AUS DEM ZYKLUS FRONT
KASAN
Die Stadt ist noch nicht genommen, aber die Niederlage ist schon besiegelt. Die Türen der verlassenen Räume knallen zu, überall auf dem Boden - Papierfetzen, die verschiedensten, wahllos durcheinandergeworfenen Sachen.
Nichts ist schlimmer als der Rückzug. Aus allen Winkeln tauchen unmerklich die Gesichter von Nachbarn auf, die man monatelang nicht gesehen hat.
Knöpfe in verblichenem Glanz, Dinge, die wie Kokarden aussehen, sogar wie Ordensbänder - aber alles noch versteckt, im Dunkel der sich leerenden Korridore, alles bei Menschen, die noch nicht wagen, ihr feiges und wildes „Fass ihn, fass ihn!" auszurufen. Vor dem Hauseingang: dunkle Umrisse vorüberziehender Batterien, staubige, verbissene, böse Gesichter, schrille Rufe; irgendwo dröhnen Räder übers Pflaster, Pferdehufe klappern. Der letzte Widerstand wird vorbereitet. Die Fensterscheiben klirren von den schweren, vorüberjagenden Lastautos, ihre lärmende Flucht tötet die letzte Hoffnung... schrecklich. An den Türen, an denen noch weiße Schilder unnötig schimmern - „Organisationsabteilung", „Sekretariat" - nehmen einige Frauen von ihren Nächsten Abschied, und hinter ihnen drein fegen freche Diener den revolutionären Schmutz von den roten Läufern. Der Staub fliegt, Bürsten scheuern herausfordernd. Hier steckt die Bitterkeit, der Dreck des Misserfolgs - in dem Besen eines Lakaien, der unsere frischen Spuren auf die Straße hinausfegt. Seltsam, dieses Gefühl: an unbekannten Häusern mit festverschlossenen Türen und Fenstern vorüberzugehen; zu
wissen, dass man dort hinter den Mauern dieses verfluchten Hotels bis zum letzten kämpfen wird.
Einige werden gewiss umkommen, einige werden sich retten, andere wird man gefangen nehmen. In solchen Augenblicken vergisst man alle Worte, alle Formeln, die uns helfen, die Geistesgegenwart zu bewahren. Es bleibt nur das spitze, schneidende Gefühl des Grams und darunter, ganz in der Tiefe, kaum spürbar - dasjenige, „in dessen Namen" man flüchten oder bleiben muss. Das tränenschwere Herz wiederholt immer wieder: man muss ruhig fortgehen, ohne Panik, ohne erniedrigende Eile.
Aber wenn ein Geschoß zuerst vorüberfliegt, in die sumpfige Wiese am Kreml, und dann schon in das Stabsgebäude, wo sie sich noch aufhalten, sie, die letzten, die fortgehen werden, wenn man nicht mehr fortgehen kann, da geht jede Haltung zum Teufel, es zieht einen unwiderstehlich zurück.
Ich bin unter den Kleidern mit Papieren, Stempeln und mit noch etwas sehr Geheimem behängt, was ich mitnehmen und dem ersten Stab, dem ich begegne, übergeben soll. Ich drehe mich nicht um, wenn Geschosse pfeifen - sie schlagen immer häufiger in das weiße Gesims des „Sibirischen Hotels". Ich versuche, nicht mehr an die Hausdiener zu denken, nicht mehr an die Staubwolken, die ihre Besen aufwirbeln, nicht mehr an das Panzerauto und an den entsetzlichen, aufgeweichten Weg, den es passieren - oder nicht passieren? - wird.
Neben mir flüchtet eine Familie mit Kindern, Pelzen und Samowaren; etwas weiter vor mir zerrt ein Weib eine Ziege am Strick hinter sich drein. In ihren Armen liegt ein Kind. Wo man auch hinblickt, längs dieser goldenen Herbstfelder, ein lebendiger Strom von armen Menschen, Soldaten, mit Hausrat beladene Fuhren, Handwagen, mit Pelzen, Bettdecken, Geschirr. Ich erinnere mich, um wie vieles leichter es in diesem lebendigen Strom hätte sein können. Wer sind diese Flüchtlinge? Kommunisten? Wohl kaum. Das Weib mit der Ziege hat gewiss kein Parteibuch. Bei jedem Schuss, bei jedem Ausbruch des panischen Schreckens, der die Menge aufrüttelt, bekreuzigt sie sich in der Richtung jedes sichtbaren Kirchturms. Es ist einfach das Volk, die Masse, die sich vor ihren alten Feinden rettet. Ein ganzes Russland, das mit seinen Habseligkeiten auf den Schultern auf dem schlammigen Wege vor den tschechoslowakischen Befreiern flieht (Anm.: Gemeint sind die ehemaligen kriegsgefangenen Tschechen und Slowaken, die nach dem Ende des ersten Weltkrieges in Russland geblieben waren und mit Hilfe der Sozialrevolutionäre und der Entente von Mai bis November 1918 einen konterrevolutionären Aufstand machten.).
Draußen hinter der Stadt wurde der Strom der Flüchtlinge seichter. Aber noch immer gingen Frauen und Kinder mit ihren Wagen weiter, ohne zurückzublicken, ohne auf den Weg zu sehen, getrieben von einem gewaltigen sozialen Instinkt. Vereinzelte Menschen schritten ohne Hut und Mantel, einige mit krampfhaft unter dem Arm festgehaltenen Aktentaschen schlugen in strömendem Regen Seitenpfade ein oder gingen geradewegs über schmierige Felder, stolpernd, fallend, sich wieder erhebend, bis sie zur Nacht in entfernten Dörfern eintrafen.
Der leichte Sommerregen wurde zu einem Platzregen, die Felder wurden schwarz, unbeschreiblich schwer. Eine aufgequollene blaue Wolke hing über dem jetzt schon besetzten Kasan. Der Geschützdonner verstummte, und unter dem Gewitterhimmel begannen lautlos Brände aufzuflammen, fernes Wetterleuchten. Gelangweilt flog eine Schar Krähen nach dem Vorwerk.
Wie lange wir gegangen und wohin, das weiß ich nicht mehr. Aber es ging immer über aufgepflügte Felder, über nassen Lehm, der jeden Schritt festhielt, es ging, wie wir glaubten, in der Richtung auf Swijashsk. Bei der Flucht, zu mal in den ersten Stunden, hängt vieles von dem dumpfen Instinkt ab, der uns zwingt, von drei Dörfern gerade dieses eine zu wählen, von mehreren Wegen gerade diesen und nicht die anderen beiden. Alle Gefühle spitzen sich zu - der Blick eines Fußgängers, die Silhouette eines Bauern, das Bellen eines Hundes -,alles nimmt die Färbung der Gefahr oder des zuversichtlichen „Es wird schon gehen" an.
Allen anderen voran marschierte mit bloßem Kopf, in einer durchnässten, fatal anständig aussehenden Jacke ein verantwortlicher Parteiarbeiter, der Genosse B. Dieser verstand nichts von den geheimnisvollen Wegweisern unserer Flucht - er sah schlecht und überlegte schlecht. Er hätte sich am liebsten hingelegt und geschlafen - nach den letzten krampfhaften Nächten in der Stadt. Ein kleiner Matrose führte uns. Mit seinen ein wenig krummen Beinen schritt er fest und sicher durch den Lehm, der Regen hinderte sein einziges munter leuchtendes blaues Auge nicht am scharfen Sehen, überhaupt, man fühlte sich ruhig mit ihm. Nachdem er mit der „Aktentasche", die, von Wind und Müdigkeit getrieben, kopflos vorwärts steuerte, eine Weile gestritten hatte, machte er eine scharfe Wendung nach links und zwang uns so, einen weiten Umweg um das erste Dorf zu machen: Wir stießen bald auf eine im Dunkeln schimmernde Chaussee, auf welcher wir nun ohne Zögern zum zweiten Dorf gelangten. Unser Kommandeur hieß uns „vor Anker gehen", ging ein Stück Weges allein weiter und klopfte an die Fensterscheibe eines dunklen Hauses.
Wir schliefen auf dem Fußboden; es war ein Genuss, die durchnässten, schweren Stiefel von den Füßen zu ziehen. Weiches Heu, menschliche Wärme, das Licht einer heiligen Lampe in der Ecke. Und im Halbschlaf, der alle giftigen Gedanken zur Ruhe brachte - ein Stück warmen, schwarzen Brotes. Am Morgen stellte sich heraus, dass das ganze Zimmer voller Flüchtlinge war, aber das wollte niemand eingestehen. Es begann eine Hetze, jeder verteidigte sich, wie er konnte, und suchte seiner Flucht diese oder jene Deutung zu geben. Unser „Verantwortlicher" oder unsere „Aktentasche", wie wir ihn auch noch nannten, beschloss, mit der Naivität eines echten Städters und Intellektuellen, sein Inkognito zu wahren. Sein schöner Hut war plötzlich verschwunden und machte einer wild aussehenden Mütze Platz, in der die „Aktentasche" auf einmal das Aussehen eines Sträflings bekam. Der Wirt unserer Herberge war ein Dorfschullehrer. Er hätte sehr gern den Siegeston angeschlagen, aber der Besiegten waren so viele, und sie sahen so finster drein, dass er sich darauf beschränkte, ihnen gute Lehren zu erteilen. Im großen und ganzen war er ein guter Mensch, er gab uns allen zu essen, ohne etwas dafür zu verlangen, und wies uns ohne jede Tücke den Weg nach Swijashsk. Er begleitete uns sogar bis zu dem Fußpfad - mit hitzigem Armfuchteln und vielem Gerede: Wir diskutierten ein wenig über die konstituierende Versammlung. Dieser Pfad, den der Lehrer uns führte, hat uns gerettet; Auf der großen Landstraße, die die meisten eingeschlagen haben, warteten bereits Posten im Hinterhalt. Swijashsk? Warum gerade Swijashsk? Der Name dieser kleinen Station am Wolgaufer, die in der Folge bei der Verteidigung und Rückeroberung von Kasan eine so große Rolle gespielt hat, weil sich dort die Kerntruppen der Roten Armee formierten, dieser Name ist bei der Flucht aus Kasan irgendwie im Gedächtnis geblieben; man wiederholte ihn, erinnerte sich seiner, als Rückzug und Panik ihren Höhepunkt erreichten.
Hatte der Armeestab gerade Swijashsk als Basis für die Verteidigung bestimmt, oder der Instinkt der Selbsterhaltung diesen Namen in die flüchtende Menge geworfen -jedenfalls strebte die Woge der Flüchtenden diesem Orte zu.
Der Bürgerkrieg spielt sich fast immer nur auf den großen Straßen ab. Man braucht nur einen Landweg, einen Feldpfad einzuschlagen, der zwischen saftigen Weiden und braunen Garben führt, und man ist sofort mitten im Frieden, im Herbst, in der durchsichtigen Stille der letzten Sommertage. Wir gehen barfuss, Stiefel und Brot hängen an einem Stock über der Schulter. Der Matrose hat irgendwo eine lange Hirtenpeitsche gefunden, und er knallt mit ihr so unbarmherzig hinter dem Rücken der „Aktentasche", dass diese jeden Augenblick zusammensinkt und nahe daran ist, in Tränen auszubrechen. Ja, es muss zugestanden werden, unser Genosse B. war keiner von den ganz Mutigen. In den Dörfern kehrten wir fast gar nicht ein, und wenn, so doch meistens bei den Sektenmitgliedern: dort war es sauberer, die Bauern sympathisierten mit uns, die Milch war so fett wie im Himmelreich und die Frauen so frisch wie Wabenhonig. Die Angehörigen von Sekten haben uns niemals verraten und nie hungrig von dannen gehen lassen.
Am dritten Tage wären wir übrigens beinahe in eine Falle geraten. Unsere „Aktentasche" verletzte sich den Fuß, war müde und jammerte; meine zwei Kameraden - zwei Matrosen - waren so erschöpft von dem langen Laufen auf dem Trocknen und vom Staubschlucken und dem Spiel als Zivilisten, dass ihr vereinigtes Gejammer sogar den Widerstand Mischkas (unseres einsichtigen Führers) brach. Er gab ihnen nach, und wir kehrten in ein Dorf ein, nachdem wir es ein wenig ausgekundschaftet hatten. Anfangs ging alles gut: kühle Holzstufen am Hause, auf denen es sich gut sitzen ließ, hartgesottene Eier, Tee, Gurken und ein sich vollkommen neutral verhaltender Wirt. Und plötzlich, wir fangen gerade an, in gute Stimmung zu kommen, taucht von irgendwoher ein Herr im blauen Kaftan und rotem Gürtel auf, mit einem Bart „à la russe" - etwas von der Art eines ausgedienten Landpolizisten oder eines kriegerisch veranlagten Gutsbesitzers. Unser Wirt warf ihm einen kurzen Blick zu und wurde auf einmal noch grauer und schweigsamer. Der Blaue betrachtete lebhaft interessiert die „Aktentasche" mitsamt ihrer Aktentasche, unseren Mischka, der in aller Ruhe seinen Tee trinkt, und die beiden, sehr wohlanständig und sogar sehr friedlich aussehenden Matrosen. Und es beginnt ein ganz harmloses und ruhiges Gespräch.
„Sie sind wohl aus Kasan, Flüchtlinge?" Unser Führer antwortete für alle: „Nein, wir suchen einen angenehmen Landaufenthalt. Ein Häuschen mit einem guten Ausblick auf den Fluss und überhaupt mit allen Bequemlichkeiten. Können Sie so etwas empfehlen?" Unser „Ältester" hat ein unrasiertes, wild dreinblickendes Gesicht, er ist ein Vollblutsüdländer, schwarz, immer munter und tollkühn.
Der Blaue kichert: „Ach was, meine Herrschaften, lassen Sie doch die Komödie! Man hat Sie wohl aus Kasan vertrieben? Tüchtig vertrieben, was? Dieser Genosse da hat sogar seine Aktentasche in der Hast mitgenommen. Sie sind wahrscheinlich von den Unsrigen?" Und er zwinkert mit den Augen.
Mischka schlägt eine Volte. Er beginnt zu schildern, welche gewaltige Unterstützung die Rote Armee erhalten hat: „Stellen Sie sich vor, zwanzigzöllige Geschütze aus Kronstadt, Lyditbomben - alles - in zwei, drei Tagen... " Auf einmal wirft er einen scharfen Blick auf unseren Wirt, von diesem nach der Seite - in die Steppe: weit, sehr weit sieht man dunkle Punkte, die schwarzen Piken der Kosaken heben sich gegen den Himmel ab. Der Blaue fährt auf, aber Mischka greift lächelnd in seine Tasche, und wir alle (die „Aktentasche" natürlich an der Spitze) ziehen uns so schnell durch den Garten in das nächste Feld zurück, dass er nicht dazukommt, etwas zu unternehmen. Den Rest des Tages verbringen wir schlafend zwischen goldenen, heißatmenden Garben unweit des Weges. Einige Male reiten Kosaken vorüber, und dann weckt Genosse Mischka die „Aktentasche", damit sie nicht gar so laut schnarche. '
Irgendein Dorf - in dunkler stürmischer Nacht. Endloses Wetterleuchten, knarrende Wagenräder, unruhiges Wiehern der Pferde.
Handlaternen hüpfen im Dunkeln. Erschöpft, vom Wege abgeirrt, erreichen wir den Train einige Minuten vor seinem Abgang. Wohin - nach Swijashsk. Hier ist ein Teil des Stabes, einige übrig gebliebene Truppen, Vertreter der politischen Abteilung. Man erkennt uns. Jemand kommt auf uns zu, betrachtet uns im flüchtigen Schein seiner Laterne...
Die ganze Nacht ziehen die Wagen auf dem durchweichten Wege vorüber, unter strömendem Regen, unter fortwährendem Aufflammen blauen Lichtes. Einer ist stecken geblieben - ein Befehl geht von einem Trainsoldaten zum nächsten: der ganze Zug hält. Laternen hüpfen, man hört das schwere Seufzen des im zähen Sumpf stecken gebliebenen Pferdes, aufklatschende Schritte - es geht wieder weiter. Der Regen prasselt, dumpf knarrt der Fichtenwald, und bei jedem Wetterleuchten sieht man einen Bauern, der die dampfende, vor Müdigkeit zitternde Flanke seines Pferdes stützt, und irgendein weißes, schläfriges Gesicht, nass vom Gewitterregen. Dann erlischt es. Es hat keinen Zweck, den Morgen des nächsten Tages ausführlich zu beschreiben: Er ist wie alle anderen Tage des Rückzugs. Gelegentliches Einschlummern an einem feuchten Heuschober, Schmerz in den wundgelaufenen Füßen, unermüdliche Scherze der Soldaten, besonders wenn sie auf der Feldküche sitzen: ein Ruheplatz, der der Reihe nach eingenommen wird. Hoch aufgerichtet, tief in Gedanken versunken, geht schweigsam die Frau des Genossen Scheimann. Sie sieht nichts, sie hört nichts, spricht mit keinem Menschen. Ihr Kopf im weißen Tüchlein schwebt auf dem Hintergrunde der toten Herbstfelder. Sie weiß noch nicht gewiss, ob er lebt oder tot ist, aber eine Ahnung nimmt immer mehr von ihr Besitz, man kann sehen, wie sie sie immer härter und grausamer packt. Die versteckte, auf ihr lastende Angst macht die anderen bedrückt. Endlich - Wolga, Überfahrt, eine Bahnstation, schwerer Schlaf auf dem Fußboden eines kalten, rissigen Güterwagens. Noch vierundzwanzig Stunden verloren auf nassen, öden Landstraßen. Morgens Stocken, Knarren der Räder, endlich das lang erwartete, ersehnte rasselnde Zucken der Wagen - eine Stunde später sind wir wirklich in Swijashsk. In der Kommandantur - ein Gedränge, ein Hin- und Herfragen... Dann: das steinerne, blutlose Gesicht der Frau des Genossen Scheimann. Ihr Mann ist also wirklich tot. Mischka und ich beschließen, nach Kasan zurückzugehen. Genosse Bakinsky schreibt einen Passierschein auf einen winzigen Fetzen Zigarettenpapier. Und listig mit den blauen Augen zwinkernd: „Geht" - sagt er - „zum Kommandeur des lettischen Regiments, er wird euch gewiss zwei Pferde bis zur Front geben. Von dort müsst ihr schon zu Fuß weitergehen." Und wirklich, die Letten halfen uns aus... Man gab mir Mantel, Hosen, Stiefel, führte zwei Kavalleriepferde vor, aber mein Gott, wie soll man sich auf dieses wilde Biest setzen? Von rechts oder von links, und was macht man dann mit den Beinen und mit den, nicht ohne boshafte Absicht angeschraubten mächtigen Sporen? Wir reiten im Schritt - es geht. Dann im Trab -Angst und Schrecken. Und wir haben vierzig Kilometer vor uns.
Am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit dem roten Fuchs begann unsere zärtliche Freundschaft, die im ganzen drei Jahre dauerte. Weit hinter der Wolga, dicht am Eisenbahndamm, wird das Pferd plötzlich unruhig. Ich gebe ihm einen Schlag mit der Gerte: die nervösen Ohren zittern, das heiße Auge schielt mich an - es geht nicht vom Fleck. Auch die uns begleitenden Kavalleristen machen halt und lachen mich aus. Und plötzlich erheben sich unmittelbar vor uns nacheinander drei Säulen aus dem Boden, drei staubige rote Donnerschläge: drei Tote. Wir bogen in den Wald ein.
Es gab hier viele verwundete Bäume, mit einem sonderbar kreischenden Geräusch fielen die Geschosse ins Dickicht.
Die Bäume stehen still da, wie zum Tode verurteilt, erstaunlich still und gerade. Und ebenso still liegen die Menschen auf einer kleinen Waldwiese unter roten, duftenden Fichten. Die Soldaten und zwei Kommandeure neben ihrer verstummten, lauernden Batterie. Sie waren gerade beim Mittagessen. Im glutheißen Rasen dampften die Suppenschüsseln, zwei und drei Menschen aßen zugleich aus einer Schüssel. Sie fragten uns, aus irgendeinem Grunde flüsternd, als fürchteten sie sich, die kleine Waldwiese zu verraten, nach unseren Passierscheinen und boten uns dann an, an ihrem Mittagsmahl teilzunehmen. Es ging ein komischer Geruch von ihrer Suppe aus: sie roch nach Kohlbrühe und Walderdbeeren, die allenthalben zwischen dem dünnen, trockenen Lanzengras hervorleuchteten. In der Stille, als irgendwo draußen, weit hinterm Walde, ein schwarz verräucherter und fast tauber Artillerist mit Hilfe - einiger Zahlen und seines tierischen Instinkts unseren dunkel geahnten Zufluchtsort suchte - in der Zwischenpause, als die an ihren Fleck gefesselten Fichten Atem holten -, hörte man irgendwo in unserer nächsten Nähe das unschlüssige Trillern eines Waldvogels - es wird wohl eine Meise gewesen sein. Ein Triller, ein zweiter, und es wird wieder still. Die Soldaten hören auf zu essen und horchen aufmerksam in den Wald. Der eine setzt eine geschäftig rennende Ameise auf seinen Löffel und betrachtet sie mit schwerer, konzentrierter Aufmerksamkeit. Und alle fühlen sich leichter, als wieder ein unsichtbares Geschoß heulend über unsere Köpfe fliegt und im Dickicht krepiert, weiße, harzige Späne der zerschmetterten Fichten um sich sprühend. Nicht erwischt, vorbei - und alle Löffel sind wieder in der Suppe.
Wir reiten weiter durch den verzauberten, toten Wald, bis am Waldsaum große, verlassene Sommervillen auftauchen. Hinter den Häusern liegt der Eisenbahndamm -er sieht seltsam aus. Einzelne Waggons stehen zu zweit, zu dritt, weit voneinander entfernt, als ob sie miteinander „Zauberer" spielten, als wenn man sich nur abzuwenden brauchte, damit sie wieder weiterlaufen, um dann, beim ersten Blick, den man ihnen zuwirft, wieder wie überrascht in ungeschickten Stellungen stehenzubleiben. Hier und da liegen tote Pferde, und dieser ganze öde, verlassene Ort wird nur von Zeit zu Zeit von einfallenden Geschossen belebt. Der Stab ist in nächster Nähe, in einer Villa an der Bahnstation. Ungefähr eine Stunde, nachdem wir sie verließen, fand ihn eine entfernt liegende Batterie: einer unserer besten Kommandeure, Genosse Judin, kam dabei ums Leben. Aber als wir dort waren, kurz vorher, lebte er noch, hat uns empfangen. Und in den letzten Stunden seines gesteigert pulsierenden, bis zum Platzen gespannten Lebens füllten wir einige rasche, sachlich-herbe Minuten aus. Er prüfte unsere Papiere, ließ sie vor sich auf dem Tisch liegen, ließ uns Essen und Betten geben. Und während wir uns erholten und Tee tranken, rief im Nebenzimmer (diese Sommerhäuser sind leicht gebaut) jemand telefonisch den revolutionären Kriegsrat in Swijashsk an: „Kennen Sie eine Reisner?... Ja, Reisner? Sie haben ihr den Passierschein gegeben? Ja? Es ist gut... Ja, wir dachten... Na ja... bleiben Sie gesund! Schluss."
Der Mensch, der in irgendwelchen Geschäften in eine Bank gerät, fühlt sich anfangs immer als Dieb. Gitter, einbruchssichere Schränke, dicke Kassenbücher, tadellos gebohnertes Parkett - diese ganze vergitterte Höflichkeit schnappender Schlösser vermutet in jedem Besucher einen Einbrecher und Gauner. Und in dem Augenblick, als das Telefon sich über eine gewisse R. erkundigte, kam mir auf einmal in den Sinn, dass mein ganzes Benehmen verteufelt unglaubwürdig und das Äußere verdächtig sein müsse. Der Teufel hol's, und die Stimme? Ich sagte laut vor mich hin: „Ich gehe nach Kasan mit einem geheimen Auftrag" - eine fremde, falsche Stimme, es ist doch klar: eine Spionin. In der Abenddämmerung kam Genosse Judin zu uns ins Zimmer. Sein Gesicht war fast gar nicht zu sehen, aber die ganze Gestalt - die groben, weiten Gallifethosen, die Sporen, die gelassen in den Taschen ruhenden Hände -machte einen freundschaftlichen Eindruck. Nachdem er uns noch ein wenig ausgefragt hatte, riet er uns, die Reise sofort fortzusetzen, wenn wir nun einmal ein so verdammt dummes Unternehmen begonnen hätten. „Leben Sie wohl, ich hoffe, wir sehen uns noch." Er drückte uns fest die Hand und mochte sich dabei gedacht haben, dass wir diesen Wald wohl kaum lebendig verlassen würden. Der hinter seinem Rücken stehende Tod lächelte zynisch in die Finsternis hinein.
Ich prüfte trübselig meine riesigen Stiefel und Hosen und bemerkte dabei, dass auch der kleinrussische Rotarmist, der uns den Tee brachte, mein Äußeres nicht minder interessiert betrachtete: „Genosse Madame, lass uns tauschen: du gibst mir deine Montur und ich dir richtige Frauenkleidung - mit Falten und Federn." Und er brachte von irgendwoher, vom Dachboden wahrscheinlich, ein elegantes Pariser Korsett, tadellose Hosen eines Kammerherrn und, zu meinem Glück, ein dunkles Damenkostüm. Das Gold des Kammerherrnrocks funkelte bald auf dem mageren Gesäß eines Botenjungen, das rosafarbene Korsett gefiel einem Rotarmisten so sehr, dass er es anprobierte, während Mischka und ich aus dieser Maskerade als dermaßen anständige Bourgeois hervorkamen, dass schon der nächste Wachposten uns trotz aller Parolen, Dokumente und Passierscheine glattweg verhaftete. Der wütende Mischka wurde unter Begleitung zurück zum Stab befördert, und als er endlich wieder da war, war es schon ganz finster geworden. Zum Abschied gab uns der Posten einen guten Rat - dem Eisenbahndamm sorgfältig fernzubleiben und den Weg durch den Wald zu nehmen. „Hier aber" - die Schienen leuchteten unangenehm aus der Dunkelheit -„wird man euch im Handumdrehen niederknallen." Einige Stunden stillen Waldwegs. Wir begegneten unterwegs einer Patrouille - zwei Kavalleristen. Im Dunkeln jagten wir einander einen großen Schreck ein. Wir unterhielten uns ein wenig, genossen die Wärme des menschlichen Gespräches, dann ging es weiter. Der Wald kühlt die Müdigkeit, die vom Gehen ermatteten Füße wie ein großer schwarzer See. Ich erinnere mich noch an die Sterne, an die Angst vor der Finsternis, die Angst, ohne ein Zuhause zu sein, ohne ein Bett, ohne ein Morgen. Im allgemeinen das unangenehme Gefühl des Städters, dem die Landstraße fremd ist. Auf einem Pfade gelangten wir zu irgendeinem Dorfe. In der Nähe eines Hauses - verzweifelte weibliche Hilferufe: Im Badehause, auf dem nackten Boden lag eine junge Kirgisenfrau den dritten Tag in Wehen und konnte nicht gebären. Das Klopfen an die Tür, die neuen Gesichter, die Berührung unbekannter Hände, alles das hat vielleicht ihren Nerven, ihrem Lebenswillen aufgeholfen - ein furchtbarer Krampf erlöste sie von dem Kinde. Und sich sofort beruhigend, hielt sie mich bei der Hand, murmelte unter ihren schweißfeuchten Haarflechten fremde, gutturale, einschläfernde Worte.
So schlief sie auch ein - ohne ihre heißen, wie Vogelfüße trockenen Finger zurückzuziehen.
Kurz und gut - der kleine Kirgise hat mich meinen Unterrock gekostet, und in meinem seidenen Taschentuch reiste er in die Kirche, zusammen mit irgendwelchen für alle Fälle von der Mutter mitgenommenen heidnischen Gottheiten. Aber auf den Besuch der Kirche haben wir verzichtet. Der Pope, duldsam gegenüber den alten heidnischen Göttern, konnte in den plötzlich aufgetauchten Paten weit gefährlichere dämonische Kräfte entdecken. Nach der Taufe schlug der glückliche Vater in seiner Dankbarkeit vor, uns mit seinem eigenen Pferde nach Kasan zu bringen.
„Ich sehe schon, ihr seid gute, anständige Leute. Ich kenne Gott sei Dank die Welt und weiß, was sich gehört." „Und wenn man uns anhält, was werden Sie ihnen sagen?" „Ich werde ihnen sagen, dass die Herrschaften Sommergäste sind und nach Hause fahren. Man kennt mich ja, man wird mir's schon glauben."
Und wirklich fuhr uns der Wagen des Kirgisen eines warmen, taufrischen Morgens durch stille Waldwege. Radspuren, vom leuchtenden Waldgrün bewachsen, helles Trommeln der Spechte, ein Duft von Harz und Walderdbeeren. Und von Zeit zu Zeit kreischende Geschosse, durch die klare Morgenluft über unsere Köpfe hinwegjagend. Über den Wald feuerte die schwere Artillerie. Die russische Provinz ist im allgemeinen armselig, hässlich und langweilig. Alle ihre Städte und Flecken sehen sich ähnlich wie alte Semmeln. Aber unter ihnen ragt Kasan doch als besondere Missgeburt hervor. Das einzige, was einen gewissen Stil und architektonischen Charakter hat, ist der alte Turm Sumbeki. Verglichen mit diesem rein tatarischen Denkmal des Altertums, trägt alles andere einen mehr als mongolischen Stempel. Wassermelonen, Staub, Bretterzäune, Häuser, in denen es außer Schildern und Auslagen nichts gibt. Und ein Pflaster - aus versteinerten Hühneraugen und granitnen Geschwülsten... Keine einzige Patrouille hat unseren Wagen angehalten, und wir fuhren in die Admiralitätsvorstadt ein - unsern eigenen Augen kaum trauend, so unwahrscheinlich kam uns der Erfolg vor, obwohl die unwiderlegliche Hässlichkeit der Straßen und Häuser uns von allen Seiten eilig davon zu überzeugen suchte, dass es kein Traum, sondern zweifellos das schiefäugige, vom weißgardistischen Fieberwahn erfasste Kasan ist.
„Wohin bringt Ihr uns, Gevatter - wisst Ihr, wo wir unterkommen können?"
Der Kirgise wandte uns sein munteres, listig lächelndes Gesicht zu.
„Das weiß ich schon - ihr habt ja Ruhe nötig. Ruhiger werdet ihr es nirgends haben - ich bringe euch zum Polizeiwachtmeister. Er ist ein guter Mann, verlässlich und wohlwollend. Er und ich sind gute Freunde." Und er klatschte zufrieden mit der Leine auf den dicken Rücken des kleinen Pferdes.
Mischka und ich sahen uns an. Der Gevatter hat es wirklich gut gemeint, das muss man ihm lassen. Und ausgerechnet ein Polizeiwachtmeister!
Der Wagen bog in eine staubige, breite Vorstadtstraße ein. Durch die Ritze des hölzernen Bürgersteiges schossen einfältige Grashalme hervor; einstöckige Holzhäuschen, Hoftore mit geschnitzten Hähnen und unerträglichem Knarren, mit grünen und weißen, immer schläfrigen Fensterläden. Kurz, es war ein Gemälde von Kustodijew: tadellose Bläue des Kaufmannshimmels, mit Wölkchen wie der Dampf des Nachmittagssamowars, das Städtchen Okurow in seidenglänzenden, öligen, grellen Farben dieses Malers. Der pfiffige Gevatter machte vor einem aufgeputzten Häuschen halt, küsste uns zum Abschied und übergab Mischa und mich dem vor dem Hauseingang erschienenen Polizeiwachtmeister.
Eigentlich gerieten wir, Mischa und ich, in ein „Theater für sich". In den oberen Zimmern des Hauses, auf sauber gescheuerten, gewachsten, mit Läufern verzierten Dielen spielte sich eine dem Anschein nach ganz und gar harmlose, kleinbürgerliche Komödie (gegeben im Künstlertheater) ab: mit Geranienstöcken an den Fenstern, mit Heiligenbildern in der Ecke, mit Fotografien des Kreisgerichts über dem Schreibtisch. Unter den altmodischen Röcken und den hohen und engen Uniformkragen waren die hervorstechenden Augen, die breiten Backenknochen und die flache, mit Fliegenschmutz besprenkelte Stirn unseres Wirtes leicht zu erkennen. Wie es sich gehört, hatte der gemessene, mit einer gefälligen Stimme begabte, alle Menschen in gleicher und stiller Weise bedrückende Wachtmeister eine dürre, knarrende Frau mit einem glänzenden, von einer dünnen, öligen Haarschicht bedeckten, bösartigen Schädel. Ihr Töchterchen Pascha, ein rosafarbenes Mädchen, „alles in den Pfötchen und Äugelein, in den Äugelein und Pfötchen", verbrachte ihre Zeit damit, dass sie, ihre üppige Brust an das niedrige Fensterbrett lehnend, Sonnenblumenkerne knackte und die Schalen auf die wenigen Passanten hinabspie. Als sorgenlose Erbin des väterlichen Vermögens mischte sie sich in Politik nicht ein, und nur wenn die lauten, hysterischen Skandale zwischen ihrer Mutter und den Mietern der unteren Etage, des Kellers, gar zu arg wurden, kräuselte sie unzufrieden das rosafarbene Knöpfchen, das ihr den Mund ersetzte, und sagte: „Mamachen, wie sind Sie doch ungebildet, es ist unfein, so laut zu schreien." Unten, unter dem Wachtmeister, unter seiner gebohnerten Diele und seinen Geranien, wohnten als Schiafstellenmieter einige Arbeiter mit ihren Familien. Die Revolution unterbrach für eine Zeitlang das klare und einfache Verhältnis, das zwischen dem unteren und oberen Stockwerk ehedem herrschte. Und sogar Paschas Aussteuer geriet dabei in Gefahr. Die Wurzeln der Geranienstöcke (oder des Wachtmeisters), die ihren Lebenssaft wohlwollend und sogar patriarchalisch aus dem unteren Stockwerk zu beziehen pflegten, blieben auf einmal ohne Nahrung und empfanden sogar, dort unten - in den Tiefen - deutlich spürbare scharfe Zähne, die das weitere Gedeihen der Pflanze in Frage zu stellen begannen. Es ging so weit, dass einer der Untermieter, ein Arbeiter, die weiße, flaumige Ziege des Wachtmeisters für seine Kinder requirierte. Aber dann kam der Juli, und der liebe Gott mischte sich in die unsauberen menschlichen Händel ein. Recht und Gesetz sprangen aus dem Rahmen über dem Schreibtisch und schwangen die toten Gesetzestafeln: Die blühende Pascha war keineswegs beunruhigt und erstaunt, als man den ungemütlichen Bewohner des unteren Stockwerks, denselben, der die Ziege genommen, gebunden über die Straße führte; auch das fiel ihr nicht weiter auf, dass er nie wieder zurückkehrte. Alles kam wieder ins alte Geleise, und in dem Maße, wie die neue Regierung Arbeiterleichen zur Wolga hinabbeförderte, legten sich die alten, idyllischen Schatten über das Häuschen des Wachtmeisters. Mit friedlichem, glucksendem Behagen begann die ganze Familie wie in früheren Zeiten an den Nährquellen aus dem unteren Stockwerk zu saugen, wo man sich fürchtete, allzu laut zu weinen. Zu eben dieser Zeit, als das Gericht Gottes und auch der Tschechoslowaken in vollem Gange war, quartierten wir uns bei dem Wachtmeister ein. Anfangs schien sich dieser ein wenig zu genieren, wie ein Igel, der mitten am helllichten Tage beim Verspeisen eines lebendigen Frosches überrascht worden ist, und nach alter Igelgewohnheit dieses schmackhafte Gericht bei den zappelnden Hinterbeinen zu verspeisen begann. Aber nachdem er mit seinen Gästen Tee getrunken, auf Juden und Kommunisten geschimpft, hatte er sich von unserer guten politischen Gesinnung überzeugt und beruhigte sich völlig. Er war mäßig, auch im Genuss: nicht öfter, denn einmal in drei Tagen fuhr er in die Stadt, und dann wusste die ganze Straße, und auch „die von unten" wussten es sehr gut, dass „er" wieder in die Stadt gefahren ist, um einen von ihnen anzuzeigen. Abends kam die Polizei und holte den, der gerade an der Reihe war; oben trank man Tee, die Mutter spitzte die Ohren nach den von unten kommenden Geräuschen, der Vater sprach sehr lange und mit innerer Befriedigung davon, dass es auch ihm aufrichtig leid tue, dass er aber als Christ und Offizier nicht anders handeln könne usw. Wenn dieser Wachtmeister das schwarze Gift hätte sehen können, das seine Erörterungen in unseren Nerven verbreitete.
Pascha, ganz in rosa Musselin und mit einer Seele, die restlos in jenem wolkenlosen Himmel versank, wo papierne Täubchen und Vergissmeinnicht schwebten, füllte dem Lehrer, den man unten einfach „Freier" nannte, nicht ohne in diese evangelische Bezeichnung einen unaussprechlichen Hass gegen sein klägliches Bärtchen, seine Brille und überhaupt gegen seine ganze „Intelligenz" hineinzulegen, in aller Stille die sechste Tasse. Und wenn unten das lange zurückgehaltene Schluchzen endlich doch ausbrach, lachte Mamachen, während Papachen über den Rand seiner Brille und der Zeitung „Nowoje wremja" von 1911 hinweg erstaunte Blicke um sich warf. Pascha rümpfte ein wenig die Nase, obwohl der Lehrer ihr zärtlich erklärte, was eine Konstituierende Versammlung sei. Am nächsten Morgen nahm Mischa Geld und Papiere und ging in die Stadt, um sich Informationen zu verschaffen. Der Wachtmeister machte sich zu seinem gewohnten Rundgang auf, auf die Suche nach Waffen bei den Arbeitern, die Mutter stieg in die süße Hölle hinab, in das untere Stockwerk, um dort den bitteren, ätzenden Gram abzurahmen. Pascha machte sich an einen Roman, in dem der unvermeidliche Raoul vorkam, ich nahm die Zeitung vor, in der ich unter den Namen der Hingerichteten den einzigen mich interessierenden nicht fand. Auf diese Weise gaben sich alle Bewohner des Wachtmeisterhäuschens ihren verschiedenartigen Geschäften hin. Fette, schwarze Fliegen schlugen summend gegen die Fensterscheiben, alles versank nach und nach in tiefe Schläfrigkeit. Aber gegen zwei begann sich das Grollen der Geschütze, das am Tage vorher viel entfernter klang, der Stadt beträchtlich zu nähern. Im atlasblauen Kaufmannshimmel begannen, milchweißen Pleureusen gleich, Schrapnellwölkchen aufzutauchen und zu zerflattern. Unsere menschenleere Straße wurde vollends öde, die ihr eigene Schläfrigkeit verdichtete sich zu drohender Stille. Unten weinte und flüsterte man nicht mehr. Unten wartete man. Der Wachtmeister kam erregt nach Hause, und gerade beim Mittagessen, als er mitten in der ausführlichen Beschreibung der von ihm vorgenommenen Haussuchung war, platzte über seinem Dach die erste eiserne Nuss. Ein Schreck fuhr in die Familie, aber nach einer Weile verwandelte ein unüberwindlicher Wortschwall die Explosion der Granate in einen einfachen Zufall. Die von Angst gebeugten Disteln erholten sich wieder und richteten ihre stachligen Köpfe zum Himmel empor. Ich, als die „Frau eines Offiziers", musste noch einmal meinen Hausgenossen versichern, dass die Rote Armee vollkommen kampfunfähig sei: „Aber natürlich, das sind doch keine Truppen! Eine Bande, Gesindel, das bei dem ersten Schuss die Flucht ergreifen wird."
„Sie haben ganz recht, meine Gnädige!" Bums! - krepiert wieder ein Geschoß über unsern Köpfen. Mein Herz zittert von dem wilden Tanz der roten lustigen Teufel, während der Wachtmeister, seine strategischen Erwägungen auf ein andermal verschiebend, sich das zweite Paar warme Hosen anzog und mit all seinen Hausgenossen im Badehaus Zuflucht suchte. Bei dieser Gelegenheit war es, dass wir die Mieter von unten kennen lernten.
Ich fand sie auf dem obersten Treppenabsatz. Die Köpfe über die niedrige Schwelle reckend, starrten Frauen und Kinder mit versteinerter Erwartung auf den Himmel, bald auf die krausen Wölkchen, bald auf die Tür der Badestube, hinter der die eingesperrte Ziege unruhig meckerte. Wir verstanden einander mit einem halben Wort. Die Frau des letzten, erst in der letzten Nacht verhafteten Arbeiters fragte dicht an meinem Ohr nach dem Namen, dachte eine Weile nach und sagte: „Nein, der ist auf und davon, es stand in den Zeitungen, Sie sind umsonst hergekommen." Sie schob ihr Kind zurecht, dessen Mund die große braune Saugwarze ihrer mageren Brust nicht finden konnte, und horchte wieder schweigend auf das Rollen des Artilleriefeuers.
„Was denken Sie, hat man meinen schon erschossen? Wenn heute die Roten kommen - werden sie ihn befreien, oder wird es schon zu spät sein?" Und ohne eine Antwort abzuwarten (die Antwort war schon in ihrer Brust – eine stumpfe hölzerne Antwort, dunkel wie die Decke ihres Kellers), versenkte sie sich in die Sinfonie des Angriffs, die das ganze Haus erzittern machte. Anfangs näherte sich das Dröhnen unausgesetzt. Es waren lange, wuchtige Salven, die die kleinen und unruhigen des Gegners mit ruhiger Sicherheit deckten. Dann öffneten sich plötzlich auf dem andern Ufer gewaltige, Feuer speiende Schlünde und stimmten in das Konzert ein. Zuerst feuerten sie wie tastend, dann mit erschreckend zunehmender Sicherheit. Sind es unsere oder die andern? Ach, wir hörten nur jenes spezifische Dröhnen der Salven heraus, über dessen Ursprung man sich nicht im unklaren sein konnte. Die Geschosse fielen nicht auf Kasan, also auf die Unsrigen. Noch eine Stunde etwa wütete das Gewitter in dem blauen, sonnigen Himmel, dann schien es sich zurückzuziehen. Immer seltener und seltener krepierten die Geschosse über den Dächern der Stadt, dann verstummten sie ganz. Und nur in der Ferne, weit draußen, ohne sich zu entfernen, aber auch ohne sich zu nähern, brandeten die Wellen des Gewehrfeuers hin und her. Ein oder zwei Stunden, vielleicht noch mehr, saß meine Nachbarin an der Schwelle, ohne sich zu rühren, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt hob sie den Kopf. Auf ihrem Gesicht waren Spuren der Tränen, Spuren des Schmutzes, Spuren unserer Niederlage. Sie nahm das eingeschlafene Kind von der Stufe und stieg aufgerichtet, mit hölzernen Bewegungen in den Keller zurück.
Braucht es betont zu werden, dass zwei dem Wachtmeister ins Ohr geflüsterte Worte alle diese Familien von dem ferneren weißen Terror bewahrt hätten und dass kein einziger von den siebzehn Kellerbewohnern von diesem Mittel gegen mich Gebrauch machen wollte! Weder am Abend noch am Morgen des nächsten Tages kehrte mein Begleiter zurück. Ich blieb allein, ohne Geld und Papiere.
Der Wachtmeister wurde unruhig, aber dann kam er auf den Gedanken, dass man meinen „Mann" im Stab, wo er hingegangen sei, als freiwilligen Offizier eingezogen haben könnte; er riet mir, in die Stadt zu fahren und Erkundigungen einzuziehen.
Bekannte Straßen, bekannte Häuser, und doch ist es so schwer, sie wieder zu erkennen. Als wenn zehn Jahre seit unserem Rückzug verflossen wären. Alles ist anders und ungewohnt. Offiziere, Gymnasiasten, Mädchen aus bürgerlichen Häusern in Schwesterntracht, offene Geschäfte und grell hervortretende, fast hysterisch schreiende Cafes -kurz, es war jener schillernde Ausschlag, der sofort auf dem Körper der getöteten Revolution aufzutauchen pflegt. In der Vorstadt machte die Straßenbahn halt, um einen Wagen vorüberzulassen, der mit steifen, nackten Leibern erschossener Arbeiter beladen war. Der Wagen rollte langsam humpelnd an einem Zaun vorüber, der mit Plakaten beklebt war: „Alle Macht der Konstituierenden Versammlung!" Wahrscheinlich haben die Menschen, die diesen Konstitutionsschwindel angepappt haben, nicht daran gedacht, dass ihre Plakate ein Bestandteil eines solch zynischen, allgemein verständlichen, revolutionierenden Gesamtbildes sein würden.
Der weiße Stab befand sich in der Grusinischen Straße. Es kostete keine besondere Mühe, einen Passierschein in die Kanzlei zu erlangen; einige Stabsoffiziere liefen an mir vorüber, die noch vor wenigen Tagen im Revolutionären Kriegsrat gearbeitet hatten. An allen Türen Posten: Gymnasiasten von 15 bis 16 Jahren. Überhaupt, die ganze Provinzintelligenz lebte auf, stürzte sich in das überschäumende Meer geschäftiger Tätigkeit, bewaffnete sich und warf sich auf Staatsgeschäfte - arbeitete im freiwilligen Roten Kreuz, für die Spionage, und in Selbstaufopferung auf dem Altar des Vaterlandes, für den dekorierten, sporenklirrenden, schnurrbärtigen Galifet. Mein Gott, wie gut war das weiße Regime am dritten Tag seiner Schöpfung! Wie flink klappern die Schreibmaschinen, wie lieb und nett sind die Mädchengesichter über den Remingtons. An der Tür stehen zwei Soldaten, mächtig wie jene Grenadiere, die seinerzeit an der Loge des Zaren Posten standen - und in dieser Tür erscheint ab und zu - im blendend weißen Hemd unter dem aufgeknöpften Waffenrock mit schön gepflegtem Schnurrbart - ein General oder, wenn auch kein General, so doch jedenfalls ein Oberst oder etwas Ähnliches. Und wie wohltuend durchgeistigt und bescheiden schimmern am Äußeren der Beamten und Militärs, wenn auch selten, die Fettflecke der wahren Bildung: wie kokett zeigen sich unsere akademischen Abzeichen.
O Alma mater, du Hort der russischen Kommisswissenschaft, auch dein trüber Schein vergoldet diese Achselklappen. Einmal traf ich sogar in dem Empfangszimmer des Leutnants Iwanow, dieser Mademoiselle-Fifi des weißgardistischen Kasans, einen echten Professor mit einem vornehm weichen Hut und jenen üppigen weißen Locken, wie sie nach Turgenjew alle gelehrten Volksfreunde, diese Abgötter der „feinfühlenden, fortschrittlichen Jugend", zu tragen pflegten, der hastig einem träge und herablassend zuhörenden Junker allerlei Geheimnisse über die unzuverlässigen Elemente seines Stadtviertels zuflüsterte. Zwei Tage dauerten meine Visiten in der Grusinischen Straße; es gelang mir, von einigen Sekretären die Listen der erschossenen und geflüchteten Freunde zu erfahren -es war Zeit, an den Rückzug zu denken. Der Wachtmeister wartete vergeblich auf meinen verschwundenen „Gatten" und begann sichtlich unruhig zu werden. Geld hatte ich überhaupt keins, und meine Nachbarn von unten rieten mir dringend, beizeiten zu verschwinden. Auch dieses Leben der fortwährenden Lüge, der täglichen Gespräche über Juden, Kommunisten und künftige Siege der heiligen christlich-rechtgläubigen Waffen, es wurde immer unerträglicher. Eines Morgens zog ich mich leise an, tastete in der Tasche nach dem vertrockneten Stück Brot, in dem mein Passierschein versteckt war, und beschloss, das Haus zu verlassen, um nie wieder zurückzukehren. Die Frau eines Arbeiters steckte mir verstohlen drei Rubel in die Hand. Aber am Tor begegnete ich dem Wachtmeister: „Wohin so früh am Morgen, meine Gnädigste?"
„In den Stab, man wollte mir heute eine genaue Auskunft
geben."
„Gestatten Sie, dass ich Sie begleite, ich werde Ihnen dabei behilflich sein, Ihnen sozusagen meine Protektion gewähren."
„Aber bitte, machen Sie sich keine Umstände, ich kann ja sehr gut allein ... "
„Da gibt es gar keine Umstände, es macht mir, dem alten Mann, wirklich ein Vergnügen, einer Dame ein wenig den Hof zu machen."
Trotz aller meiner Ausflüchte bestand der Wachtmeister auf seiner Absicht, und alle meine Worte waren machtlos gegen seine süßliche Hartnäckigkeit. Im Stab tauchte plötzlich der diensteifrige Sekretär vor uns auf, und während wir mit ihm durch den großen Saal schritten, blitzte hinter den uns neugierig betrachtenden Bittstellern und Stenotypistinnen der kühle Stahl eines Bajonetts auf.
Iwanows Kabinett befand sich oben in drei kleinen Zimmern. Das erste von ihnen, das Empfangszimmer, war mit Besuchern, Verhafteten, Verwandten aller Art und Wachtposten dicht gefüllt. Während mein Ehrenbegleiter mit seiner Meldung zu Iwanow hineinlief, zu demselben, der die Eisenbahner von Kasan „für die Revolution" auf die nackten Fußsohlen peitschen ließ, konnte ich mich orientieren. Und da sehe ich zwei Schritte von mir, die Gesichter mir zugewandt, eine Gruppe von bekannten Matrosen aus unserer Flottille. Matrosen, wie alle jene, die 1918 der Großen Russischen Revolution ihren romantischen Glanz verliehen haben. Starke, nackte Hälse, braune Gesichter, Mützen mit den Aufschriften „Andrej", „Sewastopol" oder einfach „Rote Flotte". Der Bootsmann sieht mich aus erkennenden Augen scharf an, so, dass man seine nackte Seele sehen kann; nach zwanzig Minuten wird er an die Wand treten: eine große Seele. Er ist breit in den Schultern, trägt ein Kreuzchen am schwarzen Schnürsenkel um den Hals - nicht für den lieben Gott, sondern so, für das Glück. Der Puls hämmert: eine Sekunde, zwei, drei Sekunden, ich weiß nicht wie lange. Und die Augen, die laut um Hilfe riefen, sehen mich nicht mehr an. Wie Geschütze bei feuchter Witterung haben sie sich mit grauen Schleiern überzogen. Die Kolben schlagen auf - man führt die Matrosen hinaus. In der Tür dreht mir der Bootsmann vorsichtig seinen Kopf zu. „Nun", sagen die Augen, „leb wohl." Das Zimmer dreht sich wie toll; woher kommt das Funkeln des Wassers, dieses glitzernde Meer bei windigem Tage, wie kommt dieses ärgerliche, silberne Flimmern in dieses Zimmer?
Ein grüner Tisch, dahinter drei Offiziere. Natürlich - dieser links ist Iwanow. Ein bleicher Glatzkopf, so weiß, dass er wie ein hartgekochtes Ei erscheint. Helle Augen ohne Brauen, ein weißer Militärkittel, weiße, saubere Hände auf dem Tisch. Der zweite - ein Franzose; an sein Gesicht erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur, dass es von verächtlicher Neugierde und unendlicher Kühle war. Er blickt um sich, anscheinend bemüht, alles seinem Gedächtnis einzuprägen, um später in Frankreich, bei sich zu Hause, imstande zu sein, das Erlebte geistreich zu schildern. Der dritte ist ein Protokollant. Eine Feder, ein gerader Scheitel, ein Anfangsbuchstabe mit kühn geschwungenem, pomadisiertem Federstrich. „Ihr Name? Alter? Soziale Lage?"
Iwanow erwidert meine Antworten mit einem breiten, fast gutmütigen Lächeln...
Und plötzlich gerät dieser Mann, der eben erst fähig war, solche künstlerischen Pausen einzuhalten, der wie ein satter Kater gelangweilt mit einer Maus spielte, der dem ausländischen Offizier zublinzelte, als meine bei der vorangegangenen Leibesvisitation mir abgenommene Wäsche akkurat vor sein Tintenfass hingelegt wurde - plötzlich gerät dieser elegante, nachlässige, geistreiche Staatsanwalt außer sich, schlägt mit der Faust auf den Tisch und springt, durchaus „russisch" aufbrüllend, in hysterischer Wut auf: „Ich werde dir zeigen, du... du wirst mich noch kennen lernen, Kanaille!" Und dem Franzosen, der die Taktlosigkeit hatte, Zeuge der weiteren väterlichen Ermahnung sein zu wollen, warf er grob zu: „Gehen Sie nach unten, wenn es möglich sein wird, werde ich Sie rufen lassen." Der ausländische Offizier ging mit leichten Schritten an mir vorüber und hinaus, ein verächtlich gleichgültiger, fast schadenfroher Blick streifte sowohl mich als seinen Kollegen und Bundesgenossen.
Iwanow begann wieder eine ruhige, gefasste Unterhaltung, mit seinem früheren, weichen, zweideutigen Lächeln: „Einen Augenblick, wir werden wohl nicht ohne einen Untersuchungsrichter auskommen."
Das Zimmer hatte drei Türen: rechts jene, durch die Iwanow eben hinausgegangen war; in der Mitte eine andere mit Filz vernagelte, die anscheinend nicht in Gebrauch war; die dritte führte in das Empfangszimmer. Vor ihr stand ein Wachtposten.
Es gibt im Leben Augenblicke eines märchenhaften, maßlosen, göttlichen Glücks. Und an diesem grauen Morgen, den ich durch das hoffnungslose Gitter des Fensters sah, geschah mit mir ein Wunder. Kaum war Iwanow draußen, drehte sich der Posten, den das nervöse Spiel des Leutnants, dessen fortwährende Übergänge von einschmeichelnder und spöttischer Höflichkeit zu tierhaftem Aufbrüllen, offenbar ganz blöde gemacht haben, um und schob den Oberkörper, um „anzurauchen", zur Tür hinaus. Im Zimmer blieben nur die gespreizten Falten seines Militärmantels und der schwere Kolben des Gewehrs. Wie viel Sekunden brauchte er, um „anzurauchen"? Ich hatte gerade Zeit, zu der vernagelten mittleren Tür zu laufen, einige Male aus allen Kräften an ihr zu rütteln - sie öffnete sich, ließ mich hindurch, schlug wieder geräuschlos zu. Ich befand mich auf einer Treppe, es dauerte nicht lange, und ich war auf der Straße. Am Fenster der großen Kanzlei wartete auf mich der Polizeiwachtmeister - er kehrte mir gerade den Rücken zu, als ich im Flur vorbeilief - und drückte aus Langeweile die Fliegen an die Fensterscheiben. Am Stabsgebäude trottete langsam eine Droschke vorbei. Der Kutscher drehte sich um, als ich in den Wagen sprang. „Wohin wollen Sie?"
Ich kann ihm nicht antworten. Ich will und kann es nicht. Er sieht mein mangelhaftes Kostüm, mein Gesicht, wirft einen Blick auf das Stabsgebäude, richtet sich seiner ganzen Länge nach auf und beginnt wie wahnsinnig auf das Pferd einzuschlagen. Mit lautem Krachen jagen wir über das fürchterliche Pflaster von Kasan, durch kleine Gassen und enge Straßen, bis der Droschkengaul, schaumbedeckt und mit in die Luft starrendem Schwanz in einen Hof hineinrast. Der Sohn meines Droschkenkutschers diente in der Roten Armee, und er selbst war der Mann der prächtigen Awdotja Markowna - einer dicken, roten, wie ein Ofen warmen, wie die Sonne der Dorfmärchen gütigen Frau. Sie umarmte mich, ich lag an ihrer unermesslichen Mutterbrust und schluchzte, auch sie weinte und gab mir tröstende, zärtliche Worte, die warm und weich waren wie frischgebackene Semmel. Dann hüllte sie meine nackten Schultern in ein Tuch ein und, nachdem sie die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende angehört, bedachte sie Seine Gnaden, den Leutnant Iwanow, mit solchen Worten, dass die majestätischen Hähne, die gerade geschäftig auf dem sonnenwarmen Dünger arbeiteten, begeistert zu krähen anfingen.
„Komm, Mama, jetzt gibt's Tee!"
Zwei Stunden darauf verließ ich, ein rosageblümtes Tuch um die Schultern, mit einem Pfund Brot und drei Rubeln in der Tasche, die Mauern Kasans. Der mit der Prüfung eines vorüberfahrenden Wagens beschäftigte Posten bemerkte mich nicht; als ich einem andern begegnete, schlug ich mich in die Büsche.
Ein Bauer, der sich bereit erklärte, mich bis zum nächsten Dorf zu fahren, schenkte mir an diesem glücklichsten Tage meines Lebens zum zweiten Mal mein Dasein. Nachdem er etwa sechs Kilometer im leichten Trab gefahren, sagte er mit einer Stimme, die die Stimme meiner Nachbarin „von unten", die Stimme des rotbärtigen Droschkenkutschers, der Awdotja Markowna und der ganzen russischen Armut war, die in jenen Tagen des revolutionären Wirrwarrs, der Niederlagen und Rückzüge zweifellos auf unserer Seite war und die unsern Sieg oft ebenso einfach und schlicht rettete wie mich, wie tausend andere auf den zahllosen russischen Landstraßen verstreute Genossen: „Na, steig jetzt runter, Mädel. Hast genug geschwindelt, ich weiß schon, was du für ein Vogel bist. Geh in das Dorf dort links - dort sind eure Leute. Und rechts, siehst du die schwarze Wolke da, das ist die tschechische Kavallerie." Nachdem ich eine Werst quer durchs Feld gelaufen war, stieß ich wirklich auf unsere vorgeschobene Postenkette. Einer der Rotarmisten, der mich wahrscheinlich im Stab des Genossen Judin gesehen hatte, setzte sich neben mich nieder und sagte, gelassen an seiner Zigarette drehend, taktvoll, als bemerke er meinen verstörten Zustand nicht: „Nun, was ist, hast du deinen Mann gefunden?" |
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