen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Binney im Gefängnis sitzt. Im Weggehen empfand Roger wieder die Stärke des Bandes zwischen den beiden. Er konnte sich nicht vorstellen, was aus Jolas würde, wenn Binney etwas zustoßen sollte.
XII. KAPITEL
Den Hintergrund, vor dem sich der Streik abspielte, lieferten um diese Zeit die gesellschaftlichen Veranstaltungen der gutsituierten Bürger der Gemeinde. In vornehmen Schulen machten im ganzen Staat junge Mädchen ihr Abitur — ihre Bilder erschienen in den Zeitungen mit Bildern der prächtigen Schulgebäude und Schilderungen der Abgangsfeiern.
Kurz vorher hatte in Virginia ein Apfelblütenfest stattgefunden; die Sonntagszeitungen brachten reizende Geschichten von den Pfirsichgärten Georgiens. Die blühenden Obstgärten und die aus Schulen und Universitäten herausblühenden jungen Mädchen waren alle Teile einer Gesellschaftsordnung, die nicht ohne Würde und Reiz war.
In ganz Piedmont gingen rund um die Industriestädte herum solche Feste und Feiern vor sich. In ganz Piedmont gingen die Industriearbeiter ihre eigenen Wege, ohne sich an diesem andern Leben zu beteiligen, obgleich sie zu dessen Unterhalt beitrugen. Wo wäre ohne sie der ganze Wohlstand geblieben? Wo wären alle Feiern geblieben ohne die Industriearbeiter und ohne all die andern, die im ganzen Staat um geringen Lohn arbeiten mussten?
Roger hätte sich gerne an dem Anblick all dieser Feste erfreut. Er wünschte ungehalten, sie wären der Zweck seiner Reise nach dem Süden gewesen. Wenn er bloß einmal solche Ferien verleben könnte! Wenn man bloß sein Gedächtnis ausschalten und alle Streiks vergessen könnte! Wenn man Mutter Gilfillin und Mamie Lewes vergessen könnte; vergessen die Männer mit den Bajonetten und die verstreute Streikpostenkette, die Kinder im Gefängnis und die misshandelten Männer. Das alles für kurze Zeit aus dem Gedächtnis schieben und in eine Gesellschaft gehen, wo es junge Gesichter und hübsch gekleidete Mädchen vor einem Hintergrund von Blumen gibt. Irgendein Schriftsteller hat gesagt, dass die Pfirsichblüten Georgiens ebenso schön sind wie die Kirschblüten Japans.
Mit solchen Gedanken schlenderte Roger unweit des Streiklokals die Hauptstraße entlang. Mamie Lewes und eine Gruppe Streikender kamen ihm aus der entgegengesetzten Richtung entgegen. Dann kam das Geräusch eines Lastautos und schrill-vergnügtes Quietschen. Kleine Mädchen in weißen Kleidern und Jungs im Sonntagsanzug schwenkten Fahnen und riefen laut.
„Wohin gehen sie?" fragte Roger Mamie Lewes. „Das ist der Schulaufmarsch. Alle Kinder um Stonerton gehen zum Schulaufmarsch mit. Hier kommen die Lastautos der Basil-Schenk-A.-G."
Schüler der Schulen, die in der Nähe der Basil-Schenk-Betriebe lagen, fuhren in Lastautos singend vorbei. Sie fuhren zum Aufmarsch. Alle gingen hin, um mitzumarschieren oder dem Aufmarsch zuzusehen. „Gehen deine Kinder auch mit, Mamie Lewes?" „Die sind ja nie zur Schule gegangen. Ich hatte nie Schuhe für sie, und wir wohnen zu weit weg." „Ich dachte, die Kinder müssten zur Schule?" „Das schon, aber nur, wenn man in der Werksiedlung wohnt. Mir hat keiner etwas davon gesagt. Ich könnt ja gar nicht arbeiten gehen, wenn meine Älteste nicht da wäre und auf die Kleinen aufpasste."
Roger hörte, wie sie hinter ihm sprachen. Noch ein Lastauto hatte seine aufgeregte, lärmende Kinderlast zum Aufmarsch getragen —, blonde Köpfe und blaue Augen überstiegen an Zahl die dunkleren Köpfe. Der ,Reichtum des Vaterlands' — wie die Redner der Eröffnungsfeiern die Kinder nannten — war unterwegs zum Aufmarsch. Es war eine köstliche Zeit, man sah schöne Dinge und sang schöne Lieder. Alle Kinder aller Schulen würden sich heute treffen —, die Kinder der gutsituierten Bürger und die Kinder aus der Werksiedlung trafen sich nur bei solchen Gelegenheiten, sonst sahen sie einander nie.
„Wie viel Kinder aus der Werksiedlung gehen in höhere Schulen?" fragte Roger Dewey Brison.
„Von den Arbeiterkindern kommen kaum welche da hin. Die Kinder der Betriebsarbeiter müssen ja arbeiten gehen. Ein paar kommen dazu, zur Schule zu gehen, aber nur sehr, sehr wenige."
Diese lustigen, lärmenden Kinder, die soeben singend vorbeigefahren waren, würden bald im Betrieb arbeiten. Roger hatte Kinder gesehen, die schon im Betrieb arbeiteten, aber nicht älter aussahen als zehn bis zwölf Jahre, obwohl sie alle behaupteten, schon vierzehn Jahre alt zu sein, wie es das Gesetz vorschreibt.
Roger stand da und sah dem letzten der Autos nach, die die Kinder zum Schulaufmarsch brachten. Eine Frau zupfte ihn am Ärmel. Es war eine der Frauen, die tags zuvor bei der Streikpostengeschichte neben ihm gestanden hatten.
„Sie sind ja nicht meine Schwester besuchen gekommen", sagte sie. „Meine Schwester ist sehr enttäuscht. Kommen Sie doch jetzt mit mir. Sie wohnt gleich hier hinter der Eisenbahn."
„Gut", sagte Roger. „Ich komme mit."
„Sie hätten es bei meiner Schwester viel bequemer als bei den Bisphams. Sie hat jetzt nur einen Pensionär. Seit dem Streik ist sie so aufgeregt, dass sie es einfach nicht mehr fertig bringt, sich um Pensionäre zu kümmern. Die drei bis vier jungen Leute, die sie hatte, streikten mit und sind dann fort, um anderswo Arbeit zu suchen."
Jenseits der Eisenbahngeleise wohnten die Leute in Eigenheimen. Das waren kleine Kaufleute oder Arbeiter anderer Branchen als die im Betrieb beschäftigten. Drüben an der Schlucht standen einige Häuser, noch weniger stabil gebaut als die Häuser der Werksiedlung. Auch ein paar Familien, die im Betrieb arbeiteten, wohnten hier —, die wenigen, die in einer Gemeinde von Wanderarbeitern Eigenheime kauften und in ihnen verblieben. Die Häuser an der Eisenbahnstrecke waren
ebenso kahl und unfreundlich wie die Häuser in der Werksiedlung. Auch sie standen auf gemauerten Säulen.
Zwei Häuser hoben sich von allen andern dadurch ab, dass sie von Bäumen und Rosensträuchern umgeben waren.
„Das ist das Haus meiner Schwester", sagte Frau Soams zu Roger. „Sie hält große Stücke auf ihre Blumen. Sie sollten die Frau sehen, wie die an ihren Rosen arbeitet. Die Blumen und der Garten sind ihr ganzes Leben. Wo sie nur die Zeit hernimmt — ich weiß nicht, ich komme nie dazu, meinen Garten zu bepflanzen. Ich hab bloß ein paar Irisse. Ich weiß nicht, wie sie es schaffen würde, wenn ihr der alte Cuthbert, ihr Nachbar, nicht helfen würde."
Frau Thorn empfing sie an der Tür.
„Ich freue mich wirklich sehr, Sie hier zu sehen. Ich hatte schon Angst, Sie kämen nicht mehr."
„Ich hab ihn da oben getroffen, bei der Kinderparade und hab ihn hergebracht."
Das Haus war kühl. Es hatte in der Mitte eine Halle wie die meisten Häuser und eine L-förmige Galerie neben der Küche. Während Roger dastand, kam ein Nachbar auf die Veranda. Roger hatte das Gefühl, hier eine Lebensgemeinschaft zu finden. Plötzlich war er der Kahlheit seines Zimmers bei Bisphams überdrüssig. Das Zimmer, das ihm Frau Thorn zeigte, war bequem und anheimelnd. Die Wäsche war gepflegt, und auf dem Bett lag eine schöne Steppdecke. Die Wände waren mit Aquarellen geschmückt, die aussahen wie die farbigen Kinderbilder in einer modernen Schule. Wie es sich herausstellte, hatte Frau Thorn im vergangenen Jahr plötzlich angefangen, Aquarelle zu malen, und hatte sie einrahmen lassen. Ein plötzlicher Impuls ließ Roger sagen:
„Ich will gleich meine Sachen holen." Der Preis, den er zahlen sollte, war sechs Dollar die Woche für Wohnung und Verpflegung.
„Mehr kann ich nicht verlangen — Arbeiter zahlen nicht mehr."
Roger setzte sich zu einem Abendbrot, das aus gebratenem Schinken, kaltem Rindfleisch, heißem Brot, Kaffee, Marmelade und einem Becher Erdbeeren bestand. Am Tische saßen noch Frau Thorn und ihre Tochter Lissa, Harry, der im Betrieb Streikbrecherarbeit leistete, und noch ein älterer Mann, ein Stammgast, der als Zimmermann arbeitete.
Während des ganzen Abendessens starrte Lissa Roger ihn mit einem neugierigen, forschenden Blick an, als könnte sie ihn nicht genug sehen. Sie hatte Augen, die dunkel schienen, aber in Wirklichkeit grau waren; die Augenbrauen waren zu dicht; das Haar wuchs ihr tief in die Stirn herunter, sie trug es entgegen dem Brauch der meisten Frauen der Industriestädte kurz geschnitten. Ihr Hals war schlank und ihre Gelenke zart, aber sie sah trotzdem so kräftig aus, wie es unter den Frauen der Werksiedlungen selten war. Trotz dieser Eigenschaft schlummernder Kraft konnte man an ihren Farben, an der Art, wie sie sich bewegte, und an allem erkennen, dass sie noch sehr jung war, das heißt jung nach den Begriffen des Nordens, nicht nach den Maßstäben des Südens. Lissa war achtzehn Jahre alt.
„Wie ich so alt war wie Lissa, arbeitete ich schon fünf Jahre im Betrieb und war fünf Jahre verheiratet." Das war Frau Thorn. „Damals kam man zeitig in die Betriebe — ungefähr sobald man laufen konnte — als Reinemacher, für kleine Aufträge. Wir mußtens auch,
Vater und Mutter verdienten zu wenig, wir mussten eben. Lassen Sie sich von meiner Schwester, Frau Soams, über die Arbeit im Betrieb erzählen. Sie hat achtundzwanzig Jahre vor ihrer Ehe gearbeitet, hat erst mit fünfunddreißig Jahren geheiratet. Sie kann Ihnen was erzählen von der Arbeit in den alten Zeiten; jahraus, jahrein, zwölf Stunden am Tag, immer stehen, zwölf Stunden, die ganze Nacht. Es ist ein Wunder, rein ein Wunder, dass die Leute hier nicht schon früher gestreikt haben. Sie hättens auch, wenn sie hätten zusammenhalten können. Das fehlt ihnen auch jetzt, sie können nicht zusammenhalten. Sehen Sie sich den an!" Sie zeigte mit dem Kopf auf die sich entfernende Gestalt Harrys, des Streikbrechers, der sein Essen rasch heruntergewürgt hatte und seiner Wege ging.
„Zuerst hat er auch gestreikt und war mir fünfzehn Dollar schuldig. Jetzt verdient er sechzehn Dollar die Woche, aber er ist mir das Geld genau so weiter schuldig geblieben. Ich hätte ihn ja auch ohne Bezahlung behalten, wenn er ein anständiger Streiker wäre, aber ich wusste die ganze Zeit, dass er das nicht war. Hat sich immer mit den Weibern herumgetrieben, hat getrunken, ist nachts ausgeblieben. Seine Kommode ist voll von Haarwuchsmitteln und Schönheitscreme und Talkpuder, damit er sich schön machen kann. Ich gäbe keinen Eimer Spülwasser für ihn."
„Haben Sie je im Betrieb gearbeitet?" fragte Roger Lissa.
„Nein, nie." Ihre Augen lächelten, wenn sie sprach, und ihre Stimme war unerwartet tief und klangvoll, eine wunderbare reife Stimme.
„Lissa hat ein Jahr lang die höhere Schule besucht. Ich wollte, sie sollte auch weiter hin, aber sie mochte nicht —, sie hat gesagt, ich arbeite ihr zu schwer. Die
Arbeit ist ja schwer mit den Pensionären, und wenn das Haus nicht voll ist, macht sich die Sache nicht bezahlt. Ich muss acht Pensionäre haben, wenn ich fünfzehn Dollar die Woche herausschlagen soll." Trotz der leicht hingeworfenen Worte fühlte Roger, dass sie dies für eine recht ansehnliche Summe hielt und dass sie stolz war auf ihr Haus und auf ihren Garten mit den Obstbäumen und Rosen; und dass sie sehr stolz war auf Lissa, die auf der höheren Schule gewesen war. Frau Thorn hatte mit dreizehn Jahren einen um fünfzehn Jahre älteren Mann geheiratet. Später hatte er ihr, wie Roger erfuhr, dieses Haus und andere Immobilien hinterlassen.
In Ost-Stonerton galt sie als reich und vom Glück begünstigt, obwohl sie jeden Morgen um halb fünf mit der Arbeit anfangen musste und bis zum Abend damit nicht fertig wurde, und obwohl sie jede Woche im Freien große Wäsche machte, wobei sie die Wäsche in einem riesigen Eisentopf auskochte, wie es hierzulande Sitte war. Ihr Haus war vor ungefähr acht Jahren erbaut worden, ein neues, schönes Haus mit sieben Vorderzimmern und offenen Seitengängen an der Hinterfront. Im Hause selbst gab es keine Wasserleitung. Alle wuschen sich im Hinterhof unter dem Wasserhahn, und selbst das Spülwasser musste von draußen hereingebracht werden.
Sie besaß Geschirr und Wäsche in ungewöhnlichen Mengen, hübsche Möbel und hübschen Wandschmuck, doch hatte niemand daran gedacht, die Frau des Hauses zu schonen. Roger setzte sich mit ihnen auf die Veranda. Nachbarn kamen zu Besuch. Man sprach von nichts anderem als vom Verband und vom Streik. Alle Leute, die in der Nachbarschaft wohnten, waren früher einmal Betriebsarbeiter gewesen. Es gab eine ganze Anzahl besserer Logierhäuser in der Straße, meist für Ledige
und kinderlose Ehepaare bestimmt. Frau Thorn selbst war Fabrikarbeiterin der zweiten Generation. Ihr leidenschaftliches Interesse war ein Maßstab dafür, wie sich eine Gemeinde, die eine Werksiedlung umgibt, zu den Zuständen in den Betrieben stellt.
„Ich bin auch im Verband", erzählte Lissa Roger.
„Aber Sie haben ja nie im Betrieb gearbeitet."
„Viele Leute sind im Verband, die nie im Betrieb gearbeitet haben. Zimmerleute, Schneider, allerhand Leute sind in den Verband eingetreten."
„Aber sie bleiben nicht bei der Stange", sagte Frau Thorn. „Das ist das Schlimme bei diesen Leuten, sie halten nicht durch. Jetzt sind sie für den Verband und fürs Streiken, und im nächsten Augenblick lassen sie sich wieder einschüchtern. Ich hab ihnen das die ganze Zeit gesagt. Wenn sie aushalten würden, hätten sie längst schon alles erreicht."
„Ein paar von den Mädchen, die ich kenne", sagte Lissa, „die gehen nach ein, zwei Wochen wieder hinein, um ein paar Kröten zu verdienen, und dann kommen sie wieder raus."
„Ja, und inzwischen geht ihre Mutter jeden Tag und holt sich vom Streikunterstützungsausschuss Lebensmittel. So was macht kein anständiges Verbandsmitglied. Sprechen Sie nur mal mit diesem Harry, er wird Ihnen erzählen, was im Betrieb vorgeht. Er sagt, dass jetzt viele verärgert sind und die Arbeit niederlegen möchten."
„Wie viele arbeiten denn noch im Betrieb?"
„Er sagt, gemacht wird eigentlich gar nichts mehr. Man tut nur so, damit die Arbeiter wieder in den Betrieb hineingehen. Diesen Harry behalte ich nur solange, bis
er mir meine fünfzehn Dollar bezahlt hat. Ich hab kein Vertrauen zu ihm."
Nach dem Abendessen saßen sie draußen auf der Piazza. Mit einer Stimme, die Roger an die Stimme des jungen Tetherow am Tag seiner Ankunft erinnerte, sagte Lissa: „Dort kommt Fer."
„Ja", sagte Roger, „ich sagte ihm, er möchte mich nach dem Abendessen hier besuchen. Ich wollte auch, dass er hier diesen Streikbrecher trifft."
Lissa saß ganz unbeweglich da, als könnte sie es nicht glauben, dass Fer wirklich und wahrhaftig zu ihr ins Haus kommt, um auf ihrer Veranda zu sitzen. Als er jovial zu ihr sagte: „Oh, dich kenne ich ja, ich habe dich oft bei Versammlungen gesehen", konnte sie es kaum ertragen.
„Hören Sie mal Roger", sagte Fer nach einer Weile, ich muss irgendwie nach Brookington gelangen, wir haben einen von unseren Organisatoren dorthin geschickt, und der meldet, dass man mich von dort anfordert, um zu sprechen. Ich sollte überhaupt mehr auf dem Lande herumkommen."
„Soll das heißen, dass der Verband bis nach Brookington gekommen ist?" fragte Frau Thorn und beugte sich vor.
„Und auch noch anderswo hin, nicht nur nach Brookington", sagte Fer.
„Soll das heißen, dass wir wirklich im ganzen Süden überall einen Verband haben sollen? Du glaubst, dass du sie dazu kriegst?"
„Versuchen wollen wir's auf alle Fälle." „Mutter", sagte Lissa, „warum sollte er nicht morgen mit Onkel und mir hinüberfahren?"
„Aber sicher! Lissa fährt morgen über Sonntag nach Krookington, Verwandte besuchen! Sie nimmt dich mit,
sehr gerne und auch Herrn Hewlett, wenn er mitgehen will. Es ist eine schöne Spazierfahrt und eine gute Gelegenheit, sich auf dem Lande umzusehen."
Sie fuhren am nächsten Tag frühmorgens in Horners altem Ford los. Roger saß vorn mit dem Alten und Fer und Lissa hinten. Brookington lag oben hinter Asheville, gegen Tennessee zu. Die Fabrik war eine Neuanlage und stellte Überzugsstoffe für Automobile her. Die Arbeitskräfte rekrutierten sich aus den in der Nähe in den Bergen wohnenden Familien; wie in Elisabethton, waren auch hier die Arbeiter noch unabhängig, die Fabrik hatte ihren Trotz noch nicht gebrochen.
Roger hörte Fer eifrig auf Lissa einsprechen. Er erzählte ihr seine Pläne für den Verband. Er ließ sein müdes Hirn spielen, die Dinge so darstellend, wie sie sein sollten, nicht wie sie waren, ließ seine Träume wahr werden.
Lissa war die vollendete Zuhörerin. Sie war gläubig, sie war überzeugt, kein Zweifel überschattete ihr Denken. Was Fer sagte, war nichts anderes, als das Aufblühen, als die Verwirklichung des einfachen Verses von Mamie Lewes:
Wir bauen einen großen Verband
Im ganzen Süden aus,
Dann kriegen wir bessere Kleider
Und auch ein besseres Haus.
Die Landstraße schlängelte sich zwischen roten Feldern. Auf einem von der Sonne beschienenen Hügel rauschten die Farben wie Musik. Hier und dort bildeten junge Weizenfelder klare, durchscheinende, grüne Flecken im dunklen Rot der Äcker. Bäume bekleideten
die Hügel. Überall zierten rosa und weiße Lorbeerblüten die Wälder. Überall schossen die orangefarbenen Flammen der wild wachsenden Azaleen hervor. Nirgends gibt es solche Wälder wie die Wälder Carolinas, Virginiens und Tennessees.
„Ich fahre furchtbar gern hier durch die Wälder hinauf. Von Anfang April an gibt es immer Blumen", sagte Lissa. „Erst sind’s die Buchsbäume und Judasbäume, dann kommen Lorbeer und Azaleen, und im Juni der Rhododendron. Du solltest mal hier durchfahren, Fer, wenn der Rhododendron blüht. Dann ist es wirklich hübsch hier."
.,Ich möchte wirklich gerne, Lissa. Sagen Sie, Roger, wäre es nicht schön, so durchs Land zu fahren, bloß um den Rhododendron zu sehen? An nichts zu denken brauchen? Keine andern Sorgen haben als nur, wie schön die Wälder aussehen? Wär’s nicht schön, angeln zu gehen?"
„Ja, es wär schön", sagte Roger schal. Fer hatte gesprochen, wie einer, der Heimweh hat. Seine Stimme hatte gesagt: „Wär’s nicht schön, so zu sein wie andere junge Kerle in meinem Alter? Mit einem hübschen Mädchen an meiner Seite, ohne an Streiks denken zu müssen und daran, ob die andern Kerle was zu fressen haben. Keine Sorgen wegen der Organisation haben, keine Sorgen wegen der Leute, die im Gefängnis sitzen, keine Sorgen wegen des Mobs oder wegen der Leute, die mit Schießgewehren herumlaufen."
Auf alle Fälle war ihm jetzt ein kurzer Augenblick der Freiheit vergönnt, und er kostete ihn aus. Er lehnte sich zurück. Lissa fiel ihm jetzt zum ersten Male auf. Sie war jung und stark und doch zart, ein wenig den Lorbeerbäumen ähnlich. Sie aber wusste, dass er es bemerkt hatte. Es war fast wie eine Explosion in ihr.
Etwas Unbeschreibliches war passiert, Fer saß neben ihr, hatte bemerkt, dass sie ein hübsches Mädchen sei, war froh, mit ihr zusammen zu sein.
Fer sagte: „Ich bin aber wirklich froh, dass deine Mutter uns eingeladen hat, mitzukommen. Es ist so viel netter, wenn du mit dabei bist." Er hatte eine aufrichtige, ehrliche Art, so etwas zu sagen, die jede Schmeichelei ausschloss. „Weißt du, ich hatte ganz vergessen, wie es tut, so etwas zu fühlen, man wird in so eine Sache wie dieser Streik so vertieft, dass man ganz vergisst, dass man in der Welt lebt. Ach, ist das schön!" Er griff nach Lissas Hand. Sie lag schlank und fest auf seiner Handfläche. Tränen kamen in Lissas Augen.
Eine blitzartige Erkenntnis kam über sie, dass dies ihr einziger Augenblick sei. Bald würde die Fahrt vorbei sein. Bald würde Fer vom Streik wieder mitgerissen werden. Er würde keine Zeit mehr für sie haben, und auch wenn er sie sähe, würde er sie durch den Schleier des Streiks sehen. Auch hatte er Prinzipien, wie sie gehört hatte. Dewey Brison hatte gesagt: „Fer hält nicht viel davon, wenn man in einem Streik mit Mädels anbandelt." Manche Burschen und Mädchen hatten die vom Streik gebotene Gelegenheit dazu benutzt, Liebeleien anzufangen. Fer aber war geradlinig. Es würde nur diesen einen Augenblick der Gefühlsregung geben, eine Verheißung dessen, was hätte sein können — mehr könnte es nicht geben.
XIII. KAPITEL
Der Streik dauerte die sechste Woche. Die Betriebsleitung erklärte, der Streik wäre vorüber, sie hätte jetzt soviel Arbeiter, wie sie brauchte. Die Zeitungen druckten
diese Erklärung wiederholt ab. Sie hatten übrigens von Anfang an etwas sehr ähnliches behauptet. Der Streik trat in eine ruhige Phase. Jeden Nachmittag marschierte eine schwache Streikpostenkette zögernd aus. Jeden Nachmittag wurde sie aufgelöst, aber jetzt nicht mehr so brutal, mit weniger Verhaftungen.
Roger und Hoskins standen am Rand einer Menschenmenge. Der Platz fiel gegen die Rednertribüne ein wenig ab. Hinter der Rednertribüne war eine ebene Fläche und dahinter ein hoher Eisenbahndamm. Eingesäumt war der Platz von den Hinterfronten ärmlicher Kaufläden.
Die Menge war heute ausgesprochen kleiner. Sie war weniger geschlossen. Unten, am Eisenbahndamm, saßen Familien auf der Erde; Männer standen, Kinder spielten an den Rändern der Menschenmenge herum. Es war eine gewisse Bewegung im Menschenhaufen, die Leute waren unruhig, obwohl es Fer war, der sprach.
„Als ich vor einem Monat hierher kam", sagte Roger, „rührte sich keiner, wenn Fer sprach. Was meinen Sie, Hoskins, glauben Sie, der Streik ist verloren?"
„Ich war immer der Meinung, dass dieser Streik technisch verloren gehen wird, wenigstens in dem Sinn, dass es nicht gelingen wird, die Betriebsleitung zu Verhandlungen mit dem Verband zu zwingen."
„Wie denkt denn Fer darüber, weiß er das? Was wird er tun?"
„Ich glaube nicht, dass er das weiß. Der Führer eines Streiks begegnet den Kleinmütigen nicht. Er ist immer von den Leuten umgeben, die nicht glauben wollen, dass es mit dem Streik vorbei ist. Gerade an diesem Punkte, wenn es keinen tatsächlichen Zusammenbruch gegeben hat..."
„Hier hat es ja keinen gegeben."
„Nein. Es war eben nur ein langsames Versacken. Manche gingen fort in die Berge. Manche gingen zurück in den Betrieb. Viele der Besten gehen zurück in die Berge, und viele der Schlechtesten gehen zurück in den Betrieb. Dann gibt es noch etwas. Die Leute hier haben Fer so gern, es ist ihnen peinlich, ihm etwas Unangenehmes zu sagen. Es ist ihnen peinlich zu wissen, dass Leute in den Betrieb zurückgehen, und sie schweigen darüber. Dann gibt es noch etwas: diese Leute streiten nicht gerne mit jemandem, den sie achten. Man behauptet ihnen gegenüber etwas, und sie sagen dazu: ,Vielleicht hast du recht.' Das bedeutet aber nicht, dass sie einverstanden sind. Es bedeutet nur, dass sie den Betreffenden achten."
Roger schlenderte weiter durch die Menge. Er hatte das Gefühl, schwankenden Boden unter den Füßen zu haben. Es war schwer, den richtigen Ausdruck dafür zu finden, aber es war unleugbar da, drohender als die Bajonette der Zeitpolizisten. Die Streikpostenkette, schwächer denn je, machte sich auf den Weg. Roger stieß mit Irma zusammen.
„Sie sehen müde aus", sagte er.
„Ich hatte heute keine Zeit zu frühstücken. Ich musste früh aufstehen und nach Tesner hinüberfahren. Mamie Lewes war bei der Versammlung dabei. Ist diese Frau wunderbar! Sie hat gesungen."
„Kommen Sie mit, wir trinken einen Kaffee und essen ein Brötchen", schlug Roger vor.
Sie gingen die Straße entlang, in ein kleines und schmutziges Restaurant. Es war eine ungewohnte Stunde, und das Restaurant war bis auf die beiden leer.
„Was ist denn los?" fragte er.
„Ach, es sind furchtbare Zustände", sagte sie. „Es ist Fer, es ist, dass wir mehr Leute brauchen. Es ist, dass wir uns ausbreiten müssen. Es ist, dass wir noch und noch Anforderungen aus andern Städten bekommen und niemanden zum Hinschicken haben."
„Was denken Sie von den Leuten hier?" „Ich denke nichts. Ich weiß es. Sie gehen zur Arbeit zurück. — Wenn wir bloß etwas mehr Leute hier hätten, um zu ihnen zu reden! Die Leute aus dem Norden wissen nicht, was ein Streik für diese Leute hier bedeutet. Im Norden haben die Leute, wenn sie streiken, gewöhnlich ein bisschen Geld in der Bank oder Kredit. Hier haben die Leute die Arbeit niedergelegt und hatten nicht einmal 25 Cents in der Tasche. Sie kaufen in der Werkkantine ein und haben keinerlei Kredit. Im Norden gibt es in den Arbeiterfamilien gewöhnlich ein Familienmitglied, das in einer andern Industrie beschäftigt ist. Hier arbeitet die ganze Familie im selben Betrieb. Sie besitzen gar nichts. Ich muss jetzt gehen und Mutter Gilfillin besuchen. Sie will wegen Frau Whenck mit mir sprechen."
Roger begleitete Irma zu Mutter Gilfillin. Das ganze Haus war vom Streik erfüllt. Die Frauen, Daisy West und Mutter Gilfillin, waren zu aufgeregt, um es mit dem Saubermachen sehr genau zu nehmen. Wegen der jungen Leute, die dort wohnten, trieben sich, wie Mutter Gilfillin sagte, ewig Streikende im ganzen Haus herum. Man hatte den Eindruck eines ununterbrochenen Kommens und Gehens. Das Leben war desorganisiert, rastlos und unordentlich.
Mutter Gilfillin, mit Augen, scharf wie die Bohrer, kaute ernst an ihrem Priem und winkte sie in die Küche
herbei mit einem Finger, der so mager war wie die Kralle eines Vogels. Sie schloss hinter ihnen die Tür. ,.Fräulein Irma", sagte sie, „Sie kennen doch meine Bekannte, Frau Whenck. Wo ich immer mit zusammen herumgegangen bin?"
„Ich hab sie schon lange nicht mehr gesehen", sagte Irma.
„Nein, die haben sie schon lange nicht mehr gesehen. Und warum? Weil sie Pellagra hat. Sie spuckt Blut. Und wie ihr ein bisschen besser wurde, da hat ihre Tochter ein Kind bekommen."
„Wegen dem Kind sollten wir etwas unternehmen", sagte Roger — „ich dachte, es soll ein Fonds da sein für die Streikbabys. Das gibt es doch immer. Das macht sich gut in den Zeitungen."
„Dieses Kind ist kein Streikbaby", sagte Mutter Gilfillin.
„Wieso nicht?" fragte Irma.
„Weil die Jungs die Arbeit wieder aufgenommen haben. Jawohl, das haben sie, und darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Die Burschen wissen, dass sie Streikbrecherarbeit machen, aber in ihrem Herzen sind sie keine Streikbrecher. Es sind zwei oder drei Enkelkinder unter zehn Jahren da, und jetzt ist noch dieses neue dazugekommen. Wo er ist, nämlich der Vater von dem Kind, das weiß nur der liebe Gott. Seit sechs Monaten hat er nichts mehr von sich hören lassen. Ist einfach getürmt von hier wie so viele andere Männer. Noch vor dem Streik. Und wo jetzt Frau Whenck die Pellagra hat, sind eben die Jungs einfach in den Betrieb zurückgegangen. Mein Sohn, der Willy, sagt: ,Ich will mal eine Bande zusammenkriegen und diese Whenckjungens verprügeln.' Und ich sag zu ihm" — sie stieß den Kopf vor wie eine Schlange und stampfte mit dem Fuß —
„,das wirst du hübsch bleiben lassen, Willy Gilfillin!' Und er sagt: ,So, werd ich das, Mutter? Wer soll mich denn abhalten?' Und ich sage" — wieder stieß sie den Kopf vor und stampfte mit dem Fuß — „,ich werde dich schon abhalten, denn ich werde dafür sorgen, dass eure Prügelbande die Whenckjungen nicht belästigt. Ich werde mit dem Verband darüber reden.' Und das ist es gerade, was ich in diesem Augenblick tue, Fräulein Irma. Sie sollen es auch Fer sagen. Ein neues Baby, und der Vater auf und davon, und die Pellagra und die vielen kleinen Jöhren, wo der eine davon ein Krüppel ist."
„Wollen Sie das bitte Fer erzählen?" sagte Irma zu Roger. „Ich muss hinuntergehen und die Lebensmittelverteilung erledigen."
Roger fand Fer im kleinen Büro hinter dem Streiklokal. Jeden Abend wartete ein Haufen Menschen auf die Lebensmittelverteilung. Während Roger sich langsam einen Weg durch die Menge bahnte, hatte er wieder den Eindruck einer Eigenart in ihnen, die sie von jeder andern Menschengruppe deutlich unterschied. Der Unterschied bestand zum Teil in der außerordentlichen Dürftigkeit und Armut ihres äußeren Lebens, die sie zur Innerlichkeit trieben, zur Liebe zueinander und zur Religion. Diese Menschen lebten alle im achtzehnten Jahrhundert. Ihre Weltanschauung war eine Anschauung des achtzehnten Jahrhunderts. Der Platz des Menschen im Weltall war für sie durch das Zeitalter der Vernunft noch nicht getrübt worden. Darwin hatte seine sprengende Lehre nicht für sie geschrieben.
Williams, der alte Prediger, und einige junge Leute saßen zusammen auf einem Ladentisch, mit schlaffen
Schultern, mit gebeugten Köpfen und sangen ein geistliches Lied.
„Oh Herr, welch ein Morgen, oh Herr, welch ein Morgen, oh Herr, welch ein Morgen, wenn der Himmel herunterfällt."
Aus der Menge traten fortwährend Leute an Fer heran, der auf einem hohen Hocker vor dem Schreibtisch saß. Sie kamen mit Wünschen, die eigentlich Doris angingen. Könnten sie Medizin bekommen? Man hatte sie mit Exmission bedroht. Ein Werkmeister wäre dagewesen, um die Frauen einzuschüchtern. Eigentlich kamen diese Leute mit ihren Fragen, Mitteilungen und Wünschen, weil sie das Bedürfnis hatten, sich an der Gegenwart ihres Führers zu erwärmen. Sie liebten ihn.
Burdette hatte zu Roger gesagt: „Seien Sie gewiss, diese Leute gehen mit Fer durch dick und dünn und tun alles, was er sagt."
Sie waren eine einzige große Sippe, und er war ihr Häuptling. Sie gaben ihm die unkomplizierte, ungeteilte Anhänglichkeit einfacher Menschen. Er war ihr David, der dem Goliath des großen Betriebs die Stirn bot. Und diese Treue tröstete ihn manchmal, und manchmal erdrückte ihn fast das Gewicht von soviel Liebe und Vertrauen. Zuweilen konnte er die Anhänglichkeit, die aus ihren Augen sprach, kaum ertragen, denn er wusste, wie ohnmächtig er selbst war und wie gewaltig die Kräfte, die gegen sie aufgeboten waren.
Er wusste auch, dass sie ihn verantwortlich machen würden, wenn der Streik verloren ginge. Er wusste das, wusste auch, was die Werkmeister und die Zeitungen gegen ihn sagen würden. Heute war gerade ein Tag, wo ihm die Nähe der Leute unerträglich war. Er begrüßte
Roger mit Erleichterung und wurde die zudringlichen Leute um ihn herum auf sehr behutsame, sehr freundliche Weise los.
Roger erzählte ihm die Sache mit den Whenck-Jungen und der Bitte Mutter Gilfillins.
„Heut abend mache ich eine Versammlung mit einigen Streikbrechern", sagte Fer. „Ich gehe eben hin. Sie glauben, dass die Betriebe sich darauf vorbereiten, die Arbeit wieder niederzulegen."
„Glauben Sie, dass sie wirklich wieder herauskommen?"
„Ich weiß nicht", sagte Fer sachlich. „Das wäre aber das einzige, was den Streik retten könnte."
Roger fühlte, dass sein Herz einen Sprung tat. Fer hatte also mit einer Niederlage gerechnet. Fer war sich also ebenso wie Roger der langsamen, unmerklichen Zersetzung der Streikfront bewusst. Die Rückkehr der Whenck-Jungen zur Arbeit war nur ein Symptom mehr, nur eine Familie mehr, die durch den Hunger in den Betrieb zurückgetrieben wurde.
Der Verband tat sein möglichstes, tat alles, was man vor irgendeinem Verband erwarten konnte. Er hatte die Verpflichtung bezüglich der zu liefernden Lebensmittel eingehalten. Das reichte aber nicht aus, wenn eine Familie auch nur vom geringsten Missgeschick betroffen wurde. Fer sagte mit ruhig-sachlicher Betonung:
„Sie müssen wieder heraus aus dem Betrieb. Die Streikenden hier sind nicht so wie die Streikenden in jedem andern Streik. Ich hab Ihnen immer gesagt, dieser Streik ist nicht wie andere Streiks. Es ist ein verteufelt seltsamer Streik, wenn eine alte Frau wie Mutter Gilfillin die Whencks vor dem Verprügeltwerden schützt.
In den meisten Streiks würde sich diese alte Frau auf die andere alte Frau stürzen und ihre Söhne gegen die Streikbrecher hetzen. Hier gibt es sehr viele Streikende, die für einige Wochen die Arbeit wieder aufnehmen, um ein wenig Geld zu verdienen und sich über Wasser zu halten, dann aber wieder herauskommen."
„Wenn man das nur organisieren könnte", sagte Roger, „könnte man einen feinen Streik daraus machen. Den Streik gewissermaßen von den Betrieben unterstützen lassen."
„Dazu brauchte man eine bessere Organisation, als wir schaffen könnten. Wissen Sie, Roger, diese Leute haben noch keine Ahnung, was ein Verband eigentlich ist. Sie fühlen es nicht. Sie glauben, eine Gewerkschaft ist so was ähnliches wie eine Kirche. So was wie das Seligwerden. Man gehört zum Verband, und dann wird man auf irgendeine Art selig. Sie haben ein mystisches Gefühl für den Verband. Aber das Gefühl der Solidarität, den wirklichen Kern, das ,alle für einen, einer für alle' und das Gefühl, dass ein Streikbrecher das Niederträchtigste von der Welt ist —, das haben die Leute hier noch nicht."
„Manche doch", sagte Roger. „Wes Elliott, Max Harris, Dan Marks, die Tetherows und Dewey. Und unter den Frauen gibt es auch gute Gewerkschafter wie Mamie Lewes. Sie hat es bestimmt raus."
„Aber was mir den Rest gibt, das ist, dass die Streikbrecher, wenn wir Nachtversammlungen haben, zu mir kommen. Gestern abend sagte ein Streikbrecher zu mir: ,Fer, es tut mir schrecklich leid, dass ich die Arbeit wieder aufnehmen musste, aber ich hab einfach keinen andern Ausweg mehr gewusst.' Und dann erzählte er weiter die übliche Geschichte, Krankheit in der Familie und ein neues Baby. Sie kennen ja den üblichen Druck.
Aber dann kommen sie zu mir und sagen: ,Fer, wir legen die Arbeit wieder nieder, sobald es irgend geht'."
Sie verließen zusammen das schlecht beleuchtete Zimmer. Die Leute nahmen ihre Lebensmittelpakete entgegen. Die roten Helfer schwitzten hinter den Ladentischen. Roger verabschiedete sich von Fer an der Tür. Er ging zum guten Abendessen oben in Frau Thorns blumenbedecktem Häuschen, während Fers Worte: ,Wenn sie bloß herauskämen' als leise Hoffnung in seinem Herzen widerhallten. Seine Beklemmung wuchs. An tausend ungreifbaren Zeichen merkte er die Abschwächung des Streiks. Das feste Gewebe zusammengeschlossener Menschen war im Reißen. Der Streikgeist verblutete, verhungerte. Aber die Hoffnung, dass die Arbeiter herauskommen würden, lebte doch noch.
XIV. KAPITEL
Seit einem Monat erhielten verschiedene Bewohner der Werksiedlung nacheinander Räumungsbescheide von der Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G. In diesen Bescheiden wurden sie aufgefordert, ihre Häuser zu räumen. In Nordcarolina können Arbeiter während der Nachtzeit nicht exmittiert werden, und Räumungsbescheide müssen eine bestimmte Räumungsfrist enthalten —, erst nach Ablauf dieser Frist dürfen nach dem Gesetz die Habseligkeiten des Exmittierten aus dem Haus entfernt werden. Bisher hatten über sechzig Familien solche Räumungsbescheide erhalten.
Im Streiklokal sagte Henry Tetherow zu Doris:
„Fräulein Doris, ich hab meinen Räumungsbescheid weg."
Sie sah das Papier in seiner Hand an.
„Das ist ja an dich gerichtet!" Henry war erst siebzehn Jahre alt, sah aber aus wie vierzehn.
„Jawohl. Ich bin das Familienoberhaupt. Mein Vater arbeitet nicht. Er ist schon lange krank, so bin ich also das Oberhaupt."
„Wie viele von euch arbeiten denn?"
„Ich und meine Schwestern. Sie sind älter als ich. Wir vermieten das halbe Haus an Truemans. Wenn man ans exmittiert, exmittiert man sie mit. Man sagt, wir werden so ziemlich die ersten sein, die raus müssen, weil man, wie der Streik anfing, die Verbandsversammlung bei uns abgehalten hat."
„Das Datum auf dem Räumungsbescheid ist alt", sagte Doris.
„Jawohl. Sie haben die Räumungen aufgeschoben, wahrscheinlich, weil sie dachten, der Streik wird bald aus sein. Aber jetzt werden sie sie wohl bestimmt durchführen."
Es hatte den Anschein, als ob die Direktion wirklich unweigerlich zur Durchführung schreiten wollte. Sechzig exmittierte Familien bedeuteten dreihundert Obdachlose, wenn man pro Familie nur fünf Köpfe annahm. Sehr oft wohnten mehrere Familien in einem Haus. Mit Ausnahme der großen Familien machten es die Leute wie Mutter Gilfillin oder die Tetherows und vermieteten Zimmer. Exmittierte man die alle, gäbe es mehr als dreihundert Obdachlose.
Wenn in einer so kleinen Stadt wie Stonerton dreihundert Menschen durch Hochwasser oder Feuer obdachlos würden, gälte das als große Katastrophe. Das Rote Kreuz griffe ein, Lebensmittel, Obdach und Kleider ergössen sich in Fülle über die Obdachlosen.
Um diese Exmittierten würde sich aber nur der Verband kümmern. Kein offizielles Wohltätigkeitswerk wurde helfend eingreifen.
Die Räumungen waren für den Dienstag angesetzt. Ein Auto mit Otis Bingham und zwei Kameraleuten stand vor dem Streiklokal. Ein großer Menschenhaufen verstopfte den Laden und füllte die Straße.
„Man sagt, sie exmittieren da drüben bei Truemans!" „Man sagt, Marks soll sofort exmittiert werden!" „Aus der Werksiedlung sollen dreißig Familien auf einmal raus!"
„Wo sollen denn die jetzt hin?"
„Wo werden sie ihre Sachen einstellen?"
„Ich hab meinen Räumungsbescheid hier. Hast du
deine Räumungspapiere schon gekriegt, Mutter Gilfillin?"
„Gott ja, die hab ich schon eine ganze Weile. Wir werden in ein bis zwei Tagen raus müssen, wenn sie uns nicht schon heute heraussetzen."
„Wo sollen wir denn alle bleiben?"
„Fer sagt, man wird ein Zeltlager errichten. Er hat schon Zelte besorgen lassen."
Roger drängte sich durch die Menge. Im Lokal fand er Mamie Lewes und einige andere Mitglieder des Unterstützungsausschusses.
„Wissen Sie, wo geräumt wird?" fragte er.
„Bei den Bellows wahrscheinlich und bei den Tetherows."
Roger stieg in das Auto mit Bingham und den andern Journalisten aus Lafayette. Der Führer des Wagens, der Vertreter einer Presseagentur, bog in die Straße ein, die
zum Betrieb führte. Werkpolizisten kamen heraus und hoben die Hand.
Es war eine öffentliche Landstraße.
„Wo wollen Sie hin? Was wollen Sie?"
„Wir sind Zeitungsberichterstatter. Wir wollen hinauf nach der Werksiedlung."
Ein Werkpolizist ging nach hinten durch das Fabriktor, der andere blieb da. Im nächsten Moment kam der erste wieder, gab ein Zeichen und blies in seine Signalpfeife.
„Geht in Ordnung", sagte der Werkpolizist.
„Dürfen die denn das tun? Dürfen sie einen auf öffentlicher Straße fahrenden Wagen anhalten?" fragte der Kameramann.
„Freilich dürfen sie das", sagte Bingham. Er war der Reporter, der von Polizisten niedergeschlagen worden war. „Sie können uns den Zutritt zur Werksiedlung verwehren, wenn es ihnen so passt. Es ist zwar gesetzwidrig, aber sie tun es doch. Kämen wir vom Verband aus, hätten sie uns gar nicht durchgelassen."
Zuerst kam Bellows dran. Hier war der ganze Krimskrams eines ausgeweideten Haushalts auf der Erde durcheinander geworfen. Eine Kommode neigte sich wie trunken auf die Seite. Man schleppte noch immer Sachen aus dem Haus. Bellows selbst war nicht da. Er war ein ernster Mann in mittleren Jahren, der sich immer aktiv an der Gewerkschaftsarbeit beteiligt hatte und Mitglied der Streikleitung war. Roger kannte ihn nur flüchtig, hatte ihn nur ein einziges Mal gesprochen, als er für Burdette ein Protokoll darüber aufnahm, wie Bellows nach seiner Verhaftung im Gefängnis verprügelt worden war.
Drei Kinder standen daneben und guckten erstaunt die Dinge an, die auf dem Gras ausgebreitet lagen. Ein Mann kam heraus mit einer großen Puppe, die in einem leeren Krug steckte und mit einem gehäuften Arm voll Wirtschaftsgegenstände.
Der Werkarzt, ein großer, dicker Mann mit Hängebacken von der Farbe roher Beefsteaks, stand schnaufend inmitten der im Hof verstreuten Einrichtung. Er war beleibt und kurz von Atem.
Frau Bellows saß auf der Veranda und hielt ein in eine Decke gewickeltes Kind auf dem Schoß. Das Kind hatte Flecken im Gesicht.
„Was fehlt dem Kind?" fragte jemand den Arzt, der erschienen war, um darüber zu wachen, dass keine wirklich kranken Leute exmittiert wurden, denn das war gesetzlich unzulässig. Außerdem hatte der Richter, der die Exmissionen, gegen die Burdette Einspruch erhoben hatte, für zulässig erklärt hatte, besondere Milde bei Krankheitsfällen empfohlen.
„Pocken", sagte der dicke Doktor.
„Warum sind die nicht isoliert?" fragte Bingham.
„Gibt keine Isolierung bei Pocken in diesem Staat Impfzwang und Schulzwang reichen auch ohne Isolierung aus."
„Haben Sie keine Angst, dass es jemanden anstecken kann?"
„Nein, es ist nicht mehr ansteckend! Es ist über die ansteckende Phase hinaus!" Die Augen des Kindes waren fiebertrübe. Sein Köpfchen legte sich schlaff auf die Schulter der Mutter.
„Wenn ich warten wollte, bis das Kind ganz gesund ist, könnte man sie noch zwei Wochen lang nicht exmittieren."
Die Photographen machten Aufnahmen. Die Journalisten sagten einander, dass das Kind ziemlich krank aussehe. Frau Bellows und die exmittierten Kinder sagten gar nichts.
„Die Betriebsleitung hat sehr viel Rücksicht auf diese Leute genommen, hat sehr viel Geduld mit ihnen gehabt. Sie hat noch und noch zugewartet, ob die Leute nicht doch zu Vernunft kommen, bevor sie sie exmittieren ließ. Sie hat Werkmeister in ihre Wohnungen geschickt, um sie zu überreden. Man hat die Exmissionen um mehr als einen Monat aufgeschoben. Was Basil Schenk für seine Arbeiter tun kann, das tut er. Aber alles hat seine Grenzen."
„Wie viele Leute wollen Sie heute exmittieren?"
„Na, vielleicht acht oder zehn Familien, denk ich. Zuerst die Rädelsführer im Verband. Die wollen wir an allen Enden der Werksiedlung auswählen, damit die übrigen sehen, was sie zu erwarten haben. Soll ihnen eine Lehre sein. Ja, Herr, auch die Geduld hat ein Ende."
Die Truemans und Tetherows waren als nächste dran. Eine alte Drehorgel, ein Wandspruch ,Gott segne unser Heim' in Wollstickerei, all der Krimskram des Lebens auf Stühlen und Bettzeug aufgehäuft, durcheinander geworfen. Männer gehen aus und ein, bringen Betten, Küchengeräte, Kleider, Koffer heraus. Trueman steht da und sieht den Männern zu. Henry irrt zwischen den Sachen unsicher herum. Frau Tetherow hat ein eingewickeltes Kind im Arm.
„Das Kind hat Halsschmerzen. Es hat im Bett gelegen. Bestimmt wird in jedem Haus, wo wir hinkommen, ein Kranker im Bett sein. Frische Luft wird ihnen
nichts schaden. Die Betriebsleitung hat eine sehr lange Geduld gehabt. Diese Bude war von allem Anfang an eine Brutstätte der Organisation. Man hätte sie längst hier herausputzen sollen."
,Der Verband sollte doch in dieser Sache etwas unternehmen', dachte Roger. Man hätte eine Demonstration parat halten sollen. Vielleicht war diese Untätigkeit ein Teil des moralischen Verfalls der letzten Tage. Man hätte einen Zug von Streikenden unter Absingung von Kampfliedern hinter der Polizei herziehen lassen sollen. Es war eine erbärmliche Sache, so zuzusehen, wie die Häuser einzeln ausgeweidet wurden, diese Leute inmitten ihrer armseligen kleinen Habe zu sehen, die Art, wie sie lebten und wie sie nicht lebten, vor aller Augen ausgebreitet. Es war unanständig, sie so zu entblößen. Es ging auch einsam dabei zu, keine Freunde waren zugegen, nur die Polizei, die Polizei, in deren Macht es stand, ein Heim in einen Müllhaufen zu verwandeln — und eine isolierte Familie. Nachbarn gucken durch Fenster, Nachbarn stehen auf Veranden, einige Streikbrecher und mehrere Leute vom Verband sind da, alle sehen sie der Lektion zu, die Basil Schenk über den Wert der Gewerkschaften erteilt.
Mrs. Parker würde das gefallen. Sie würde sich freuen, dass Basil Schenk sein weiches Herz und seine Geduld endlich überwunden hat. ,Werft sie hinaus! Jagt sie hinaus! Nur so kann man es ihnen beibringen.'
Als die Woche um war, sah die Werksiedlung der Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G. wie ein Zigeunerlager aus. Dreißig Familien waren exmittiert worden. Im Verbandsbüro schätzte man die Zahl der Obdachlosen auf fast zweihundert Personen.
Die exmittierenden Beamten gingen in Begleitung des dicken Werkarztes herum und exmittierten regelmäßig täglich zehn Familien. Nach den ersten Räumungen hatten sie einen Tag gewartet. Anscheinend rechneten sie mit einem Zurückfluten der Arbeiter in die Betriebe.
Das geschah jedoch nicht. Die Arbeiter waren zornig. Die Räumungen stärkten die moralische Widerstandskraft der Führer und die Moral der Arbeiter. Der Streik, der begonnen hatte abzuflauen, ballte sich zu einer harten Faust zusammen.
„Es ist ein Skandal, was sie mit den armen Leuten machen", sagte Frau Thorn zu Roger. „Ganz Stonerton ist aufgebracht gegen die Basil-Schenk-A.-G."
„Ja, auch Leute, die nicht für den Verband sind, sind wütend."
„Leute, die nicht für den Verband sind, haben auch Mitleid mit den armen Leuten, die man so herausgeschmissen hat."
Harry, der Streikbrecher, wohnte noch immer bei Frau Thorn.
„Harry sagt, man murrt im Betrieb. Man ist keineswegs zufrieden im Betrieb", sagte Lissa.
„Harry meint, sie wollten die Arbeit niederlegen. Aber ich vertraue ihm nicht. Er hat keine Ehre im Leibe."
Roger wusste, dass Fer und Wes Elliott und Dan Marks und Jolas mit Streikbrechern aus dem Betrieb Versammlungen abhielten. Seit den Exmissionen war im Streik plötzlich eine scharfe Wendung eingetreten. Er war wie ein lebendiges Wesen, das ein eigenes Leben in sich trug. Er war stark und stramm, verblutete dann fast, wurde schwach und nachher wieder stärker.
Roger ging mit Lissa und Doris Pond mit. Sie machten in der Werksiedlung die Runde, besuchten die Leute dort, um zu sehen, wie es ihnen geht, was man tun könnte, um ihnen zu helfen. Die Familien mit kleinen Kindern sollten zuerst ein Obdach erhalten. Die Arbeit war ungeheuer. Alle Mitglieder des Unterstützungsausschusses waren bis zum äußersten überlastet, um auch nur die allernotwendigsten Räume aufzutreiben. Wo der Streik nach der Erregung der ersten Tage ein wenig abgeflaut war, war jetzt wieder alles voller Aufregung. Wieder gab es eine Fülle von Ereignissen, die eine Menge Einzelheiten mit sich brachten und jeden verantwortlichen Streikenden mit praktischen Problemen überfluteten, die sofort gelöst werden mussten.
Mamie Lewes gab dieser Lage Ausdruck, als sie mit Doris zusammen herumlief.
„Sie haben sicher genug zu tun, Fräulein Doris", sagte sie. „Sind Sie schon bei Robertsons gewesen?"
Doris stapfte weiter, den Kopf gebeugt, die Schultern ein wenig gerundet, als trüge sie einen Sack Mehl auf dem Rücken. Ihr Kleid war an der einen Seite länger als an der andern.
„Nein, ich hab einen von den Burschen hingeschickt." „Haben Sie die Sache mit Robertsons gehört?" fragte Mamie Lewes Roger. „Nein, noch nicht."
„Wie die Polizei gekommen ist, haben die Robertsons einfach die Tür verrammelt und Robertson, der hat sein Gewehr herausgeholt und gemeint, er würde jeden Bullen oder Zeitpolizisten zur Hölle schicken, wenn sie seine Haustür zu sprengen versuchten. Na, sie haben dann den Sheriff geholt, und der ist gekommen, und Robertson hat sich die ganze Bande länger als vierundzwanzig Stunden vom Leib gehalten."
„Und dann?"
„Dann haben die Kinder angefangen zu weinen, und die alte Frau Robertson, die bei ihnen wohnt, hat gebeten und gebettelt, er soll sich ergeben. Sie hatten alles vor die Türen geschoben und die Matratzen obenauf gelegt. Und Mary Robertson, die hat bloß immer geschrieen und gerufen, sie hat gesungen und noch gesungen und sie haben nicht nachgegeben, bis die alte Frau sie überredet hat, weil nichts mehr zu essen übrig war. Sie hat gesagt: ,Ihr müsst ja einmal doch nachgeben. Hat keinen Sinn, die Kinder leiden zu lassen. Ihr könnt ja doch nicht zusehen, wie sie verhungern.' Und der Sheriff, der sagt: ,Wenn ihr nicht bald aufmacht, lass ich Tränengasbomben holen'."
Oben in der Werksiedlung lag überall Hauskram ausgebreitet. In der ganzen Siedlung gab es eine lebhafte Bewegung. Die ganze Bevölkerung lief hin und her, um zu sehen, wer exmittiert worden war. Aus der Ferne hörte man Gesang. Gruppen von Streikenden zogen jetzt bei den Räumungen mit und sangen Hymnen und Kampflieder. Das war Irmas Werk. Sie billigte zwar das Singen von Hymnen nicht, aber sie musste es mit in den Kauf nehmen.
Zuerst gingen sie zu den Wrights. Im allgemeinen Wirbel der Erregung und des Durcheinanders war hier ein Pfuhl der Stille. Frau Wright, eine hübsche Frau, saß ruhig und schrieb einen Brief an ihren Mann. Ihr Baby schlief in einem Wäschekorb. Von allen Möbeln, die Roger gesehen hatte, waren das hier die einzigen, die neu aussahen. Er dachte, dass sie irgendwann ein wenig Geld gehabt haben mussten, nicht viel, aber die Möbel sahen gepflegt und frisch gestrichen aus. Das sorgfältig aufgeschichtete Geschirr war ein vollständiges Service
mit gemalten Blumen. Auf einem der abgetakelten Betten lag ein sauber zusammengelegter Haufen frisch gewaschener Gardinen.
Gegenüber, hügelabwärts hinter dem Feld, wurde Frau McClure gerade exmittiert.
„Schauen Sie, Fräulein Doris", sagte Mamie Lewes. „Sie setzen Frau McClure heraus. Haben sie denn nicht versprochen, dass sie sie nicht raussetzen werden?"
„Wir dachten, sie müssten sie in der Wohnung lassen, weil sie so bald niederkommen soll." „Ja, jeden Augenblick, wie ich höre." Im Wirrwarr der Räumung saß Frau McClure mit geschlossenen Augen da, Tränen strömten über ihre Wangen. Sie weinte lautlos, endlos. Ihre fünf Kinder, alle klein, waren um sie versammelt. Das kleinste war nur etwas über ein Jahr alt, und jetzt konnte jeden Augenblick das neue kommen.
„Wann erwarten Sie das Kind, Frau McClure?" fragte Doris.
„Jeden Moment, jetzt schon. Ich kann mir einfach nicht denken, was ich tun werde."
„Na, denk halt nicht", sagte Mamie Lewes und tätschelte sie. „Denk nicht. Der Verband wird dir gleich ein Zimmer finden. Wir kommen dann einfach und nehmen euch alle mit." Doris sagte:
„Wir haben auch einen Raum für Ihre Möbel, Frau McClure, so dass Sie sich deshalb nicht zu sorgen brauchen, während Sie krank sind."
„Ich kann einfach nicht denken, was ich tun soll. Ich konnte mir nicht denken, dass sie mich gleich drannehmen, wenn sie sehen, was mit mir los ist. Ich sag ihm: ,Doktor, ich kann doch nicht gehen und das Haus
dalassen mit den vielen Kindern, wo alle Augenblicke noch eins kommen kann.' Und der sagt: ,Sie haben genug Zeit für den Verband, dann sollen Sie auch genug Zeit haben, ein Zimmer zu finden, noch bevor Sie es so nötig brauchen.' Und seither bin ich ganz schwindlig und verwirrt."
„Ihr Mann ist nämlich fort, der kassiert Verbandsgelder in den Betrieben da unten bei Asheville und ist gerade verhaftet worden. Das ist ihr freilich auch nahe gegangen. Und jetzt kommt noch das hier dazu."
„Wir wollen gleich alles für Sie erledigen, Frau McClure", sagte Doris.
„Ich geh jetzt gleich hinunter zum Verband und such dir ein Zimmer, und dann hol ich dich und die Kinder und schick einen Möbelwagen um deine Sachen." Mamie Lewes eilte davon.
Doris und Roger setzten die Besuche in der Werksiedlung fort, um nach den alten Leuten und Kranken zu sehen, die exmittiert werden sollten. Viele hatten Rheumatismus, viele waren eben aus dem Bett aufgestanden. Auch kranke Kinder gab es. Aber keiner murrte. Der Verband war durch die Exmissionen fest zusammengeschweißt worden.
Es dämmerte schon, als sie zum Streiklokal zurückkehrten. Man hatte im Freien Herde aufgestellt und kochte Abendbrot, Den Kindern machte die Sache großen Spaß. Als sie bei Truemans vorübergingen, spielte unten jemand ,Home, Sweet Home' auf der Drehorgel.
In der Nacht regnete es. Als Roger frühmorgens zum Frühstück kam, sagte Frau Thorn:
„Ist das nicht fürchterlich? Hat mich die ganze
Nacht wach gehalten, dieser Regen auf dem Dach. Alle diese armen Leute, die draußen liegen müssen, wenn es so regnet. Habt ihr für Frau McClure ein Zimmer gefunden?"
„Ja, Mutter. Man hat sie alle gestern abend versorgt und zu Bett gebracht."
„Habt ihr auch die Möbel untergebracht?" „Ja, auch das."
In der Tür erschien Binney Jolas. „Mamie Lewes möchte wissen, ob Sie nicht herunterkommen können mit dem Frühstück, um bei den Leuten mitzuhelfen? Fräulein Doris war fast die ganze Nacht wegen des Regens auf."
„Mamie Lewes wohnt unten bei den Landers, und ihre Schwester passt auf ihre Kinder auf, seitdem diese Exmissionen angefangen haben und sie so viel aushelfen muss", sagte Lissa.
Sie gingen zum Streiklokal hinüber. „Wie halten sie unter dem Regen durch?" „Es geht alles gut", sagte Doris. „Sie sind gar nicht so nass geworden, wie ich befürchtete. Sie haben die Betten unter die Häuser gezogen. Einige sind eingebrochen. Ich hab jetzt fast alle kleinen Kinder unter Dach."
Alle Bewohner der Werksiedlung und auch viele, die nicht in der Siedlung wohnten, hatten den Exmittierten leerstehende Betten zur Verfügung gestellt. Sie beluden den Ford mit Paketen, Kaffee, Zucker, Milch, Bohnen, Mehl, Fett, Speck, Lebensmittel für den Tagesgebrauch. Zuerst hielten sie vor dem Haus eines Streikenden, den Roger nie gesehen hatte. Die Kinder hatten rote Haare, sie sahen aus wie Irländer. Jetzt, da die Sonne wieder schien, hatten sie die Betten ins Freie gezogen. Die Kinder guckten mit strahlenden Augen aus ihren Bettchen, die da im Freien standen. Die Frau war dabei, auf einem mitten im Hof aufgestellten Kochherd Frühstück zu kochen. Alle schienen sich sehr gut zu unterhalten.
„Mein Junge, der John, der ist auf die Bullen losgegangen. Zuerst wollte er sich vor ihnen verstecken. Dann aber ist er gerannt, wollte sie verhauen und hetzte seinen Hund auf sie. Ein Glück, dass sein Vater nicht da ist, der hätte die Bullen nie und nimmer hereingelassen."
Auf der Straße hielt Frau Robertson eine Brandrede. Sie stand auf einem Damm in der Nähe ihres Hauses. Der Hügel war an dieser Stelle steil. Weiter unten an der Straße war die Polizei an ihrer Räumungsarbeit. Frau Robertson warf den Kopf zurück und sagte, als stände sie auf der Rednertribüne, ihre Meinung über die Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G.
„War das nicht Robertson, der sich verbarrikadierte?" fragte Roger.
Doris nickte. Sie hörten die tiefe, trotzige Stimme Frau Robertsons. Eine Menschenmenge sammelte sich allmählich an. Die Polizei bemühte sich, demonstrativ gleichgültig zu erscheinen.
Überall war dasselbe. Der Regen schien auf den Mut der Leute eingewirkt zu haben, als wären sie Pflanzen, die erfrischt worden waren.
In der Streikpostenkette, in einem Aufmarsch, überall, wo sich Arbeiter versammeln und sich gegenseitig unterstützen, ist es leicht, kampffreudig zu sein, aber wenn man im Dunkeln allein ist und alle Sachen draußen im Regen stehen, könnte man erwarten, dass auch der Kampfgeist etwas gedämpft wird. Aber bei diesen Leuten geschah das nicht. Alle hatten Mut. Als
ob sie sagten: ,Was immer ihr mit uns tut, ihr könnt uns nicht wankend machen.'
Als läse sie Rogers Gedanken, wandte sich Doris ihm zu und knurrte ihn mit ihrer vor Müdigkeit heiseren Stimme an:
„Diese Frauen sind aktive Kämpfer!" |
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