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Larissa Reisner - Oktober (1924)
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ASTRACHAN-BAKU

I

Die Tage verstreichen unerträglich rasch, das Leben verwandelt sich in einen flimmernden Traum, der Gesichter, Städte, neue Landschaften durcheinander mengt. Astrachan, kaum vom Frühjahr erwärmt, im weichen, aschgrauen Staub, mit zarten, blassen Gräsern auf unfruchtbaren Feldern, mit verlassenen, alten Klöstern, um die Äpfel und Pfirsiche blühen, weiß und heilig unter einem Himmel, der Liebe ausstrahlt. Es ist unmöglich, sich ein hastigeres, gespannteres, leuchtenderes Blühen vorzustellen - ein rosa-weißes Feuermeer inmitten nackter, regungsloser Hügel am Ufer des Kaspischen Meeres. Da ist die Stadt selbst - halb zerstört und verbrannt, hungrig und zerfetzt, wie nur Bettler des Ostens sein können; eine Stadt ohne Licht und Wärme, die ihre eingefrorenen Dächer ängstlich der Aprilsonne hinhält, ihre Mauern, von Kälte und Feuchtigkeit durchtränkt, ihre längst erloschenen, blinden Fenster und rauchlosen Schornsteine. Aber wie teuer ist der Revolution jeder Pflasterstein von Astrachan; jede Wendung seiner Straßen, die schief und verkrüppelt sind wie erfrorene Finger, ist der Revolution teuer. Welche ungeheuren Anstrengungen, welche Opfer hat Sowjetrussland um dieses Astrachan, um dieses verrostete, hässliche Tor nach dem Osten bringen müssen. Wenn Petersburg sich einmütig und leidenschaftlich verteidigt hat, so war es das wert - mit allen seinen durch die Revolution geheiligten Plätzen, mit seiner hochmütigen Schönheit der großmächtigen Hauptstadt.
Das rote Kronstadt, Peters des Großen Admiralitätsgebäude, das Winterpalais, das nur noch von Bildern und Statuen bewohnt wird, die verödeten Großbetriebe, die trotz allem fortfahren, in Hunger und Kälte die Waffen für die Rote Armee zu schmieden - alles das kann die Kämpfer wohl zu einem mutigen Widerstand begeistern. Jeder Schritt der proletarischen Truppen, die für Petersburg in den Tod gehen, weckt in ganz Russland einen metallischen Widerhall, er bleibt unvergesslich. Aber welcher Mut gehört dazu, Astrachan zu verteidigen. Weder die Liebe zu dieser Stadt, noch revolutionäre Tradition, sondern nur das Pflichtgefühl allein konnte seine Kämpfer anfeuern. Und wie viel Menschen gibt es, die fähig sind, im Namen eines nackten, abstrakten Pflichtgefühls die schwere Last des Krieges in die menschenleeren, sandigen Wüsten Astrachans zu tragen?
Und es war nicht einmal die Pflicht, die Astrachan gerettet hat, sondern es war die allgemeine, unbewusste Erkenntnis, dass man nicht fortgehen darf, dass man die Engländer nicht an die Wolga lassen, dass man den letzten Ausgang zum Meer nicht verlieren darf.
Das ganze Astrachan mit seinem Hunger und Heldentum hat sich durch das eine Bild, das es beim Abschied bot, fest in das Gedächtnis eingeprägt: Nachts im Nobel-Werk, die Arbeiter, die den Winter ohne Brot, Wärme und Kleidung verbracht haben, beendeten bei blendendem elektrischem Licht eine eilige Reparaturarbeit. Ein gewaltiger Riese stand im Dock: ein mächtiger, mit großen Geschützen bewaffneter eiserner Kahn, der von einer englischen Mine beschädigt worden war. Auf dem Fluss ist es kalt und dunkel, aber die Scheinwerfer richten ihr scharfes Licht auf den entstellten Schiffskörper, auf den ein Hagel heilender Hammerschläge niederprasselt. Und so geht es die ganze Nacht durch. Glühendes, geschmeidiges Eisen legt sich willfährig an die Eisennähte; gewaltige Eisenplatten schieben sich vor die Bresche, und junger Stahl überzieht mit unverwüstlichem Panzer die Flanken. Das ist Astrachan und sein Verteidigungskampf.
Und dort endlich die Reede, graubleich und stürmisch, und die Inseln der Schiffe, im offenen Meer vor Anker liegend... Scharen von Zugvögeln ruhen auf dem Schiffsdeck, Ankerketten rasseln, und die gleichmäßig schwankenden Masten ziehen Bogenlinien durch die Luft.


II

Von Astrachan bis Petrowsk geht es auf dem Seewege. Die Schiffe passieren in Kielwasserlinie die Minenfelder, lassen die Wachschiffe hinter sich und gelangen endlich in das vollkommen freie, unendliche Fahrwasser. Nach drei Kriegsjahren auf engen Flüssen steigt das Meer zu Kopf wie Wein.
Die Matrosen sitzen stundenlang auf Deck, atmen mit vollen Lungen die Luft ein, sind selbst wie wandernde Vögel, gedenken der langen Fahrten, die mit weißen Schaumlinien auf den Ozean gezeichnet sind. Wie ein Wunder taucht das Gebirge aus dem Wasser. Wie ein Wunder zieht der erste Schleppkahn mit Naphtha für Astrachan vorüber, und die Schiffe genießen noch immer das freie Tanzen auf den Wellen: Bald beschleunigen sie ihren disziplinierten Gang, bald halten sie inne, die Masten sind wie trunken, und die Menschen können weder essen noch schlafen.


III

Die Eisenbahn von Petrowsk bis Baku zieht sich am Fuß der Berge hin. Und längs dieser Berge, auf der breiten Chaussee - bewegt sich ein ununterbrochener, lebendiger Strom. In Wolken leichten Staubs ziehen Menschen, Pferde, Wagen, Artillerie vorbei. Und trotz aller Majestät des kaukasischen Vorgebirges treten seine violetten Schatten angesichts dieser steten, gierigen Vorwärtsbewegung der Truppen in den Hintergrund.
Dampfend wie ein Strahl kochendes Wasser bewegt sich die Kavallerie. Erstaunlich sind diese Menschen und Pferde, die Russland von Archangelsk bis Astrachan, vom Ural bis zum Kaspischen Meer durchzogen haben. In Baku fand am 1. Mai vor Tausenden und Zehntausenden Zuschauern, die Dächer, Balkone und Laternen überfluteten, eine feierliche Parade statt. Zuerst defilierten die heimischen Truppen, die freiwillig auf unsere Seite übergegangen sind, alle von den Engländern eingekleidet, verproviantiert und auf das beste bewaffnet. Diese Nationalgarde hat ein ganz europäisches Aussehen. Sie marschiert tadellos, hält sich stramm, die Reihen sind wie abgezirkelt. Und sogar die Pferde sind anders als unsere: rundlich, satt und groß, kein Vergleich mit unseren kleinen, struppigen Pferdchen, die in ihrem leichten, sparsamen Trab Tausende Werst zurückgelegt haben. Jeder Reiter ist ein Monument von jener Art, wie es vor dem Nikolaj-Bahnhof in Petersburg steht. Wirbelnder Staub, dröhnende Musik - und sie sind vorbeigeflitzt. Eine junge Frau lacht mit ihren blauen Augen: „Man braucht bloß mit einem Schnupftuch zu winken, und ihre ganze Herrlichkeit rennt davon. Wo bleiben denn nur die Unsrigen?"
Aber da kommen sie schon. Verstaubt, abgerissen, von Sonne geschwärzt, gehen sie einfach und schlicht ohne jeden Paradeschritt, gehen sie, wie sie durch die ganze Republik bis zu den Vorbergen des Kaukasus gegangen sind. Ohne sich zu beeilen, ohne jemand in Erstaunen setzen zu wollen, und die Erde hallt wider von diesem freien, eisernen Schritt der Regimenter. Woher haben sie ihn, diesen klassischen Schritt, den Cäsar so sehr liebte und den man in den Gefängniskasernen Europas vergeblich anzuerziehen sucht? Jeder Bourgeois in Baku und jeder Arbeiter fühlt, dass der Weg dieser frei fließenden Massen in Aserbaidshan nicht Halt machen wird, dass die menschliche Welle, die Baku in Staub und Schaum erreicht hat, nicht abflauen, sondern weiter über seine Grenzen rollen wird.
Baku hat mit seinem Wein, Glanz und Reichtum den Geist der Armee nicht erstickt. Soldaten und Matrosen spazierten in selbstbewusster Haltung durch die aufgeputzten Straßen, und die ruhige Neugierde dieser Menschen schreckte die Bourgeoisie mehr, als es Räubereien und Vergewaltigungen getan hätten. Die Armee ging weiter, an die nächste menschewistische Front. Nichts von Zersetzung, nichts von Zügellosigkeit ist zu bemerken. Diese reiche Stadt, die dem Sieger mit den Erwartungen einer käuflichen Frau entgegenkam, blieb irgendwie abseits liegen. Man kümmerte sich nicht um sie, bemerkte sie kaum. Dafür lebten aber die Schwarze Stadt und die Vorstadt Balachany auf. Immer mehr sah man in Bakus sauberen Straßen Leute aus dem Naphthaviertel. Ihre bleichen Gesichter und mit Öl durchtränkten Fetzen hoben sich seltsam vor den reichen, mit ausländischen Waren angefüllten Schaufenstern ab. Es ist wahr, eine richtige Revolution hat es hier eigentlich noch nicht gegeben. Der Unterschied zwischen reich und arm, der sich bei uns in den drei Jahren vollkommen verwischt hat, macht sich hier bei jedem Schritt bemerkbar. Die Armut sickert wie früher aus allen Spalten hervor, fließt wie Naphtha durch alle Kanäle, durchdringt alle Straßen. Aber der Oktober hat seinen Einzug in diese Stadt gehalten, er ist bis in die dunkelsten Winkel der Vorstadt gedrungen, und die Anhänger des Alten warten wuterfüllt auf den nahenden sozialen Sturm. Schon drei Nächte schläft die Stadt nicht mehr. Es ist ein Aufstand möglich, ein Gemetzel, ein Versuch der Bourgeoisie, ihre Macht wiederzuerlangen. Drei Tage überschütten die Scheinwerfer am Meere die umliegenden Berge mit erbarmungslos hellem Licht, durchleuchten alle Spalten und Abhänge, ganze Dörfer ohne Leben und Bewegung - lauter Denkmäler des letzten armenischen oder türkischen Gemetzels. Es wird Zeit, dass der Oktober auch hier bald lebendig wird. In der Stille der blutarmen Februarrevolution, die hier noch zu herrschen scheint, können die Arbeiterviertel nicht leben, nicht atmen. Sie finden keine Ruhe, schwere Träume suchen sie heim.
Nur die Erde hat ihre ewige Ruhe nicht verloren. Leicht und selig atmet sie. Die Steine sind von den Naphthaquellen endlich fortgewälzt worden, schwarze, fruchtbringende Ströme fluten wie ehedem aus den Tiefen. Wie eine Mutter mit übervoller Brust wartete die Erde auf Russland, und glücklich entlastet, ewig jung, speist sie jetzt die vielen Tausende gieriger Lippen. Durch dicke Adern fließt die nährende Flüssigkeit in mächtige Reservoire - und die Schiffe sind nicht imstande, die Millionen und aber Millionen Tonnen fortzuschaffen.

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