Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Larissa Reisner - Oktober (1924)
http://nemesis.marxists.org

Aus dem Zyklus
KOHLE, EISEN UND LEBENDIGE MENSCHEN

BILIMBAI
(Erzbergwerk)

I

Die Straße gleicht einer knorrigen, harten Wurzel und lässt den zweirädrigen Wagen hüpfen und poltern. Der feuchte, mit rostrotem Anflug überzogene Boden trägt Moos, kühlen Tau und die ersten unauffälligen Veilchen. Die Fichtenstämme mit ihrer jahrhundertealten Sonnenbräune ragen über den Hügeln empor wie die Schäfte riesiger Spaten, die der Schürfer in den Boden gesteckt und dann vergessen hat. Dahinter - der lustige blauäugige Fluss, der an diesen bewaldeten Hügeln vorübergezogen zu sein scheint, ohne sie eines Blickes gewürdigt zu haben, ganz den fernen Bergarbeiterdörfern zugewandt. In Wirklichkeit aber hat er heimlich kehrtgemacht, ist durch die Spalten im Kalk geschlüpft, durch die Lehmböden, die er mit stillen, unterirdischen Tränen befeuchtete, gesickert und ist endlich, zähen Erdbrei vor sich stoßend, in einen tiefen, unterirdischen Gang, in das Bergwerk gekrochen. Die Wände der Strecke sind mit Stümpfen hundertjähriger Baumstämme abgestützt, die Decke - mit mächtigen Bohlen. Der alte Mastenwald, ohne Laub und ohne Wurzeln, ohne Kopf und schon lange ohne Beine, nur als breitbrüstiger, gepanzerter Stamm in diesen dunklen, unterirdischen Grund geschlagen - wächst weiter. Er steht nicht nur und stützt das Erdreich über sich, er stemmt sich gegen Erdrutsche, er reckt sich auch weiterhin mit dem abgeschlagenen Wipfel zum Licht empor, das er niemals mehr sehen wird. Das Wasser rinnt die Stützen hinunter, plätschert in der Dunkelheit, spritzt, fließt die Gleise entlang, sammelt sich, steht, rinnt weiter, verschwindet wieder. Und plötzlich bricht eine ganze Reihe an die Wand genagelter Stämme in die Knie, geknickt, entkräftet, vom kalten Schweiß alles durchdringenden Wassers überströmt. Am Ende eines jeden Ganges - eine kleine Höhle, von einer Petroleumlampe erhellt. Sie rußt nicht, ihr Atem ist rein und verpestet nicht die Luft. Doch das Flämmchen ist klein und schwach, es gleicht dem Blick eines Kranken unter dem Kissen hervor, das sich ihm über die Stirn geschoben hat. Schon von weitem sieht man in einer Dampfwolke das Gelbe dieses trüben Flämmchens, hört man ununterbrochen den heiseren, gleichmäßigen Atem des Häuers und das dringliche Pochen seiner Hacke. Er kniet und schlägt der sich stemmenden Wand die Fußstützen fort, von der sie abgleiten soll, eine Fußstütze aus weichem Ton. Über seinem Kopf ragen drei Stangen aus der Wand und bezeichnen die Stellen, wo die Dynamitpatronen eingesetzt werden sollen. Diese drei Stangen sind drei Stahlfinger, die der Kumpel dieser eisernen Barrikade zwischen die Zähne gezwängt hat.
Die Vorbereitungsarbeiten sind beendet. Das ganze weiche Gestein ist losgeschlagen. Der Fördermann wirft es in die Lore und zieht diese fort; ganz durchnässt, stößt er mit den Füßen von den glitschigen Wänden ab und beugt sich dabei so weit vor, dass sein Bauch fast durch die Pfützen und kleinen Erdhaufen schleift. Der Häuer setzt sich auf einen Schotterhaufen und steckt sich eine an. Die Streichhölzer sind feucht geworden und zünden nicht. Mit der Feuchtigkeit vermischen sich die Ausdünstungen eines menschlichen Körpers, der die Ruhepause genießt, wie in einer Sauna dampft und eine stinkende „Selbstgedrehte" raucht. In der absoluten Stille pocht in der Ferne, gleichmäßig wie das Herz unter dicker Kleidung, die Hacke des Häuers von nebenan. Unvergleichlich ist diese unterirdische Stille. Das Rascheln der unversehens rutschenden Erde hört man, als wären die Ohren voller Wasser, und nur der eiserne Specht klopft in der benachbarten Höhle ununterbrochen: Tuk-tuk, Tuk-tuk.
Die Selbstgedrehte ist aufgeraucht. Das schweißüberströmte Gesicht des Häuers ist totenblass, ohne einen Blutstropfen - er friert. Damit es heller werde, macht er die Reservekerze an, steckt sie in den Ring und drückt sie mit dem Fingernagel an die Wand.
Das Dynamit, grau und weich, erinnert an Hefe und lässt sich leicht mit dem Messer schneiden. Eigentlich darf die Zündschnur nur in ein zuvor gebohrtes Loch hineingesteckt werden, sonst kann die Kapsel in der Hand des Arbeiters explodieren. Der Häuer lacht.
„Wir riskieren so viel, wenn wir hier, in dem Loch, arbeiten - da kommt es gar nicht mehr darauf an." Die Zündschnüre sind gelegt; damit sie in der Feuchtigkeit nicht erlöschen, werden ihre Enden ausgefranst: Es entstehen silbrige Pusteblumen aus Stahldraht. In Erwartung der Explosion setzen sich die Kumpel etwa dreißig Schritt entfernt „an die frische Luft", dorthin, wo heftige Zugluft aus der „Röhre" durch die Strecke pfeift, und rauchen. Unbeschreiblich kühl und muffig weht es aus dem Schacht, der diese Strecke mit dem Tag verbindet. Im Lichte der Kerzen glänzen die nassen Stämme, mit denen er ausgekleidet ist, und die nassen Sprossen der Holzleiter, die senkrecht in die Tiefe führt. Über diese morschen Sprossen steigen die Arbeiter Schicht um Schicht in die Grube und verlassen sie wieder. Losgerissene Steinchen stürzen mit einem ganz besonderen, nicht wiederzugebenden Gepolter gegen die Wände in die schwarze Röhre. Die Kerze flackert und verbrennt die sie haltende Hand mit heißflüssigem Wachs. Schwere Stiefel, nass, lehmverschmiert, glitschig, steigen vorsichtig von Sprosse zu Sprosse. Ab und zu tun sich dunkle Löcher in der Steppe auf, in ihrer Tiefe flackert fernes Licht; wenn man lauscht, vernimmt man durch das ununterbrochene herbstliche Weinen der unterirdischen Gewässer das dumpfe Pochen der Hacke und, wenn die Sohle nahe ist, hört man den heißen, dampfenden, aussetzenden Atem des Häuers. Dieser Atem hört sich an, als entringe er sich nicht einer menschlichen Brust, sondern einem lebenden Schacht, wo ebenfalls dunkle Feuchtigkeit die Wände der Lungen hinabrinnt, wo in der Tiefe der Atemgänge statt der Lämpchen matte Tbc-Herde glimmen.
Nach wenigen Minuten drei heftige, aber gedämpfte Explosionen. Der Steiger blickt auf die Uhr. Nur keine Hast! Der Rauch wird uns erst in einer halben Stunde erreichen und träge durch den kalten, dunklen Schacht abziehen.
„Stimmt es dann, dass man uns den Arbeitstag von sechs auf acht Stunden verlängern will?"
Der Sekretär der Parteiorganisation von Bilimbai, Genosse Wolegow, ist selbst ehemaliger Bergmann; er kam in die Partei aus der Tiefe eben dieses Schachts, den er zunächst dem ehemaligen Besitzer zu entreißen half und dann mit dem Gewehr in der Hand verteidigte.
„Wir werden unseren Standpunkt vertreten", antwortet er, „vielleicht tut man es nicht." „Und wenn wir acht Stunden arbeiten müssen?" „Dann arbeiten wir eben ,.."
Die Stimme des jungen Häuers geht in die Tiefe wie ein leerer Förderkorb, der an aufgerollter Kette in den Schacht stürzt, bis er zerschellt.
„Du hast doch selber hier gearbeitet, du weißt, dass wir acht Stunden nicht durchhalten können. Können nicht... Fast gar keine Entlüftung. Alles löst sich auf. Die Leiter, ja, sicherlich der ganze Schacht ist morsch. Instand setzen -aber wo das Geld hernehmen? Wenn man über Tag ist, setzt man sich erst mal am Straßenrand hin, bevor man sich auf den Heimweg macht. Nein, mein Lieber, so geht es nicht. Und die Kleidung? Kein Gummi, nur noch Leinwand. Sprit steht uns nach der Arbeit zu - wo ist er denn? Haben nichts davon zu sehen bekommen. Wir wissen ja, dass du fleißig deine Berichte schreibst, aber viel Sinn hat es nicht. Gib wenigstens eine Zigarette her, du Hundesohn, damit wir was von dir haben! Und mit den acht Stunden wird nichts! Das kannst du dir merken!" Einer der Kumpel geht fort, um nach dem Rauch zu sehen. Er ist schon nah, sie müssen fort. Steigen durch den Schacht noch tiefer hinunter, bis zu der untersten Sohle. Hier ist die Decke so tief, dass man den Kopf gar nicht heben kann. Immer häufiger stößt man mit den Füßen an die frischen Maulwurfshügel der Erdrutsche, sieht immer mehr geknickter, schiefer Kiefernstämme, die unter dem ungeheuerlichen Druck des fetten Lehms stehen. Schließlich muss man auf allen vieren zwischen den dicken, gekreuzten Stämmen kriechen, die auf der Seite liegen und sich gegenseitig mit ihren Fichtenschultern stützen. Hier wühlt der Bergmann unmittelbar unter dem Bauch der Erde, der die Menschen, ihre Lämpchen, das Pochen ihrer Spaten und den schwächlichen Widerhall der Explosionen fast erdrückt. Keine Luft zum Atmen. Und unten, unter einem Bretterbelag, nicht mehr als Tropfen oder Bächlein, sondern als weißliche regungslose Überschwemmung, steht, überall mit gleichem Pegel, tiefes, glattes, ewiges Wasser: der Schacht hat das Niveau des Flusses erreicht. Vergeblich verfolgt der Häuer das verschwindende Erz durch schlammige Lehmschichten, durch diese Körper fetter vorsintflutlicher Mollusken, die unter seiner Hacke auseinander kriechen. Vergeblich beißt er sich immer tiefer in tauben Quarz hinein, Schritt um Schritt mit seinem steinernen Grab vorrückend, das er vor sich immer wieder erweitert und hinter sich mit Bohlen verbaut. Nachdem sie die Oberfläche der Flussgewässer erreicht haben, verschwinden darunter reiche Erzlagerstätten. Um weiterzugehen, braucht man neue Maschinen, Elektrizität, allerlei technische Vervollkommnungen, riesige Mittel. Geld ist aber nicht da und wird nicht so bald da sein. Inzwischen versorgt dieses alte und kleine Bergwerk, v/o früher politische Verbannte gearbeitet haben und wo man deutsche Kriegsgefangene zu dieser Sträflingsarbeit zwingen wollte (was an ihrem organisierten, tapferen Widerstand gescheitert ist), versorgt dieses kleine mit faulem Holz abgestützte und von Petroleumfunzeln erhellte Loch das Hüttenwerk von Bilimbai mit Erz und ist eines der lebendigen Produktionsrädchen, die sich für die Wiedergeburt des Ural drehen. Es sollte stillgelegt werden - die Arbeiter ließen es nicht zu. Unter unglaublich schweren Bedingungen setzten sie ihren Kampf gegen Wasser, Lehm und Übermüdung fort. Damit die Selbstkosten nicht zu hoch wurden, verzichteten sie auf die Elektrifizierung. Nachdem die Häuer auf den unterirdischen See gestoßen waren, gingen sie auf Erkundung aus, wobei sie ihr steinernes Gehäuse wie ein Schneckenhaus mit sich schleppten. Das ganze Bergwerk, in der Finsternis und Härte noch unberührter, unterirdischer Massive von einem besonderen Spürsinn geleitet, ahnt ein mächtiges Flöz irgendwo dicht unter dem Wasserspiegel. Man sucht es - und wird es wohl auch finden. Doch vorläufig gehen alle Ausgaben, alle vergeblichen Suchaktionen unterirdischer Kundschafter, alle fruchtlosen Irrwege in der feuchten, schwarzen, zähen Tiefe zu Lasten der Arbeiter selbst. Der Häuer erhält für sechs Stunden seiner unmenschlichen Arbeit 1 Rubel 26 Kopeken. Zu diesem Mindestlohn kann er unter höchster Anspannung der Kräfte 30 bis 35 Kopeken als Zuschlag verdienen. Ein Fördermann erhält noch weniger: 50 bis 70 Kopeken. Und auch das nicht immer in Geld, das im Zusammenhang mit der Geldreform oft zu spät oder nicht in ausreichender Menge eintrifft. So konnten zum Beispiel die mehr als 500 Spenden der Bergarbeiter und Hüttenwerker von Bilimbai für die hungernden Kinder in Deutschland wegen der akuten Bargeldknappheit wohl gezeichnet, aber bislang nicht geleistet werden. Man kann sich wohl vorstellen, wie die Kumpel leben. Freilich haben viele von ihnen ein eigenes Bauernhaus und eine Miniaturwirtschaft. Doch diese winzigen Wirtschaften fesseln den Arbeiter an den Ort, bringen ihn in eine leibeigenschaftsähnliche Abhängigkeit nicht nur vom Bergwerk, sondern auch vom eigenen Gemüsegarten und Stall, von der Ziege, den paar Ferkeln und dem scheckigen Kalb mit den wässrigen Kinderaugen.
In einer der letzten Strecken, die ich aufzusuchen Gelegenheit hatte, fragte man mich wiederum nach dem Achtstundentag. „Sollte das stimmen? Na, gut! Wenn es nicht anders geht - sind wir dabei. Obgleich man uns schon seit Jahren vorleiert: Haltet noch ein bis zwei Jahre durch - dann kommt alles ins Lot. Ist aber vorläufig noch nicht. Haben wenig Gutes gesehen. Allerdings haben wir jetzt die Geldreform, und eine Anleihe geben uns die Engländer nicht" - der Sprecher war Parteimitglied, und es war deshalb nicht verwunderlich, dass aus der Tiefe dieses feuchten Grabes ein Widerhall der großen Weltereignisse kam. Und nur die wächserne Blässe des Mannes, der mit einer Hacke in der Hand von den sozialen Geschicken der Welt sprach, nur die absolute Stille in dem siebzig Meter tiefen Schacht, nur die Dampfschwaden, die seine frierenden Schultern in eine Wolke kalten Schweißes hüllten, verliehen diesen wenigen Worten den besonderen, harten Ernst, ließen die ganze Verantwortung der Partei spüren, die sie für die Erfüllung ihres sozialen Programms trägt, denn um dieses Programms willen bleiben die Menschen unter Tage bei ihrer Sträflingsarbeit. Jeder Schlag der Hacke in diesen teuflischen Bergwerken wird geführt in der Hoffnung, dass ein menschenwürdigeres und gerechteres Leben bald anbricht.
„Aber eines schreiben Sie bitte auf, Genossin - entschuldigen Sie, ich kenne Sie nicht beim Namen. Wir haben es mit der Lunge. Viele sind schwindsüchtig. Man verschickt uns während des Urlaubs zur Kur in unsere eigenen, in die Kurorte des Ural. Die Bäder sind schwefelhaltig, aber es ist dort nicht warm genug. Sonne brauchen wir, nach einer solchen Arbeit. An das warme Meer aber können wir nur einen im Jahr verschicken, und auch das zusammen mit dem Hüttenwerk. Das ist zuwenig."


II

Das Werk Bilimbai ist ein altes, uraltes Industriewerk. Erbaut wurde es mit den Händen der Leibeigenen: zuerst war es Besitz von großen Herren, später von Kaufleuten mit wildem Temperament und großem Unternehmungsgeist. In sieben Dörfern wurden die Leibeigenen rings um das Werk angesiedelt, und viel Wald wurde ihm zugeeignet. Die Menschen sind frei geworden, doch der Wald ist bis heute noch dem Werk ausgeliefert. Über Dutzende von Werst ziehen sich die leibeigenen Wälder hin: Tannen, Fichten, lustige weiße Birken - leichte grüne Tücher umgeworfen -, der übermütige Wacholder, der im hundertjährigen Schatten zu Streichen aufgelegt ist, und näher zu den Wohnstätten die zahmen Hausarten: die Eberesche, der wilde Apfel und die weiße, kühle Faulbeere - taufrisch, gern gesehen, wie ein Mädchen, das, der Kunkelstube entsprungen und dann im Garten geblieben, die weißen Quasten seines Umschlagtuches über den Zaun hängen lässt. Sie werden der Reihe nach und außer der Reihe geschlagen; man lässt zur Samengewinnung nur einzelne Tannen stehen, die an Kirchtürme in einem niedergebrannten Dorf erinnern.
Der alte Fronherr ließ das Werk und die Gartenlaube, den Stall, wo mit Ruten gestrichen wurde, und die Kirche zu seiner Domäne passend erbauen: weiß, breit, von vorne recht ansehnlich - und mit all dem schmutzigen Alltagskehricht und Menschengedränge hinten, einem fremden Auge durch eine säulengeschmückte, wohlproportionierte Fassade im russischen Empirestil entzogen. Die Bilimbaier Kirche hat sich dieses prächtige Äußere bis auf den heutigen Tag bewahrt, sie steht da auf einem grünen Hügel wie ein Palast, weiß und sonnenüberflutet, in dem grünen Schlafrock des Birkenhaines, mit einem Tor, das sich wie eine Spitzenmanschette gegen das saftige Grün der Gärten abhebt. Nur dass der Frühstückstisch auf der Kirchenvortreppe fehlt, der Samowar und die gnädige Frau, den Tee einschenkend mit ihren marmorweißen Händen, die von Stroganow gemalt sein könnten. Und sogar die Haupthalle der Fabrik hat etwas von jenen verschwenderischen, auf äußeren Glanz bedachten Zeiten mitbekommen. Irgendwelche Kränze kleben an der Fassade, eine Art Ziersäulen drängen sich vor dem Eingang in die Hütte. Doch hier ist eine andere Vergangenheit lebendig, eine weniger großherrschaftliche, weniger sorglose: Sie peitschte die Leibeigenen nicht mehr im Stall des gnädigen Herrn, sondern im staatlichen Zuchthaus, sie richtete weniger junge Mädchen als vielmehr junge und kräftige Männer zugrunde; sie puderte nicht mit dem flüchtigen Puder des 18. Jahrhunderts, sondern mit Kohlenstaub, und sie belehrte nicht mit der losen Hand des gnädigen Herrn und der Jagdpeitsche, sondern mit der Gefängnisrute und der großen, unförmigen Kugel der damaligen Zeit. Unauslöschlich blieb das schaurige Andenken an das goldene Zeitalter, da Posessionsbauern (Anm.: Leibeigene Bauern im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts, die in Manufakturen arbeiteten und, getrennt von diesen, nicht verkauft werden durften.) in den Fabriken schufteten, an die schwere Hand der ersten russischen Industriellen aus dem „dritten Stand", die noch mit staatseigenen Arbeitskräften, nicht selten aber auch mit Lohnsklaven wirtschafteten und denen jene ungenierte rationale Grausamkeit eigen war, mit der es nicht einmal die alten Feudalherren samt ihrer launischen, aber nachlässigen und inkonsequenten Despotenwillkür aufnehmen konnten. Sehr veraltet sind die Maschinen des Bilimbaier Werkes. Vieles an seiner Einrichtung und Ausrüstung mag einem europäisch ausgebildeten Ingenieur komisch erscheinen, aber jetzt ist das greise Werk, obwohl es ausgedient hat, wieder in den aktiven Dienst gestellt worden und hilft in den Jahren der für die Revolution überaus schweren ökonomischen Krise, hilft bauen und erzeugen. Sein altes Maschinenherz klopft langsam, aber gleichmäßig und
kräftig.
Die Pleuelstangen fünfzigjähriger Wasserturbinen bewegen sich bedächtig, mit einer gewissen altmodischen Grandezza. Das wunderliche Eisengussgitter, das sie umgibt (solche gibt es heute nirgends), gleicht ein wenig dem Gitter, mit dem die Gräber ehrwürdiger, längst ausgestorbener Familien auf den alten herrschaftlichen Friedhöfen eingezäunt waren. Aber das macht nichts: Alexej Alexojewitsch Koschin, der Hüter und uneingeschränkte Herr des Hochofens, ein Männlein mit gutmütigstem Gesicht, bei den Arbeitern wegen seiner absoluten Nachgiebigkeit beliebt, ist ein Spezialist, der sein Fach bis ins Feinste kennt, der auch die geringsten Schattierungen von Kohle und Erz zu unterscheiden weiß; er braucht nur mit einem Auge durch sein Blauglas, das ebenso speckig ist wie die Revers seiner Jacke, in den weißen Schlund des Ofens zu schauen, wo zentnerschwere Brocken Metall und Kohle wie Laub, wie Blütenblätter beben und sich in der weißen Milch des Roheisens auflösen, um die Qualität der Schmelze zu erkennen, um festzustellen, ob nicht zuviel Birken- und Tannenscheite dieser Eisenbowle zugesetzt worden sind, Holz von diesen unbeständigen, diesen Sommerarten, die es nicht aufnehmen könnten mit der weißen Glut, mit der reinen, unnachahmlichen Flamme, die in dem eisenharten, harzigen und wie eine Zedernuss saftigen, tadellos gewachsenen Körper einer hundertjährigen Fichte eingeschlossen ist.
Alexej Alexejewitsch steht schon seit 35 Jahren an den Hochöfen; er ist es, der unter Koltschak zusammen mit den Weißen von seinen Anlagen fort ins Ungewisse, in die Verwüstung fliehen sollte, aber nach 17 Werst zurückblieb und ganz unerwartet gerade zur rechten Zeit, zum Abstich, wieder an seinem Platz stand, zu diesem schwarzen Schmelzkessel von einer Leidenschaft hingezogen, die stärker war als Spießerangst und absurde politische Vorurteile. Und eben dieser Alexej Alexejewitsch behauptet, dass seine Maschinen noch arbeiten und sich bewähren werden. Voller Stolz weist er auf den Wasserstrom, der irgendwelche besonderen, sicherlich sehr notwendigen und gediegenen „Federn" des allen Motors umspült, die mich - leider! - zu meiner Schande an die Schaufeln einer simplen Wassermühle erinnert haben. Bei elektrischer Beleuchtung scheint das Wasser, das am Boden der Turbine dahinfließt, unbeweglich zu sein, wie Mondlicht auf der Diele.
Zum Glück ahnte Alexej Alexejewitsch nichts von meinen unsachlichen, höchst laienhaften Eindrücken und führte uns stolz zum eigentlichen Herz des Hochofens. Das ist eine Sträflingsarbeit: In dem Kessel, der bis an den Rand mit Erz, Kohle, wieder Erz und noch einmal Kohle gefüllt ist, über dem Riesentiegel, aus dem Hitze, Rauch und Flammen wie eine Säule emporschlagen und dann durch die Gichtöffnung (Haube, Rohr, Esse - Alexej Alexejewitsch, verzeihen Sie, aber so wird es verständlicher sein) entweichen, schütten Arbeiter ununterbrochen Zentner und Tonnen an Erz und Brennmaterial nach. Gleichsam an einer beweglichen eisernen Schulter angehängt, wandert eine große Schaufel über der Flamme von einem Haufen zum anderen, hält überall bettelnd die Hand hin und sammelt von allen Seiten eiserne Almosen. Die Kohle nimmt im aufgehängten Kübel Anlauf und stürzt sich, von einem Funkenschwarm umgeben, in die Flammenschlucht - eine unbescheidene, effekthaschende Selbstmörderin. Nur auf ausdrückliche Anweisung des Obermeisters werden Flussmittel zugesetzt - besondere chemische Mischungen, die das Erz reinigen. Sie schwären gleichsam im Feuer; diese reinigenden Elemente ziehen das ganze kranke, eifrige Blut des Metalls, Asche und schädliche Beimischungen zusammen, verbinden sich mit allem, was an der Schmelze das Schlechteste ist, und wallen auf, bevor das Roheisen reif ist. Man lässt sie zusammen mit dem brodelnden Abschaum hinaus, sie nehmen ihn mit und opfern dabei gleichsam ihr selbständiges Dasein.
Auf der heißen Asche erkaltet diese Lava, wie rote aus dem Kessel gefallene Eingeweide der Flammen. Am Ofen herrscht tropische Hitze. Doch die Rücken der Arbeiter sind eisiger Zugluft ausgesetzt. Die feuchten Hemden dampfen. Die Gesichter sind schweißüberströmt, der Körper löst sich bald in unerträglicher Hitze auf, um gleich danach zu frieren und zu beben, wie nach einem langen, kalten Bad. Was für den Hochofen gut ist - das Eisenhemd, das von außen ständig eine kalte Dusche erhält - ist todbringend für die Arbeiter.
Bezahlt wird diese Arbeit nach der 4., 5. und 6. Kategorie mit einem Zuschlag, das heißt jämmerlich, und dennoch habe ich in keinem der Werke, die ich bislang besucht habe, eine solche tief bewusste Einstellung zu der harten Politik kennen gelernt, die der Arbeiterstaat jetzt betreibt gegenüber seiner herrschenden Klasse, die zur Sträflingsarbeit verurteilt ist, bis die Wirtschaft in Gang kommt. Die Arbeiter begreifen sehr wohl, dass dank ihrem knappen Lohn, um den Preis der immer stärkeren Intensivierung ihrer Arbeit die klaffenden Löcher im Haushalt gestopft werden, der Mangel an Geld und produktionsverbilligender Ausrüstung wettgemacht wird.
Auf ihre Kosten, durch ihren Schweiß und ihre Arbeit wird das Eisenmetall verbilligt. Die Produktivität des einzelnen Arbeiters hat vielerorts, darunter auch in Bilimbai, den Vorkriegsstand erreicht und sogar überschritten. Wie, um weichen Preis? Die Belegschaften sind doch kleiner geworden. Wo früher drei gestanden haben, arbeitet heute einer. Die Anlagen sind in zehn Jahren abgenutzt worden, ihre Leistungen mussten sinken. Der Knüppel, mit dem früher der „Mehrwert" herausgeschlagen wurde, ist nicht mehr da. Die Bergwerke sind erschöpft, das Erz ist minderwertiger, indessen schnauft der alte, schiefe Samowar von Bilimbai aus den staubigen Nüstern seiner Gebläseanlagen (eine davon, eine ganz alte, eine liegende Mammutkuh, ist ganz außer Betrieb), hantiert mit den Ofentüren und beobachtet durch diese den Strom der vom Hochofen eingeatmeten und ausgeatmeten Gase, die sich nur aus Achtung vor unserer Arbeitsdisziplin nicht zum Ausgang stürzen - und dieser Bilimbaier Samowar hat nicht nur seine „Quartalsauflage" erfüllt, er hat es fertig gebracht, eine Metallausbeute von 46,47 Prozent statt der geforderten 46 zu bringen. Technische Verbesserungen? Ja, zum Teil. Aber in weitaus stärkerem Maße - unerhörter Mut der Arbeiter, die trotz aller Proteste und aller Unzufriedenheit Russlands Karren aus dem ökonomischen Dreck ziehen. Und man darf nicht vergessen, dass diese Leistung mit hungrigem Magen vollbracht wird. Man isst nicht mehr Melde und Brennnesseln wie in den Jahren 1919/1920, aber Fleisch bekommen die Arbeiter monatelang nicht vorgesetzt.
Eines fragen sie, wenn sie den Hammer, die Brechstange, die riesige Zange für einen Augenblick aus der Hand legen und sich mit dem kohlebestäubten Ärmel über die Stirn wischen: „Wird's bald?" Was antwortet man ihnen?
Inzwischen rückt die Stunde des Abstichs heran, die sich Tag für Tag wiederholt, aber nichtsdestoweniger im Werk immer Freude und Unruhe auslöst. Mit einer besonderen, ihm allein eigenen majestätischen Ruhe fließt das glühende Roheisen in die bereitgestellten Masseln, füllt sie Wabe um Wabe und überzieht sich langsam mit dem ersten purpurnen Schatten.
Die Arbeiter treiben das Feuer zu ihren Reihen oder versperren ihm ein anderes Mal wieder den Lauf. Sie gleichen Spielern, die auf dem Spieltisch mit den langen Rechen Ströme flüssigen Goldes einsammeln.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur