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Gustav Regler – Im Kreuzfeuer (1934)
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Juli: Faschistische Kostproben

14.7. 30 neue Gesetze der Nazis. Verbot aller Parteien-Hitler erklärt »Revolution« für beendet-GeneralratderWirtschaft-Sterilisationsgesetz-Schwarzarbeitverfolgt-
Katholisches Reichskonkordat, Protestantische Neuwahlen-Streik bei Röchling-SA entführt drei Saarländer.

Faschist im grünen Rock

Der Oberförster Großmann knitterte verärgert den »Völkischen Beobachter« zusammen und steckte ihn in die Schublade seines Schreibtischs. Er sah das Regierungsgebäude von Saarbrücken vor sich. Da kommen nun in Deutschland die guten alten Zeiten wieder, und man sitzt hier unter diesem Franzosenregime. Völkerbundsregime, gut. Bald zu Ende, gut. Aber besser, man wäre heute schon soweit.
Die Sonne fiel durch die gewölbten Scheiben seines Arbeitszimmers. Im Hof bellte der Schäferhund. Besuche, Gesuche, nichts als Bittsteller. Tagediebe, die frech werden. Resultat der vierzehn Jahre. Ein Segen, dass da durchgegriffen wird. Wären wir nur hier schon soweit. Der Oberförster stemmte die Faust in die Seite und sah mürrisch auf die Tischplatte. Es klopfte. Der Oberförster antwortete nicht. Er horchte hinaus. Die Schritte des Assistenten entfernten sich im Vorzimmer. »Sie müssen noch warten«, hörte er den Eleven sagen. Er griff zur Kartothek, die man ihm hineingestellt hatte, und las die Schilder: Abschätzung. Vermessung. Grundbesitz. Grenzsachen. Bausachen, Hauung. Holzabgabe. Jagd.
Er hielt im Blättern an. Wenn man das nicht hätte. Jagd! Er liebkoste die Karte, zog sie heraus. Pächter Fabrikdirektor Wennecke, las er; Wennecke wird wieder einen Ball geben dieses Jahr. Da sieht man Frauen, riecht wieder Stadtluft, kann sich mal aussprechen über alles. Die Dekolletes tun einem auch sehr gut. Hier verbauert man schließlich. Ich werde einen Wildschweinrücken hinschicken. November kann man schon schießen.
Er schob die Kartothek zurück. Die letzten Karten fielen in die Lücke der Jagdrubrik. Übereinander stießen die Titel: Forstschutz. Nebennutzung. Polizei. Berechtigungen. Er sah sie niederblättern. Dutzende von Karten über die kriminellen Delikte. Das nahm fast ein Drittel der ganzen Kartothek ein, man war schon fast so etwas wie ein Polizeiinspektor. Es klopfte wieder. Den Forsteleven hatte das Geräusch ermutigt. Er hatte Erfolg. »Herein!« rief der Oberförster.
»Einige Unterschriften bitte«, sagte der eintretende junge Mann und klappte die Stiefel aneinander. Mit ausladender Armbewegung setzte sich der Vorgesetzte zurecht und überflog die Papiere:
»Sie werden hiermit ergebenst ersucht, die umstehend verzeichneten zahlungsunfähigen Forststrafrestanten zur Ableistung der angeordneten Forstarbeit, mit Heppe versehen, auf Donnerstag, den 31. August 1933, vormittags sieben Uhr nach Forsthaus Budweiler zu bestellen, mit der Verwarnung« - der Oberförster murmelte den weiteren Text mit halblauter Stimme -, »dass sowohl gegen die Nichterschienenen als auch gegen die bei der Arbeit Unfolgsamen die festgesetzte Gefängnisstrafe vollstreckt wird.«
Er griff nach dem Tintenstift und unterzeichnete mit Schwung. »Kommen die Leute wieder besser zum Strafdienst?« fragte er.
Der Eleve verbeugte sich, eh er sprach: »Gerade in Budweiler steht es sehr schlecht.«
»Ich weiß schon«, winkte der Oberförster ab. »Aber sie sollen sich nicht einbilden, dass ich mir dadurch imponieren lasse.«
»Jawohl, Herr Oberförster«, sagte der junge Assistent.
»Ist jemand draußen?«
»Der Herr Lehrer und mehrere Arbeiter. Die Arbeiter warten schon länger.«
»Lassen Sie den Herrn Lehrer herein!«
Der Eleve ging, die Türe zu öffnen. »Bitte schön«, sagte er. Man sah die Gesichter der Arbeiter im Halbdunkel. Der Lehrer trat in den Türrahmen.
»Das ist schön, dass Sie mich mal wieder aufsuchen, Herr -Pestalozzi!«
Der Forsteleve wartete auf einen Blick, dass er entlassen sei, und schloss dann die Tür zum Wartezimmer.
Der Lehrer hob die Hand in die Höhe. »Heil Hitler«, sagte er.
»Schon recht«, meinte der Oberförster und sah besorgt zur Tür. »Man kann doch nicht so, wie man will. Sie wissen doch Bescheid. Nehmen Sie Platz. Was haben Sie Schönes? Was macht das historische Leibwerk über die Saar. Sitzen Sie dick in den Folianten? Haben Sie was gefunden gegen den Franzosen?«
Der Lehrer rückte dichter an den Tisch und zog ein Manuskript aus der Tasche.
»Ich komme gut vorwärts. Wenn es Sie interessiert, Herr Oberförster. Ich dachte mir gerade gestern, dass Sie da zwei Anekdoten gern hören würden.«
Mit Schrecken sah der Oberförster, dass der Lehrer sich anschickte, aus dem Manuskript vorzulesen. Sein Blick streifte den Siegelring des Besuchers, auf dem ein Hakenkreuz blinkte. Die Partei verlangt schon viel, dachte er; man muss sich überall anbiedern. Er lächelte verlegen; aber der Mann ist nicht unwichtig; er bringt die besten Nachrichten aus den Dörfern.
»Erzählen Sie mir doch zuerst etwas aus den Trosseiner Gefilden«, sagte der Oberförster, »um vom Wichtigsten zu sprechen: was macht die Werbung für die Hitlerjugend? Wie viel haben Sie? Geht das vorwärts?«
Der Lehrer faltete sein Manuskript: »Es geht sehr schlecht. Sie müssen wissen, wir sind hier im Warndt. Die Leute so dicht an der Grenze sind nationalen Belangen schwerer zugänglich. Die Arbeiter überhaupt stellen heutzutage die Frage ganz anders. Die denken nur materialistisch. Dann sind ja viele drüben bei Wendel auf den französischen Gruben. Die können gar nichts riskieren. Da herrscht ja ein Terror... «
Der Oberförster drehte sich schroff herum: »Ich sprach nicht von diesen Saarbündlern. Leute, die beim Erbfeind arbeiten, gehören nicht zu uns. Ich sprach auch fürs erste gar nicht von Arbeiterkindern. Sie haben doch Plakate bekommen! Sind die alle verteilt worden? In Budweiler sah ich ein einziges aushängen bei einem Metzger. Vierzehn Tage später war es schon weg. Wir dürfen uns nicht blamieren vor dem Reich!«
Der Lehrer wagte noch eine Einwendung: »Man müsste etwas mehr Druck auf die Pfarrer ausüben. Ich habe da von
einem gehört, der erklärte, dass er dem Führer nur vorbehaltlich folgen werde, wenn der nämlich mit dem Sozialismus ernst mache. Dabei war das noch ein protestantischer Seelsorger.«
»Sie machen da bestimmt etwas falsch. Setzen Sie sich mal bitte ins Nebenzimmer dort, lassen Sie die Tür geöffnet, ich werde jetzt die Arbeiter von draußen kommen lassen. Sie sollen mir mal Ihren Eindruck sagen später. Ein Vorschlag, was? Wir müssen jetzt voneinander lernen.«
Der Lehrer folgte und ging in das anstoßende Zimmer. Bald darauf trat ein Arbeiter in den Amtsraum.
Er drehte die Kappe in der Hand: »Ich wollte ergebenst gefragt haben den Herrn Oberförster, warum mir der Schein fürs Gratisholzsammeln abgeschlagen worden ist. Ich habe ihn immer gehabt. Ich bin Kriegsinvalide. Ich weiß nicht, wie das vorkommen kann. Da muss einer mich nicht leiden können... «
Der Oberförster fragte den Namen, blätterte dann in der Kartothek: »Sie sind vorbestraft, Mann. Was denken Sie sich!«
Der Arbeiter wurde feuerrot im Gesicht: »Das ist nicht wahr, Herr Oberförster. Ich habe das schon gehört. Hier ist mein Leumundszeugnis vom Gericht.«
Er reichte einen Zettel hin. Der Oberförster ergriff ihn zögernd, dann donnerte er los: »Da sieht man, wie verschlampt unsere Verwaltung ist. Dieses Völkerbundsregime. Das wird 35 alles anders. Oder glauben Sie, dass das drüben im Reich heute noch möglich wäre.«
Er hob den Blick zu dem Arbeiter. Der wich den Augen aus: »Hoffentlich«, sagte er mit halblauter Stimme.
»Zweifeln Sie nicht daran; man hat die Ehre des Arbeiters jetzt in Deutschland wiederhergestellt. Der Korruptionssumpf ist trockengelegt. Ich werde Ihnen das beweisen, verstehen Sie?«
Er zog einen Zettel aus der Schublade, schrieb einige Striche darauf: »Hier haben Sie Ihren Schein! Lassen Sie ihn draußen ausfüllen. Wir wollen der Not jetzt gemeinsam zu Leibe rücken. Sie können gehen.«
Der Arbeiter murmelte ein Danke und ging. An der Tür schob sich schon ein zweiter Arbeiter hinein.
»Ich wollte mich beschweren bei der Oberförsterei«, sagte der Arbeiter, ohne große Höflichkeit zu zeigen, »dass man meinen Kindern gestern die Pilze weggeschmissen hat. Die haben paar Stunden da gesammelt. Unsereins hat seine Zeit auch
nicht gestohlen. Und aus Vergnügen gehen wir ja nicht in den Wald.«
Das ist Kommune, dachte der Oberförster. Wie das schon frech wird! Steckt Reichstage in Brand, wildert, hetzt, beschmiert die Häuser und kommt dann hierher, sich beschweren.
»Wie heißen Sie«, sagte der Forstgewaltige.
Der Mann antwortete nicht.
»Das wird Ihnen wenig helfen. Meine Förster werden Sie doch erkennen. Sie müssen sich nicht einbilden, dass Sie mit diesem Benehmen heutzutage noch durchkommen. Sie werden obendrein noch ein Protokoll bekommen, verstanden.«
Im Gesicht des Arbeiters lief ein böses Zucken; er betrachtete den schweren, wohlgenährten Mann in dem guten grünen Stoffjackett, er drehte die schmutzige leichte Kappe in der Hand; an seine Kinder dachte er, die sich in ihrem ganzen Leben noch nie satt an Fleisch gegessen hatten; keinen einzigen Hasen habe ich dem Kerl da aus dem Wald geholt; und er knallt mich an, als wäre ich ein Haufen Mist.
»Ich bin hier nicht angestellt«, sagte er, aber dann verschlug ihm der Zorn die Rede; der Oberförster griff nach einer Klingel und schüttelte sie: »Hinaus«, rief er, ohne den Arbeiter anzusehen.
Die Tür sprang auf, der Eleve stand bereit, den Hausknecht zu machen. Unbewegt blieb der Arbeiter auf seinem Platz. Das macht euch so Spaß, dass die Preußen wiederkommen sollen. Aber heute noch holen wir uns die Pilze wieder, mein Lieber. Und ich garantiere dir dafür, dass sie nach Hase schmecken.
Er würgte den Speichel herunter; der Oberförster brüllte ein zweites Mal »Hinaus«, der Eleve trat noch näher.
»Das wirst du bleiben lassen«, sagte der Arbeiter und hob die Hand.
Einige Sekunden standen die zwei schweigend voreinander, dann drehte sich der Arbeiter um:
»Es kommt auch mal anders«, sagte er und ging aus dem Zimmer. Der Eleve folgte ihm hastig.
Zwei Stunden vom Hauptquartier der Riesenwälder erledigte einer der Sergeanten des grünen Majors sein Morgenpensum. Ein Acker bei Mauterbach. Breite Spuren der Vernichtung waren durch ein Kartoffelfeld gezogen; überall perlten die halbreifen Früchte aus dem aufgerissenen Boden. Klauen waren eingedrückt in die dunkle Erde. Herumgeschleudert von wilderndem Getier lagen die Stängel der Knollenfrucht - unentbehrliche Handhabe für die Ernte.
»Na, so schlimm ist das doch nicht«, meinte der Förster und schob mit dem Stiefel eine kleine Vertiefung begütigend zu.
Der Bauer und die Kommission der Gemeinde schwiegen. »Machen Sie ein Angebot!« Die Männer antworteten nicht.
»Ich meine, mit drei Zentnern wäre das gut bezahlt«, sagte die grüne Uniform.
Ganz leichthin hatte er es gesagt, aber wie ein Gewitter ging nun der Bauer los: der Förster habe einen Vogel im Kopf; er solle sich mal herstellen und das Feld umpflügen, dann jede Kartoffel einzeln setzen. Ob er wisse, dass die Kinder sich schon daran kaputt machten? Er solle mal die Hacke nehmen, zupflügen, häufeln, wochenlang so ein Feld pflegen und dann morgens die Bescherung hier vorfinden. »Drei Zentner?« Der Bauer suchte nach Luft. Und was da herum liege, was im Wachstum gestört, was zerschlitzt sei und beim nächsten Regen faule, das sei nichts? »Drei Zentner?« Der Bauer lachte böse. Spazierengehen und sich Sonntagsbraten schießen, das möchte ja mancher gern. Aus ihm brach der Hass des schwergequälten Bauern. »Ich rühre hier in dem Feld nichts mehr an. Aber die Flinte nehme ich aus dem Schrank; und da wird sich ja wohl niemand mehr so nah heranwagen an unsre Arbeit, keine Sau und auch sonst niemand. Und im übrigen gehe ich bis ganz nach oben.« Der Bauer keuchte.
»Da gehen Sie ruhig mal zur Landwirtschaftskammer. Da bekommen Sie ja sicher recht.« Kurz war das Lachen des Försters, aber im nächsten Augenblick flog ihm der Hut vom Kopf. Die Faust des Bauern hatte das grüne Ding vom Schädel gefegt. Zu bitter hatte der Hohn gemacht. Landwirtschaftskammer! War das nicht Selbstmord? Hatte da jemals der Kleine recht bekommen! Galt da nicht der reiche Pächter, der Oberförster als Sachverständiger, auch wenn er Partei war? Keiner im Dorf hatte den Wildschaden auch nur zur Hälfte gedeckt bekommen. Man musste sich viel gefallen lassen. Aber nicht auch noch den Hohn!
Der Förster schlug zurück. Taumelnd stürzte der Bauer. In die Verwüstung seines Ackers geworfen, aufgestützt auf die zitternden Arme, begriff er, dass er ohnmächtig war gegen den Hirschfänger da. Tränen der Wut schlichen ihm in die Augen; er
fühlte zerbrochene Kartoffeln in der glitschigen Erde; er krallte sich in den Boden. Ich kriege dich doch; eines Tages geht ihr nicht mehr hier herum; jetzt könnt ihrs noch machen; aber morgen, morgen schlag ich noch anders.
Die Gemeindekommission hatte sich zwischen die beiden Männer geworfen. Der Förster drehte jetzt um und stieg den Feldrain hinauf.

Der Oberförster saß immer noch wütend an seinem Schreibtisch. Die Kühnheit des Arbeiters wurmte ihn; und unsicher gemacht, fühlte er, dass die Herrschaft lange nicht so fest war, wie es beim Appell der Förster erschien, bei den Konferenzen im Ministerium, im Gespräch mit Untergebenen und mit seinesgleichen.
In diesem Augenblick trat der Lehrer wieder in das Amtszimmer. »Ich verstehe schon, wie Sie das meinen, Herr Oberförster. Ich bewundere Herrn Oberförster. Werde mir jetzt Mühe geben, Herr Oberförster. Man muss da scharf trennen - so wie Herr Oberförster es getan haben.«
Der Oberförster lächelte selbstgefällig: »Meinen Sie?«
»Vollauf richtig«, bestätigte der Lehrer. »Nur so kommt man vorwärts. Ich bedaure, dass ich nicht mehr Zeit habe. Sieht man Sie Sonntag im Gemeindehaus?«
»Werde nicht fehlen.«
»Heil Hitler, Herr Oberförster.«
Der Oberförster hob schnell die Hand zur Schulter.
Als er allein war, überkam ihn die Wut. Er sah den rebellischen Arbeiter langsam über den Hof gehen. Verächtlich umging der Prolet den bösartig kläffenden Hund. Man sollte sie mit einer ganzen Meute vom Hof jagen dürfen! Bricht in den Wald ein, als wenn er ihnen gehörte. Beschwert sich, wenn meine Leute ihre Pflicht ausüben. Räubern, stehlen, gehen frech mit Äxten in den Forst. Pilze sammeln. Laub holen. Das klingt alles so harmlos. Von Dank keine Rede. Es ist ihr Recht?! Recht? Recht? Haha!
Der Oberförster lachte auf. Wir sollen unseren Wald verkommen lassen? Natürliche Düngung ist Einbildung von uns? Das Laub gehört der Kommune? Die Schonungen sind unser Spleen, was? Da kann man einfach so herumtrampeln.
Der Hund schlug von neuem an. Über den Hof kam ein Förster. Der Mann am Schreibtisch beugte sich vor. Er sprang auf
und trat ans Fenster. Hinter dem Förster trippelten verängstigt zwei zehnjährige Kinder. Sie trugen Körbe in den Händen voll von Schwarzbeeren. Der Oberförster ging zu seinem Schreibtisch zurück, schlug auf die Glocke. Wie eine Kasperlefigur sprang der Forsteleve wieder zur Tür herein. »Führen Sie die Gören hierher!«
Nach einer Weile brachte der Förster die Kinder. Er erhielt einen unerwarteten Anschnauzer: »Wenn Sie nicht so jämmerlich auftreten würden, wäre dieses ganze Gesindel nicht so frech.«
Der Oberförster wandte sich zu den Kindern: »Und euch werde ich in die Erziehungsanstalt bringen. Jawohl, jetzt könnt ihr weinen. Nehmen Sie ihnen die Beeren weg!«
Der Mann nahm die Körbe aus den Händen der Kinder. Die beiden hielten die kleinen Fäuste vor die Gesichter, man hörte ihr ängstliches Schluchzen; noch immer kläffte der Hund vor der Tür; sie waren sicher, dass er hereingeholt würde, um sie zu beißen. Der große Mann würde ihn hereinrufen. Ihr Schluchzen wurde heftiger.
»Jagen Sie das Kroppzeug vom Hof«, rief der grüne Hakenkreuzler.
Die Kinder spürten die Faust des Försters, der sie an den Schultern zur Türe hinausschob. Noch hatten sie nicht begriffen, dass ihre Körbe verloren waren. Da standen sie, bedeckt mit Blättern, überquillend fast in blitzenden saftigen Beeren. Das Mädchen drehte sich noch mal um und streckte die kleine Hand aus.
»Raus«, schrie der Oberförster. Das Mädchen zog zuckend die Hand zurück und hob die Schürze zum Mund, seinen Schreck zu verdecken.
Jetzt kommt der Hund, dachten die Kinder, da war die Tür hinter ihnen zu. Mutter wird uns schlagen, dachte der Knabe. Sie haben uns die Körbe nicht wiedergegeben, fiel dem Mädchen ein.
»Kriegen wir den Korb nicht zurück«, fragte es tapfer. Dann sammeln wir auf dem Nachhauseweg doch wieder, dachte es.
»Macht, dass ihr fortkommt«, sagte der Förster und stieß sie auf den Hof. Mit überschnappender Stimme und Schaum vor dem Mund begrüßte sie der Wachhund. Seine Kette rasselte. Die Kinder traten entsetzt einen Schritt zurück.
Im Amtszimmer stand devot nach vorn geneigt der Eleve.
»Lassen Sie sofort die Waldarbeiter zusammentreten«, sagte
der Oberförster. »Holen Sie alles, was draußen ist, hier auf den Schlosshof. Heute Nachmittag werden sämtliche Distrikte von sämtlichen Beerensträuchern gereinigt. Verstanden! Ich will in drei Tagen keinen Strauch mehr sehen.«
Der Oberförster erhob sich wohlgefällig aus seinem Stuhl.
»Ich werde selbst visitieren. Damit wird man dieses Gesindel am empfindlichsten treffen. Ich danke Ihnen.«

Faschist mit Hochöfen

»Ich lasse meinen Schwiegersohn bitten, sich jetzt gleich noch vor der Direktorenkonferenz bei mir einzufinden.«
Knöchting, der saarländische Zementfabrikant, Stahlgießer und Brotherr von einhunderteinundsiebzig Meistern, sechshundertsechsundvierzig Angestellten und fünftausendsechs-hunderteinundachtzig Arbeitern ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Die Sekretärin schloss geräuschlos die Tür. Knöchting streichelte sein Kinn, knetete die faltige Haut und sah auf die Stahlstücke, die mit Widmungsplaketten als Plastiken und Briefbeschwerer auf seinem Tisch lagen. Museumsstücke waren es schon, dem Vater Karl von seinen ergebenen Arbeitern gewidmet in jenen guten alten Zeiten, da man noch Herr im Hause war.
Knöchting zog sich ein breites schweres Buch von einem Nachbartisch heran. Das Jubiläumswerk des Hauses. Er betrachtete den bunten Deckel, und die Lust kam ihn an, in dem Buch des Ruhmes, das sich die Familie hatte schreiben lassen, selbst zu blättern. Urkunden über den Kauf der Hütte. Photos der Väter. 1894 hatte Vater fünfzigjähriges Jubiläum. Kurz darauf bekam ich einen Hochofen.
Knöchting sah lächelnd zu den Fenstern. Jetzt steht eine Batterie da. Einundsechzig Jahre habe ich. Zehn kann ich's noch schaffen. Dann soll der Tochtermann die Zügel nehmen. Wenn er energisch bleibt, hat er dieses Volk in der Hand. Es ist gehorsam von Natur, hat auch Respekt nach oben. Er sah in das Buch, las ein paar Zeilen, blätterte weiter, stieß auf eine Urkunde: Walzwerkchef Franz D. schilderte, wie Schweißmeister Th. die Ansprache an den Vater Jubilar auswendig lernte. Das war noch eine ergebene Arbeiterschaft, treu und pflichterfüllt, einfache Menschen wie man sie brauchte. Knöchting las:
Die Rede musste ich dem braven Mann, der sich mit Feuereifer der Sache widmete, entwerfen, und er exerzierte willig nach der Schicht in meinem Büro, bis er die Rede fließend herausbekam, und er hat seine Sache auch nachher gut gemacht. Kommerzienrat Knöchting nahm die Ovation durch den Fackelzug der Hüttenbelegschaft in dem Wohnhaus seines Sohnes entgegen.
In 18 Monaten studiert vielleicht wieder einer so eine Begrü­ßungsrede, dachte Knöchting. Wenn Hitler mein Werk betritt. Wenn bis nach Lothringen die Sirenen gellen und ich ihm meine Drehbänke zeigen kann. An dem Tag wird eine Rechnung beglichen sein mit den Franzosen. Dann beginnt hier wieder das alte Deutschland.
Knöchting blätterte um:
Eine kernige Figur war auch Vater Scheichel, ein Ungar, der ebenso freundlich wie strenge im Knöchting-Werk regierte und seine Kesselputzjungen in Zucht hielt. Denn über den Wert einer Ohrfeige in der Ausbildung des »Jugendlichen« war man sich damals einig.
Knöchting schmunzelte. Die Sprache war verständlich. Mit Ironie gesagt und doch wie ernst.
Man hatte sie wirklich in den letzten Jahren mit Handschuhen anfassen müssen, die Lehrlinge. Eine Verwirrung war unter diesem marxistischen System entstanden! Heute verstand man es erst ganz. Aber der Kanzler räumte auch damit auf.
Knöchting träumte über das offene Buch hinweg: Deutschland besann sich auf seine soldatische Disziplin. Die Sentimentalität hatte man kultiviert mitten in einer Weltkrise! Da konnte kein Staat und kein Betrieb mehr mitkommen. Und für den nötigen Krieg kam so ein Volk schon gar nicht in Frage.
Es klopfte. Er schob das Buch beiseite. Ein Mann in mittleren Jahren mit der missmutigen Miene des preußischen Assessors trat ein. »Tag, Papa, du batest mich sofort zu kommen.«
»Tag«, sagte Knöchting und zog das Buch wieder an sich heran. Er schlug es auf und zeigte mit dem Finger auf einen Abschnitt. »Ich habe gerade etwas in unserer Werkgeschichte gestöbert und bin da zu meiner Verurteilung durch die Franzosen gekommen. Eigenartige Sache! Da ist die ganze Seite voll von Entschuldigungen, weil ich in Frankreich im Krieg Drehbänke und Conversatoren requiriert und so ein paar Maschinen als Granatschrott abgebaut habe. Weißt du, das war so typisch für die 14 Jahre Marxismus geschrieben. Da musste man sich mit
Ruten schlagen für seine guten Einfälle. Gott sei Dank, das ist nun zu Ende, endgültig zu Ende.«
Der Schwiegersohn war neben den Sechziger getreten und las über seine Schulter einige Passagen der Verteidigungsschrift. Es war die Chronik eines brutalen Raubzugs. Ganze Fabriken waren 1917 durch den Kommerzienrat in Frankreich verschrottet worden, systematisch wurde ein ausgedehntes Konkurrenzgebiet ausgeraubt, mit Vorbedacht setzte man die Werke in Frankreich nicht in Betrieb und nutzte die Nähe der Front, sondern ließ die Maschinen nach der Saar wandern, stellte sie in Herrn Knöchtings Riesenhallen auf. »Man hatte ins Auge gefasst«, las der Schwiegersohn, »sie nach siegreichem Krieg zu bezahlen.« Es waren ganz alte Maschinen, klagte das Buch. Not kannte kein Gebot, entschuldigte sich der Jubiläumsschmöker.
»Das müsste man wahrhaftig umschreiben«, schnarrte der Schwiegersohn. »Möchte gerne wissen, was der de Wendel mit unserem Werk machen würde, wenn die Franzosen hier eingedrungen wären!«
Knöchting schlug das Buch zu. »Nun, die Zeiten sind vorbei. Dafür sorgt das neue Berlin. Aber zur Tagesordnung! Ich habe heute den Befehl anschlagen lassen, dass künftig mit >Heil Hitler< im Werk zu grüßen ist. Ich möchte bis zur Direktorenkonferenz wissen, wie das gewirkt hat. Würdest du einen Rundgang durchs Walzwerk machen und später hier berichten?«
Der Schwiegersohn war überrascht. Er hielt es für eine Aufgabe der unteren Beamten, diesen Befehl zu überwachen. Knöchting spürte das Zögern. Ein Exempel ist nötig, dachte er schnell. Da ist die Klippe für diese junge Generation. Die sind zu stolz und riskieren nichts gegen ihren Stand. Knöchting erhob sich. Und deshalb sind sie auch nie ganz im Bild über das Volk und immer an der falschen Stelle brutal.
»Ich kann aber auch selbst gehen«, sagte er schroff. »Es ist sogar besser. Erwarte du hier die Direktoren!«
Der Schwiegersohn sah den plumpen schweren Greis aus der Tür gehen und wagte nicht mehr, ihm zu folgen. Die Luft zitterte vom Schrei der Dampfhämmer und dem Pfiff der Rangierer, die in dem verqualmten Sommertag draußen Waggons zusammenstellten. Der Getadelte klopfte verärgert auf den Tisch; er nahm den Fahrplan auf, den der Alte eben der französischen Eisenbahn für die Erzzüge vorgeschlagen hatte; ein Netz von Ziffern; Ersparnis von Bremserpersonal, von Anheiz-
kosten der Lokomotiven. Wartezeit für Entladung, alles genau berechnet. Um was er sich alles kümmerte, knurrte der Mann und griff einen Brief auf. Er las: »... und würde unser Kleinkaliberschützenverein es sich zur besonderen Ehre anrechnen, wenn wir bei unserem Stiftungsfest auf die Anwesenheit von Herrn Kommerzienrat rechnen dürften.« Papa hatte zugesagt, da stand die Notiz. Konnte man den Mann jemals einholen? Der so überall und seit Jahrzehnten die Finger drin hatte?
Er griff einen anderen Zettel: Programm für eine Genfer Reise. Zum wievielten Mal ging der Alte nun dorthin - dachte der Mann. Viel hatte er nicht erreicht, wenn man’s genau betrachtete.
Der Schwiegersohn fühlte ein Wohlbehagen. Vielleicht war der Vater dort in Genf sogar eine etwas komische Figur unter all den Diplomaten. Ein einziger Gang zu Luther hatte mehr gebracht - wann war’s gewesen? Der junge Mann drehte sich zu dem Familienbuch um und suchte das Datum. Sehr merkwürdiger Termin: am 1. Mai 1925 war’s gewesen. Da wurden die Millionen Zölle gestundet. Das rote Berlin hatte gelohnt! Mehr als Genf!
Er sah durchs Fenster. Ein düstres Nest war dieser Ort. Eine Hakenkreuzfahne steckte drüben an einem Gebäude. Die neue Zeit! Vor vier Wochen war Papa vor Hitler gestanden. Und es hatte wohl auch gelohnt.
Der Mann runzelte die kleine Stirn. Genaues war noch nicht aus Papa herauszuholen gewesen, aber es schien, als hätte der Werkbefehl damit zu tun und die Direktorenkonferenz ebenfalls. Der Kurs wurde eindeutig. Wollen sehen, was er alles dabei vorhat.

Papa Kommerzienrat war inzwischen in die erste Halle des Walzwerks getreten. Draht stieg in zitternden bleichen Stangen aus den breiten Pressen, lief durch die Hände des prüfenden Arbeiters und rollte sich auf bereitliegende Bäume. Stacheldraht für Japan, registrierte der Alte und trat mit schnellen, aber vorsichtigen Schritten an den nächsten Arbeiter heran. Die Walzen knarrten, donnernd fielen im Hintergrund Blechplatten auf die Lagerplätze, Dampf pfiff drohend aus dem Drehhaus des Hebekrans, »Heil Hitler«, sagte der Kommerzienrat.
Der Arbeiter sah eine Hand dicht neben sich hochsteigen, seine Fäuste hielten den angewärmten Draht. Er erinnerte sich an den Anschlag. Die Kollegen hatten sich morgens davor gestaut. Da kam also schon so ein Narr und provozierte. Bei mir habt ihr kein Glück, dachte der Arbeiter. Mich macht ihr nicht zum Nazi. Nie! Er griff nach vorn, um einen Augenblick Zeit zu bekommen und sah schnell zur Seite. Lauernd trafen ihn die Augen des Kommerzienrats. Der Alte - dachte erschrocken der Arbeiter und hob schon den rechten Arm. »Heil Hitler«, stieß er schnell heraus und griff dann wieder mit beiden Fäusten nach seinem Draht. Auf seinen Backen brannte Scham, als er sich vorbeugte. Übertölpelt hatte man ihn. Er wollte ausspucken, aber so, dass der Alte es noch sah. Aber Knöchting war schon weitergegangen. Dabei hat es mir meine Stellung gerettet, dachte der Arbeiter und zog wütend an dem Draht. Wenn das sein Gedärm wäre, stellte er sich vor.

»So liegt das also, meine Herren«, sagte Knöchting. »Der Streik in diesem Juli im Walzwerk war der letzte, der hier vorgekommen sein darf. Wir müssen uns freuen, dass eine solche Erneuerung in Deutschland stattfindet. Ich hatte den stärksten persönlichen Eindruck von Adolf Hitler. Das ist eine Energie, wie wir sie gebraucht haben. Wir können finanziell auf volle Unterstützung rechnen, aber dafür muss die Saarabstimmung auch ein voller Sieg werden. Wenn wir uns zum Führer stellen, dann können wir das ausnutzen. Ich sprach ihm schon von dem notwendigen Kanal nach Ludwigshafen und hatte den Eindruck, dass er gerade für solche riesenhaften Baupläne sehr zu haben ist. Er ist ein faustischer Mensch. Zeigen wir uns seiner würdig. Sie haben alle von meinem Anschlag gelesen, der den deutschen Gruß im Werk einführt. Diese Maßnahme ist wohl eindeutig?«
Knöchting sah sich im Kreis der Ingenieure und Direktoren um. Er merkte, dass der Schwiegersohn reden wollte. Warum ließ der nicht die anderen sich zuerst äußern? So kam man nie zum aufrichtigen Urteil. Knöchting übersah geflissentlich seinen Tochtermann.
»Ich habe Ihnen angedeutet«, fuhr er fort, »wie stark verbunden unser Werk dem neuen Deutschland ist. Das muss auch äu­ßerlich zum Ausdruck kommen. Wir müssen das deutscheste Werk an der Saar werden. Dieser Streik aber sagt das Gegen-
teil. In einem deutschen Werk wird nicht gestreikt. Da bestimmt die Werkleitung im Bewusstsein der Verantwortlichkeit. Sie allein weiß, was dem Arbeiter und dem Werk gut tut und was nicht. Das ist nationale Betriebsführung. Und deshalb der deutsche Gruß. Wir werden so am schnellsten die Elemente herauskriegen, die von den marxistischen Wahnideen nicht lassen wollen. Ich ging vor einer halben Stunde durchs Walzwerk und kann Ihnen erzählen, dass keiner, aber auch keiner den Gruß verweigerte.«
In strengem Hochmut sah Knöchting seine Kapitäne an. Er fühlte, wie sie verstummten. Einen Augenblick wärmte ihn das Gefühl seiner tyrannischen Macht, dann weckte ihn das Misstrauen des Taktikers: »Wenn Sie einen Einwand haben, bitte!«
Einer der Direktoren räusperte sich zweimal verlegen, dann meinte er, es sei vielleicht nicht opportun, offiziell als Entlassungsgrund das Verweigern des deutschen Grußes anzugeben; noch verstoße das - leider, so müsse auch er sagen - gegen die Arbeitsgesetzgebung des Saargebiets.
Knöchting nickte befriedigt: »Der Gruß soll nur zur Entlarvung führen. Das sind ja alles Saboteure. Es wird nicht so schwer sein, nachzuweisen, dass sie in der Arbeit genausowenig tauglich sind und schädigend wie in ihrer vaterländischen Gesinnung.«
Der Schwiegersohn beherrschte sich nun nicht länger. »Ich fürchte Unannehmlichkeiten«, meinte er. »Wir haben fast jeden Monat einen unserer französischen Kunden hier, der sich auch das Werk ansehen will. Man liebt den Hitlergruß vorläufig in Frankreich noch nicht so allgemein. Was tut man in solch einem Fall?«
Damit ist mal wieder bewiesen, was du für ein Anfänger bist, dachte der Alte, aber er lächelte. »Vielleicht sprechen wir jetzt gesondert vom ausländischen Markt, aber nebenbei, mein Lieber: ich glaube, es wird ein leichtes sein, unsere französischen Klienten durchs Werk zu führen, ohne dass sie Anstoß nehmen. Es liegt an Ihnen, meine Herren, in diesem Fall die Arbeiter von dem nationalen Gruß durch ein einfaches >Guten Tag< abzubringen. Für einen Franzosen ist dieser Gruß wohl auch unpassend, um nicht zu sagen, zu schade. Das unter uns. Ich komme dann zu unserer internationalen Beziehung. Das Pariser Büro meldet gute Aufträge. Die Zementlieferungen haben nachgelassen, seit drüben die chinesische Mauer steht, aber
man interessiert sich jetzt mehr für unsere Stahle. Das Spezialrohr, das nach Diedenhofen ging, hat gefallen. Ich rechne mit großen Lieferungen, wahrscheinlich auch mit Geschützstahl. Aber es ist wichtig, dass noch geschickter getarnt wird. Meine Herren, ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, dass der Kaufmann jedes Geschäft machen muss, das reell ist und Gewinn verspricht. Wir haben jetzt mit Registermark-Erleichterungen einige Verluste wieder wettmachen können. Die französischen Aufträge werden eine weitere Belebung bringen. Aber gerade weil wir der deutscheste Betrieb werden wollen und vielleicht auch schon sind, muss ich Sie bitten, alle Sorgfalt zu verstärken, dass nichts ausspioniert wird, dass allem entgegengearbeitet wird, was uns da vor der Öffentlichkeit bloßstellen könnte.«
»Die > Arbeiterzeitung< bringt seit Wochen schon Anklagen«, unterbrach wiederum naseweis der Tochtermann.
»Wir werden sie mit Stillschweigen übergehen«, fuhr Knöchting fort. Man hörte, dass er nicht gern erinnert war. Der Boden federte unter seinem Stuhl.
Sah Knöchting einen Augenblick ein, wie verräterisch sein Fall dem System werden konnte? Dass die Großen untereinander schacherten, wussten viele, in den Ministerien gab man nichts darauf. Aber es gab Grenzen, und Knöchting überschritt sie. Er war mit Gefängnis bestraft von dem französischen Konkurrenten, dem er die Fabriken ausgeplündert. Keinen Tag hatte er abgesessen davon, aber neue Geschäfte machte er mit jenen Feinden. Er kaufte ihnen Erz ab, schmolz es um, und es wurden Geschütze daraus, die dem revanchereifen neuen Deutschland einst in die jugendlichen Visagen knallen würden. Knöchting, der Patriot, ließ sich vom braunen Deutschland die Zölle schenken, um Frankreich den Zement für jene Bastionen zu liefern, vor denen Deutschlands Arbeiter sich verbluten würden. Wer weiß wie bald? Knöchting kochte in seinen treudeutschen Hochöfen, an deren Estrade die Fahne des krummen Kreuzes steckte, das französische Erz, das eines Tages zurückraste aus den nahen französischen Panzertürmen, um die Hochöfen zu zerfetzen, in denen es gekocht worden, um den Arbeiter zu zerreißen, der für Knöchtings Magerlöhne das Feuer darunter geschürt. Wahnsinn über Wahnsinn! Aber Knöchting machte sich seine Methode dazu. Seit Hitler rechnete er nun auf Krieg; 1935 würde seine Hütte zur Waffenschmiede werden; dann wanderte das Erz nach Osten, die Zementwaggons wurden auf die Höhen des Hunsrück gefahren, und Knöchting wurde der Lieferant für den Bau der zweiten, der deutschen chinesischen Mauer. Utopie? Knöchting setzte auf das neue Deutschland, und der Eisenfabrikant wusste: Eisen ist begehrt, wenn eine Nation »erwacht«.
»Durch Herumreden wird so ein Geschwätz erst zu einem Faktor«, sagte er. »Ich bitte Sie aber ausdrücklich, im Werk für Diskretion zu sorgen. Vielleicht konstruiert man zur Abschreckung einen Werkspionagefall. Außerdem ist die Technik der falschen Frachtbriefe zu vervollkommnen. Auf dem Verladebahnhof ist das Personal zu ersetzen; jedenfalls zu sieben.«
Ich werde mir die Leute dort selbst ansehen, beschloss Knöchting. Er war überzeugt, jedem Arbeiter bis ins Herz schauen zu können. Heute werde ich schon hinuntergehen, entschied er. Plötzlich war sie riesengroß vor ihm, die Gefahr der Entlarvung. Es ist Zeit, dass der Nationalsozialismus hier einzieht. Dann ist alles zu vertuschen. Dann deckt uns Fabrikanten die Autorität, und der Hetzpresse ist das weite Maul zugestopft. Achtzehn Monate noch, eine kurze Zeit, aber man musste arbeiten, dass sie nicht noch zu skandalösen Enthüllungen führte.
Die Direktoren standen in ihren glatt gebügelten Anzügen und in der ganzen peinlichen Sauberkeit der hochbezahlten Spießbürger um den alten Despoten herum und ertrugen geduldig seine langen Sprechpausen. Nur der Tochtermann runzelte manchmal die enge Stirn; er fühlte sich verantwortlich für den Familiengreis, und der schien heute besonders zerstreut. Eben hatte er mitten im Satz aufgehört. Die Kriegsvision lenkte ihn ab. Knöchting kalkulierte. Noch anderthalb Jahre, dann war er wieder ganz Herr im Haus. Und war der Herold der deutschen Sache gewesen, hatte alles getan, und keiner konnte ihm was anhängen; nein, keiner! Dann saßen sie im Konzentrationslager, die jetzt noch Skandal machen wollten.
»Das hängt alles zusammen«, begann er wieder. »Und deshalb hören Sie zum Schluss auch noch meine Meinung zur Innenlage an der Saar. Ich denke, dass ich den Herren den Eintritt in die Nationalsozialistische Partei nicht erst zu empfehlen brauche. Damit ist aber nicht genug getan. Empfehlen Sie durch die Werkmeister den Eintritt in die NSBO. Und weiter: wir müssen aktiv das Vereinsleben vom Werk aus zu neuen Impulsen führen. Rücksichtslos vorgehen gegen alle, die es nicht
für nötig befinden, dem großen Ruf des Führers zu folgen. Weiter ist festzustellen, welche Firmen noch Aufträge vergeben an Saarländer, die nicht zum neuen Deutschland stehen. Meine Herren, Sie haben alle Beziehungen zu Bürgermeistern, zu Kreisämtem. Wir brauchen die Saarbrückener Regierung nicht, wenn wir diese unteren Instanzen in die Hand bekommen wollen. Das gleiche gilt in der Schulfrage. Die französische Domanialschule muss als Schreckenskammer hingestellt werden für jeden, der sein Kind noch hinzuschicken wagt. Drohen Sie mit Entlassung! Wir müssen uns als Führer auch außerhalb des Büros zeigen.«
Er richtete sich im Sessel auf, die Pathetik packte ihn völlig, und hohl und verlogen klang seine Stimme, als er fortfuhr: »Wir sind jetzt nicht allein Ingenieure, wir sind jetzt jeder einzelne Apostel einer großen Sache, die in den Endkampf kommt. Vergessen Sie nicht: wenn dieser Tag gekommen ist, sind wir wirklich wieder die Herren im Haus. Und erst dann wird es wieder eine Freude sein, zu leben.«
Knöchting schien zu Ende gekommen zu sein. Die Direktoren zögerten noch, ihre Verbeugung zu machen und zu gehen. Ängstlich, unselbständig hielten sie da Wache um den einen Mann, dessen Schroffheit sie erst kopierten in ihrem eignen Bürobereich. Dort waren sie gefürchtet wie er. Aber hier, vor ihm waren sie klein und hatten jetzt nur das eine verstanden: der Alte hielt ganz scharfen Kurs auf Hitler. Blitzschnell überprüften sie ihre Mitarbeiter. Gewiss würde es Umstellungen geben. Der Alte hatte zweifellos Einstellung von Pgs versprochen. Würde man auch in der Direktion zu großen Veränderungen kommen? Die Furcht ging um im Kreis der beleibten und eleganten Unterführer.
»Eh ich’s vergesse«, sagte Knöchting, »bereiten Sie Ihre Büros mit allen Mitteln auf die Saarkundgebung am 27. August in Rüdesheim vor. Ich wünsche, dass alle meine Angestellten teilnehmen. Es ist vaterländische Pflicht. Wie Sie das schaffen, ist Ihre Sache. Das ist die politische Lage. Mehr ist heute nicht zu sagen.«
Nun verneigten sich die Direktoren. Auch der Schwiegersohn verneigte sich, aber er erwartete, durch ein Wort noch eine Minute festgehalten zu werden; das gab Abstand zu den Direktoren.
Knöchting merkte es. Man muss auch da härter werden,
dachte er. Kalt sah er den Tochtermann an und entließ ihn. Einer der Direktoren drehte sich an der Tür nochmals um. »Heil Hitler«, sagte er. Knöchting hob den Arm und grüßte zurück. Schnell hoben nun auch die anderen noch den Arm, einige ohne sich in dem Gedränge der Tür erst umwenden zu können. Es war etwas lächerlich, aber es war doch der Beginn der neudeutschen Epoche im Direktionskader des Rüstungsmagnaten Knöchting.

Faschist als Bürgermeister

Ein nackter Schulsaal im Gemeindehaus. Ein einziges Bild an der hinteren Wand über den Publikumsbänken; Reproduktion des fetten Martin Luther. Keiner sah ihn an, weder die langsam um das große Hufeisen der Tische sich versammelnden Gemeindevertreter noch die jungen Burschen im Antifahemd dicht unter seinem Bild.
Noch war nur das Gemurmel einer wartenden Versammlung im Raum. Von draußen aus dem brütenden Julitag kam vereinzeltes Geknatter eines abfahrenden Motorrades. Dann schaute einer der Männer im Publikum hoch und sah mit müden Augen auf die Wälder um das Dorf, in die hohe Schlackenberge hineingefahren wurden, als noch die Schornsteine rauchten. Jetzt wehten kleine Rauchfahnen an den Mündungen der Schornsteine, und träge hing das Rad einer Zeche in dem Geäst des Fördergerüsts. Die Krise hatte ihre Kulissen um das Rathaus gestellt; verschmutzt kam selbst die Sonne durch die aus Ökonomie ungeputzten Fensterscheiben. Ein Arbeiter gähnte laut. Von den Tischen der Abgeordneten traf ihn der strafende Blick eines christlichen Ratsmitglieds. Dann knallte eine Türe, ein Mann trat eilig in den Saal, warf einen Arm Mappen auf den Tisch und schlug auf eine kleine Stehglocke.
»Die Gemeinderatssitzung ist eröffnet!« sagte er und hob die Brillengläser streng über alle Versammelten. Man rückte die Stühle zurecht. An der offenen Saaltür zeigte sich in der gelben Uniform der Völkerbundspolizei ein Landjäger. Er prüfte rasch noch sein »Schlachtfeld«.
»Meine Herren«, sagte der Vorsitzende, »der Haushaltsplan ist Ihnen zugegangen.« Seine Stimme erinnerte an die jungen Fähnriche, die zum ersten Mal vor die Korporalschaft gerufen
werden, um das Kommandieren zu lernen. Er trägt wahrhaftig das Hakenkreuz, entdeckte der junge Sozialdemokrat an der Fensterseite.
»Ich brauche Ihnen deshalb nicht mehr viel zu sagen. Sie sehen, wie sich die Lage verschlechtert hat. Wir treten in die Besprechung der einzelnen Etats ein ... «
»Zur Geschäftsordnung!« sagte eine Stimme. Ein Kommunist stand auf: die Erwerbslosen, die Kumpels und die Frauen auf den hinteren Bänken reckten die Hälse. Der Kommunist erklärte, dass er einen Dringlichkeitsantrag einbringe, der nicht weniger enthalte, als ein Misstrauensvotum gegen den stellvertretenden Bürgermeister, den er und seine Fraktion nicht für befähigt hielten, der Gemeinde in so schwerer Zeit vorzustehen: »Ich spreche nicht von seiner politischen Einstellung; darin ist er sich ja wohl mit vielen Herren hier einig, wenn sie auch noch nicht so deutlich wie der schnell bestimmte Ersatzbürgermeister das Mörderkreuz des dritten Reiches tragen - ich spreche von seinen Leistungen, er ist ein völlig unfähiger Verwaltungsbeamter, wir prangern diesen Skandal an und verlangen Abstimmung darüber.«
Der Kommunist setzte sich. Die Wilhelmsthaler schmunzelten. Die Zentrumsmänner fanden die Aktion peinlich. Der Fehdehandschuh lag vor dem stellvertretenden Bürgermeister. Der Stellvertretende biss auf die Lippen und ließ abstimmen.
Dreizehn Zentrumsmänner, zwei Nationalsozialisten, ein Deutschnationaler und zwei Bürgerbündler erklärten mit erhobenen Händen, dass die Leistungen des Vorsitzenden ihr Vertrauen verdienten - die Sozialdemokraten stimmten mit den Kommunisten dagegen.
»Wir stimmen dann ab über den Elektrizitäts-Etat. Will dazu jemand das Wort?« Die Zentrumsmänner verzichteten, die übrige Rechte sah auch keinen Grund zum Widerspruch. Ein Kommunist hob die Hand.
»Ich zweifle nicht daran, dass man sich die Arbeit hier leicht machen will. Die Herren von der Rechten sind sehr stumm geworden. Als Funktionäre ihrer Klasse sind sie wohl gezwungen dazu. Wir aber als Vertreter des werktätigen Volkes haben keinen Grund zu schweigen, wir haben nur Grund zu protestieren. Man hat die Zählermiete erhöht. Sie sprechen nicht gern davon. Wir wissen, wer Sie stumm macht, meine Herren. Sie rühmen sich, dass einer der Ihren Erfolg hat. Das Elektrizitätswerk des Herrn Direktor Michelmeyer rentiert sich. Was sind wir doch für tüchtige Bürger! Aber auf wessen Kosten, meine Herren? Sie legen sich zur Ruhe, meine Herren. Gut, aber wir schlafen nicht. Wir hören den Schrei der Not aus den Hütten um dieses Haus. Sie aber legen neue Steuern auf die Ärmsten der Armen. Sie verlangen neue Mieten für Zähler, Sie verteuern den Strom. Wollen Sie verhindern, dass der Arbeiter am Abend seine Zeitung liest? Wollen Sie auch aus dem Strom des städtischen Kraftwerks ein Sonderrecht der Villen und Bürgerhäuser machen?
»Wir wissen, welchen Etat Sie damit ausbalancieren wollen. Ihren Polizeietat, meine Herren, an dem Sie auch in diesem Katastrophenjahr keine einzige Abstreichung gemacht haben -«
Die Klingel des Vorsitzenden tönte: »Wir sprechen jetzt nur vom Elektrizitätsetat!«
Die Wilhelmsthaler murrten. Der Kommunist lachte höhnisch. »Ich beantrage im Namen meiner Fraktion die Verbilligung des Stroms für alle Erwerbslosen und die Streichung der neuen Zählermieten für alle Werktätigen und Erwerbslosen.«
Der Vorsitzende stellte mit Befriedigung fest, dass der Kommunist sich gesetzt hatte und winkte schnell einem Zentrumsmann, der sich langsam und gebrechlich erhob. Er hatte vorstehende kranke Augen, ein kummervolles Gesicht und atmete schwer. Er meinte, die Kommunisten übten Kritik von einem einseitigen Standpunkt. Der Vorredner lachte: »Jawohl, wir sind einseitig! Da sitzt unsere Seite!« sagte er und zeigte in das Publikum, das lächelnd antwortete und sich durch frohes Zunicken zu seinem Vertreter bekannte.
»Aber Sie müssen doch mit den realen Tatsachen rechnen«. jammerte der Zentrumsmann.
»Die Tatsache ist die Not.«
Der Vorsitzende klingelte: »Ich bitte die Zwischenrufe zu unterlassen!«
»Wir sind noch nicht im Dritten Reich.«
Der Vorsitzende schlug wütend auf die Klingel: »Unterlassen Sie es, mich dauernd so zu provozieren!« Gelächter antwortete.
Die Klingel knallte jetzt mehrere Male; der Vorsitzende beugte sich drohend vor. An der Tür zeigte sich der Landjäger.
Der Kommunist sah, wie der Vorsitzende und der Landjäger sich Zeichen gaben. So leicht mache ich euchs nicht, dachte er und setzte sich langsam wieder hin.
Der Landjäger zog sich zurück.
»Wir sind alle schuld, dass es soweit kam«, meinte der Zentrumsredner christlich larmoyant. »Aber wir müssen Erhöhungen bewilligen. Es muss doch eine Einnahme da sein. Ich halte es deshalb für gut, dass wir schnell über diesen Etat hinweggehen.«
Nun lachten zum ersten Mal die Wilhelmsthaler, lachten auch, als der Vorsitzende sie mit seiner Stehglocke mahnend anklingelte. Auch der wiedererscheinende Landjäger störte sie nicht. Das Volk freute sich über die Naivität des Parlamentariers. Freute sich, dass er glaubte, mit Bitten etwas zu erreichen. Das Volk fühlte sich plötzlich so sesshaft auf seinen Bänken, die die Bänke von Richtern geworden waren.
Der Vorsitzende ließ schleunigst abstimmen. Der Elektrizitätsetat wurde gegen die Kommunisten und Sozialisten angenommen. Die Rechte brauchte Einnahmen, sie achtete Tatsachen und nicht die Not. Man ging zum zweiten Punkt über: zum Haushaltsplan.
Diesmal meldete sich als erster ein Zentrumsmann. Er war gesünder als sein Fraktionskollege, trug die Haare schroff nach oben gebürstet wie Hindenburg während des Weltkrieges. Aber er sprach nicht aus einer Siegfriedstellung, es war die Brüningetappe. Mit vielen Rückendeckungen, scheinsachlich, scheinsozial, biedermännisch, ein kleinbürgerlicher Jesuit, der Stegerwald der Dorffraktion. Man hatte erfahren, dass er die Taktik des Tages in Anwesenheit der Landjäger vor einer Stunde festgelegt hatte. Man hatte ihn dann mit dem Nazivorsitzenden zusammen gesehen - warum sprach er noch?
Er fürchtete die öffentliche Meinung ebenso wie das Dritte Reich. Er war mit seiner großen Fraktion auf der Wanderschaft zwischen zwei Zeiten; hinter ihm war Brüning und die Zeit der schwarz-roten Koalition - vor ihm lag im Nebel von 1935 das Braune Reich. Und in seiner Aktenmappe war der Brief des Reichsvorstandes, der ihn zu einer geheimen Gleichschaltung aufforderte.
Aber nun im Gehen und Schwanken, im Rückwärtsschauen und Vorwärtsschielen hörte er die Rufe der Masse. Er wollte sie nicht hören, sie riefen weder Heil, noch schwenkten sie die Fahnen der Republik; es wurde ihm rot vor den Augen, aber aus
der Tür, die auf den Korridor des Rathauses führte, hörte er beruhigend die Stiefel der Landjäger. Und nun sah er noch einmal auf seinen Redezettel, las die aufgeschriebenen Mahnworte »sozial, sozial«, sagte es sich dreimal, und in der Überzeugung, dass Brünings Worte von Sparsamkeit und Opferbereitschaft aller für alle noch jetzt im Juli 1933 wirksam wären, sagte er in ernster Melancholie:
»Man könnte das Gruseln kriegen, wenn man diesen Etat liest. 325 % Gemeindeumlage. Elend und Steuerrückgang. Erwerbslosigkeit und Stillstand der heimischen Industrie. Keine Aussicht auf Besserung der Weltwirtschaftskrise, die all das verschuldet. Und wachsende Unzufriedenheit und Demoralisierung in der arbeitenden Bevölkerung.
Ja, es wäre vielleicht besser, wenn nicht da Hetzer am Werk wären, die die Unzufriedenheit noch verstärkten -«
Im Publikum saß Ernst, ein kommunistischer Funktionär. Er stellte sich jetzt hoch aus seinem Sitz, er suchte den Blick des Genossen vorn am Fraktionstisch; er wollte ihn warnen, den Redner zu überhören. Die Wilhelmsthaler neben ihm waren lebendig geworden, seit dieser Zentrumsbürger sprach. Misstrauisch, aber aufmerksam hörten sie zu. Das ist eine große Gefahr hier an der Saar, dachte Ernst: der korrekte Christliche, der vielleicht sogar mit sozialen Teilvorschlägen praktischer Art ankommt. Dem glauben sogar die Erwerbslosen, und später verkauft er sie an Adolf oder an Paris, wo es gerade am besten geht.
Ernst sah seine Genossen an den Tischen mit ihren Papieren beschäftigt. Hoffentlich passen sie doch auf, dachte er. Eigentlich wissen sie ja, worum es geht. Sie müssen alle entlarven heute. Es war die vorletzte Etatsberatung vor dem Wahlkampf; das musste anhalten für zwölf Monate. »Unterschätzt diesen Tag nicht«, hatte er ihnen gesagt. »Ran und mit Vernunft- und wenn’s nicht anders geht, dann eben ruhig Krach schlagen.«
Er machte vorsichtige Zeichen mit der Hand; zu gern hätte er den Fraktionsleiter angerufen, aber der war völlig in sein Material vertieft. Sein blonder Kopf hing über dem Stapel Papier, das der Diener jedem der Vertreter noch mal vor den Platz gelegt hatte. Abwechselnd brannte ihn der Zorn und trübte ihn der Kummer.
Seine rechte Hand tastete über die Statistik der Gemeinde. Der Stumpen des Zeigefingers stand hoch aus der Hand; lebenslängliche Erinnerung an das Hetztempo im Eisenwerk. Er las jetzt leise die Ziffern nach. 14700 Einwohner hatte die Gemeinde. Und nur 108 Ortsarme. Gut gelogen. Toll! 108 Arme nur, aber zweidrittel der Arbeiter sind erwerbslos. Was nennen die denn arm!
Er suchte die Unterstützungsanträge. Da waren sie! 1209 hatten appelliert an ihre Gemeinde. 605 waren abgewiesen worden. Der Kommunist kannte die Ablehnungen, man brachte ihm die amtlichen Zettel ins Haus. Die Proleten, dachte er, hoffen, dass wir noch einmal nachstoßen. So viel Glaube an uns ist in der Bevölkerung. Wann einmal werde ich nicht enttäuschen müssen?
Er dachte grimmig an die Jahre, die kamen. Welch eine ungeheure Arbeit würde getan werden müssen, wenn nur mal die Macht da war! Rote Kommissare waren ja keine Zauberkünstler. Sie versprachen auch keine goldenen Berge.
Aber wir werden ein Sofortprogramm haben, dachte er zufrieden. Es wird niemand mehr in diesem Dorf geben, der friert und von seiner windigen Baracke aus die Kohlenberge muss liegen sehen. Es wird keinen Beamten mehr geben, der für seine Arbeit im geheizten Büro 5000 monatliche Franken einsteckt, während die Arbeiter der Minen glücklich sein müssen, wenn sie 500 Franken in unsicheren Stollen herauskratzen können.
Seine verstümmelte Hand ging den Vergleichzahlen der Jahre 1930, 1931 und 1932 nach. Er war beim »Gesundheitsprotokoll«. Eine heilige Wut kam über ihn. Er sah die Kinder des Dorfs vor sich, wie sie mit krummen Gelenken an den Halden herumkletterten, vor zerfallenen Baracken im Schlamm der schlecht kanalisierten Straßen saßen. Vor einer Stunde noch war er in so einer Wohnung. Neun Personen in einem Zimmer von drei mal fünf Meter. Der Nachthafen mitten im Zimmer. Die verwanzten drei Betten für neun Personen nur mit verwühltem Stroh bedeckt. Und am Boden krochen die Würmer, schleppten die verknorpelten Glieder über die aufgerissenen Dielen, zankten sich um ein altes abgegriffenes Portemonnaie. Lumpenproletariat! Na, so sagt Ihr. Und Ihr habt es schon aufgegeben!
Er schrieb sich neue Ziffern auf. Die Zahl von 1930 und die Zahl von 1932. Dicht nebeneinander standen die beiden Zahlen und klagten an. Er machte ein Kreuz hinter die Zahl des
letzten Jahres. Eine schreckliche Kurve zog da vor seinen Augen abwärts, immer in der gleichen Richtung.
Mitten drin stand großspurig der »Besitz« der Gemeinde an Grund und Häusern; es las sich wie ein Sterbelied:
An Gebäuden besaß die Gemeinde ein Rathaus (in dem die Verwirrung herrschte und hochbesoldete Beamte), sechs Beamtenhäuser (in denen man sich schon auf das Dritte Reich umschaltete), zehn Schulhäuser (zu denen siebenzig von hundert Kindern ohne Frühstück kamen), elf Wohnhäuser (deren Mieten so hoch waren, dass die Barackenbewohner die Miete nicht zahlen konnten) und zum guten Ende zwei Totengräberwohnungen (hier wohnten die einzigen Beamten, deren Gehalt rentabel angelegt war; sie verscharrten Unterstützungsempfänger; sie befreiten die Gemeinde von unnützen Fressern).
Der Kommunist blieb gebannt immer wieder auf diesem düsteren Bilanzposten stehen: »Außerdem befinden sich auf dem Friedhof ein Leichenschauhaus und ein Umkleideraum.«
Er sah die Kindersärge, die ungehobelten Bretterkästen der Selbstmörder und der namenlosen Wanderburschen. Man sollte an jedes Grab die Todesursache schreiben in diesen Jahren. Man sollte die Grabsteine zu Anklagen benutzen.
Er war jetzt wieder bei den Zahlen der Tuberkulösenfürsorge. Der Zentrumsmann gegenüber redete von der hohen Verantwortung, die in der Summe für ansteckende Krankheiten ihren Ausdruck fände.
Verantwortung? Ich werde es dir beweisen. Der Kommunist strich sich die Zahlen in seinen Papieren an.
In der Tuberkulösenfürsorge befanden sich:
1930 - 331, 1932 - 344. Die Zahl ging also nach oben. Aber die Untersuchungen? Ärztliche Nachuntersuchungen fanden statt: 1930 - 1077, 1932 - 345. Das nennt man »Verantwortung«.
Hausbesuche durch die Fürsorgeschwestern fanden statt: 1930-1396,1932-770.
Laufende Desinfektionen wurden vorgenommen: 1930 -752,1932-83.
Wie ein Hohn stand über der Rubrik immer noch »Gesundheitsfürsorge«. Die Gemeinde hatte Solbäder, sie machte Reklame damit, sie nannte den eingemeindeten Nachbarort einen Luftkurort.
»Man muss natürlich auf Mittel sinnen, auch fremde Kapitalien ohne Anleihen zu uns zu ziehen. Durch Fabrikanten und Sommergäste«, sagte eben der Zentrumsmann. Sinn du nur, wir werden dir andere Gäste ins Haus bringen! Der Kommunist las unter »Kinderfürsorge«: Zahl der Kinder, die Solbäder erhielten 1930 - 84,1932 - 37. Zahl der abgegebenen Einzelbäder 1930 - 843,1932 - 316. Zahl der Einzelbestrahlungen 1930-1587,1932-250.
Der verstümmelte Finger zitterte über die Schreckensziffern. Da war auch der Etat der Landjäger! Man hatte ihnen keinen Pfennig gestrichen. Man weiß, was sie wert sind, um uns niederzuknüppeln. Er blätterte um: 233 851 Franken. Eine Erhöhung um 10000 gegenüber dem Vorjahr. Getarnt als Ausgabe »zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten«. Der Kommunist lachte böse: wir sind die heimlichen Krankheiten.
Der Zentrumsmann war eben zu Ende gekommen. Seine kleinen Parteigänger wackelten wie Mandarine zustimmend mit dem Kopf: Was sind wir doch für eine gute Fraktion! Was haben wir doch für einen klugen Vorsitzenden!
»Meldet sich sonst noch jemand zur Diskussion? Dann hat Herr Winter das Wort.«
An der Tür zeigten sich wieder die Landjäger, orientierten sich, verschwanden: der Kommunist kam an die Reihe. Ihr Zeitpunkt war nah. Man hörte im Korridor, dass alle aus der Polizeinebenstube sich sammelten.
Der Kommunist hatte sich erhoben und sofort eine Wendung zu den Bänken des Publikums gemacht. Es ging nur um diese. Der Bürgermeister, die lange Reihe der Zentrumsherren, das war Vergangenheit, ängstlich zitternde oder brutale Vergangenheit. Da hinten saß die Zukunft, da saßen die Mitglieder des Dorfsowjets. Nur an sie wandte er sich.
Es ginge, sagte er, hier ja gar nicht um eine wirkliche Beratung. Jeder im Saal wisse, dass im ganzen Saargebiet kaum ein Etat existiere, den die Saarregierung nicht den Gemeinden aufgezwungen habe. »Warum sitzen wir also hier? Um euch, Arbeiter und Erwerbslosen, einige Zahlen zu sagen, aus denen Ihr sehen könnt, was mit euch gespielt wird. Niemals soll man aber vergessen, dass der Kampf auch noch außerhalb dieses Hauses ausgefochten wird.
Ich habe gehört, dass man sich so liebevoll eines fremden Kapitalisten hier angenommen hat. Es ist der Schuhfabrikant X. Man hat ihm die Mahlwerke in Ordnung gebracht von Gemeindegeld. 150000 Franken wurden bewilligt. 170000 sind bis jetzt verpufft. Und das Resultat: einige Monate haben unsere ärmsten Genossen mit ihrer ganzen Familie auf Heimarbeit von morgens früh bis abends spät die Opanken geleimt und geschnitten, um ganze siebzehn Franken. Es kam kein Stück Brot mehr ins Haus. Unter euch sitzen genug, die das bestätigen können. Und heute hört man, dass die Fabrik zumachen muss. Die Herren haben genug verdient. Wir haben ihnen die Fabrik gestellt, unsere Kinder haben ihnen die Ware gemacht. Die Stadt hat sich für einige Monate um einige tausend Franken Unterstützung drücken können. Und der Fabrikant macht die Bude zu, sobald es ihm passt. Das nennt man Ankurbelung der Wirtschaft. Die Zentrumsleute sind Biedermänner: zum >Besten des Volkes< soll das nun gewesen sein. Wir allein haben von Anfang an gewarnt.
Wir haben genauso gewarnt vor den Anleihen, die jetzt auf der Stadt liegen wie Blei. Man muss doch schon staunen, mit welcher Unverfrorenheit die Zentrumsleute heute über die Anleihen jammern. Dieselben Leute, die vor Jahren dafür gestimmt haben. Da kommen sie aus dem Haus heraus und schreien: es brennt. Und meinen, wir wüssten nicht, wer es angesteckt hat. Wir haben ein gutes Gedächtnis und unsere Freunde dahinten ebenfalls. Die vergessen so leicht nichts. Ihr lasst ihnen Zeit zum Nachdenken. Und wir gestatten uns, den Gedanken die Richtung zu geben. Da haben sie mal wieder vom >Hetzen< geredet: sie sagen, ihr wärt viel zufriedener, wenn wir nicht wären. Sie wollen uns weismachen, ihr kämt nicht von selbst auf den Gedanken, wer euch in das Elend hineingejagt hat. Sie wollen euch dumm machen. Aber ich erkläre hier im Namen meiner Fraktion: jawohl, wir hetzen! Denn Hetzen heißt die Augen öffnen, hetzen heißt aufklären, die Fronten zeigen. Das Wort nützt euch nichts. Wir reden deutsch. Wir nennen unser Sofortprogramm: Tariflöhne für die Pflichtarbeiter. Winterhilfe für alle Erwerbslosen. Kohlenlieferung auf Gemeindekosten. Besteuerung der Gruben. Verbilligung des Stroms. Nicht wahr, das ist wieder >Hetzen<! In Wirklichkeit ist es wahre Hilfe gegen die Not. Euer Tadel wird zum Lob vor dem wahren Wilhelmsthal. Wir sind nicht fein, wir nennen die Dinge beim Namen, wir haben nicht den Ehrgeiz, in eurer korrupten, verfallenden Welt als gottergebene, bescheidene Bürger zu gelten. Wir reden und klagen an, bis alle sehen, was für eine Affenkomödie hier und überall gespielt wird -«
Die Klingel des Nazivorsitzenden tönte: »Ich rufe Sie zur Ordnung!« Aber der Redner kümmerte sich nicht darum, er hielt die Augen auf seinem Publikum:
»Wir klagen an, weil wir nicht ruhig bleiben wollen vor diesem Schandelend, vor euren Schergen -«
Der Vorsitzende schlug zum zweiten Mal die Klingel und ließ die Hand für das letzte Mal gleich darauf liegen: »Ich rufe Sie ein zweites Mal zur Ordnung.«
Die Wilhelmsthaler hatten sich zum Teil von den Plätzen erhoben. Ernst sah, wie die Genossen neben ihm sich erhoben. Der Kampf begann. Ihre Augen hingen am Mund ihres Sprechers. Wollten sie ihn verteidigen, wenn man ihn entfernte?
»Wir klagen an«, sagte der Kommunist, »weil das Volk wissen soll, wie unsere Anträge für die Erwerbslosen abgewürgt werden, weil alle wissen sollen, dass genug Geld aus der richtigen Grubenbesteuerung herauszuholen wäre, wenn die Bürgerschaft nicht vor dieser Grubenbehörde ebenso kriechen würde, wie sie jetzt vor den Fronvögten Deutschlands schon kriecht, vor Adolf und seinen Kumpanen-«
Der Vorsitzende schlug ein drittes Mal auf die Klingel. Die Wilhelmsthaler sprangen sämtlich von ihren Sitzen. Ernst registrierte erfreut den Erfolg: jetzt entlarvte sich der Nazi, und morgen schon konnte man allen Erwerbslosen zeigen, was für eine Farce so ein Gemeinderat im Kapitalismus war. Die Landjäger erschienen an der Tür. Ängstlich und mit verlegenen Gesichtern saß die Reihe der Zentrumsmänner da. Der Vorsitzende winkte den Landjägern: »Ich fordere Sie auf, den Saal zu verlassen, Herr Winter!«
Die Landjäger kamen langsamen Schrittes um die unteren Gabeln des Hufeisens.
»Ich kümmere mich nicht um Ihre Ordnungsrufe«, sagte Winter. »Ich spreche mit dem werktätigen und erwerbslosen Volk von Wilhelmsthal. Ich verlese diesem die Anträge, die wir gegen diesen Etat und über den katastrophalen Gesundheitszustand der Arbeiter und ihrer Kinder eingebracht haben -« er hob die Stimme - »und die man hier verschweigen will!«
Ein Landjäger stand jetzt neben dem Kommunisten. Er wagte noch nicht ihn anzufassen. Zornröte färbte das Gesicht des Funktionärs. War man ohnmächtig gegen diese Uniformen? Zwei weitere Landjäger kamen. Sie tun, als wenn man
ein Schwerverbrecher wäre! Er spürte die Hand des ersten Landjägers auf seinem Arm.
»Laß die Finger da weg!« schrie er, sein Zorn verwirrte seine Gedanken. Er sah in den Saal, sah die Wilhelmsthaler - standen sie nicht bereit, mit ihm die ganze Bande aus dem Zimmer zu fegen? Er sah den Genossen Ernst unter ihnen, der ihm vor der Sitzung Rat gegeben hatte. Sollte man dazwischenschlagen? Nein, das ist undiszipliniert, das ist verpufft wirkungslos. Einmal noch richtete er die Augen in die starren, grauen Pupillen des Büttels, lachte verächtlich und verließ dann seinen Platz.
Als er, gefolgt von den drei Uniformierten, an den Bänken der Wilhelmsthaler vorbeikam, rief eine einzelne Stimme »Rotfront«.
Der Nazivorsitzende sprang auf: »Wer hat da gerufen?«
»Hier«, sagten zu gleicher Zeit drei Burschen. Sie standen grinsend auf und verließen demonstrativ den Saal. Ernst musterte seine Nachbarn; wie rasch griff so eine Bewegung um sich; sie saßen alle wie zum Sprung bereit auf ihren Bänken. Schon war es ein Duell zwischen dem Bürgermeister und den Arbeitern der Gemeinde.
Vorne erhob sich die ganze Fraktion der Kommunisten. »Wir protestieren«, sagten die Genossen am oberen Ende des Fraktionstisches.
Aber nun schlug ohne Unterbrechung die Glocke dreimal an. Verkürztes Verfahren: zwei weitere Genossen mussten den Saal verlassen. Die noch nicht ausgewiesene Fraktion erhob sich, um ihre Genossen zu begleiten.
Neue Rotfrontrufe aus dem Publikum. Der Nazivorsitzende schäumte: »Ich lasse den Saal räumen, wenn das nicht aufhört.« Seine Stimme überschlug sich; er schrie wie ein Eunuche.
Das ganze Publikum erhob sich geschlossen. Die Fraktion der Kommunisten ging eben vorbei. Die Wilhelmstahler drängten sich an sie heran: »Rotfront!« sagten die Wilhelmsthaler und gingen ruhig zum Ausgang.
Zurück blieben die Mächte der Vergangenheit. Waren sie schon ganz unter sich? Auf der linken Tafelseite erhob sich der junge Sozialdemokrat:
»Ein System, das mit diesen Mitteln arbeitet, richtet sich selbst. Wir machen die Fehler der Vergangenheit nicht mehr mit. Wir verlassen solidarisch ebenfalls den Saal.«
Die Arbeiter waren an der Tür durch die Rede festgehalten worden. Befriedigt sahen sie den jungen Kameraden an.
»Rotfront!« riefen sie ein letztes Mal. »Freiheit!« antwortete der junge Sozialist und stand schon mit seinen Kameraden neben ihnen.
Die Vergangenheit tagte weiter. Die Glocke ruhte. Die Hakenkreuzler sahen trostlos in den Saal hinein. Dann machten sie Parlamentarismus ohne Volk.
Vor dem Rathaus war eine fliegende Versammlung der Werktätigen von Wilhelmsthal mit ihren Führern.
Winter sah seine Kameraden an: »Mensch, ich hab noch eine Wut im Leib.« Er grinste: »War es übrigens richtig, was ich gesagt habe?«
»In Ordnung«, sagte Ernst; er war stolz, als er jetzt über die kleine Versammlung blickte. Eines Tages tagen wir drinnen, aber mit allen Arbeitern. Und ganz ohne diese feisten Betrüger. Ganz ohne Hakenkreuz. Ganz ohne Zentrum.
»Gehen wir ein Flugblatt machen. Es muss morgen schon heraus«, sagte Winter.

Werner als Separatist

Werner hatte im Mai einmal seinem Freund Karl gesagt: »Ich habe die Extreme gern. Das einzige, wo ich nicht reinfalle, das ist: ich werde nie ein Nazi.«
In diesen Sommertagen war wohl ein neues Extrem von Werner fällig geworden.
Karl war einige Tage in den Nachbardörfern gewesen. Als er nach Neunkirchen zurückkam, sah er Werner an einer Straßenecke der oberen Stadt stehen mit einer Zeitungstasche vor dem Bauch. Der schlanke blonde Karl, die Augenbrauen wie immer ironisch hochgezogen, die Augendeckel abwartend gesenkt, rief ihn an.
»Was ist denn mit dir los? Stehste für die Saarfront oder für die AIZ«, rief Karl.
»Für keins von beiden. Tag. Für ein ganz neues Blatt. Hier guck dir das an! Ich schenk dir's als Werbenummer.«
»Na, ihr müßt's ja dicke haben.«
»Haben wir auch. Da stehen Leute hinter, das ist eine große Sache.«
»Sie werden auch nur mit Wasser kochen. Verdienste gut?«
Werner lachte. »Ja, das ist schon in Ordnung. Ich kriege Standgeld extra. Für Abonnements ne Werbeprämie. Aber was sagste zu dem Blatt? Guck doch mal rein.«
Karl sah Werner an. Der Blick war lauernd, die Fröhlichkeit übertrieben. Er faltete sich das Blatt zusammen. Da roch etwas sauer. Der Junge war selber unsicher. »Ich sehe mir's zu Hause an.«
»Warum nicht gleich?« fragte Werner, und nun ließ er seine eigenen Ängste wie junge Hunde loslaufen: »Deine Genossen sagen, es wäre ein Separatistenblatt, und es wäre von Frankreich bezahlt. Aber ich lese es jeden Tag, und es gefällt mir. Es ist nicht nur von der Politik die Rede. Auch was in der Welt passiert. Und von Frankreich nur, was nicht auch anderswo steht. Blätter nur! Sie sind schwer gegen Hitler. Das ist ihr Hauptprogramm; dass wir nicht an Hitlerdeutschland fallen. Und das ist ja denn auch das wichtigste, was meinst du?«
Karl lachte, schlug dem Freund auf die Schulter und gab ihm die Zeitung wieder zurück.
»Warum entschuldigst du dich eigentlich? Du hast doch nach mir nix zu fragen. Bist doch dein eigener Herr?«
»Mit 'nem Freund wird man sich doch aussprechen dürfen. Ich hab die Frage genau studiert. Wir fahren am besten, wenn wir autonom sind. Der Hitler schneidet uns allen die Hälse ab. Und der Direktor hat mir gesagt: hören Sie mal zu, Herr Werner, die Saarfrage ist schon entschieden. Das können Sie an unserer Zeitung sehen. Eine Zeitung kostet Geld. Wer gibt heutzutage Geld? Wer ein Geschäft damit machen will. Also von wem kommt unser Geld? Vom sparsamen Juden kommt's nicht, von Deutschland erst recht nicht. Also: es kommt vom ausländischen Kapitalisten. Wenn so jemand aber das Geld gibt, dann weiß er, es ist sicher. Verstehen Sie, Herr Werner? Das Geld ist sicher, weil unsere Politik richtig ist, weil wir die autonome Saar bekommen. Und da brauchen Sie als Arbeitsloser sich auch nicht zu genieren. >Freie Saar< wird auch wieder Brot geben, während der Adolf euch nur die letzten Rechte nimmt. - So hat der Mann gesagt, und ich hab gefunden, er hat recht. Und deshalb steh ich da, und wenn ihr alle schimpft.«
»Wer schimpft denn«, fragte Karl. »Keiner schimpft. Nur lachen muss ich, wie schön du dir alles zurechtgelegt hast.«
Werner polterte los: »Zurechtgelegt? Wer hat sich was zurechtgelegt? Die Sozis laufen Frankreich nach. Und eure Losung, ist die vielleicht nicht zurechtgelegt? Rote Saar, gut. Aber die Wahllosung, da warte ich jetzt schon seit fünf Monaten drauf. Da wird man ungeduldig und greift anderswo zu.«
Karl schwieg; er hörte die Unsicherheit des Freundes und sah, wie Werner blind in eine Sackgasse stolperte. Gleich musste er sich den Kopf anrennen. Ob er aufwachte davon? Karl zeigte mit Bedacht ein gelangweiltes Gesicht. Mit Mühe nur unterdrückte er sein Lächeln, er wollte Werner nicht reizen; schon stand die ganze Qual der Verwirrung in dem jungen Gesicht des Freundes. Die Kapitalisten machen’s der Jugend nicht leicht, auf ihre Schliche zu kommen.
»Und außerdem ist mir die SP zuwider«, tobte Werner, »weil sie ihre Schande von Deutschland nicht eingesteht. Ob der Max Braun noch so gut redet, erst muss er den Wels und den Zörgiebel ein für allemal aus der Partei schmeißen. Siehst du, das finde ich in der >Volksstimme< überhaupt nicht mehr. Da gehts nur gegen Adolf und nirgends gegen die Bonzen von früher, die alle schuld waren.«
Karl griff jetzt wieder nach der Zeitung, die Werner ihm geschenkt.
»Dann werd ich das alles wohl hier drin finden«, sagte er in festem Ton. Werner stutzte und wollte zu einer Erklärung ansetzen, aber Karl gab ihm nun freundlich die Hand:
»Ich bin zu Hause, wenn du mich suchst.«

Eine Stunde später trat Werner in die Küche, an deren Fenster Karl lesend saß. Er warf die Mappe auf die Anrichte.
»Viel verkauft?« fragte Karl. Werner antwortete nicht. Er zog umständlich sein Taschentuch, putzte sich die Nase, wischte über die Stirn und steckte das Tuch weg. Dann wühlte er zwei Zigaretten aus der Weste und bot Karl eine an. Karl nahm; Africaine, las er auf dem knittrigen Papier. »Die ist sehr gut«, sagte Werner, »prima Tabak.«
Als er das Streichholz hinüberhielt, sah Karl seine Verlegenheit. Er senkte den Blick. Die Zeitung lag auf dem Tisch zwischen ihnen. Die inneren Seiten waren aufgeschlagen. Karl sah, wie er schnell die Titel überflog: Beschleunigte Tomatenreife. Schlechte Fahrstraße. Pilgerzüge nach Trier. Na, da findest du wohl nichts Vernünftiges? Bergmann verunglückt. Ein allzu stürmischer Liebhaber. Zur Düngung der Rosenerde. Werner drehte leise das Blatt um. Als wollte er taktvoll einen hässlichen
Fleck zudecken. Aber er kam vom Regen in die Traufe. Auf der anderen Seite erschien mit Kursen und Telegrammen die nervöse Revue des Kapitalmarkts, das Börsenblatt. Werner legte die Seite wieder zurück. Er sah, dass Karl ihn beobachtete, und versuchte diesmal, den Blick auszuhalten. Die grauen Pupillen da drüben waren weit geöffnet. Der Blick ging einem durch alle Knochen. Die Augen hatten in die Gesichter von Folterknechten gesehen; im Grabeslicht eines SA-Kellers; sie hatten abgerechnet mit dem Leben, und denen entging nun nichts; da fühlte man sich immer nackt davor.
Werner konnte den Blick nicht mehr losreißen; auch als jener den Kopf wandte und ihm nur das Profil hinhielt, starrte er noch auf das Gesicht. Der hätte Grund zum Hass und Grund, jeden Bundesgenossen anzunehmen, und war dabei misstrauisch wie ein Kettenhund. Er hat sicher wieder recht, dachte Werner; ich werde tun, was er sagt; er wird mir auf den Kopf hauen; ich muss von ihm annehmen.
Von draußen heulte die Sirene der Eisenhütte. Dreimal stieg ihr Klagen und verhauchte. Dann fiel Schweigen in die Stube, das eine Weckeruhr tickend unterstrich.
»Warum tust du es eigentlich?« fragte Karl. Er sah während des ganzen Gesprächs geradeaus auf die Anrichte, wo die Zeitungstasche lag.
Werner paffte Zigarettendampf aus, er fand keine Antwort.
»Ich habe mir eingebildet«, fuhr Karl fort, »du wärst schon bald so was wie ein Revolutionär.«
Wenn er mich jetzt ansieht, werde ich rot bis hinter die Ohren, dachte Werner und stierte geradeaus. »Das kann man auch so sein«, sagte er, »ich bin ja bei keiner Partei. Ich kann ja auch verkaufen, was ich will. Es gibt ja sogar Kommunisten, die müssen Granaten drehen.« Werner hatte viel schroffer geantwortet, als ihm lieb war.
»Was verstehst du eigentlich unter einem Revolutionär?« fragte Karl.
»Jedenfalls einen Kämpfer.«
»... der andere vom Kampf abhält mit Blumenerde, Liebesdrama, Sportbericht, Rettungsmedaille, Buntes aus aller Welt?«
Werner hatte eilig das Blatt auf dem Tisch überhastet. Nun hielt er den Finger auf eine Notiz; etwas zu eilig antwortete er und fühlte schon im Sprechen, wie schwach sein Gegengrund
war: »Da ist auch ein Bericht über eine kommunistische Demonstration in - na wo war sie noch? in Völklingen. Anlässlich der Hinrichtung der Antifaschisten. - Die Demonstration wurde vereitelt.«
»Das sind sechs Zeilen, daneben stehen achtzig für die Wallfahrt nach Trier. Achtzig.«
Ganz leidenschaftslos, als addiere er eine Zeche, gab Karl das ruinöse Rechenexempel.
Werner kratzte verlegen an der Zeitung und riss ein Loch in den Bericht. War er wirklich abgerutscht? Ging das schon an Verrat heran? Stank der Geldgeber, von dem der Alte ihm so ehrlich erzählt hatte? »Aber sie sind doch genauso gegen Hitler«, meinte er zögernd.
Karl war unerbittlich: »Gegen den ist auch Dollfuß, und der Boncour auch und vorläufig noch viele. Aber bringt das den Arbeiter einen Zentimeter vorwärts? Mensch, Werner, wenn du mich verstehen willst: Es kommt nicht darauf an, gegen etwas zu sein, man muss für etwas sein. Die SP verklitscht hier ne Broschüre, wenn der Max spricht: Revolution gegen Hitler. Aber wir Proleten sind doch schon weiter. Und nun guck dir die Blätter an, nimm sie alle! Außer dem Kommunistenblatt hat keins hier Lohnberichte aus den Hütten oder was über die Grubenunglücke. Jawohl, sie bringen die Nachricht, aber der Grund steht im Mond, da kannste ihn ablesen. Die Erwerbslosen! Hier, da erhängen sie sich dutzendweise. Jeden Monat, so hab ich mir erzählen lassen, bringen sie welche nach Merzig in die Irrenanstalt, die haben den Verstand verloren. Das steht auch drin in deinem Blatt unter Buntes Allerlei und als Einzelfall. Zum Gruseln, aber nicht zum Kämpfen. Der Grund fehlt, warum das so ist, der Grund! Und den kennen deine Redakteure genauso gut. Aber warum schreibt das keiner? Dann das Thema Krankenkasse. Milch für Kinder. Medizin für die Arbeiter. Und die Rentner? Verstehst du, so'n Industriegebiet, wie ihr hier seid, hat doch doppelt soviel Unfallrentner. Und da wird gekürzt, dass den armen Krüppeln der Schweiß das Kreuz runterläuft, wenn sie am Zahlschalter stehen. Ist was drin in deiner Zeitung? Schlafpulver verkaufste, mein Lieber. Und mit der Politik gegen Hitler - so einwandfrei ist die auch nicht. Die Werbenummer, die ich gekriegt hab von dir, also nimm die erste Seite.«
Karl blieb in seiner Stellung, sah zur Wand und wartete, bis Werner die Zeitung umgeschlagen hatte. »Also da, lies nur oben
rechts! Da klagen 20 SPD-Leute von der Saar bei Adolf ihre Gewerkschaftsgelder ein. Das soll, wenn du die Zeitung liest, was besonders Wichtiges sein. Sozusagen ein Einbruch in Adolfs Front. In Wirklichkeit kriegen die zwanzig keinen Centime zurück, keinen einzigen. Aber weiter: was steht auf der nächsten Spalte: Antifaschistischer Geheimbund droht Hitler, dass er eine Oppositionspartei gestatten soll, sonst - sind ab 31. alle SS-Leute vogelfrei. >Wir spaßen nicht<, schreiben die Brüder. Und nun guck dir mal den Kalender an! Sie haben doch -gespaßt. Na, und damit ist denn so ein Blatt halb gefüllt. Dem Adolf haben sie's gegeben, sagt der Prolet und legt sich ins Bett. Und am nächsten Tag kauft er dir die nächste Nummer ab.«
Werner spürte den Spott, aber er fand keine Entgegnung. Die KP gibt auch keine Losung, wollte er noch einmal sagen, aber was konnte man gegen die rote Saar sagen? Der separatistische Agent fiel ihm ein: Glaubt doch selber nicht, hatte er gelacht, dass ihr in neunzehn Monaten die langweiligen Saarländer aufputschen könnt. Bestenfalls wollen sie bleiben, was sie sind.
Werner hatte damals dem Agenten recht gegeben. Warum konnte er es Karl nicht sagen? Jedem anderen, nur Karl nicht. Feigling werden vor dem da? Nein, ums Verrecken nicht.
»Also du hältst nichts von Bundesgenossen?« Das letzte Argument, das ihm einfiel.
»Bundesgenossen? Von Kapitalisten ausgehaltene Organisationen sind nicht unsere Bundesgenossen. Separatisten sind keine. Das sind bezahlte oder eingeseifte Feiglinge. Und lass dir das sagen: vor dem großen Kampf können wir uns nicht drücken. Da muss auch der Saarprolet durch.«
»Ich verstehe«, sagte Karl, »ich verstehe, dass hier an der Saar viele Angst haben vor 1935 und deshalb zu den Separatisten gehen, obschon ihnen dort keine andere Aussicht geboten wird, als dass ihnen vorläufig der Kopf nicht abgeschnitten wird.«
»Ich habe keine Angst«, protestierte Werner sehr ernsthaft, »ich würde auch kämpfen. Auf jeder Barrikade. Ich habe dir das gesagt, als du damals ankamst. Aber wenn du dich erinnerst, hast du selbst gesagt, man soll sich nicht an Phantasien besaufen.«
»Das braucht keine Phantasie zu sein. Aber wenn, ich sage, wenn es Barrikaden hier gibt, was denkst du, wer sie baut? Die
Bundesgenossen vielleicht? Die Landjäger mit Mister Knox? Die Redaktion vom >Generalanzeiger< mit ihrem Geldgeber? Max Braun mit den Forbacher >demokratischen< Soldaten? Ja, nun staunste, aber denk mal fertig! Wer baut Barrikaden? Die eine schöne Zukunft vor sich sehen oder die eine Drecksgegenwart verteidigen wollen? Ja, schau sie dir alle daraufhin an! Hier kommt der Arsch aus der Hose. Kein Saarprolet hält seinen Kopf für den Laden hier hin: Baracken, Notverordnungen, Knüppelpolizei, Steuerzettel, Stempelpfennige. Schön, bei Adolf ist das noch viel beschissener geworden, da kannste nicht mal das Maul auftun, ohne dass sie dir ne blaue Bohne reinpfeffern, aber hier sollste das Maul aufmachen, dass ihnen die Ohren platzen. Was heißt blutiges Drittes Reich? Dahin geht ihr auf keinen Fall zurück. Aber lässt du dir hier von einem Landjäger in den Hintern treten und sagst: danke vielmals, bei der SA hätt ich’s Beil in den Kopf gekriegt?«
Werner lachte. Wie eine Erlösung kam die grimmige Frage von Karl. Breit und glücklich stieß das Lachen aus seinem Mund. Das war wie ein kaltes Bad gewesen. Prustend stand man drunter. Jetzt brauchte man sich nur wieder warm zu schütteln, und dann war man wieder ein richtiger Mensch.
Hinter ihm ging die Tür. Die alte Mutter trat ein. Sie ging lautlos an den Ofen und hob die Ringe ab, um Feuer zu machen. Man hörte, wie sie Holz zerkleinerte. Werner stand auf und ging an die Anrichte. Karl wusste, was er tun würde. Er sah, wie jener die Zeitungen aus der Mappe riss. Ein komisches Viech. Immer im Stolpern. Geradeaus konnte er nicht gehen. Aber er hielt wenigstens den Schritt an, wenn man ihn anrief.
»Die kannste jetzt alle verbrennen«, rief Werner und schmiss den Zeitungspacken der Mutter auf die Herdplatte. Die Hände der Frau griffen in das Papier.
»Da sind ja die Köpfe noch dran«, sagte sie vorwurfsvoll. »Das ist doch bares Geld.«
Werner lachte wieder. »Weg damit! Soviel ist mir die Sache wert.«
Nun begriff die Mutter und sah Karl an. Das kommt von dir, sagten ihre großen ruhigen Augen.
»Gib mir den Stoß her, Mutter«, meinte Karl, »ich trenne sie ab. Es ist schade um die Centimes. Man kann Africaine dafür kaufen.«
Die Mutter kniete am Herd und pustete in das Feuer.
»Gieß doch einen Schluck Petroleum zu«, rief Werner und ging in die Ecke, wo die verstaubte fette Kanne stand.
Die Mutter blies noch einmal in das knisternde Holz.
»Ihr seid alle zwei Verschwender«, sagte sie dann.
Karl riss sorgfältig einen neuen Zeitungskopf ab und schmunzelte.
»Die Africaine kosten ja kaum etwas.«
»Aber satt wird keiner von euch von den Zigaretten.«
»Aber Mutter, ich geh doch ab morgen wieder stempeln.«
»Wenn sie dirs geben.«
Die beiden Burschen schwiegen jetzt. Ich muss ihr wieder Holz machen, dachte Karl. Sie hat’s nicht leicht. Einen Fresser mehr seit vierzehn Wochen. Und Unterstützung bei dem Nazi-Stadtrat - ausgeschlossen! Können ja zurückgehen, hat der Kerl gemeckert.
Karl rief freundlich: »Ich gehe ja bald wieder ins Reich, da seid ihr einen Fresser los.«
»Ach so ist das nicht gemeint«, protestierte die Alte. »Aber es muss ja was da sein.« Gütig war ihre Stimme, du kannst nichts für die Not, du sollst bleiben, sagte die Stimme.
»Du gehst rüber?« Werner beugte sich vor, sein kindliches Gesicht war ernsthaft erschrocken.
»Ja! was meinst denn du? Hab lange genug hier herumgelegen.«
Werner hörte, dass es kein Augenblickseinfall war, das kam so fest heraus, das war schon länger beschlossen, er wagte nicht zu erwidern. Prüfend sah er dem Freund ins Gesicht. Der nickte nur.
»Ich bin der erste nicht, der wieder an die Arbeit zurückgeht.«
Von der Straße klopfte jemand ans Fenster. Karl fuhr leicht zusammen. Die Mutter ging öffnen. »Ist er zu Hause?« fragte eine Stimme.
»Ja, kommen Sie nur rein, Herr Alt«, antwortete die Mutter freundlich.
»Ah, da ist ja die ganze Gemeinde versammelt«, sagte der schmächtige bebrillte Mann, der kurz darauf eintrat. »Frei Saar.«
»Rotfront«, gab Karl zurück.
»Gut verkauft heute?« fragte Herr Alt und zeigte auf die separatistischen Blätter.
Werner räumte die Zeitungen vom Tisch. Die Mutter kam mit
einem Lappen und wischte über die Platte. Nun stolperte die Entscheidung direkt ins Haus. Aber ich bin fest, dachte Werner. »Darf man sich ein bisschen häuslich niederlassen?« fragte der Besucher. »Ich bringe nämlich eine Nachricht« - er hob gewichtig den Zeigefinger -, »die nicht zu verachten ist.«
Werner grinste: »Und ich hab eine für dich, die du dir hinter den Spiegel stecken kannst.«
»Mir ist das ja gar nicht angenehm«, meinte der kleine Mann und nahm die Brille ab, »jetzt muss ich mir ja wieder einen Ersatz suchen.« Er hauchte in die Brille und redete vor sich hin, ohne jemand anzusehen. Sichtlich genoss er die Sensation, die er auf der Zunge hatte. »Aber Verdienst ist Verdienst und Schnaps ist Schnaps, wie das Sprichwort sagt.«
Umständlich polierte er die Gläser, hob sie gegen das Licht, flüchtig streifte er den lauernd an der Fensterbank sitzenden Karl. Die Kommune wird staunen, wie mächtig wir sind.
»Also um in medias res zu gehen, wie der alte Lateiner sagt, so hat sich da ein Plätzchen für unseren Freund Werner gefunden.«
Er unterbrach seine Rede und schaute im Kreis herum. Unbewegt saß der Kommunist. Werner stand bei der Anrichte und runzelte die Stirn, nur die alte Mutter schien sofort zu verstehen. Sie schnitt ihre Kartoffeln in einen kleinen Topf, man hörte die Stücke ins Wasser plumpsen, eins fiel auf den Boden, denn Mutter Werner hatte sich schroff herumgedreht, ihre grauen Augen bekamen einen freundlichen Schimmer.
»Ja, ja, Mutter Werner«, sagte Herr Alt und setzte seine Brille wieder auf, »da kommt denn auch mal wieder etwas Speck zu den Krummbirnen dazu. Das sind eben Beziehungen, und wenn man der Vernunft folgt und nicht den höheren Weisungen der Barbarenfürsten fremder Länder... «
Er wandte sich rasch zu Karl. »Ich meine damit die Berliner«, sagte er begütigend.
»Was anderes hab ich vorläufig auch gar nicht gedacht«, erwiderte Karl.
»Also die Stelle ist frei. Ab morgen kannst du wieder richtiger Kumpel sein, Werner. Brauchst dich nur bei der Inspektion beim Divisionär zu melden. Deinen Namen kennen sie schon. Geht alles in Ordnung. Was sagst du nun?«
Werner hatte verlegen nach einer Zeitung gegriffen; er zupfte kleine Fetzen aus ihr. Wenn nur Karl zuerst reden würde!
Konnte man da nein sagen? Musste man nicht zugreifen? Da siehste, wie die zusammenhängen. Seit drei Jahren war er abgelegt. Und jetzt - paar Tage Zeitungsverkauf und du kannst bei dem Changel einfahren!
Er sah zu Karl hinüber. Der ging ins Reich. Illegal arbeiten. Und er - ließ sich kaufen. Quatsch, kaufen, er musste ja schuften. Aber ein Haken war dabei. Wenn Karl nur reden würde!
»Da biste wohl sehr überrascht, alter Schwede«, triumphierte das Männlein.
»Sag doch was!« Werner sah zum Herd, wie Mutter sich freute! Bekam kaum den Mund zusammen! Und bei der Lisbeth war’s auch ganz sauber, davon zu erzählen heut Abend. Es macht keinen Spaß, wenn nur die Weiber Arbeit haben. Werner drehte sich um und schob die Zeitung auf die Anrichte. Karls Mütze lag auf dem Brett. Die Schirmmütze vom RFB. Sechs in der Todeszelle von Altona. Tausend im SA-Keller geschunden. Teddy im Zuchthaus. Karl ging ins Reich zurück. Ich wollte eben die Zeitungen hinplacken. Vor fünf Minuten. Und jetzt? Dem Zeitungsfritzen sich verkaufen? Der Karl hält mich für einen Schleimscheißer.
Er griff nach der Mütze, wollte sie aufsetzen und dann den Kerl rausschmeißen, aber er legte sie wieder hin und drehte sich ruhig um. Kommt nicht in Frage, wollte er sagen, wie ein Hund wollte er ihn anbellen, ich geh lieber stempeln, da hab ich genau soviel davon.
Aber nun redete endlich Karl.
»Arbeit ist immer gut«, sagte er. Das Männlein, schon leicht verstimmt über so geringen Erfolg, wackelte schulmeisterlich mit dem Kopf.
»Ein Prolet gehört zu Proleten«, fuhr Karl fort. Er sah Werner jetzt mit vollem Blick an. »Und wer im Betrieb arbeiten kann, der ist sowieso an der richtigen Stelle.«
Ganz langsam kamen die Worte heraus. Werner sah nicht den dankbaren Blick der Mutter, auch den Agenten beachtete er nicht, der immer noch hochmütig zustimmte und mit dem Kopf nickte.
Sowieso an der richtigen Stelle, wiederholte Werner. Warum grinste der Karl? Wollte er ihn verkohlen? Nein, er meinte den Kleinen. Eben hatte er hinübergewinkt zu dem Männchen und die Faust auf dem Tisch geschlossen.
»Ich würde auch gern mal wieder am Stoß stehen.«
Werner sah das ironische Lächeln.
Das Männlein hob den Kopf.
»Das ist gar nicht so ausgeschlossen«, sagte er eilig, »die Verwaltung trägt sich schon lange mit der Absicht, Emigranten einzustellen.«
»Dann soll sie sich aber mal eilen«, meinte Karl lachend und stand auf. »Also Werner, wie ist das nun? Angenommen, denke ich.« Er stand dicht vor ihm und zwinkerte ihm zu. Ich versteh dich schon, sagte der Blick. Aber es ist falsch, was du denkst. Wenn du da unten arbeitest, kannst du vielleicht mehr tun als hier oben. Ich erzähl dir noch was. Wenn der raus ist.
»Nur der Prolet rettet die Saar«, sagte Karl und schlug ihm auf die Schulter.
Das Männlein hinter ihnen schnäuzte sich: »Ja, ja«, sagte er schnüffelnd, »da ist was Wahres dran.«
»Na denn Rotfront, Kumpel Werner«, sagte Karl. Er sah grinsend auf den Agenten herab.
»Frei Saar«, rief schnell und laut der Agent, schnüffelte noch einmal und steckte sein Taschentuch ein.

Die Entführung

Zwei armselige Hütten. Aus Brettern, Blechleisten und Ziegelstein zusammengestückelt lagen sie in den Wiesen zwischen der deutschen und der saarländischen Grenze. An den Schlagbäumen im Westen standen französische Zöllner, zweihundert Meter weiter wachten seit fünf Monaten die braunen Uniformen der SA. Keiner kümmerte sich um die abenteuerlich ärmlichen Wohnwürfel, wie ausgeschlossen aus den Staatsverbänden lagen sie, und ihre Bewohner hatten auch vergessen, nach dem Staat zu fragen, der sie hungern ließ. Sie gingen auf dem kleinen Stück dürrer Wiese umher, auf dem ihre Hütten standen, und wussten: ihr Pass war die Stempelkarte, ihr Vaterland war weder hüben noch drüben.
Ununterbrochen trafen Autos aus beiden Ländern ein, standen zweihundert Meter von den Hütten entfernt vor den Schlagbäumen im Glanz ihrer Karosserien; Koffer, gefüllt mit Kleidern und Wäsche, wurden geöffnet und wieder geschlossen. Lastwagenkutscher hoben den Reichtum ihrer Kisten und Säcke herunter, zeigten saftige Frucht und blütenweißes Mehl und luden wieder auf.
Die Bewohner der beiden Hütten, zwei Ehepaare mittleren Alters, lagen an den windschiefen Fenstern und hörten die Motore wieder anspringen und wegfahren in sagenhafte Länder, in Magazine, die nur die Sehnsucht des Hungers erreichte. Sie schlossen die Fenster mit Hass. Dumpf war in ihnen der Gedanke, dass dies alles sich einmal ändern würde.
Viel tat seit Beginn dieses Jahres die nahe Stadt, um für das Hakenkreuz zu werben. Die Hüttenbewohner blieben misstrauisch. Sie sahen, in der Stadt bummelnd, die Blicke der Bürger, die verächtlich das zerlumpte Gewand der Hüttenbewohner streiften; sie hörten, dass nicht jeder der Hakenkreuzler mit jedem zusammensitzen wolle; ihr Instinkt sagte ihnen, wie dies gemeint sei; sie bewahrten still ihren Hass; ja sie akzeptierten den hochmütigen Tadel, Untermenschen zu sein; sie wollten unten bleiben, bis die Stunde kam. Sie sprachen viel von dieser Stunde.
Doch vorher gingen sie alle durch die Prüfungen einer anderen Stunde. Das war in diesem Juli 1933.
Freunde wohnten in der nahen saarländischen Stadt Homburg, Elsässer, die vor Jahren zugezogen waren, geschlagen von der Not wie sie Selbst. Franzosen? Nein, Klassengenossen. Die Hüttenbewohner kannten den nationalen Unterschied nicht. Ihr Vaterland hatte andere Grenzen. Sie machten keine Worte darüber, aber sie handelten danach. Zwischen der Elendswohnung jener Franzosen und ihren Baracken war ein brüderlicher Austausch von Meinung und Gefühl.
Der Nazihäuptling im braunen Haus von Homburg tagte mit seiner Gruppe. Ein Coup sollte gelandet werden. Die Gauleitung drüben in der Pfalz wollte Taten sehen. Es genügte nicht, Zöllner anzupöbeln. Österreich hatte andere Anregungen gegeben. Irgendein Schlag gegen die Grenzbalken musste geführt werden. Die Pfälzer gewährten jeden Schutz, wenn man rechtzeitig über die Linie kam. Da saßen sie an ihrem Biertisch und spielten die Strategen. Man hatte Zeit zur Vorbereitung. Was riskierte man? Niemand würde schießen. Waffen waren da, und wenige hundert Meter auch die Hilfe, gegen die nur eine Kriegsmacht etwas vermochte.
Kennel, der Bewohner der oberen Hütte, wurde ins Reich gelockt, ein Rad abzuholen. SA stand bereit und verhaftete ihn, warf ihn ins Gefängnis. Die Frau wurde nach Tagen benachrichtigt. Man habe Flugblätter bei ihm gefunden, es könne
eine sehr schwere Sache werden. Man wisse noch gar nicht, wie das alles ausginge. Sagte der Nazi und verschwand. Die Frau schlich in die Hütte zurück. Die Kinder schliefen schon. Der alte Vater war noch wach. Sie sah ihn an; er nickte mit dem Kopf, müde vom Leben, ohne Trost, zu sehr schon geschlagen, als dass er noch einen Rat hätte geben können. Unfähig zu denken legte sich die Frau neben die Kinder. Es waren nur zwei Betten im Zimmer, zwei Betten für sechs Personen. Heute waren es fünf Personen, seit Tagen waren es fünf Personen. Für Wochen würde es so bleiben. Für Jahre vielleicht. Der Frau war der viele neue Platz nicht angenehm. Nein, es sollte voll sein wie immer! Das andere Atmen sollte da sein. Das Schnarchen, der schwere Körper. Sie sah die Schlaglichter von Autos über die Wände laufen, hörte aus den Zöllnerwohnungen Musik eines Senders. Wieder kam ein Auto an, hielt lange, dann knirschte der Schlagbaum, der Motor brummte, dann lachten viele Stimmen, und dann begann eine Melodie, entfernte sich mit den Lachern nach der deutschen Seite hin. »Die Fahne hoch...« Sie hörte die Strophe; alle Kinder sangen sie; es war der Gassenhauer dieser Tage, die Provokation dieser Tage, fast gedankenlos gesungen. Nun wurde der Gesang leiser: »marschieren im Geist in unseren Reihen mit...« Die Frau sah noch einmal auf das tote Gesicht des Großvaters, dann zog sie der Schlaf in das geräumige Bett nieder und in schreckliche Träume.
Tage lebte sie so. Sprach kaum mit den Nachbarn, die immer Genaues wissen wollten. Die >Franzosen< kamen. Die greise Genossin Lutz. Man hatte ihr auch einen Sohn drüben festgehalten. Sie konnte ihn nicht besuchen. Sie wusste nicht, ob sie zugelassen wurde, und dann war das Fahrgeld zu schade. Der Nachbar Jenny kam, ein schwerer fester Kerl. Er tröstete nicht, er fluchte und sagte, das könnten sie mit ihm nicht machen. Da hätt's einen Toten dabei gegeben.
Die Frau hörte ihm zu; sie standen im Hof vor den Kaninchenställen. Sie schüttelte das Grünzeug in die Kästen. Die Tiere fingen an zu nagen. Die Frau von Jenny kam. Ein junges Weib, die Genossin Jenny. Sie fasste ihren Mann unter, hörte seinen Reden zu. Frau Kennel hielt den Deckel des Kastens in der Hand. Sie sagte immer noch kein Wort. Sie sah nur die Nachbarin an. Die konnte unterfassen, die hatte ihren Mann behalten. Die hatte es gut. Und keiner wusste, wie lange es dauern würde mit Kennel.
Jenny sagte, das wären Barbaren, aber der Tag der Rache käme auch mal.
Frau Kennel sah auf den Busen von Genossin Jenny. Soviel wie die habe ich lange noch, dachte sie, ohne dass davon die Rede war, und reckte sich in den Schultern hoch. Ihre prallen Brüste schmerzten. Plötzlich schlug sie den Tierbehälter zu, dass es knallte; die knabbernden Hasen erschraken und versteckten sich im Laub des Hintergrunds. Frau Kennel lief mit rotem Kopf in die Hütte.
Am Abend war wieder ein Mann vor der Tür. Sie erschrak, als er mit einem Mal vor ihr stand. Sie schälte weiter ihre Kartoffeln und bröckelte sie in den Eimer.
Ob sie Frau Kennel wäre, fragte er. Sie antwortete nicht, sah ihn groß und fremd von unten an.
Er wurde gröber, wiederholte seine Frage. Sie zog den Kopf ein, wollte ihn vom Hof weisen. Das Maß war voll, sie wollte nichts mehr wissen von all dem Gerede. Sie sah auf die hohen Bärenstiefel des Mannes, sorgfältig waren die neuen Schnürsenkel von Loch zu Loch gezogen. Die abgelaufenen Turnschuhe ihrer Kinder fielen ihr ein. Die Knoten in den Schuhbändern. Warum hatte der so nagelneue Schuhe? Bis zu den Knien gingen sie herauf. Sie sah nicht höher, sah nur das stramme Bein vor ihrem Kartoffeleimer, sie wollte den Eimer umstoßen, ihm das Wasser über die Füße gießen, da sagte der Mann, er könnte den Kennel frei bekommen.
Sie erschrak. Jawohl, er sitze in Sandorf, aber man wolle Gnade für Recht ergehen lassen. Er solle zu seinen Kindern, zu ihr. Er ginge straffrei aus. Übermorgen, wenn sie wolle.
Die Frau hörte misstrauisch auf den Mann, der da über ihr redete. Sie kannte ihn nicht, keiner kannte ihn von den Freunden. Es ist einer von drüben, dachte sie, einer, der ihren Mann gesehen hat. Einer, der mit dem Gefängnis zu tun hat. Sie haben alle jetzt solche Schuhe da drüben.
»Na da lasst ihn doch frei!« sagte die Frau. »Er hat doch nichts getan, hat nie jemand was weggeholt, ist ein anständiger Mensch.« Sie wollte noch sagen, dass er auch nichts mit der Politik zu tun hatte, aber sie fürchtete, der Mann könnte ihr Beweise geben, und sie wollte ihn nicht erinnern.
Es sei eine Bedingung dabei, meinte der Mann mit den Bärenstiefeln. Sie müsse die Lutz und ihren Sohn hier ins Haus einladen. Die Franzosenköpfe. Am Abend. Wenn es
ginge, schon morgen. »Sagen wir um acht Uhr. Einverstanden?«
Langsam verstand die Frau. Einen für zwei. In ihr Haus. Die alte Lutz und den Sohn. Das war ein Hinterhalt. Ein Verrat. Die Lutz wird kommen, überlegte sie. Sie ist ja fast jeden Abend jetzt da. Sie werden sie abholen, wenn wir miteinander sprechen. Sie werden sie umbringen. Wird die Lutz merken, dass ich mit im Spiel bin? Der Kennel wird toben. Er wird mich schlagen, aber er wird zurück sein.
Sie sah ihn schon wieder herumgehen, dort unter dem Gebüsch sitzen, wo er sich die Bank gemacht hatte, wo er sich mit den Genossen unterhielt. Er würde neben ihr liegen im Bett, er würde nach ihr greifen, sie würde ihn spüren, seine starken Beine. Und die Lutz würde vielleicht doch nichts merken. Man musste es nur geschickt machen, man musste erschrecken, musste schimpfen, wenn sie in die Stube kamen. Hoffentlich taten sie ihr nicht schon hier im Haus etwas. Die Frau warf das Messer in den Korb und stand auf. »Ihr seid ja schöne Kerle«, sagte sie und zitterte davor, dass er nun aufbrausen würde und sein Angebot zurückzöge. Was macht ihr denn mit mir, wollte sie fragen, aber schon war der Wunsch, dass alles wahr würde, größer als ihre Angst vor den Folgen.
Sie ging in die Stube, stellte den Eimer auf den Herd. Die Wand war frisch beworfen. Kennel hatte es noch gemacht mit einem erwerbslosen Kollegen. Sie wollten noch streichen. Da holten sie ihn. Jetzt liegt es so da.
Sie sah die rohbeworfene Wand an. Was haben wir denn vom Leben, schrie es böse in ihr. Die Lutz hat genausowenig, meinte eine andere Stimme. Schwach pochte ein Gewissen: da draußen stand der Feind, hat Bärenstiefel von Hitler an, man sollte ihn anspucken, meinte das kleine Gewissen. Aber das macht den Kennel nicht frei. Sie sah Kennel in einer Zelle. Gitter hoch oben in der dunklen Wand. Sie hatten ihn fest. Keiner der Kameraden holte ihn heraus. Die Nazis waren zu stark. Sie würden immer so stark sein. Besser man stellte sich schon gut mit ihnen.
Die Frau fühlte ihre Ohnmacht und ihr Elend; aber es machte sie nicht stolz. Kennel müsste da sein und ihr raten. Kennel würde das richtige sagen. Aber Kennel saß. Und wenn er nicht da war, dann fehlte ihr doch alles.
»Mit uns könnt ihrs ja machen«, sagte die Frau.
Der Mann trat vorsichtig an die Tür, schaute in die Schlafstube. Er hörte die Zustimmung und prüfte die Räume, die Eingänge, die Fenster.
»Es ist gut so«, sagte er dann. »Also auf morgen Abend!«
»Wenn wir sie herkriegen - aber geht nur, ich sorg schon dafür.«
Der Mann ging in die Nacht hinaus, durch den dünnen Zaun auf den Feldweg nach Osten zu. Er mied die Grenzstation.
Als er am Bahndamm war, hörte er ein Laufen hinter sich. Er griff nach dem Revolver, da stand die Frau schon vor ihm:
»Und ich kann mich darauf verlassen, dass der Kennel frei wird?«
»Wir halten, was wir versprechen«, sagte hochmütig der SA-Mann.

Die Nacht war schwarz. Der spärliche Neumond lag noch drüben hinter den pfälzischen Wäldern, in den die Schießstände der SA wie lange Särge eingeschoben waren. Die Stadt Homburg schlief hinter Fensterläden. Gaslaternen strömten langweilig gelbes Licht über die in schwerer Dunkelheit stehenden Häuser unter dem Burghügel. Den gepflasterten steilen Weg zu den unteren Mauern der Burg keuchte eine Frau hinauf. Sie verschwand in dem Torbogen eines schweren Turms, man hörte ihre Schritte verklingen in den winkligen Kellerlöchern, die dort mit Treppen und Türen als Wohnungen sich ausgaben, dann rief eine Männerstimme laut und kurz: »Bleib bei die Kinner.« Und wieder kamen Schritte, aber von zwei Menschen; sie waren unregelmäßig, und es klatschte, als müssten weite Strecken Schlamm übersprungen werden. Der alte Torbogen, lügenhaftes kräftiges Schmuckstück vor die elendigsten Wohnungen gestellt, nahm das Geräusch der Schritte bereitwillig auf. Es war, als hinge Faliada, das sprechende Pferd, in dem dunklen Bogen; jetzt waren keine Schritte mehr zu hören, aber eine leise Menschenstimme: »Ich konnt es dir drin nicht sagen«, flüsterte es aus dem offenen Gewölbe. »Die Kennel hat ein Gesuch für Jakob geschrieben. Er soll freikommen. Sie will es uns zeigen. Du kannst gleich mitkommen.«
Die Stimme schwieg. Ein Husten erschütterte die Stille, über die eine verstopfte Gaslaterne flackerte. Aus der Tiefe des Tals rief ein Auto mit langen Schreien den Tankmeister wach.
»Du bist immer noch erkältet«, sagte die Stimme. Sie war weich geworden. Es war Mutter Lutz, die dort im nächtlichen Schatten des Turmes klagte, eine Proletenmutter. »Du musst dich mehr pflegen«, bat sie, und das Wort war schon bitter, eh es gesagt war. Seit wann konnte ein Prolet sich pflegen? Die alte Frau stand besorgt vor dem Sohn. Ihre grauen Augen suchten forschend das Gesicht des Sohnes, ihr ganz dünner Mund, in senkrechten Fältchen plissiert, blieb geöffnet, fast unmerklich zitterte ein gütiges Lächeln um die schmale Oberlippe. »Ferdinand, was ist?« fragte sie, da sprang der junge Mann fort in die Schlucht der Wohnhöhlen, fauchend wie eine Katze. Um einen Haufen Holz sprang er, riss einen Scheit hoch und schrie: »Was willst du?«
Die Frau hörte, dass niemand Antwort gab. Ferdinand hatte sich getäuscht. Alles bespitzelt uns, dachte sie. Sie schleichen uns nach. Dabei sitzen sie genauso drin wie wir. Die Nazis geben ihnen einen Dreck. Und den Ferdinand machen sie mir noch ganz verrückt. Der hat sowieso keine Nerven mehr.
Sie sah, wie der Sohn im Hintergrund den Scheit in den Schlamm warf. Er war einem Gespenst nachgesprungen. Es ging nicht mehr lange so weiter. »Sie werden alle verrückt«, flüsterte sie. Die Frau hatte die Augen weit geöffnet.
Das erlebte sie nun jeden Tag. Das Gezänk dieser Menschen. die nebeneinander wohnten und sich hassten. Die schmutzigen Kinder schlugen sich, die abgemagerten Großen riefen sich Schimpfereien zu, in die Kochtöpfe schnüffelten sie, jeden Besuch belauerten sie, der gleiche Schlamm lag vor ihren Höhlen. Bretter als Landungsstege vor allen Türen, und keiner erkannte, wer sie in diese Verliese des Elends gesperrt. Einer war gekommen und hatte angefangen, ihnen einzureden, der Adolf von drüben ändere das alles. Die Fahne mit dem großen krummen Kreuz, die bringe Fleisch und Kohlen. Und dann hing die Fahne eines Mittags oben am Burgkaffee über ihren Löchern. Sie hing wie eine höhnende lange Zunge aus dem Turmfenster der Wirtschaft, wo keiner von ihnen sich auch nur zu einem Glas Bier aufhalten konnte. Die Bürger streckten die Zunge heraus, den Elenden ins verhärmte Gesicht. Die jungen Männer in den Höhlen sahen sie einen ganzen Nachmittag an. Aber abends war sie nicht mehr da. Einer der Höhlenmenschen schlich um Mitternacht ans Fenster, als er jemand durch das Tor der Turmmauer in die Gasse hereinlaufen hörte. Aber schon
knallte eine Tür und die Gasse lag wieder in nächtlicher Stille. Aus einem der Häuser zuckte wenige Minuten später ein Feuerschein, Funken wirbelten durch einen Schlot in die Nacht zum Burgberg hinauf, der ohne Fahne war.
Geschrei am nächsten Morgen in allen Häusern. Ein Uniformierter ging durch die Gasse, eine verlorene Fahne suchen. Grinsende Burschen standen in den Türen und verstanden ihn nicht. Haßgeladen gingen die amtlichen Boten wieder fort in die Stadt. Aber einen, den Jakob Lutz, hatten sie dann im Juni festgehalten, als er im Land des Hakenkreuzes spazierengegangen war.
Die beiden traten aus dem Torbogen auf den steilen bleichen Hang, der zu der friedlichen Stadt und der gefährlichen Grenze führte.
»Ich koche dir heute Nacht noch einen Kamillentee«, sagte Mutter Lutz, »der macht frei.«

Eine halbe Stunde später saßen sie in der Hütte bei Frau Kennel. Ferdinand und Mutter Lutz. Aus dem Nebenzimmer kam das schwere Atmen des schlafenden Vaters. Der Nachbar Jenny, ein breiter, ruhiger Mann, legte ein Papier auf den Tisch. »Das Gesuch«, sagte er, »gefällt mir nicht, gar nicht.«
Mutter Lutz hörte das Misstrauen in der sicheren Männerstimme. »Kann man es denn nicht verändern?« fragte sie und sah die Kennel an.
»Ja. das wäre doch das beste.« Eilig stieß die Gefragte es hervor. Das Kerzenlicht flackerte im Windzug ihrer Worte. Aus der Nacht hörte man die Kaninchen an ihre Holzkisten klopfen: tapp - tapp, tapp. Der Vater röchelte in seinem Schlaf. »Ich will die Tinte holen«, sagte die Kennel.
»Ja, geh sie holen«, sagte die Lutz, da war jene schon in die Nacht gegangen und die Tür war fest geschlossen.
Die drei Menschen saßen stumm um den Tisch und stierten auf den knisternden Docht des Stearinlichtes. Das Fett schmolz, füllte den Tiegel der Kerze, schwappte dann über und erhärtete sich in dünnen Stängeln. Ferdinand plitzte das warme Wachs in seine Hand und knetete es. Jenny und die Mutter folgten seiner Spielerei mit abwesenden Augen. Warum sprach niemand? Die Kennel blieb lange. Wo versteckte sie denn ihre Tinte? Im Heuschober oder im Schornstein? Es war schrecklich ruhig in der Küche, seit der Kennel im Kittchen saß. Ob so ein
Gesuch wirklich nützte? Einen Stein konnte man von der Tür aus werfen und er fiel schon über die Grenze. Nachts war man noch viel näher, da rutschten die Felder im Dunklen aneinander, das kleine Haus war schon drüben, durch die Fenster blickte schwarz schon das feindliche Land - die Lutz dachte es und hatte doch keine Angst. Wenn’s so wäre, könnte man persönlich für den gefangenen Jakob reden. Wäre es nicht auch besser, warum fürchtete man sich vor diesem einen Schritt über die Grenze? Was konnten sie einem schon tun? Sie würden eine alte Mutter nicht schlagen, wenn sie für ihren Sohn bitten kam. Soviel Herz hatte doch jeder im Leibe.
Die Kennel kommt überhaupt nicht wieder, dachte die Lutz, da kreischte die Türangel, und die kräftige Blondine trat wieder ein. Sie stockte, sah auf die kleine Versammlung über dem Kerzenschein, sah das immer noch misstrauische runde Gesicht von Jenny, das scharfe Profil der alten Lutz, die nervös zuckende, gequälte Stirn des jungen Ferdinand. »Hier ist die Tinte«, sagte sie und stellte das schwarze Glas mitten auf den Tisch. Wer wird schreiben, dachte Mutter Lutz und betrachtete den lockeren Stopfen auf dem verstaubten Glas. Wer kann schreiben - überlegte sie und sah auf ihre von glasiger faltiger Haut überzogenen schmutzigen Fingerknöchel.
Da aber hörte sie das Lachen der Kennel. Ohne an den schlafenden Vater zu denken, prustete die los. Die Tür war zugefallen, gemein und unbändig knallte das Gelächter der Frau durch den stillen Raum. Die Lutz warf sich auf ihrem Stuhl herum und sah das geöffnete Menschenmaul, die gesunden Zähne und dann die zusammengekniffenen Augen. Sie lacht uns aus, erkannte mit noch leichtem Gruseln die Mutter Lutz. Was haben wir an uns - dachte sie und strich prüfend an ihrem Körper abwärts. Und dabei musste sie gebannt auf das junge Weib sehen, das sich da vor ihnen schüttelte und nicht beruhigen konnte. Es war aber kein fröhliches Lachen. Sie ist verrückt geworden, dachte die Mutter Lutz und schaute wieder auf ihre Hände.
»Ihr seid ja so sauber gewaschen heute«, sagte unverschämt die junge Kennel und platzte aufs neue in einen krampfhaften Lachhusten aus.
Alle drei waren jetzt aufgestanden, der schwere Jenny, der zappelige Ferdinand und die schlanke Greisin Lutz; sie starrten die Lachende an, als sei sie eine der gefährlichen Kranken, von denen die Judenbibel berichtet, in die plötzlich ein Teufel gefahren ist. Hinter dem hellen Kopf der Besessenen zeichnete sich in drohendem Schwarz das Fenster ab. Die drei begannen zu ahnen, dass die Frau ihren Wahnsinn von draußen aus der Nacht mitgebracht hatte. Unfassbar und berghoch wuchs eine Gefahr aus diesem Lachen, und jetzt drehte sich die Frau auch um und stürzte in die Nacht wieder zurück.
Mutter Lutz spürte zuletzt, was nun aus dem dunklen Raum kommen müsste. Sie grübelte diesem einen Satz nach und suchte ihn einzurangieren in die Welt dieses Tages. Nein, sie war nicht sehr sauber, aber sie kam doch auch gerade vom Feld. War die Kennel so genau damit? So schlimm war's doch mit ihrer Sauberkeit auch nicht. Und übrigens beim Ferdinand brauchte sie überhaupt nichts zu sagen. Der hatte sich gerade heute Nachmittag frisches Wasser gemacht und gebadet. Also, was wollte die Kennel eigentlich?
Mutter Lutz war noch unsicher, ob es sie nun beleidigen musste, das verrückte Lachen und der Ausruf, da sprangen Gestalten an dem Fenster vorbei, die Tür schlug auf, man sah zwei hochgehaltene Revolver, und mit unterdrückter Stimme riefen zwei Männer, deren Gesichter blass und erschreckt aussahen:
»Hände hoch. Und nicht schreien!«

Mutter Lutz war mit einem Satz in das Schlafzimmer gesprungen. Dort stand sie an der Wand und drückte die zitternden Knie gegen den rauen Mörtel. Ihre Augen gewöhnten sich an das Dunkel, und nun sah sie das Gesicht des erwachten Großvaters in den Kissen des Nachtlagers. Fast wurde ihr wohler vor dem alten Gesicht; wir sind die gleiche Zeit, empfand sie, uns kann man nicht mehr aufregen.
Drüben knallten Stühle auf den Boden. Jenny sagte mit würdiger Stimme seinen Namen und fügte zu: »Gut, dann gehe ich auch mit.« Dann hörte man Keuchen und das Wegschleppen eines Menschen und Klatschen von hölzernen Schlägen auf Fleisch, aber das war schon im Hof.
Mutter Lutz neigte sich jetzt zu dem blassen Gesicht des Großvaters; sie wollte ausspucken mitten auf das Leinen: und so was macht deine Tochter, wollte sie sagen: mehr als die Angst schüttelte sie der plötzliche Ekel. An die Mauer der Baracke gedrückt, fühlte sie die Hitze, die in ihre Backen strömte, es war Scham für den alten Mann und Wut, grenzenlose Wut über die Falle, in die man sie gelockt.
»Mutter!«
Ihr Herzschlag stockte. Ferdinand schrie. - Von ganz weit kam der Schrei - oder war er schon mit sterbendem Atem in die Nacht geschickt? Mutter Lutz besann sich: wie hatte sie den Jungen vergessen können? Sie löste sich aus ihrem Versteck und trat in die Stube. Die Angst war nur noch wie der letzte Wellenring einer Ebbe in ihr, sie sah sich nach Ferdinand um, die Stube war leer, einsam flackerte auf dem Tisch das Licht, übereinander gestürzt lagen die zwei Hocker und der einzige Rohrstuhl. Sie sprang zur Tür. Pechschwarz schlug ihr die Nacht vor die Stirn, kalt strich aus den sumpfigen Wiesen der Wind herbei, sie hörte schleichende Schritte und unterdrücktes Reden von dem Zaungitter her, das Kenneis Besitz umriss, und da schlug ihr jemand die Faust um das Handgelenk und riss sie in die Nacht. »Komm nur, Mädchen«, heiserte hämisch und feige eine Männerstimme, »dich hängen wir drüben an den nächsten Baum.« Sie hämmerte auf den Arm des Wegelagerers, der sie jetzt in die Knie drückte und dann wegstieß; völlig überrascht kullerte sie zwei Meter über den Boden; sie setzte sich auf und sah die schwarze Figur sich wieder nähern; sie wollte aufspringen, die Nacht war nun schon so dicht um sie wie der sichere Tod, der dort ankam; Deutschland bröckelte sich Stücke aus der Saar, die Grenze war nicht mehr da, der Mord griff über. Sie tastete nach den Seiten und fasste an ein menschliches Bein. Es fühlte sich kalt an, sie bildete sich ein, es sei glitschig und tot. Aber die schwarze Figur stand nun wieder hoch und dicht über ihr. »Jetzt geht's euch an den Kragen, ihr Marxistenschweine.«
Mutter Lutz war bisher von der Angst in die Empörung getorkelt; als sie aus dem Versteck in die Räubernacht trat, hatte sie kaum an Politik gedacht.
Jetzt hörte sie die Schimpfworte des fremden Räubers. Zur Not, zum beißenden Hunger, zum Winseln der Kinder und den ausgemergelten Knochen tat dieser unbekannte gutgekleidete Kerl auch noch die Beleidigung! Plötzlich nannte sie ihn »Hitlerschwein«. Zum Sprung bereit hockte sie vor dem SA-Mann und spie ihn an. Die geschnürten Stiefel traten nach ihr, sie wich aus und hüpfte über das löcherige Feld nach der Grenze zu. Der SA-Mann fegte hinter ihr her und griff sie wieder.
Er trat sie ins Kreuz, schlug ihr die Faust in die Zähne, dass die alten Lippen blutig aufschwollen, verdrehte ihr den Arm
im Gelenk, nannte sie mit Mörderhohn ein Mädchen, sie, die zahllose schwere Jahre das karge Brot der Proletenmutter gegessen. Und während das kleine Saarstädtchen diesseits der Grenze friedlich schlief, warteten 50 SA-Leute drüben auf deutschem Ackerfeige gedeckt durch die mondlose Finsternis auf die billige Beute von drei Ärmsten der Armen.
Mutter Lutz aber blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.
Vor ihr lag in einem Erdloch ihr Sohn Ferdinand, ein SA-Mann kniete neben ihm und hatte den Revolver in den Mund des jungen Mannes gesteckt. Starr stand Mutter Lutz. Sie forschte im Gesicht von Ferdinand, ob er noch lebte; ein Flug von Atem hob die Nasenflügel. Gott sei Dank! Mutter Lutz zog das Knie an und dann stieß ihr Schuh dem Hitlermann in die Schulter, dass es krachte. Er schrie auf, und seine Kumpane liefen zusammen; sie ließen Jenny fallen, der sich den Fuß verstaucht hatte und den sie tragen mussten; sie stolperten herbei und halfen die Alte verprügeln. Sie schlugen auf die Greisin, wohin sie nur treffen konnten. Noch immer fürchteten die braunen Gangsters eine Störung durch die Grenzwache.
»Schnauze halten, du Franzosenkopf«, fauchten sie und knüppelten auf Mutter Lutz. »Sonst killen wir dich auf der Stelle.« Aber die Frau hob sich hoch in die niedersausenden Revolverknäufe und Gummiknüppel; in die Nacht hob sie sich und achtete nicht auf die Schmerzen und das Blut, das über ihre Lippen kam. Sie zeigte auf den ohnmächtigen Sohn am Boden: »Schämen sollt ihr euch! Er ist ein Prolet und hat vier Kinder,« rief sie und ihr war, als müssten das Tal und die ganze Stadt wachwerden. »In Grund und Boden sollt ihr euch schämen«, wiederholte sie laut.
Und als einer sie am Hals würgte und schon fester schnürte, weil jetzt die Grenze ganz nah sein musste und dabei sagte: »Und wir schlagen dich kaputt, wenn du nicht sagst, wer die Fahne gestohlen hat«, da setzte sie den mühsamen Atem zum letzten Protest ein.
Sie stolperten über Gräben und Felder. Wie zum Schafott stießen die eiligen Wegelagerer ihre Opfer vor sich her. »Wir werden dich schon zum Reden bringen, mein Mädchen«, zischte der Bursche, der die Mutter Lutz bei den Röcken am Gesäß gepackt hatte und vorwärts knuffte.
Da tauchte aus dem Dunklen eine lange Reihe von Figuren mit Fahrrädern und einem Wagen auf. Losungen wurden gewechselt. Die Schmierensteher grüßten die Diebe. Noch ein Graben war zu überspringen. Der Boden federte sumpfig. Das Dritte Reich war da.
Mutter Lutz aber rief ein letztes Mal, ihre Stimme war voller Verachtung: »Ich - euch was sagen? Da schlagt mich lieber tot!«

Vor Kohle

»Brotzeit!«
Der Hausteiger nahm die Handmuschel vom staubigen Mund und wartete auf die Stille, die seinem Ruf folgen musste. Sechshundert Meter tief war man in der Erde. Er stand in der schlammigen Grundstrecke unter dem improvisierten wilden Wald von Holzstützen, die sich den Bergmassen des stark aufsteigenden Querstollens entgegen warfen. Aus der Höhe des Querschlags ratterten noch die Schrämmer, Schaufeln kreischten in bröckelnde Kohle, die gasige schwarzpudrige Luft zitterte in den Lärmwellen. Der Hausteiger hob eben noch einmal die Hände zu seinem breiten Mund, da riss der Lärm oben ab, die Schrämmer schwiegen, weggeworfene Schaufeln knallten auf den Boden, und schwere Schritte kamen durch das Pfeilerdickicht herab.
Der Hausteiger trat zur Seite und setzte seinen Weg fort. An ihm vorbei sprang ein Kumpel in die Grundstrecke. Durch das Hemd von Staub auf seinem nackten Oberkörper rannen langsam Schweißtropfen. Er setzte sich auf die Holzstapel, ein zweiter Kumpel turnte aus dem Querstollen nieder. Die Schweißjacke und den blechernen Brotbehälter in der Hand folgten noch sieben Männer, hockten eilig nieder, schlüpften in ihre Jacken und packten Brotstücke aus. In der Tiefe der Strecke sahen sie den gebückten Rumpf des Hausteigers, der die nächste Kameradschaft zur Pause aufforderte.
Die neun Männer kauten ihr Brot. Ihre Lampen warfen feine Lichter in die nassen, geschwärzten Gesichter, aus denen die weißen Augäpfel und die zubeißenden Zahnreihen wie allzu helle Intarsien blickten.
»Wo ist denn der Trinkwasserwagen?« fragte in den schwarz glitzernden Raum einer der Kumpels. Ein jüngerer Hauer antwortete mit höhnischem Lachen: »Förderung geht vor.«
»Na, wo ist er?« brauste der Kumpel auf. Sie drehten nun alle die Köpfe zu ihm.
»Förderung geht vor«, wiederholte in nachäffendem Ton der junge Hauer. Das war also ein Wort des Fahrsteigers. Sie saßen eine Weile still. Der gefragt hatte, war der Kumpel Heinrich Müller. Er schluckte wütend seinen Mund leer.
Über ihm, eingeklemmt in den Spalt zwischen zwei Pfeilern, saß Werner. Er kannte seine Kameradschaft bereits, wusste, was sie so dachten. Der Reihe nach, wie sie da saßen, hatte er sie »abgeklopft«; mit Vergnügen verwandte er diesen Ausdruck; er ging an sie genau so heran, wie an das Hängende vor Kohle, er schlug ab, was locker war. Zwei Schichten fuhr er jetzt hier ein, aber er hielt sich schon für einen erfolgreichen Agitator. Er diskutierte mit Vorsicht. Sie waren allesamt angebohrt, hatte er gemerkt, die Sprengkapseln waren schon eingeschoben, man hatte nur die Zündschnur anzustecken.
Werner saß im Dunklen, dicht unter dem Stein, und sah wie aus einem Jagdanstand auf sie hinunter. Er sah den Kumpel zu seinen Füßen, der den Wasserwagen reklamiert hatte. Neben ihm den pockennarbigen Kollegen Schlepper, den Raufbold. Drüben auf den Schienen den Zimmermann, der zur Zeit immer so nervös war; angeschlagen, wie man sagt. Er packte eben die Hälfte seines Brotes wieder ein. Gleich wird er ein Kreuz über sich machen und sich bedanken für den Kanten Schwarzbrot. Lisbeth hätte ihre Freude an dem. Aber er hasst Hitler - Werner dachte es mit Vergnügen: bei beiden Schichten hatte es einen Zusammenstoß mit dem alten Fanta gegeben, dem Nazigläubigen. »Der Adolf bringt den Arbeiter wieder zu Ehren«, sagt der Fanta. »Er stiehlt Gewerkschaftskassen«, sagt der Zimmermann. »Das sind ja alles nur den Bonzen ihre Gelder«, sagt der Fanta. »Es sind Arbeitergroschen«, sagt der Zimmermann und ist plötzlich nicht mehr zu bändigen. »Er ist ein Dieb und er ist größenwahnsinnig, er lässt sich beweihräuchern. Er steckt Arbeiter ins Gefängnis, er zerschlägt alles, was wir uns aufgebaut haben, und du lobst ihn?« »Wir brauchen keine Gewerkschaften, wenn man uns anständig behandelt«, sagt der alte Fanta.
Werner hörte die Debatte von gestern wieder, als er die beiden nun friedlich am Boden des Stollens auf dem Holzstapel nebeneinander sitzen sah. Was soll man mit so einem Mann! Wenn man ihn ins Reich in die Grube schicken könnte. Wär rasch belehrt. Wie unsere Jungens vom Arbeitsdienst. Hier in der Grube hat
er’s jetzt noch eine Zeitlang leicht. Da schimpft er auf die Franz« sen, und das sieht dann nach was aus.
Werner schob eine Brotecke in den Mund. Sein Rücken brannte im Schmerz der Müdigkeit. Arbeiten ist Gewohnheit Ich war raus, ganz raus. Er sah auf sein Brot. Das schmeckt hier alles nach Pulver. Aber der Hunger treibts rein. Wenn nur schon was anderes drauf wär als diese Gutschenschmier. Die holte Mutter beim Jud Felsenthal. Bei Lisbeth. Heut Abend seh ich sie. Bis jetzt weiß sie noch nichts von meiner Arbeit. Wird staunen. Mensch, die Augen. Wenn man dran denkt, wir einem schon besser.
Der Kumpel vor Werner stand schroff aus dem Sitz auf. Werner konnte plötzlich keinen von den anderen mehr sehen. Er hatte diesen Schädel mit den verklebten Haaren jetzt dicht vor den Augen. Der Kopf stand auf einem gekrümmten Rücken, die Steindecke drückte schon fast auf die Schädelplatte. Mit einem Mal empfand Werner die Enge des Raums; seine Hand fasste an den Holzpfeiler neben seiner Backe, der die tödlichen Bergmassen über den neun Menschen trug. Nirgends konnte man hier grade stehen; gekrümmt schlug man in die Kohle, kriechend füllte man den Versatz in die Löcher, immer lag die Gefahr im Nacken wie ein Sack.
Werner strich sich über die Augenbrauen, ein nervöser Schmerz zerrte ihm die Stirn, er wollte Heinrich etwas von sich wegschieben, seine verstaubten Lungen sogen gierig den Wetterstrom in sich, der vorne vorbeistrich, da sagte Heinrich:
»Kollegen, wir lassen uns das heute mal nicht gefallen. Wir sind kein Vieh. Wir haben Anrecht auf frisches Trinkwasser, und da gibt’s gar nichts gegen zu sagen. Und wenn der da sagt, Förderung geht vor, so sage ich: für uns geht der Durst vor. Den Partiemannn haben sie oben bestimmt. Aber jetzt gehn wir mal auf unsere Bestimmungen. Wir wählen uns einen neuen Partiemann. Und der reklamiert uns das Wasser.« Heinrich drehte vorsichtig den Kopf herum und zeigte auf den erstaunten Werner: - »Der da soll es sein!«
»Mach doch keinen Quatsch«, murrte Werner völlig überrascht, aber einige Kumpels stimmten schon zu. »Hau ab, gehs holen. Dich hörense an und meinen, es wär Dummheit.« Die anderen lachten.
Soll das eine Falle sein, dachte Werner, aber die Gesichter verrieten nichts.
Heinrich Müller grinste zu ihm hinauf. »Hast Angst? Also das ist nur, um ihnen die Zähne zu weisen. Da passiert dir nix. Denn schwätzen tu ich. Und die Papiere können wir sowieso bei jeder Schicht kriegen.«
Werner verstand sie nicht. Sie provozierten und flogen sämtlich aus der Arbeit. Und was hatte das für einen Sinn?
Heinrich Müller stieß ihm an die Knie: »Das ist von Zeit zu Zeit nötig. Sonst werden sie zu frech.«
Eine heisere Stimme unterbrach ihn: »Kinder, ist das ein Unsinn!« Ein bedauerndes Zungenstoßen folgte dem Ausruf.
Heinrich lachte kurz: »Na also, auf dich hab ich ja gewartet.«
Werner sah, wie der andere nach Luft schnappte und hörte, wie er auch schon giftig lostobte:
»Was heißt gewartet? Ich denke an den Kollegen. Der fliegt doch morgen schon, wenn ihr ihn so bloßstellt. (Er hat recht, dachte Werner.) Und was das Wasser angeht, so kann das doch mal vorkommen. Da kann man doch mit dem Divisionär reden. Ein Wort und die Sache ist abgestellt.« (Arschkriecher, dachte Werner.)
Heinrich höhnte: »Wir betteln aber net immer. Einmal im Monat ist bei mir das Gegenteil fällig.«
Heinrich sah aus der Tiefe der Strecke ein Licht herankommen. »Na jetzt ists zu spät«, sagte er. Die Kumpels sahen nun auch das Licht; unruhig erhoben sich einige. Sie wussten, es gab jetzt einen Zusammenstoß. Da kam der Fahrsteiger an, das Gedinge zu machen, diesen komplizierten Verdienst des Bergmanns, so gerecht auf den ersten Blick, und doch eigens zum Betrug erfunden. Sie sahen erstaunt, dass Heinrich sich breitbeinig hinsetzte.
Wie aus einem Hinterhalt stolperte der Hausteiger plötzlich von oben aus dem Querstollen in die Kumpelpause. »Warum arbeitet ihr noch nicht wieder?« brüllte er und hob den eisenbeschlagenen Spazierstock in komischer Drohung an seine Schläfe.
Von rechts kam der Fahrsteiger heran und gab ihm ein Zeichen. »Schon gut«, sagte er, »wir wollen sowieso das Gedinge machen. Wo ist der Partiemann?«
Heinrich Müller zeigte hinauf ins Gebälk zu Werner. Der Hausteiger hob entsetzt die Hände: »Das ist ja der Schlepper!« rief er aus, als stürze das Gebälk neben ihm zusammen.
Die Kumpels grinsten. Mit einem Male waren sie jetzt einig. Lange duckt und schweigt gewöhnlich der Kumpel. Aber wie ein Hängendes fällt, ist dann plötzlich auch seine Minute da, und in dem splitternden Gebälk der Stollen, umwittert von Todesgasen, eingeschlossen unter die Millionen Zentner Erde, mit Pickel und Axt in der Hand schwindet die Demut, wenn man sich einmal Mut gemacht hat. Nirgends aber ist ein Prolet so nah an der Wahrheit wie hier.
Ohne mich sind die da oben ein Dreck, das versteht er dann plötzlich. Leicht wird sie ihm nicht, die Erkenntnis, wenn im harten Lederhelm einer von den bezahlten Antreibern vor ihm steht, einer, der seine Papiere in der Hand hat wie eine Pistole. Leicht aber war es jetzt dem Heinrich Müller. Seine Kehle brannte. Förderung geht vor, ging ihm gellend durch den Kopf. Er sah den Fahrsteiger. Die Grube kenn ich doch genauso wie du. Verachtung stieg ihm aus dem Magen.
»Ein Schlepper kann kein Partiemann sein«, sagte der Fahrsteiger, noch beherrscht. »Wenn wir ihn gewählt haben, doch!« Der Fahrsteiger ließ seine Benzinlampe in den Schlamm sinken.
»Ich will das Gedinge machen«, schrie er. Heinrich nickte mit dem Kopf. »Das machen wir alle zusammen.« Die Ruhe des Kumpels enervierte die beiden Feldwebel. Der Hausteiger machte einen empörten Satz auf Heinrich zu, aber er stieß sich den Kopf an einer Deckenstütze. »Hoppla«, rief Werner, der jetzt sicher war, dass dieser Zusammenstoß kein Geplauder blieb. Langsam ließ er sich aus seinem Holzverschlag zu Boden gleiten.
Der Fahrsteiger kniff die Augen zu; sein Gesicht lief feucht an, als habe er schwer gearbeitet; um seine krumm vorspringende Nase zuckte der Zorn; seit fünfundzwanzig Jahren ging er in diese Grube. Er kannte Schlägereien, hatte selbst zweimal einen Monat im Lazarett gelegen, in der Kohle fackelte man nicht. Aber seit Mai hieß die Instruktion anders.
Der Fahrsteiger stieß den Atem erregt durch die Nase und sah sich in dem Kreis der Kumpels um. Wahrhaftig, diese zahme Technik gefiel ihm nicht! Bergleute musste man anfassen wie die Kohle. Reinschlagen, grob, ohne Fisematenten. Er sah sie an, er hasste sie, wie sie dastanden; er war selber mal ein
Kumpel gewesen. Er wusste, was sie dachten. Sie gönnten einem den höheren Lohn nicht. Sie verklatschten einen, wos nur ging. Dieser Fanta da hinten war totensicher ein Nazi, dachte er. Heute noch werd ich es herauskriegen.
Er zog hochmütig die Brauen in die Stirn: »Also, das Gedinge wäre zwei Francs fünfzig pro Tonne Kohle, dazu untere Strecke achtundzwanzig Franken pro aufgeschossenen und verbauten Meter, obere Strecke achtunddreißig Franken pro aufgeschossenen und verbauten Meter. Und fünf Franken pro Meter Streckenpfeiler.«
Er nickte mit dem Kopf in die Runde und trat einen Schritt weiter zum Streckenstoß. Sein Vorschlag war ungewöhnlich gering, war provokatorisch; sie würden ihn nicht schlucken. Er wusste es, aber ihm gefiel es, seine Macht zu erproben. Zwar tat es seinem diktatorischen Auftreten einen gewissen Abbruch, dass er sich unter die tief hängende Decke bücken musste. Noch weniger aber hatte er mit dem Kumpel Heinrich Müller gerechnet, der eisern an seinem Entschluss festhielt, sich heute einmal zu rühren.
»Kollegen«, hörte der Fahrsteiger den Müller fragen, »seid ihr mit diesem Gedinge einverstanden?«
»Nein«, riefen die Kumpels; Werner wunderte sich, dass keine Stimme fehlte.
Der Fahrsteiger kam in die Männerrunde zurück. Er zeigte wirklich keine Angst. Ein Griff in die Tasche, und ein Zettel erschien: Natürlich, das Gedinge war also schon fix und fertig gewesen. Heinrich sah mit Vergnügen, wie der Beamte den Zettel hinwarf. Das sollte nun der Kriegshandschuh sein. Das Ultimatum im Stollen.
Heinrich Müller winkte den Werner herbei: »Partiemann«, sagte er ruhig, »geh mal einen Hammer holen, da hinten liegt einer.«
Als Werner wiederkam, stand der Fahrsteiger mit gezücktem Stock an die Holzwand gelehnt. Er erwartete einen Angriff. Der Hausteiger versuchte, in seine Nähe zu kommen, aber Werner versperrte ihm den Weg und reichte Heinrich Müller den Hammer.
»Dann wollen wir mal«, sagte Müller, fingerte den Zettel hoch und nagelte das schlammig gewordene Dokument an einen Pfeiler. Bedächtig trieb er den Eisenstift in Papier und Holz; wie ein freundlicher Hinrichter schlug er zu, betrachtete
den entwerteten Anschlag und drehte sich dann zu den Beamten um, den Hammer nach unten hängend.
»Was wollt ihr«, kreischte der Mann. Seine Hände krallten zitternd den eisenbeschlagenen Stock. Mit solchen Lumpen muss man nun ruhig umgehen, dachte er. Die Verwaltung wird sich noch wundern, was sie sich da heranzüchtet.
»Wir wollen drei Franken fünfzig pro Tonne, vierzig Franken untere, sechzig Franken obere Strecke, zehn für Bergversatz.« antwortete Heinrich Müller.
Der Fahrsteiger erblasste: »Ihr seid unverschämt!«
»Und du bist ein Lump«, rief der Fanta unbeherrscht dazwischen.
»Ich werde den Ingenieur schicken.«
»Davor haben wir keine Angst.«
Der Fahrsteiger wollte schon gehen, aber dann fiel ihm der Zwischenruf ein, er trat über den Schlammgraben: »Du Hakenkreuzler!« zischte er provozierend den Kumpel an. Er erreichte seine Absicht.
»Jawohl«, sagte der Fanta, »1935 rechen wir mit euch ab, ihr Franzosendiener.«
Werner sah die Einheit zerbröckeln; der Zimmermann griff nach einem Pfeilerhaken, um sich wieder an die Arbeitsstelle hoch zu ziehen. Er schüttelte den Kopf. Nichts als Parteipolitik! Der war geckisch. Mit Vorgesetzten disputierte man heutzutage nicht politisch.
Die anderen Kumpels wandten sich langsamer ab. Sie standen auf und griffen sich an den Stempeln hoch. Die Angst um den Platz verdrängte den Mut. Müller sah es. Der Fahrsteiger war dabei, zu siegen. Menschenskinder, wollte er rufen. Ein Kumpel ist ein Kumpel, auch wenn er den Nazis nachschwätzt Was ist denn hier Politik, wollte er sie anschreien, da half ihm der Fahrsteiger: der war noch einmal dicht an den Naziarbeiter herangetreten:
»Das war Ihre letzte Schicht.«
Eine alarmierende Drohung. Da geht einem auch sechshundert Meter unter der Erde das Herz wie ein heißer Schwamm zusammen. Die Arbeiter hielten im Klettern an. Jetzt war man plötzlich wieder Kollege, Prolet am Stoß. Sie sahen das lachende Maul des Fahrsteigers, des Feldwebels. Jetzt ließ er im Hohn seine Stimme überschnappen:
»Hier sind vorläufig wir noch die Faschisten!«
»Bravo«, sagte Heinrich Müller. Das Wort des Fahrsteigers war wie ein Gongschlag über das ganze Saargebiet, war wie eine Explosion, die Wände einreißt. Welch eine Belehrung für den Nazikumpel! Da sagte ihm eine amtliche Persönlichkeit, schon achtzehn Monate vor 1935: Faschismus ist keine nationale Erfindung, das ist letzte Zuflucht aller bedrohten Tyrannen des zwanzigsten Jahrhunderts. Das ist international, mein Lieber; das Schreckgespenst, das man in jedem Lande bereit hält, die Elenden noch mehr zu lähmen.
Müller lachte und lachte. »Kapierst dus jetzt?« fragte er Fanta. Der schwieg.
Müller sah, dass die Kumpels, wie von einem schlagenden Wetter geschreckt, sich umwandten. Sie stiegen herab und setzten sich wieder auf die Kohle nieder. Die Steiger gingen fort. Man hörte eine Zeitlang nur das hohle Geräusch ihrer Schritte in dem Matsch der Grundstrecke. Müller zeigte ihnen nach und sah Fanta an:
»Meinst du, der Adolf braucht die da nicht? Original solche braucht er.«
Der Fanta war niedergeschlagen. Dumpf war sein Denken. Er ließ die traurigen Augen über Müllers Gesicht gehen. Plötzlich griff er eine Blechschachtel aus der Tasche. Er klappte sie auf. Es war Priemtabak drin.
»Da«, sagte er zu Heinrich Müller und hielt ihm die Schachtel hin.

Der Überfall

Sie saß nun schon eine gute halbe Stunde unter dem Haselstrauch im Kohlenwald, wo sie jeden zweiten Abend zusammentrafen. Immer war er schon vorher dagewesen, er hatte ja auch keine Arbeit. Lisbeth Biesel strich sich das Laub von den Beinen. Ein Junikäfer setzte hart auf ihre Hand auf, sie sah ihn und hielt an. Er bringt Glück - oh, das hätt ich nötig. Sie hauchte über das feingepunktete Tierchen, es spannte die Flügel und verschwand. Wenn’s ein Marienkäfer gewesen wär, der hätt mir geholfen.
Die Abendschatten fielen schon aus den Bäumen. Der Brodem des Laubbodens hob sich in leichten Schleiern. Sie fröstelte und hielt schnell die Hände vor den Schoß. Dass sie nichts anderes mehr denken konnte! Es war ihr immer, als rühre sich
schon was. Nun saß sie starr, hatte den Mund geöffnet, und ihre großen dunklen Augen trauerten in die Dämmerung. So schnell straft einen Gott, dachte sie. So rasch kommt der Fall. Glück und Glas, wie leicht bricht das.
Sie wisperte den alten Großmutterspruch vor sich hin, bleich wurde ihr Gesicht in der sich verdichtenden Dunkelheit, wie ein drückender Rahmen lag das schwarze Geflecht ihrer Haare an Stirn und Backen. Sie nickte sanft mit dem Kopf. Ganz alle« werde ich sein, alle zu Haus werden über mich herfallen. Aber ich zahle mein Kostgeld, und es ist keine Schande, wenn er mich nur nicht sitzen lässt.
Sie sah erschrocken auf. Der weite Wald, wie eine Burg um
sie gestellt, verwandelte sich mit einem Mal in bewegte dröhnende Schatten; wie Einfallstore unfassbarer Gefahren klafften die schwarzen Räume zwischen den Baumstämmen. Nun war sie plötzlich allein, und die Minuten des Wartens dehnten sich mit beängstigender Eile zur Ewigkeit. Wie lange war sie schon hier? Natürlich kam er nicht mehr. Er wollte keine, die so schnell so war. Sie drückte die Faust in den Schoß. Nun war doch auch nichts mehr dran an ihr. Nun wurde sie immer dicker und schob ihn immer weiter von sich weg.
Ihre Hände krallten tief in das Laub und fühlten die feuchte Kühle des Moosbodens. So kalt ist's im Grab, so kalt bis ans Herz.
Ein Vogel klatschte oben im Geäst. Der Totenvogel fliegt.
Ich bleibe hier sitzen, bis ich sterbe.
Sie glaubte, jemand berühre ihren Hals, es war nur ein Luftzug, der über die Erde strich, aber sie hatte sich schnell bewegt, und nun wich auch die Lähmung aus ihrem Körper.
Er weiß doch noch gar nichts, fiel ihr ein. Sie lächelte wieder. Heute wollte ich's ihm doch erst sagen, hier am Busch, seinen blonden harten Kopf nehmen und den Mund an sein Ohr legen und ganz leise sagen: du bist nicht bös, was ich auch jetzt sagen werde. Gewiss nicht bös, nein? Und dann noch rasch einen Kuss auf die Ohrmuschel, dass er rasch dran reiben musste, aber dann wär er gut gelaunt gewesen. Ja, und dann hätte ich's gesagt: du, wir müssen heiraten.
Ein schwerer Körper brach durch die Heckenwand, hinter der sie saß. Sie fuhr auf aus ihren Gedanken. Das musste ein Hirsch sein. Das Geräusch krachte und rauschte. Sie hielt sich ganz still. Dann entfernten sich Schritte.
»Hier herum ist es«, heiserte eine menschliche Stimme, »da trifft er sich mit seinem Mensch. Am besten, wir halten uns hier hinter dem Holz.«
Sie hörte Rascheln von Laub und dann noch das grobe Ausspucken eines Menschen, der nur einen Steinwurf entfernt sitzen konnte. Aber die Unbekannten saßen in der nahen Dunkelheit wie zwei riesige Bestien.
Lisbeth war bis in die Kopfhaare hinein wach geworden.
Sie meinen uns, Werner und mich. Mensch hat er mich genannt. Das darfst du nicht sagen, du nicht. Sag das noch mal vor Werner, da kannst du was erleben. Sie stutzte. Schritte kamen. Zu wie vielen waren sie? Wenn das Werner war? Sie musste ihn anrufen, ihn warnen!
Das Laub raschelte. »Achtung«, flüsterte eine Stimme. Sie wollte schreien, aber die Erregung schnürte ihr die Kehle.
»Ja was ist denn?« schrie eine Stimme. Es war Werner. Lisbeth versuchte aufzuspringen, ihre Knie zitterten. Ein Körper fiel schwer zu Boden. Unterholz krachte.
»Jetzt kriegste deine Tracht, du roter Hund, du Saarbündler.«
»Du Vaterlandsverräter«, keuchte die zweite Stimme, und brach dann schrill mit überraschtem wieherndem Geheul ab.
»Meine Zähn'«, heulte die Stimme.
Lisbeth kniete im Moos und betete eilig.
Heilige Maria, betete sie, bitte für uns Sünder. Sie hob die Hände zum Mund, rang sie fest ineinander. Von drüben kam das klatschende Geräusch von wilden Schlägen.
»Meine Zähn'«, wimmerte die Stimme wieder. Es war nicht Werner. Lisbeth hob die gefalteten Hände von sich weg ins Dunkle, »bitt für uns Sünder«, wiederholte sie, »jetzt und in der Stunde des Todes.« Wie an einem Stamm hielt sie sich an diesem Gebet, sie hatte die Augen geschlossen, die Hilfe musste herabfließen in einem Lichtstrahl und die Nazis niederschmettern. Unaufhörlich bewegten sich ihre Lippen, schon hörte sie nur noch wie aus einer Ferne das Kämpfen der Männer, die Schläge, das Stammeln von Worten, das Knittern der zerbrechenden Äste.
Noch einmal schrie ein Mensch, Lisbeth flüsterte leidenschaftlich, dann federte der Boden von den Sprüngen eines Fliehenden. Dicht an der blass im Dunkel knienden Mädchengestalt lief der Mensch vorbei. Lisbeth ließ langsam die Hände sinken. Vor ihr teilte sich das schwarze Gebüsch, sie sah Werner.
Er wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht und forschte dann ins Dunkle.
»Lisbeth«, rief er zögernd.
Nun trugen sie auch wieder ihre Füße, sie stürzte die wenigen Schritte auf ihn zu, fasste ihn um die Taille. Da waren seine Arme um ihre Schulter, seine Jacke, sein Hals. Sie wühlte ihren Kopf in seine Jacke, tastete seinen Rücken ab, glücklich und zitternd.
»Die haben für 'ne Woche genug«, sagte Werner über ihr. Sie merkte, dass er den Ärmel zum Gesicht hob und ließ ihn los.
»Haben sie dich verwundet?«
Er wehrte ab. »Das gehört dazu. Komm, wir gehen noch ein bisschen.« Er griff unter ihren Arm. »Hab mal keine Angst, die kommen kaum wieder.«
Sie traten aus den Bäumen auf die Landstraße. »Gibst mir keinen Kuss heute?«
Sie stellte sich hoch und warf die Arme um seinen Hals. Ihr heißer Atem traf den seinen. Ich kann ihm heute nichts sagen, dachte sie.
Sie schloss beglückt die Augen. Wie stark er ist! Ich kann nicht mehr leben ohne ihn.
Atemlos riss sie sich von ihm. Er lachte: »Das macht wieder gesund. Weißt du übrigens, warum ich heut so spät angetanzt bin?«
Sie sah in sein Gesicht, über das der blasse Schimmer des Mondes fiel. Er hob seine Hände: »Dann guck dir mal die an. Ach Quatsch, jetzt hab ich mir sie im Busch geritzt. Hör zu, ich hab seit zwei Tagen Arbeit. Bin Kumpel, Mädchen! Was sagste jetzt!«
Die Wahrheit könnte ich jetzt sagen. Die ganze Wahrheit. Lisbeth senkte den Kopf und griff nach seinen Händen.
»Das freut mich sehr«, sagte sie.
Als er sich eine halbe Stunde später von ihr verabschiedete, meinte sie, genug Mut zu haben. Sie hielt ihn noch einmal fest. »Du«, sagte sie, aber dann änderte sie ihre Rede, »ich freue mich so, dass du die Nazis so verbimmst hast.«
Er sah, wie sie hastig in der Tür verschwand. Aus der mach ich noch was, dachte er, die kapiert's noch, sonst nenn ich mich Matz.
Langsam stieg er die Straße zurück. Die Häuser lagen im bläulichen Dunst. Nur aus den Wirtschaften kam noch Radiogegröhl.
»Da ist er ja«, rief plötzlich hinter ihm eine Stimme.
Er wandte sich nicht um, bis er Sprünge hörte und das Aufschlagen eines schleppenden Säbels.
Ein Landjäger fegte heran. Wenn der kein Schwert bei sich hätte, würde ich sagen, er hätt Angst.
Nun erkannte er auch die beiden anderen Figuren. Die Strauchdiebe von vorhin. Und noch einen zweiten Landjäger hatten sie sich geholt.
»Keinen Schritt weiter«, brüllte der erste Landjäger und zog blank.
Werner verstand plötzlich. Sie wollten die Chose umdrehen. Er verschränkte die Arme und erwartete den schreienden Mann.
»Diesmal geht's dir nicht so einfach ab, Bürschchen«, schrie der Mann und schon sah Werner den Säbel und spürte seinen stumpfen Schlag an seiner Wade.
Wie ein gebranntes Tier schoss er vorwärts. Fort war alle Ruhe, weggeblasen alle Besinnung, aufbrüllend schlug er dem Landjäger die Faust ins Gesicht.
Die Partie war zu ungleich. Vier gegen einen ist zuviel für den einen.
Werner lag eine halbe Stunde später auf der Gefängniswache, blutend und zerschlagen. Die Staatsgewalt und ihre Helfer, die Nazis, hatten diesmal gesiegt.

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