SOMMER 1919
I
Die Offensive begann.
Nach den Kämpfen kamen die Flottillen so nahe aneinander, dass sie sich ununterbrochen durch Radio verständigen konnten.
Die Schiffe leben ihr gespanntes, geheimes Leben: sie schlagen sich ja zum offenen Meer durch. Die täglichen Fahrten, selbst die harte Belagerung von Zarizyn spielen sich wie im Traum ab. Die Hauptsache ist - die Karte des Kaspischen Meeres, über der sich des Abends schweigsame Gedanken stundenlang fortspinnen.
Diese Karte ist nicht wie die gewöhnlichen Flußkarten. Das Wasser ist auf ihr mit schlanken, gewundenen Linien der Strömungen bezeichnet, mit den Sternen der Leuchttürme, mit zahllosen Warnungszeichen. Sie ist unergründlich in ihren strengen schwarzen und weißen Farben. Diese verschlungenen Uferlinien, die tückischen Sandbänke, die ungestümen von Ufer zu Ufer wuchtenden Fluten, endlich die Kessel in den unergründlichen Tiefen, an der Oberfläche still wie Seen. Wie oft auch die Phantasie über ihnen kreist, ihre Flügel tragen sie nicht dort hinab. Das schwache Licht der Lampe ruht auf den Gesichtern, die sich über den Tisch wie über ein Schachbrett neigen. Sie spielen mit einem Partner, der Hunderte von Kilometern weit entfernt ist, der jenseits dieser schwierigen Karte in Baku, Port-Petrowsk und Embe sitzt. Zuweilen überziehen sich die Blicke mit Nebelschleiern -in Gedanken an die fernen Fahrten, zuweilen röten sich die Schläfen der Theoretiker: unter tausend Möglichkeiten strahlt ihnen der Sieg; dann kommen wieder nagende Zweifel angesichts zweier gleichwertiger Züge und bei der verführerischen Vorstellung von der leicht zugänglichen Einfahrt in den blauen, gefahrlosen Persischen Golf. Es gibt theoretisch unlösbare Knoten. Dann steigt das Schiff des Fliegenden Holländers über die Wellen, das Unmögliche wird möglich, die Schranken brechen zusammen, der Nebel verzieht sich, und das kühne Schiff schickt sich an, den weißen König matt zu setzen. In Erwartung der Fahrt rauchen und schweigen die alten Matrosen viel, lächeln dem Unbekannten zu und schreiben lange Briefe nach Hause. Die Jungen aber sind von besonderer Freude und Lebensfülle getragen. Es wird lange Tage ohne Ufer und Frauen geben, und deshalb scheint dieser Sommer besonders herrlich, bei dem es sich so gut bis zum Gürtel in Weinbergen und bis zum Kinn im reifen Korn gehen lässt. Noch niemals waren die Nächte so voller Sternegefunkel, noch niemals blühte die Steppe weißer und trunkener im Ornat der zierlichen Feldblumen, noch niemals sang das Blut so lustig im Takt des jagenden Pferdes. Das Feld ist wie ein Meer, die Sonne backt, der goldrote Hengst atmet frei und trabt leicht, der Wind streift den bronzenen Schopf von den wilden Augen - der breite, elastische Schritt wiegt ein. O Meer, du blaues Meer!
II
Über das Meer ist unendlich viel geschrieben worden. Es ist breiter denn ein Hexameter, lauter als Ruhm, und es gibt keinen Menschen, dessen Müdigkeit und Trauer in seinen Weiten nicht verschwunden wären. Alles bleibt zurück, wenn das Geplätscher des Flusses in der sieghaften Stimme des Kaspischen Meeres zu versinken beginnt. Nacht. Der kalte Himmel ist mit vereinzelten, riesigen Sternen bedeckt, und den Mond umkreisen unbeschreiblich weiße, junge Wolken. Die Wolga strebt Kaspien entgegen, immer weiter öffnet sie ihre Arme, die Zahl dieser Arme verzehnfacht, verhundertfacht sich, und ihre Schultern versinken im Nebel. Zuweilen zieht ein Segler mit weit gespreizten Schwingen schneeig vorüber, mit prüfenden Blicken die Gestade betrachtend, wo nicht ein Boot von Kundschaftern entschlüpfen soll.
Zuweilen gerät die Schraube in Fischernetze und zieht sie lange wie Algen nach sich, wenn der Lotse das den Fang behütende, schlafende Boot nicht bemerkt. Alle sind wach. Das Mondlicht gleitet über längst vertraute Gestalten. Der große schwarzbärtige Maschinengewehrführer und der kurzgeschorene Nacken des Signalmaats und das für gewöhnlich träge, jetzt aber von der Sehnsucht nach dem Meere erfasste, breite Gesicht des Lotsen. Der hübsche Schiffsjunge kauert auf den Stufen der Treppe und träumt - auch von dem Meer.
Nur ein schmaler Streifen des Kaspischen Meeres gehört uns. Aber auch dieser Streifen, dessen salzige Bitterkeit der ganze mächtige Wolgastrom nicht betäuben kann, genügt schon, um für immer berauscht zu sein. Sehr langsam aus der Ferne nähert sich der Tag. Auf dem Meere sind die Schiffe viele Kilometer weit sichtbar. Sie wachsen zu Phantomen, erscheinen wie unerreichbare ferne Inseln. Schwarz wie ein Felsen ist die schwimmende Batterie, um sie herum die Familie der pfeilschnellen Fahrzeuge und am Horizont - leichte Rauchwölkchen der übrigen.
Nach dem verzweifelten Schlenkern im Kutter die ungewöhnliche Ruhe des gewaltigen eisernen Decks, dessen Mitte nur kaum merklich atmet.
Der Tee dampft in Blechtassen, die von ernsten Matrosenhänden langsam und verlegen gereicht werden. Die Fahrt dauert schon zwei Stunden - man merkt es nicht -, die ganze nächtliche Müdigkeit verweht im gleichmäßigen Gleiten, im. Beben des Wassers von allen Seiten. Der Traum glättet die letzte Schärfe der Umrisse.
Und mit allen ihren Nerven, mit ihrem ganzen Wesen, mit all ihrer Fähigkeit, zu fühlen, ahnen die Menschen das Ziel dieser Fahrt durch das morgendliche Meer. Sie wissen, dass sie sich noch gut zwei Stunden ruhig erholen und die gewaschene Wäsche hängen lassen können. Sie wissen, dass sie jetzt rauchen und schlafen können. Nur die Gesichter sind ruhig-gespannt wie das Lächeln während eines bösen Traumes.
Die alten Schiffe wurden am Bug, mit dem Gesicht zum Winde, hoch über dem Wasser - so hoch, dass nur der Schaum des Sturmes sie erreichte - mit aus Holz geschnitzten Figuren verziert, mit Najaden und Adlern, mit heiligen Jungfrauen, deren Hände und Faltengewänder das Schiff vor Unglück behüteten. Bei diesen geschnitzten Gestalten sieht man Augen, deren unentwegt in die Ferne gerichteter Blick den Ausdruck eines für immer versteinerten Willens hat.
Endlich ertönt das Alarmsignal: die Silhouetten der Feinde und das Gerippe ihres Dampfers „Arag", der auf eine Mine gestoßen ist, tauchen in weiter Ferne auf. Man fühlt sich auf einmal furchtbar leicht und festtäglich. Es fehlen die tückischen Windungen des Flusses, die im Hinterhalt verborgenen Batterien, die ewige Enge. Die Weißen führen offen ihre Manöver aus. Zwei bewegliche Schatten kreisen um einen trägen und schwerfälligen, der unserm schwimmenden Fort ähnlich ist; aber noch immer eröffnen sie nicht das Feuer und warten auf unser Nahen. Weiter rechts am Horizont erkennt man noch mal vier Rauchwolken: im ganzen sieben Weiße gegen vier Rote.
Wir machen Halt - es beginnt ein artilleristischer Zweikampf. Die Weißen sind beunruhigt - die erste Salve schlägt dampfend dicht hinter ihrem Heck ein. Sie wissen nicht, dass heute ein bescheidener, unansehnlicher Mann mit einem blonden, kurzsichtigen Denkerkopf das Feuer dirigiert, einer, dessen ganzes Leben auf das Schiff konzentriert war und der alle schöpferischen Fähigkeiten seiner Jugend, nur der Armut und Wissenschaft lebend, dem Artilleriefeuer, den Geschützen und ihren Konstruktionen, ihrer feinsten Eigenart geopfert hat.
Die Weißen antworten gut. Der große Unbekannte erweist sich als Inhaber von sechs Geschützen, und drei gewaltige Wasserfontänen schießen in der Nähe unseres Bordrandes auf. Gleich großen, schillernden Fischen funkeln Metallsplitter im Wasser auf, dann erreicht uns das verspätete Heulen und Pfeifen des gestörten Luftraums. Eine Woche später, als der kaltblütige Sobolew nicht mehr auf der Batterie war, brachte ihr Kommandeur Jelissejew, ein alter Matrose des Jahres 1911, seine Batterie dicht an die der Weißen, erhielt selbst 39 Treffer und vernichtete ein feindliches Geschütz. Der verwundete Kommissar verließ nicht die Kommandobrücke, der Kapitän wurde sterbend fortgetragen.
Durch dichte Nebelschwaden zogen wir durch das Meer, und erst am Morgen erschien warmes, lachendes Land.
Edgar Poe erschien sein Rabe in den schlimmsten Stunden seines Lebens. Der schwarze Rabe flog durchs Fenster und setzte sich auf den Marmorscheitel der Pallas Ahtene. Der Rabe, dieser Hüter der Unendlichkeit, ist ein edler Zeuge menschlichen Leids, ein Einsiedler und Richter. Aber seit jener Zeit, seit das höhere und bessere Leben das traurige Museum der Ideen verließ und zunächst auf die Straße und später aus den Grenzen der Stadt hinaustrat - hörte man nicht mehr seinen erhabenen Ruf. Der vereinsamte Rabe breitete seine graugezierten Nachtschwingen aus und flog zwischen den Falten ewig zitternder Vorhänge zum Fenster hinaus, um in der Morgendämmerung zu verschwinden. Auf dem geackerten Feld, zwischen feuchten Erdknollen, über denen schon die staubigen Fäden des frühen Herbstes glitzerten und der Nebel rauchte, machte der Rabe einen langen Spaziergang, einsam und schweigend.
III
Seine starken Füße würdevoll setzend, den Kopf bald nach links, bald nach rechts neigend, schritt er mit dem „Gang eines Lords" die Furchen entlang, ohne die niedrige irdische Nahrung zu beachten.
Zuweilen entrang sich seiner purpurnen Kehle ein heiserer Ausruf, von dem der Morgenwind kühler wurde und den die simplen, unwissenden Dorfvögel nicht zu beantworten wagten. „Niemals", rief der Rabe aus, „niemals!'" Es war der Schrei des Mönches in der schwarzen Kutte, der nicht an die große Veränderung und die Befreiung jenes Gefangenen glaubte, dessen Einsamkeit er lange Nächte hindurch schadenfroh beobachtet hatte. Und mit den strengen Flügeln schlagend, mit einem Krächzen, das wie ersticktes Lachen und seltsames Gurgeln klingt, flog er gegen Süden davon.
Der Rabe gelangte zu der trostlosen Stadt, die dort lag, wo der blaue Fluss in das tote, von dürrem Land ausweglos umgrenzte Meer fließt. Wurme und Sommerduft strichen über seinen ermüdeten Körper, schwarz näherte er sich dem gelbgrünen Wasser.
In diesem lichten Reich von Flut und Ebbe, von Fischernetz und Schilf herrscht die Möwe. Den ganzen Tag streicht sie mit klagenden Lauten durch die milchweiße Luft, ihren schmalen, wie ein neugeborener Mond gebogenen Schnabel weit vorstreckend. Und ihre Augen glänzen - schwarze Perlen in weißen und rosafarbenen Muscheln. Mit den gefalteten Quasten der Füße die Wasserfläche berührend, äugt sie aufmerksam umher, taucht, schnappt, schießt auf, sprüht funkelnde Tropfen.
Und der schwarze König in der Verbannung ist wie Kohle unter flatternden Schneeflocken, wie der Fetzen eines Piratenbanners, von nordischem Wind verschlagen; seine blauschwarzen Schwingen schwer und unentschlossen hebend, mischt sich der Rabe unter die sorglose Schar der Sturmvögel. Mit raubgieriger Bewegung zum Wasser niederfallend, ebenso wie er einst auf die Schultern eines Grabkreuzes oder auf den Querbalken eines Schafotts niederzufallen pflegte; die scharfen Krallen, die vor uralten Zeiten die weisen Bücher der Magier stützten, spreizend, schlägt der Rabe mit der Brust gegen den Wasserspiegel, aber beim Anblick des beweglichen, durchsichtigen, unverwüstlich-lebendigen Nasses prallt er verwirrt und zornig zurück.
Die Möwen lachen und weinen, trunken von unermüdlichem Flug wie in luftigen Schaukeln, in toller Schnelligkeit heben und senken sich ihre Flügel. Er aber taumelt schwer unter ihnen und sucht mit bluterfüllten Augen nach Himmel, nach Weite, nach einsamer Höhe. „Niemals", schreit der Rabe, „niemals!" - und entfernt sich wie ein beladenes Gewissen.
Dort, wo über glühenden Sanden sich krankhaft die Abenddämmerung rötet, wo seltene, giftige Falter die Nähe der Nacht verkünden, wo auf den rissigen Ufern den ganzen Tag in Staub und Glut der Kampf wütet, wo Rosse ohne Reiter mit fliegendem Zaumzeug zum gegenüberliegenden Ufer schwimmen - dort ist die neue Heimat des Raben. Seine Flügel segnen die Angst des Fliehenden, die ihre Geschütze verlassen; und als sie, erniedrigt und hungrig, auf sumpfigen Inseln Feuer anzünden und auf Rettung hoffen - schreit er ihnen schadenfroh aus der Höhe zu: „Niemals!"
Von den Todesfeldern stoßen satte Scharen zu ihm, die in der Stimme des Raben den Tod selbst erkannt haben. Hunderte, Tausende Vögel sammeln sich zu einer Unheil verkündenden Wolke; sie fliegen tief über die Erde auf der Suche nach Beute, bald strecken sie sich zu einem sich ringelnden Wurm, einer fleischfressenden Raupe über dem Gestrüpp; bald verdichten sie sich zu einem flatternden schwarzen Schal; den unsichtbaren Pfad der Kugeln verfolgend, streichen sie durch die mit Verwesung gesättigte Luft.
Von den Ufern, wo die Flucht begann, den Strom entlang schwimmen durchlöcherte Kähne voll Wasser, über deren Bordränder die Köpfe der Toten sich neigen. Die Nacht nimmt sie auf, das Wasser spült das fließende Blut ab, und der Fluss, der gute Fährmann der Ewigkeit, bringt sie über den schwarzen Styx und verlässt sie auf den fernen
Sandbänken.
Und wenn sie des Morgens gefunden werden, wenn man ihr Herz prüft und ihre Köpfe aufrichtet - dann fliegt der Rabe zornig auf und ruft der Sonne entgegen: „Niemals!"
IV
„Ich bin die Frau von Shelichowski."
Es ist, als taue ein Eisstück, schnell, immer schneller -dann fließen endlich die erleichternden Tränen. Die Frau. Auf ihrem Gesicht, auf den roten, entzündeten Augenlidern, auf dem unter dem weißen Tuch verschobenen Haar, auf ihrem ganzen Wesen liegt der warme Stempel, liegt das Atmen eines großen Freundes, der nicht mehr lebt, der im Kampf gefallen ist. In ihren weiten, unter der breiten Stirn zurückgetretenen Augen, auf dem unbeschreiblich feinen Kristall ihrer Pupillen, ruht noch seine Gestalt, als er frühmorgens voll bedrückender Vorahnungen, ohne sein kärgliches Matrosenfrühstück zu berühren, das Haus verließ.
Und sogar ihre tiefe Bruststimme erinnert an seine seltene und gerade Aussprache: Die Liebe hat sie gelehrt, so zu sprechen.
Jetzt ist die Frau des Genossen Shelichowski fast er selbst, es sind seine Hände, die er hilfesuchend aus dem Wasser streckte, es sind seine im Kampffeuer erblindeten Augen, es ist sein Kopf, der hilflos unter der Oberfläche verschwand.
Man soll nicht mit ihr sprechen, man muss sie rücksichtsvoll in Ruhe lassen. Sie ist die Frau eines Helden, eines der Besten, die sich für die Sowjetrepublik geopfert haben. Man kann ihrem großen Leid nicht helfen, sie hat den Mut zu leben und fürchtet sich nicht, seinen entstellten Körper zu erblicken, wie er langsam den Strom hinabschwimmt, dicht an dem Dampfer vorbei. Die Frau ist ruhig und weiß es: das Wasser wird ihn zum Meer treiben, das er so sehr geliebt hat. Aus dem engen Fluss in die Unendlichkeit: das ist ihre große Wahnidee. Und man möchte den törichten, blinden Zufall anflehen: Schenke jenen, die besser und wertvoller sind als die andern, schenke wenigstens ihnen einen reinen und stolzen Tod, bewahre sie vor der Gefangenschaft, vor dem Verrat und dem Gefängnis. Mögen sie im offenen Kampf sterben, mitten unter ihren Brüdern, mit den Waffen in den Händen. Lass sie so sterben, wie Shelichowski gestorben ist, wie Hunderte und Tausende jeden Tag für diese Republik sterben.
V
Heute Nacht wird Zarizyn gestürmt - alle sind sehr lebhaft, freudig erregt. Was morgen sein wird - das weiß niemand, aber heute ist es gut.
Im kleinen, sauberen Hof des Stabsgebäudes blühen Oleander, und das ganze weiße altmodische Haus, in dem Asin wohnt, ist mit seiner ungestümen Freude durchtränkt. Die böse, reiche Witwe reicht lächelnd den Tee in alten bauchigen Tassen; das alte Porzellan in den Schränken zittert und klirrt bei jedem Schritt; Zimmerpflanzen grünen vor den schneeweißen Kacheln der großen Ofen. Peinliche Sauberkeit, Öldrucke mit einem wohlgenährten Paar: Adam und Eva im Paradies; geblümte Vorhänge an den Fenstern, ein Bett mit einem blauen Betthimmel. Und gerade unter diesem von friedlichen herbstlichen Mondstrahlen versilberten Dache versammelten sich am Abend vor dem Sturm die kühnsten, entschlossensten Köpfe: das runzlige Gesichtchen von Mischa Kalinin, das von einem Kranz stachliger, zerzauster Haare umgeben ist; der wie verjüngte Asin, der die ganze schwere Verantwortung zu tragen hat, und der Flottenkommandeur. Eine Stunde später gehörten schon das mondbeschienene Häuschen am Ufer, die schnellen Pferde der Troika, der Weg zum Fluss und der letzte Händedruck der Vergangenheit an. Am längsten klingt das gebrechliche Stimmchen der Spieldose in den Ohren, einer Spieldose aus uralten Zeiten, die eine ganze Stunde lang hinter ärgerlich verschlossenen Türen aus dem Nebenzimmer herüberklang und die Beratung störte.
Und jetzt, da schon die Nacht um uns ist und Schaumwellen hinterm Heck des Zerstörers brodeln, steht diese Spieldose noch immer auf dem Tisch des verlassenen Esszimmers und lispelt ihre glöckchenhellen, musikalischen Phrasen dem Geranium zu. Die Walze ist verrostet, der Schlüssel verloren gegangen, aber sie singt und lacht, und unter ihrem Kristalldeckel verbirgt sich eine ganze Welt altmodischer Grazie und romantischer Liebe.
Die ganze Nacht durch wütet auf dem Fluss die wilde Musik des Krieges. „Marx" macht den Anfang; an ihm vorüber, in die Dunkelheit, in den Nebel ziehen die Schiffe wie Gespenster hinaus. Zwei, drei und noch mehr Fahrzeuge streben dem gegenüberliegenden Ufer zu, wo schon explodierende Geschosse aufblitzen. Auch der Wald rechts ist voller goldener Flammen. Schwere Wassersäulen steigen aus der Tiefe auf. Die Seeleute verfolgen unruhig den Aufstieg eines Sternes, der weiß, gleichmäßig leuchtend und ungeheuer groß ist wie ein Lampion. Er ist so erstaunlich leuchtend, dass er wie ein Signalfeuer erscheint. Vor uns röten sich Funkengarben, es ist, als wenn Türen einer glühenden Feuerung fortwährend auf- und zugeknallt werden. Das Feuer ist schon in jenes berauschende, dröhnende Stadium getreten, das den Anfang des Sturmangriffs anzeigt. Jedes Schiff ist in eine Dampfwolke gehüllt, kämpft und bewegt sich selbständig, eins gegen eins, mit jedem unsichtbaren Gegner, den es gefunden und zum nächtlichen Leben erweckt hat.
Hinter der Landzunge taucht eine Schar Zerstörer auf, ihnen folgen schwarze Minensucher, diese Ritter der Nacht und der Finsternis, die mit herabgelassenem Visier auf ihren Fang ausziehen.
Gegen Morgen verstummt das Feuer. Inzwischen geht die Armee zum Angriff über, und der Kutter, der die Mitteilung überbringt, beobachtet auf der nackten Lehmanhöhe unsere erste Schützenkette, die gegen Zarizyn vordringt. Es ist schwer, darüber zu schreiben. Man muss diese schwarzen Figürchen gesehen haben, wie sie eilig vordringend, aus der Ferne unendlich schwach erscheinen; wie der Ausgang des Angriffs auch sein mag, diese erste Schützenkette ist im vorhinein verurteilt. Auch die Matrosen auf den Schiffen verfolgen mit den Augen die Bewegungen dieser Kette. Plötzlich schreit jemand nervös auf... Was ist los? Nichts, nichts... Der Älteste flucht mit fremder Stimme: „Nehmt euch zusammen, zum Teufel...", aber seine Lippen zittern: die erste Kette - man kann sich's denken.
Als es hell wird, treten die feindlichen Aeroplane in Aktion. Von 6 Uhr morgens bis spät in die Nacht hinein ununterbrochenes Bombardement, sie zielen besonders auf den Fluss. Meistens wirken diese Luftattacken bedrückend. Aber nach der schlaflosen Nacht, nach dem verzweifelten Kampf, als der Kopf in wohliger Versunkenheit sich zu drehen beginnt und alle Du zueinander sagen - ist man diesen Bomben gewachsen. Zwei Pfiffe bedeuten: „Flugzeug des Feindes in Sicht!"
Eins nach dem andern setzen sich dann die Schiffe in Bewegung, um den Bomben zu entgehen, die durchdringenden Pfiffe wiederholen sich: es beginnt ein Lotteriespiel. Auf jedes Schiff kommen im Durchschnitt vier bis acht Bomben. Man sieht, wie sie fallen, von widerwärtigem Kreischen und dumpfen Detonationen begleitet. Bald dieses, bald jenes Deck bedeckt sich mit Splittern. Der Bug des „Besstraschny" ist beschädigt, der Kommandeur und noch drei sind verwundet, die Mannschaft flickt eilig den Schaden aus und verteidigt sich verzweifelt gegen das Flugzeug, das schon wieder seine Bomben hinabschleudert. Eins nach dem andern verschwinden die leichten Kutter, die schwimmenden Batterien, die breithüftigen Schiffe der ersten Division in einer Wolke von Dampf und Splittern und tauchen wieder heil und ganz aus ihr hervor. Die Zerstörer - mit ärgerlichem Fauchen ihrer Motore, im weißen Gischt der Wellen, Batterien - langsam und gelassen, im Bewusstsein der Unmöglichkeit, sich verbergen zu können, die übrigen - hitzig kämpfend, sich verteidigend, den Himmel mit einem Muster von weißlichgrauem Dampf des Sperrfeuers bedeckend.
Am Abend heben sich einige schwarze, einsame Punkte auf dem hohen Ufer ab. Eine Stunde später sind es schon Hunderte - der Weg ist mit Flüchtlingen bedeckt. Die Unseren ziehen sich zurück.
Aber in voller Ordnung, mit Gewehren; die ermüdeten Pferde werden an der Leine geführt; Kamele, mit der ihnen eigenen Grazie gesetzter Frauen, schaffen Geschütze, Wagen, Menschen fort. Der Angriff war erfolglos.
Auf den Diwan der Kanzlei legte man eine am Ufer zusammengebrochene Krankenschwester nieder - in den schwersten Minuten tauchen aus dem Meer der Menschen immer unerwartet und einfach solche wunderbaren Gesichter auf. Bei ihrem Anblick allein fühlt man eine tiefe Beruhigung. Die Erinnerung an sie verlöscht nie, und wenn die Begegnung auch noch so kurz war. Dieses Mädchen hat eine lächerlich dünne Stimme; unter der Decke sehen die zerrissenen Stiefel hervor. Ein Auge, die Wange und das Kinn sind von einem Verband verdeckt, die kleine, sommersprossige Nase ist zerschrammt. Das Reifste und Traurigste an ihr - ein kurzer, abgebrochener Husten.
Kaum dass die Wunden geheilt, verließ sie das Lazarett in einem entlegenen Flecken der Ukraine und suchte wieder ihr Regiment auf. Ein qualvoller und langer Weg. Die Gräuel der großen Straßen, die Hölle der überfüllten Züge und diese fortwährende brennende Furcht, die Ihren für immer zu verlieren, jene Namen und Gesichter, mit denen die Revolution sie verbunden hat.
Sie kam an die Wolga, wo jetzt die ihr vertrauten kubanischen Lagerfeuer brennen, geführt von ihrem unerschütterlichen Willen und der offenherzigen, kindlichen Reinheit ihrer Seele, vor der das schmutzige menschliche Meer unwillkürlich zurückflutete. Sie führte Briefe aus ihrer Kompanie mit sich, Briefe an die Heimat, die mit zahllosen Grüßen beginnend auf der Stufenleiter der hilflosen, tanzenden Buchstaben eine gewaltige Höhe erklommen. Sie betrachtete diese Briefe schielend, mit ihrem einen Auge, das graublau, voll dunkler Pünktchen ist, wie sie im Herbst auf den zitternden Blättern der Espen auftauchen. So ist sie: liebreizend und für immer entstellt. Die weißgardistischen Ärzte, zu denen sie, in einem Kampf verwundet, kroch und deren Hilfe sie suchte, ohne zu wissen, wer sie waren - diese Ärzte lehnten es ab, sie zu verbinden und warfen sie, aus besonderer Gnade, bei Regen und Nacht auf die Straße. Halb ohnmächtig auf den Stufen vor dem Hause sitzend, riss sie sich selbst etwas Kaltes und sie am Sehen Behinderndes vom Gesicht - es war ihre Wange. Zum Glück flüchtete dieses „Lazarett" schon am nächsten Morgen, und unsere Leute fanden das hilflos kauernde Wesen vor der Tür besinnungslos liegen. Die Revolution, deren Antlitz zu schauen noch niemand würdig war, wird gewiss dieses selbe durchsichtige blaue Auge haben, eine Kopfbinde und auf den vollen Bauernlippen (solche Lippen küssen einfach und kühl) rosigen Schaum.
In der Nacht wird die große Kajüte mit herbstlichen Zweigen voll roter Vogelbeeren geschmückt, der Tisch steht im strahlenden Licht, die Kämpfer haben den Schmutz der Schützengräben oder das Öl der Maschinen von ihren Stiefeln abgewaschen und beraten sich ruhig über den morgigen Tag.
Der Zufall gruppierte sie folgendermaßen: links Schorin mit dem raschen Blick, der tiefen Bassstimme und dem harten Willen. Neben ihm sein Stabsoffizier, ein weicher und ausführlicher Mensch, unfähig, irgend jemand zu belästigen, wie eine Feldkarte, sorgfältig gefaltet und jeden Augenblick gebrauchsfertig.
Weiterhin ein Profil - bleich und unregelmäßig, wie ein krummer Säbel gebogen, mit leicht geschrägten Augen und unmerklich lächelndem Munde - kurz eine jener Erscheinungen, die dem Künstler ein Vorbild für einen raffinierten, unerbittlichen Rachegott sein könnten. Geräuschloser Gang, leichter Parfümgeruch, den er wie ein Mädchen liebt, und auf dem schwarzen Hemd ein roter Orden - das ist Kashanow, der fast legendäre Befehlshaber der Landetruppen der Wolgaflottille.
Die Holländer, die in Gruppenbildnissen Vollkommenheit erreicht haben, liebten es, ins Zentrum des Bildes inmitten aller dieser Herrn in schwarzen Gehröcken und gestärkten weißen Brusthemden eine konzentrierte und feine Physiognomie irgendeines berühmten jungen Arztes, bewaffnet mit einem Skalpell, zu stellen, einem Skeptiker und Atheisten, der dem Beschauer seine hohe, weiße Stirn zuwendet und ein spöttisches Lächeln auf dem Gesicht hat. Diese Gestalt in einer Lederjacke, die „Iswestija" in der Tasche, trägt in unserer Zeit den Namen „Mitglied des Revolutionären Kriegsrats Michailow".
In einem Splitter dieses vom Teufel zerbrochenen krummen Spiegels finden wir auch den Genossen Trifonow: Aus der Verbannung und den Zuchthäusern brachte er die schwere Zurückhaltung des langjährigen Gefangenen, eine gewisse krankhafte Angst vor allzu lauten Worten, Gedanken und Charakteren. Bei einem starken und klugen Manne, bei einem ausgezeichneten Bolschewik und Soldaten der Revolution wirkt der Wunsch, sich und andere zu betrügen -sein großes „Ich" als einen grauen menschlichen Alltagsfleck erscheinen zu lassen - etwas langweilig. Aber das stürmische Jahr 1919 wird, gleich lustigen grünen Grashalmen, aus allen logischen Lücken hervorsprießen; der stürmische Wind der Zeit reißt die graue Brille von dem dunklen Gesicht des Genossen Trifonow, was ihn nicht hindert, auch heute noch seinen längst zerfallenen Seelenkerker und das Reich seiner konspirativen Gefühle ebenso hartnäckig zu verteidigen.
Dann folgt - aber wie kann man Asin schildern? - Erstens - er ist die wilde Stadt Ogrys, die fast von der Kama abgeschnitten ist; er ist der Posten, der am Eisenbahndamm
lauert; er ist der heiße, stickige Wagen III. Klasse, der vom Licht kugeliger Lampen, von der Erhabenheit zweier Gudonowscher Kandelaber, die man in einem zerstörten Gutshause gefunden, überflutet ist; er ist im undurchdringlichen Zigarettenrauch, in der unruhigen Schlaflosigkeit des Divisionsstabs, wo der Kommissar irgendeines versprengten Truppenteils, der, um die Verbindung herzustellen, 25 Werst durch die Feldwachen der Weißen gejagt ist, sich nun auf dem Fußboden zu einem trügerischen, glückseligen Schlaf hingeworfen hat; er ist in den zerrissenen Feldkarten auf klebrigen, mit Tee und Tinte begossenen Tischen; er ist die schwarze Schnur des Feldtelefons, das an taunassen nächtlichen Sträuchern hängt, bewacht von Soldaten, die vor Kälte, Schlaf und Furcht einzuschlafen erstarrt sind.
Asins Sporen haben zahllose Löcher in den von Wanzen belebten Samt der Eisenbahnwagen geschnitten; er hat die gefangenen Deserteure eigenhändig gezüchtigt; er hat die Stadt Sarapul verloren und wieder im Kampf eingenommen und Dutzende andere, ebenso unmögliche Städte besetzt; er hat die tollkühne, offene Kavallerieattacke gegen Zarizyn geführt; er hat Dutzende von gefangenen Offizieren niedergehauen und Tausende weißer Soldaten in Freiheit gesetzt oder mobilisiert; Asin reitet heißblütige, hochmütige Pferde, trinkt keinen Tropfen, solange der Kampf nicht zu Ende ist; er schimpft fürchterlich mit seinen Kommissaren herum, verschont auch den Revolutionären Kriegsrat nicht; er hält seine unwahrscheinlichen, aus Flusspiraten und Machno-Soldaten angeworbenen Truppen in eiserner Disziplin; er schlägt sich mit wilder Energie und flieht nie; er weint vor Wut wie ein Frauenzimmer, wenn der verwundete Arm ihn hindert, an einem Angriff teilzunehmen.
Es ist Asin, der zu seinem eigenen Empfang feierliche Begrüßungen veranstaltet und mit seinem Dampfer wieder umkehrt, wenn er bemerkt, dass das Orchester am Ufer noch nicht bereit steht, um nach zehn Minuten in seinem herrlichen Fellmantel (und dies im Juli) schwitzend die Ehrungen in Empfang zu nehmen, die Internationale und die schwulstigen Meldungen der Kameraden anzuhören, die es sogar fertig gebracht haben, zur Feier des Sieges ihre einzigen Hosen mit Knöpfen zu versehen und sich nach drei Wochen wieder einmal richtig zu waschen und zu rasieren. So gehört es sich auch: Ohne ein Fest, ohne Musik und feierliche Begrüßungen findet die Armee keine Erholung an ihren vierundzwanzigstündigen Kriegsfeiertagen, und sie geht am nächsten Morgen nur schwer in die neuen Kampfwochen.
Es ist Asin, der seine frechen Lieblingsburschen dafür durchpeitscht, dass sie einem Bauern ein Ferkel genommen haben, und auch derselbe Asin, der lange schwarze Nächte durch mit Musik, Schnaps und Weibern feiert, aber nur nachdem er alle Vorposten geprüft, Patrouillen ausgesandt und sich davon überzeugt hat, dass die Stadt von allen Seiten gut geschützt ist. Asin führt seine Truppen fast täglich selbst in den Kampf, ohne zu beachten, dass er als Divisionschef nicht das Recht hat, sein Leben in dieser Weise zu riskieren.
Aber über der Karte wird Asin still wie das Wasser in einer Bucht; er gehorcht wortlos den langen Telegramm befehlen von Schorin, die aus dem knatternden Telegrafenapparat hervorkriechen und die mit jener ruhigen, herrlichen Grobheit verfasst sind, die der alte Schorin jenen gegenüber anwandte, die er liebte, die er vorwärts trieb oder an der eisernen Trense seiner Strategie zurückriss. Es ist unmöglich, einen Menschen wie Asin begreiflich zu machen! Er liebte seine Truppen leidenschaftlich, er liebte und verstand jeden hinter dem Mutterrock hervorgeholten Rekruten - einen Jungen mit abstehenden Ohren, mit einer zu großen Mütze und in einem Mantel bis zu den Fersen, Burschen, die nur den einen Gedanken haben, wie sie das bleischwere Gewehr loswerden könnten. Mit solchen Leuten konnte er kämpfen, mit ihnen siegte, hungerte er, lag er im Typhus, mit ihnen durchschritt er ganz Russland, um endlich - nach der Kama und Wolga, nach Zarizyn und Saratow - am Perekop auf die unsinnigste Weise, fast am Vortage seiner Einnahme, ruhmlos zugrunde zu gehen, in Gefangenschaft und noch dazu von den Weißen verleumdet, die das Gerücht verbreiteten, Asin hätte die Rote Armee verraten.
Das ist Asin - Held, Soldat, Pistole, so kämpfte er, fast mit nackten Händen, er hielt seine Division im Zaum, für die er sich Soldaten und Kommissare selbst erzog. So viel Wunderbares leistete er, dass die 28. Division auch nach seinem Tode die „Asinsche Division" geblieben ist, die bis Baku und bis zu den grusinischen und persischen Grenzen in ihrem alten Marschtempo vordrang, staubig, abgerissen, bunt, in zerfetzten Generalshosen, auf kleinen, stämmigen Pferden, die aus Perm und Astrachan stammten.
An diesem Abend begann beim Tee eine Diskussion über Heldentum. Ein sonderbares Thema unter Menschen, die seit langem an den Krieg gewöhnt und sich fast alle Auszeichnungen errungen haben.
Der Skeptiker in der Lederjacke rührte seinen Tee und bestritt dabei jede Romantik in der Revolution, er betrachtete die letztere als ein Handwerk. Ein charakteristischer Zug des Intellektuellen: Nachdem die Front ihn von jeder Phraseologie geheilt hat, gesundet er allmählich und ist glücklich, dass er sich ohne alle überflüssigen Zweifel den einfachen, gewaltigen Antrieben des Lebens unterwerfen kann. Das Gefühl der Pflicht, der brüderlichen Solidarität, der Unterordnung und des Opfers wird zur gesunden Gewohnheit. Und da er dieses noch unsichere innere Gleichgewicht zu verlieren fürchtet, klammert sich der zum Soldat der Revolution gewordene Intellektuelle fest an die Erde und an das beruhigende „zweimal zwei - ist vier". Dem klugen Kommissar zuhörend, senkte der Soldat in Generalsepauletten seinen listigen Blick und legte sich ein Stück Zucker mehr in seine Tasse. In letzter Zeit wiederholten sich inmitten seiner ausgebreiteten Karten und harten Befehle diese langen theoretischen Auseinandersetzungen sehr häufig; er wurde nicht mehr klug aus ihnen, aber mit der unbewussten Klugheit des alten Soldaten widerlegte er sie stündlich durch seine ganze Arbeit. Er war stolz auf den Roten Orden an seiner Brust, und wenn er die Frontberichte las, erriet er zwischen den Zeilen die gleiche eifersüchtige Sehnsucht nach dem Sieg wie bei sich selbst. Vor Schorin sitzend, der mit seiner ruhigen Stimme den hellen, hohen festlichen Bau seiner Gedanken störte, vermochte er nichts mit der Mittelmäßigkeit der Ideen zu beginnen, wie sie sich hier in grauen Farben und im Triumph des Alltags ausbreiteten. Asin, dem die Schamröte über irgendeine unbedeutende Niederlage an der Front noch auf den Wangen lag, Kalinin, der von seiner wirklich furchtlosen Tollkühnheit, die er für die Pflicht eines jeden Kommunisten und Kommissars hielt, ermüdet war - beide genossen schweigend ihre Zigaretten und das Bewusstsein, dass irgendwer streitet und sie im Hintergrunde bleiben können.
Aber die kratzende Rede zerstörte immer mehr die Atmosphäre der Ruhe und des Lichtes, die an diesem Ort so selten war.
Es war sonderbar, dass das liebe, nach jeder Gefahr noch mehr geliebte Leben diesem Skeptiker, der bereit war, in einem Anfall von Neugier, sein eigenes Gehirn auszubrüten und der Einwirkung irgendeiner Säure auszusetzen, so nackt und grau erschien.
Besonders empfand es Asin: Seine Beine schmerzten noch von dem Sattel, in seinem ganzen Körper lebte die süße Müdigkeit von dem Herbst, von den roten und goldenen Bäumen, von dem Grün der Wiesen, die ihre letzte Leuchtkraft hervorbrachten, von den milden Augen und dem wiegenden Schritt der Kamele. Am Morgen wurde er bei einem Patrouillenritt fast erschossen, und abends war so viel unerschütterliche Erdenluft da, so viel bittere, erregende Gerüche des Herbstes.
Und es war in ihm noch ein zartes Gefühl - er konnte sich nicht recht besinnen, womit es zusammenhing: ob es die Matrosen waren, denen er am Ufer begegnet war, als sie mit Schrammen am Halse aus der Zarizyner Gefangenschaft kamen, oder der Brief, der ihn von weit her endlich erreichte. Und plötzlich sitzt da irgendwer, leugnet den Sinn des Lebens, seine Wunder und seine herrliche Willkür. Leugnet das Heldentum!
„Ach, du... ", Asin bemerkte irgend jemands warnende Blicke, die ihn hinderten, den Fluch zu beenden. Es drängt ihn, die Karte hervorzuholen und den roten Kranz der Republik auf ihr zu finden, die zwei Jahre lang inmitten der ganzen übrigen Welt einsam und heldenhaft von einem erschöpften Volk verteidigt wird. War das Leben jemals herrlicher als gerade in diesen beiden großen Jahren? Wenn man jetzt nichts erkennt, nicht die Barmherzigkeit, nicht den Ruhm, nicht den Zorn empfindet, mit denen auch der graueste, ärmste Tag dieses in der Geschichte einzigartigen Kampfes gesättigt ist - lohnt es sich dann überhaupt zu leben und zu sterben? |
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