Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Gustav Regler – Im Kreuzfeuer (1934)
http://nemesis.marxists.org

März: Emigranten kommen

4.3. Ernst Thälmann gefangen genommen.
5.3. Reichstagswahl.
9.3. Die Länder werden gleichgeschaltet.
21.3. Reichsbanner verboten -
SPD stimmt für Regierungserklärung -
Konzentrationslager in Dachau -
Folterungen von Arbeitern in SA-Kasernen -
Hunderte von Morden.

Emigranten

Der D-Zug Köln-Saarbrücken stand mit qualmender Lokomotive auf dem Trierer Bahnhof. Die Eifel lag hinter ihm, der Anstieg auf die langen Bergmassen, der die Maschine so strapazierte, die Tunnels lagen hinter ihm, die tannenbestandenen Schluchten, das Auf und Nieder, das Wechseln des Dampfdrucks, der Kampf mit der Steigung. Nun kam nur noch das Saartal, die weiten Kurven, geringes Bremsen in den schroffsten Biegungen, aber doch eine Fahrt ohne Höhen, kräftiges Losschießen. Der Lokomotivführer lehnte sich zufrieden aus dem Heizraum und wartete auf den Befehlsstab des Vorstehers. In einer Stunde war der Dienst zu Ende. Er sah zu den Weinstöcken, die von sanften Hügeln bis dicht an die Geleise herabmarschierten, starre Reihen mit leichtem Schimmer der Sträucher. Ob es gute Lagen sind? In Saarbrücken werde ich einen Becher Walsheim trinken; es geht nichts über Bier.
Der Bahnsteig war fast menschenleer. Das macht die Wahl, dachte der Lokomotivführer. Sie wählen heute. Da wird immer wenig weggefahren.
Der Lokomotivführer gab sich einen Ruck; die grüne Lampe ging in der Tiefe des Bahnsteigs hoch, die Abfahrt. Er griff nach dem Dampfhebel. Die Maschine stieß krachend eine konzentrierte Rauchsäule aus, der Zug zog an. »Gott sei Dank«, sagte ein dicker Herr im Abteil erster Klasse, zwei Waggons hinter der Lokomotive. Erschrocken sah er sich dann um, wo neben Photographien deutscher Burgen gestickte Kopfdeckchen hingen. Niemand war im Abteil als der dicke
Herr und sein lederner Handkoffer. Mit bunten Plakaten hatten sich Hotels von Venedig, Florenz und Nizza auf dem Gepäckstück zu verewigen versucht. In dem Herrn unten aber war von der Erholung, die er in jenen Hotels gefunden hatte, nicht mehr viel übrig geblieben. Er stellte zwar beruhigt fest, dass die Polsterwand hinter seinem Kopf nicht geöffnet war, aber er sah eben mit Schrecken, während der Zug langsam den Bahnsteig entlang schlich, einen Trupp blaugekleideter Polizei dicht an den Wagen entlang gehen. Bahnpolizei, stand auf den Bändern der Ärmel. Severings Einrichtung, dachte der Mann und ließ verächtlich sein Kinn abwärts.
Dann konstruierte er sich den Zusammenhang: Sie bewachten die Strecke - dieser Göring tat so, als wenn Krieg ausgebrochen wäre - Reichstagsbrand, Brückensprengungen, sonst fiel ihm nichts ein - die Polizei ginge sonst auch nicht mit, das weiß der Halunke; er muss uns erst zu Verbrechern machen, dann schießt ein Schupo; so hatten wir sie erzogen.
Der Mann schloss das Fenster nicht mehr. Von Zeit zu Zeit neigte er sich eine Kleinigkeit vor, um die Polizisten zu beobachten, die auf den Brettern des Packwagens standen mit schussbereitem Karabiner. Kurz vor Conz war plötzlich der Wagenrand leer. Der Dicke beugte sich weiter vor und hatte alle zwanzig Mann vor sich in den Schienen stehen. Sie waren abgesprungen, der Zug schien, ledig der amtlichen Last, sich nun auch zu freuen. Er lief schon schneller. Der Dicke am Fenster nach erstem Schreck sah befriedigt zu den blauen Männern mit den Karabinern, die kleiner und kleiner und dann von einem neuen Zug verdeckt wurden.
Nun noch die letzte Station, Mettlach, und alles ist gerettet. Der Dicke setzte sich schwerfällig und griff zu seinem »Völkischen Beobachter«. So oft hatte er ihn nun schon als Deckung vor die Augen gehalten seit Köln, dass er die Innenzeilen auswendig kannte; jetzt ging er an die Außenseite, die sonst den Passanten entgegengestreckt werden musste. »Jeder Deutsche gibt seine Stimme am 5. März dem Volkskanzler.« Meine hat er nicht bekommen. Das erste Mal, dass ich überhaupt nicht wähle. Ob das wirklich ein Symbol ist? Ob wir wirklich ausgespielt haben? Man wird abends in Saarbrücken die Wahlresultate hören. Die Kommunisten haben gewonnen; aber was da wegläuft, war sowieso nichts wert. Ob die Lippert mir das Konto noch rechtzeitig abhebt? Sie hat geweint, die alte. Das
hat sie nicht gedacht, dass man ihrem Direktor einen Steckbrief hinterherschickt. Weil irgend jemand den Reichstag angesteckt hat, die Kommune oder die Nazis, einerlei. Einem Direktor einer Gemeinnützigen Wohnstättengesellschaft! Der immer seine Ordnung hielt. Sein Gesicht verzog sich verächtlich: Besser werden die's auch nicht machen. Habe ich vielleicht Exmissionen gescheut? Mein Block war am Ende beinahe kommunerein. Einige hat man nicht rausgekriegt. Hat doch noch einer gedroht vor vierzehn Tagen, dass ich Kreti und Pleti gesagt habe zu seinem ewigen Besuch. »Sie nennen das Kreti und Pleti, es sind Arbeiter, Herr Direktor; vielleicht werden Sie morgen Ihren Brief in der >Roten Fahne< finden.« Schwer haben sie's einem gemacht. Und jetzt muss man flüchten. Verdient? Man war eben zu weich, hat sie hochgepäppelt. Reichstagsbrand? Lächerlich! Das wäre alles nicht, wenn die Kommunisten nicht immer der ganzen Welt Angst vor der Revolution gemacht hätten.
Die Tür rollte. »Die Fahrkarte, wenn ich bitten darf.« Höflich verneigte sich der Schaffner vor dem Fahrgast erster Klasse. Man möchte sich direkt mit ihm unterhalten, dachte der Dicke. Er ist doch freundlich, er würde sicher bestätigen, dass er nichts gegen uns hat. Oh, wenn wir mal wieder zum Volk reden könnten! Wir werden ihnen Bescheid stoßen. »Da, trinken Sie mal eins, wenn der Dienst vorbei ist.« Der Schaffner zog die Mütze. »Dank auch schön.« Wirklich ein angenehmes Volk. Ist ja nur besoffen gemacht, nichts als besoffen gemacht. Ich werde das alles schreiben von Saarbrücken her. Lasst mich mal in Freiheit sein!
Der Zug raste in die weite Kurve von Schoden Ockfen. Hoch stieg das Amphitheater der Weinberge um den hellen Bogen der Saar, an deren Ufer sich die Lokomotive vorwärts stieß. Noch zwanzig Minuten. Es darf nichts mehr passieren! Der Dicke wies seine rebellischen Gedanken zurück. Nein, er will nichts schreiben, eine Zeitlang will er überhaupt nichts hören von Politik. Wenn er gut durchkommt - er spürte jetzt, wie schnell der Zug der verhängnisvollen Grenze entgegendonnerte - will er jahrelang überhaupt nichts mehr schreiben. Er will gegen die Kommune alles sagen, was sie wollen. Hauptsache war die nächste halbe Stunde. Etwas wie Frömmigkeit stieg in ihm hoch, die kleine mickrige Frömmigkeit des Bedrohten, der bereit ist, einen Gott anzurufen aus Feigheit und ohne
Glauben. Haben wir nicht in Köln gut gearbeitet mit dem Zentrum? Er legte den »Völkischen« beiseite und sinnierte zum Fenster hinaus.
In der Ferne kam eine Burg aus dem Dämmerlicht: Saarburg. Umschmiegt von dem Kranz der Häuser, die vom Ufer aufstiegen bis an die Burgmauer, zeichnete sie an den Horizont ihre Türme mit solcher Ruhe, dass der dicke Mann wohlgefällig seine Blicke auf dem mittelalterlichen Stich haften ließ. Dort wo das Licht stand zwischen dem ersten und zweiten Turm, hatte Herr Göring schon nichts mehr zu sagen. In zehn Minuten war alles vorbei. Dann war alles, alles gleichgültig. Dann konnten sie einsperren, wen sie wollten, dachte er. Aber ihn hatten sie nicht. Und sein Geld auch nicht. Die Hälfte war schon in Metz auf der Bank.
Er griff ein Kämmchen aus der Weste und ordnete sich das Haar. Es musste gut gehen. An die erste Klasse ging ein Beamter ja schon mit ganz anderen Gefühlen heran. Die kleine Mehrausgabe würde sich sicher gelohnt haben. Da nahm er Gift drauf. »Saarburg!« Türen knallen.
Vier Waggons hinter dem ängstlichen, gepflegten Herrn, der erste Klasse im vollbesetzten Holzabteil saß, den Kopf in dem aufgehängten Mantel verbergend, ein sportlich gekleideter schlanker Bursche. Jetzt dreht er das Gesicht aus dem Mantel und beugte sich zur Fensterscheibe vor, um den Namen der Station zu lesen. Saarburg, also die Kontrolle. Die Nachbarn nestelten aus Taschen und Handkoffern ihre Papiere. Jeder kramte so öffentlich, wie es nur ging; alle zeigten das Bestreben, eine gewisse Unbefangenheit zu markieren. Eine alte Frau nur ging mit einem Paketchen fort, um es auf der Toilette in ihre Unterwäsche zu verstauen. Man lächelte sich an. Der junge Bursche begriff, dass sie alle viel mehr an Schmuggeln dachten, denn an irgend etwas anderes.
»Ein paar Zigaretten darf man doch mitnehmen«, fragte er. Seine Stimme war heiser, er suchte sie durch Husten zu reinigen und wurde plötzlich schwindlig. Das Mädchen ihm gegenüber im grauen Komplet schien etwas zu merken. Sie sah ihn flüchtig an und klappte dann ihre Handtasche auf; eine kleine Flasche mit grünem Etikett erschien: »Johann Maria Farina gegen­über dem Dom«, sagte er unhörbar mit zusammengebissenen Zähnen. Der Schwindel verflog. Gegen das Schienbein möchte ich dir treten, dachte er und lächelte. Wenn ihr wüsstet, warum
mir schlecht wird. »Danke schön, Fräulein«, sagte er laut und wies die Erfrischung zurück. »Es geht mir gut.« Er hatte sich höflich nach vorn geneigt und bog sich vorsichtig wieder zurück. Der ganze Rücken brannte; aus den Hoden lief ein messerscharfer Schmerz in die Bauchhöhle. Brechreiz würgte die Kehle. Er riss die Augen weit auf, suchte etwas zu fixieren. An den Türmen der Wartburg, dem Reklamephoto neben der Pelzmütze des Mädchens, saugte sich der Blick fest. Wenn ich aufstehen muss, werde ich schreien. Wenn sie mir Schikanen machen, werde ich zuschlagen. Wenn ein SA-Mann kommt, gehe ich ihm an die Kehle.
Das Mädchen tupfte sich ein Taschentuch mit der Flasche; süßliche Schwaden wehten in die Nasen der Passagiere. Der Bursche sog sie gierig ein. Jetzt erkannte er auch das Photo. Wartburg, Sängerkrieg, Tintenklecks, Butzenscheiben, Bibelschreiber, Bauernkrieg. Man hat sie gepfählt damals, sie an den Beinen gefasst, sie in das spitze Holz gerammt, die Eingeweide zerschlitzt. Dass sie nicht sofort tot waren, jetzt verstand ers. Wie viel hielt man aus! Meine Herren!
Starr saß er in dem Holzabteil. Draußen auf dem dämmrigen Bahnsteig hinter den Sperrgittern lümmelten Gymnasiasten auf ihren Fahrrädern, begafften den erleuchteten D-Zug, der Menschen von fremden Großstädten brachte. Im Wartesaal ließ eine alte Frau Bier in ein Glas laufen.
Er konnte sich nicht rühren, die kleinste Bewegung weckte das irrsinnige Stechen zwischen seinen Beinen. Ganz gerade hielt er sich. So wie vorgestern, fiel ihm ein; er ballte die Hände, aber sie blieben auf der Bank neben den Schenkeln liegen, schwache leere Fäuste. Ihre Kraft war an jenem Stuhl abgeflossen - sind das erst zwei Tage?
Er sah, wie sich sein Gegenüber schminkte und kämmte. Plötzlich hasste er dieses Mädchen. Sie fahren in der Welt herum und haben keine Ahnung, was sich tut. Sie hat sich geschminkt, während ich dort in der SA-Kaserne angebunden saß. In Modeblättern hat sie geblättert, als sie mir die Stecknadeln in die Hoden stachen. Fünfuhrtee hat sie getrunken, als ich den Rücken herausstrecken musste und die Lederriemen mir ins Gesäß schnitten. Ganz Deutschland hat am Kaffeetisch gesessen wie sie. Und uns haben sie die Haarbüschel ausgerissen. Die Hosen, hier in diese Hosen haben sie reingegriffen, Fräulein, und haben mir den Schwanz blau geschlagen. Und dann gestochen.
Er atmete schwer. Das Fräulein brach eine Tafel Schokolade an und hob schelmisch den Finger: »Wenn man’s anbricht, können sie einem nichts tun.«
Sie aß, glücklich über ihre List. Ihr schlanker Körper räkelte sich zurecht. Die Tasche klappte auf; die Schokolade stand mit zerrissenem Silberpapier aufrecht neben dem Pass. Der hochgewachsene Bursche saß krank und fiebernd vor ihr.
Jemand rappelte an der Glastür, suchte sie aufzuschieben. Der Bursche drehte vorsichtig den Kopf. Der dicke Herr aus der ersten Klasse stand barhäuptig in der endlich zurückrollenden Tür. »Verzeihung, ist hier noch Platz?«
Schweißtropfen perlten auf seiner Oberlippe, die Augen flackerten unter den Brauen. Das Lächeln auf dem bettelnden Mund war widerlich hündisch. Es war, wenn man zusammenrückte, noch ein Platz auf der Seite des Schokoladengirls frei. Aber so leicht gab das Abteil seine Gemütlichkeit nicht auf. Keiner rührte sich. »Nebenan muss noch viel Platz sein«, meinte mürrisch die ältere Frau in der Ecke. Der Dicke hatte es sehr eilig. Er zählte jetzt die Fahrgäste. Rechts saßen nur drei; schnell hinsetzen, nicht lang fragen, je mehr Menschen da waren, desto besser ging alles vorbei. Er schob seinen Bauch in das Abteil, lüftete die Rockschöße und setzte sich auf die Nummer 47.
Unwillig wich die eingeengte Reihe zur Seite. Der dicke Mann griff das Taschentuch aus dem Sakko, tupfte sich das Wasser vom Mund und suchte mit ängstlichen Augen einen freundlichen Blick bei seinen Mitfahrern. Schreckliche Minuten lagen hinter ihm. Plötzlich war er unruhig geworden in seinem einsamen Abteil. Ein Irrsinn war es gewesen, erster zu fahren. Vielleicht waren die Parteigenossen mit ihren Freifahrscheinen alle unterwegs in dieser Klasse. Vielleicht war die Polizei gerade auf diese Reisenden aufmerksam gemacht worden. Wer leistete sich denn heute noch die teure Karte? Er hatte gehört, wie in der Tiefe des Korridors die Stimme des Kontrolleurs rief: »Pässe bereit halten!« Jetzt diesem Mann allein gegenüberstehen? Nein, und nochmals nein! Er würde sich verraten, auch wenn jener keinen Steckbrief hatte. Er war aufgesprungen. Man musste sich unter das Volk retten. In die dritte Klasse. Unter die Vielen. Jawohl unters Volk. Er hatte die Tür aufgerissen und ohne nach links zu schauen, war er dem Ende des Zugs zu geflüchtet. Würde man sich nicht genieren, so einfach jemand vor allen Zuschauern zu verhaften? Es mussten doch auch Republikaner darunter sein, die heute noch gewählt hatten. Vage beschlich ihn die Hoffnung, dass es dahinten nicht so schlimm werden könne.
»Die Pässe bitte!« Zwei Männer in Zivil standen im Türrahmen. Der dicke Mann fuhr zusammen. Die kleine Dame reichte ihren Pass an ihm vorbei dem vordersten der Kontrolleure. Der halb Verdeckte musterte den dicken Mann, der verwirrt in seinen Rocktaschen wühlte.
Der kranke Bursche in der Ecke griff in seinen Mantel und holte einen gut erhaltenen Pass heraus, schlug ihn auf. Angesichts der Zivilisten bekam er seine Haltung wieder. Die Fleppe war gut, Stempel saßen korrekt, und zu intelligent sahen die beiden nicht aus. Er wartete, völlig erwacht.
Der erste Kontrolleur hielt jetzt den Pass des Dicken in der Hand. »Ist das Ihr richtiger Pass?« fragte er. Alle sahen, wie der dicke Mann erbleichte und an den Beamten vorbei in den Korridor sah. Der Kontrolleur reichte das Buch nach hinten. »Den haben wir drauf, schauen Sie einmal nach.« Der Dicke sprang auf.
»Machen Sie keine Geschichten«, sagte der Mann und griff nach dem Buch des Burschen. Flüchtig blätterte er die Seiten um: »Danke.« Der Bursche nahm sein Buch mit gleichgültiger Miene zurück, verstaute es in den Mantel. Dicht vor ihm hob sich der Bauch des bedrohten Mannes. Eine Uhrkette aus schwarzem Eisen, Erinnerungen an die große Zeit von 1914, saß stramm über der gewölbten Weste.
»Haben Sie ihn?« Die beiden Männer an der Tür lasen eifrig in einer Mappe. »Hier«, sagte der hintere und steckte den Finger in seine Liste.
Um den dicken Mann war plötzlich ein übler Geruch von Darmgas. Das Mädchen drehte eilig und indigniert ihren Flacon auf. Der Bursche schob den Kopf in seinen Mantel und tat, als wenn er schlafen wollte.
»Sie sind der sozialdemokratische Stadtkämmerer... « hörte der Bursche den Kriminalbeamten sagen.
»Aber das muss ein Irrtum sein«, stotterte der dicke Mann.
»Machen Sie keine Geschichten, Herr, Sie sind verhaftet.«
Der Bursche wickelte jetzt den Kopf wieder aus dem Mantel und sah die Hand des Kriminalbeamten nach der Schulter des Stadtkämmerers greifen.
Die Fahrgäste saßen erstarrt. Nur die kleine Dame gegen­über dem Burschen hatte vor Vergnügen die Augen pfiffig zugekniffen. Jetzt hast du was zu erzählen, wenn du zu deinem Papa Bankdirektor kommst, dachte der Bursche. Leise hob er sich hoch, mit aller Vorsicht Schmerz vermeidend, und stellte wie achtlos den breiten Fuß auf die Schuhe des Mädchens.
»Au, Sie, nehmen Sie sich doch in acht!« Er spürte eine kleine Faust im Kreuz und wandte sich langsam um; sein Rücken brannte. Jetzt konnte er ihr eine knallen. Aber sie sah schon nicht mehr zu ihm. Ihre von Neugier glühenden Augen folgten der Verhaftung an der Tür.
»Also, kommen Sie mit«, sagte der Beamte.
Der dicke Mann wimmerte: »Ich habe doch gar nichts verbrochen«, sagte er und trat in den Korridor, der schon mit schaulustigen Fahrgästen angefüllt war.
Der Stadtkämmerer sah über die dichten Köpfe; würden sie ihn verteidigen, wenn er ihnen jetzt etwas sagte? Herrgott, so dicht vor der Grenze! Nicht auszudenken, dass man eine Viertelstunde von der Freiheit weg war! Und jetzt würden sie ihm jede Rede nachweisen, die er gegen die Nazis gehalten hatte.
»Ich folge Ihnen ja schon«, sagte er und ärgerte sich, dass so viele Zuschauer dabei waren. Er richtete sich auf, fasste an seinen Schlips; immerhin war man ja kein hergelaufener Agitator; sie würden einen schon dem Rang nach behandeln müssen; ganz ohne Beziehung war man ja auch nicht. Plötzlich fand er die Leute in dem dicht gefüllten Korridor pöbelhaft. »Kommen Sie!« winkte der erste Kontrolleur.
Er stieß einen Fahrgast beiseite, um folgen zu können. Dann verneigte er sich nochmals in sein Abteil hinein und sagte, dass alle im Gang es hören können:
»Das wird sich ja alles als ein Versehen herausstellen.«
Der Bursche konnte spüren, wie sein Verband zwischen den Beinen sich verschoben hatte; es schien ihm, dass Blut weglief. Aber er empfand es als Erleichterung. In wenigen Minuten zog der Zug an, und man fuhr in die Freiheit. Die Luft im Abteil war zum Ersticken schlecht. Der Bonze hatte sie noch verschlechtert. Sein letzter Wind ging mir in die Nase.
»Würden Sie mal das Fenster aufmachen«, bat das Mädchen und setzte sich die Pelzmütze auf. »Ich will mal sehen, wie sie ihn wegbringen.«
Der Bursche sah sie an und imitierte mit zierlicher Geste ihren süßlichen Sadismus. Dann wurde er ernst und sah weg auf den Bahnsteig. Und wenn sie Zörgiebel vorbeibrächten, dir mache ich den Laden nicht auf.
Sie mühte sich selbst. Die Scheibe glitt abwärts; der parfümierte Körper bog sich in die Nacht.
»Da kommen sie«, sagte das Mädchen erregt ins Abteil. »Sie haben ihm Fesseln angelegt - sehen Sie doch!« Sie zitterte im Vergnügen der Sensation. Die Fahrgäste drängten sich ans Fenster. Draußen klirrten Schritte. Man vernahm die lamentierende Stimme des Stadtkämmerers.
»Das geht doch zu weit, ich bin doch kein Verbrecher!«
Der Transport schien anzuhalten. »Ich sage Ihnen nochmals, dass Sie hier nicht brüllen sollen.« Eine harte Sprache, ganz neu für den Gefangenen.
Jetzt wirst du kapieren, was du dir großgezüchtet hast, dachte der Bursche. Er kam zu keiner Freude. Ekelhaft war ihm das fette Tier gewesen, ekelhaft in seinem Anbiedern, in seiner Angst, seiner gespielten Vornehmheit. Wenn ich denke, wie sich der Reichsbannerjunge im Keller benommen hat vor zwei Tagen!
»Jetzt!« sagte halblaut die Kleine am Fenster. Sie begriff nicht, dass der Bursche sich den Anblick da draußen entgehen ließ. Man hörte wieder Schritte, ein Gitter wurde geschoben. Die Leiber am Fenster drängten sich dicht zusammen. Und nun kam die Stimme des Stadtkämmerers noch ein letztes Mal:
»Hören Sie, ich habe ja meinen Koffer und meinen Hut im Abteil gelassen.«
Die Fahrgäste wichen vom Fenster zurück. Ein grässliches Lachen erschütterte die Luft im Abteil. Die Fäuste fest zwischen die Beine gedrückt saß der Bursche in seiner Ecke und lachte aus aufgerissenem Mund. Furchtbar waren die Töne. Die Fahrgäste streiften ihn mit fremden Blicken. Ein Pfiff kam von draußen, der Zug zog an, die Lichter des Bahnhofs strichen vorbei, die Nachtluft stürzte über die Scheibe. Der Bursche achtete auf niemand. »Er sorgt sich um seine seidenen Hemden«, höhnte er. Als breche ihm der Leib auseinander, presste er die Hose zwischen den Schenkeln mit beiden Händen und lachte. Halb war es ein Schmerzgebrüll, halb unbändige, höhnische, erlöste Freude. Die Fahrgäste rückten ängstlich von ihm ab. Er merkte es nicht einmal.
Der Zug überfuhr die Saargrenze.
Um das Dorf Freiberg, nah der Saargrenze, kroch noch der märzliche Nebel. Aus dem Glockenturm der katholischen Kirche hatte das Uhrwerk vier dumpfe Schläge in die feuchte Luft geworfen. Ein Hahn hatte geantwortet, aufmerksam und pflichttreu schon zwei Sekunden nach dem frühen Schlag.
In dem Haus des Viehhändlers Sally Kahn ging ein Licht an; zwei Fenster zeichneten sich gelb aus dem milchigen Dampf, der in allen Straßen stand. Dann verschwand das Licht, die Fenster sanken wieder zurück in das Grau der Fassade. Wie ein Blinkzeichen war die Helligkeit aufgetaucht. »Komm«, sagte das Zeichen, »hier ist das Haus.« Und erlosch wieder im schläfrigen Dämmer.
»Wirst du gut hinkommen, sag!« Eine besorgte Frauenstimme flüsterte im Korridor des Hauses.
»Wenn du Licht machst!« Eine vorwurfsvolle Stimme antwortete. Dann ging die Tür auf, und ein vierzigjähriger kräftiger Mann trat behutsam auf die Treppenstiege. »Geh rein«, sagte er zu der Frau, die im Nachtrock ihm bis auf die Stiege gefolgt war. Ihre Augen glänzten von nahen Tränen. Gehorsam schloss sie die Tür. »Auf Wiedersehen«, hörte er noch, zaghaft, dass es ihm ans Herz ging. Aber er riss den Rock fester über der Brust zusammen und schüttelte die Trauer ab. Erst einmal fort sein, alles andere kommt dann schon wieder.
Seine schweren Stiefel holperten über den Hof zu den Ställen. Mitten durch Lachen und verstreute Fladen von Kot ging er und hatte keine Angst mehr vor Geräuschen, die er machte. Im Gegenteil durfte er sich nicht ängstlich zeigen, wenn zufällig einer ihn schon bei der Arbeit sah. Kahn geht zum Markt, Kahn besucht seine Kunden, Kahn macht seine Tour zu den Metzgern, warum soll Kahn heute keine Tour machen? Macht er nicht jeden Tag seine Tour!
Die Stalltür ging knirschend auf. Ein warmer Brodem schlug in die Morgenkälte. Die Kühe, drei Schecken, sauber geputzt, drehten die Köpfe. Eine hob den ausgestreckten Hals und brüllte. Er trat an alle heran, klopfte ihnen die Hälse, warf eine Hand voll Fütter hin. Nicht genug, aber die Frau sorgte schon für die anderen. »Hahe«, sagte er und griff nach dem Halfter der mittleren. Die Kuh schmiss den Kopf hoch, aber dann folgte sie unter dem fachmännischen Blick des Mannes. Sie versuchte sogar in Trapp zu fallen, aber er bändigte sie und schlug ihr den Stecken auf die harte Stirn. Er ließ die Stalltür offen. Am Küchenfenster schien die Frau zu stehen; er sah nur den Schein ihres weißen Gewandes, aber er winkte nicht mehr. Es war keine Zeit mehr, um nochmals zu winken. »Hehott«, rief er und zog die Kuh auf die Straße. Das hohle Trappeln der Klauen beruhigte ihn, seine klobigen Schuhe traten fest den Boden der Dorfstraße. Die frische Morgenluft blies ihm den letzten Schlaf aus den Augen.
Sie kamen auf den Kirchplatz. In zwei Stunden bimmelt der Turm die Bauern wach. Dann bin ich schon drüben.
Der Brunnen sprudelte aus kurzem Rohr seinen lauten Wasserstrahl. Die Kuh zog den Strick nach dem Trog. Es ist verboten hier, wollte er sagen, und hatte schon den Stock gehoben, aber dann trieb ihn plötzlich eine nie gekannte rebellische Lust: gerade heute soll sie trinken, die Gesetze gelten nicht mehr für die anderen, also gelten sie auch nicht mehr für mich. Die Kuh steckte die Nüstern tief in das helle Steingefäß. Klebriger Schaum fiel in das Wasser. Kahn sah auf das breite, gesunde Maul. Wenn ein Nazi vorbeikäme, würde er sagen, ich vergifte den Brunnen. Warum sind sie noch nicht darauf gekommen? Kinder schlachten wir? Was ist da schon der Unterschied?
Er riss die Kuh vom Trog weg, sie hatte genug und folgte dem Strick. Kahn ging jetzt voraus, das Seil hing lose zwischen ihnen, dass Tier machte dem Mann die Flucht etwas leichter. Denn wie er jetzt an den dunstigen Häusern entlang ging und die einzelnen Bauerngehöfte erkannte, flammte der Zorn in dem Mann wieder auf. Trieben sie ihn wirklich aus seiner Heimat? Waren sie hinter ihm her? Sah er das alles nicht wieder? Jeder Schritt war der letzte, sie rückten ihm nach und besetzten einen Meter nach dem anderen. Ohne die Gesetze zu achten, ohne jedes Recht, und waren nicht zu halten. Er zwang sich zu ruhigem Denken.
War er feige? Hätte er weggehen sollen aus der Wirtschaft? Er sah sich wieder in der Wirtschaft. Ewigkeiten lagen dazwischen, eine schreckliche Nacht. Ein paar Stunden waren es nur. Wenn er gar nicht hingegangen wäre gestern Abend? Nein, ein guter Engel hatte ihn hingeführt, hatte ihm gezeigt, wie es stand um die Juden. Man hätte schon früher hingehen sollen.
»Wo waren denn die Juden, als das Vaterland in Gefahr war? In der Etappe haben sie sich herumgedrückt, an den Gulaschküchen haben sie sich Druckposten verschafft, in den
Proviantämtern haben sie geschoben. In der Heimat waren sie. Schreiberlinge, weit vom Schuss, immer weit vom Schuss.«
Kahn hörte die Rede des Nationalsozialisten wieder; Sodbrennen ätzte ihm die Kehle, während er durch den Morgen stapfte und an die Versammlung dachte. Er ging schneller, die Kuh folgte im Trapp. »Das ist eine Unverschämtheit«, hörte er sich wieder sagen, und der ganze Saal drehte sich um. »Meine beiden Brüder sind im Feld gefallen, ich selbst bin zweimal verwundet worden. Ich lasse mir das nicht gefallen.«
Ohnmächtiger Protest. Der Nazi war frecher gewesen. »Juden heraus«, hatte er geschrieen, und die Versammlung war einig mit ihm. Nein, nicht das Dorf. Es waren ja nur wenige Bauern da; der Lehrer, die Angestellten der Bürgermeisterei, die jungen Erwerbslosen und die meisten aus Saarburg herkommandiert. »Juden heraus!« Jawohl, da täuscht ihr euch aber. Ich bleibe.
Kahn drehte sich nervös um, er meinte, jemand folge ihm, berühre ihn. Aber er sah nur den Kopf der Kuh, die dicht an ihn gestoßen war. Er war stehen geblieben mitten in seiner Erinnerung, hatte gemeint, der Landjäger wäre wieder auf ihn zugetreten. »Gehen Sie doch, Herr Kahn, es gibt ja nur Krawall.« -»Warum soll ich gehen, ich habe hier meinen Eintritt bezahlt, und ich lasse mich nicht beleidigen hier von solchen jungen Schnösels.«
Hatte es gewirkt? Wo war man denn schon? Glaubten die, ich hätte nicht zugeschlagen? Ich hätte zuschlagen sollen. Rascher wäre ich dann auch nicht auf diesem Weg zur Grenze.
Kahn spürte, dass er einen nicht zu verbessernden Fehler gemacht hatte. Wir machen das immer falsch. Deshalb sind sie so. Ich habe dem Landjäger den Gefallen getan und bin weggegangen, und sie haben hinterher sagen können, sie hätten mich hinausgeschmissen.
Der Mann hob den Kopf und sah in den Nebel, aus dem leere Bäume auftauchten, kotbeschmierte Leiterwagen, Misthaufen und die Giebel vorspringender Gehöfte. Die bäuerliche Welt, feindlich umschleiert, schien von ihm wegzurücken. In jeden dieser Ställe hatte Kahn mindestens eine Kuh geliefert. Hatte er jemals einen Bauern betrogen? Nein, aber sie würden es jetzt sagen. »Die Kuh war nicht so frisch, wie er sagte.« - »Nur acht Liter gab sie, nicht vierzehn.« Was ich nie behauptet habe. Miriam wird recht behalten: sie werden mir jeden Prozess jetzt
vorwerfen. Miriam geht schon morgen zu den Eltern. Alles geht auseinander. Sie sind uns auf den Fersen.
Kahn blieb stehen, die Kuh störrte. Er hörte, wie sie sich entleerte. Was ihm in all den Jahren nie in den Sinn gekommen war, das Klatschen des Kots machte ihm grimmige Freude. Scheiß nur, scheiß auf sie! Verzerrt betrachtete er den Kopf des Tiers; der offene After hatte Front auf die Hakenkreuzler, auf-ihn. Er sah das Gesicht mit dem schwarzen Bartfleck unter der Nase vor sich. Hass wollte wie Gift aufsteigen in ihm, aber er wurde schwach und traurig.
Müde setzte er den Fuß wieder vorwärts, das Gesicht blieb wie ein Schreckbild hinter ihm. Ohne umzuschauen, schlug er den Stock auf das Tier, aber er meinte das Bild. Er hatte Angst, wollte schneller vorwärts kommen. Hinter der Grenze würde der Schreckliche verschwinden. Soviel er sich aber auch anstrengte, die Lähmung legte sich um seinen Nacken. Sie werden uns vernichten, heulte es in ihm. Sie werden tausend Gründe finden, wir haben zu fest dringesessen, wir haben sie in der Hand gehabt; sie sind stärker geworden, jetzt hetzen sie uns, sie töten uns, ins rote Meer jagen sie uns.
Kahn stapfte die steile Straße hinauf. Er war nicht mehr Kahn. Schon beugte er sich dem Gesetz, dem einzigen, das galt: dem Fluch. In den Nebel sank das Dorf Freudenburg, sank der Tag und die Zeit, es war nicht mehr der 6. März 1933, der Tag nach der Wahl, nach der Niederlage der Republik. Republik? Nein! Nicht die Republikaner hatten verloren, nicht die Demokraten, nicht Deutschland, nicht Stresemann. Nur die Juden hatten abzuschließen seit gestern, nur ihre Zeit war versunken in diesem Morgen, in den Schleiern dieser Ewigkeit; ihre neue Zeit begann, die wirkliche Welt, die große, ewige Wanderung ins Ungewisse, ins Unbestimmte. Mitten in Europa begann diese Wanderung wieder, und alle würden wandern müssen, alle.
Kahn zog seine Kuh hinter sich her, das einzige, was noch mit der alten Wirklichkeit verband, die er schwinden fühlte. Die Kuh, mit der er seine Flucht verkleidete. Ein Tier, das die Feinde täuschen sollte. Sie sollten glauben, er sei noch Kahn, Kahn aus Freiberg, der kleine Kuhhändler, der jeden Morgen wie heute hier herumzog im Kreis Saarburg, Regierungsbezirk Trier, Provinz Rheinland, Preußen, der vom Bauern zum Metzger zog und vom Metzger zum Bauern. Ein Tier, was blieb
noch sonst? Wenn Kahn diesen Strick losließ, war nichts mehr übrig von Deutschland. Er war nur noch ein fliehender - Jude.
Wenige Minuten später musste er wirklich den Strick loslassen und alles mit ihm. Ein Fahrrad kam mit pfeiffender Bremse den abschüssigen Weg herabgesaust, den Kahn hinaufstieg. Aus dem grauen Meer schoss es abwärts mit einem schweren Menschen. Eine Klingel warnte. Dann sah man den Menschen deutlicher, sah Knöpfe einer Uniform. Kahn wurde zurückgerissen in seinen deutschen Freistaat Preußen, ein letztes Mal noch. Die Gefahr schmiss ihn in den harten Raum des 6. März 1933. Der Radfahrer sprang ab; es war der Landjäger des Dorfes.
Kahn ging noch zwei Schritte, dann zwang er sich stehenzubleiben.
»Na Kahn, schon so früh unterwegs?«
Der Viehhändler hörte das Misstrauen in der Stimme. Wie anders hatte der noch vor zwei Tagen in der Versammlung geredet! Republikanisch. Zum Bürger. Vernünftig. Zuredend. Wie zwei Erwachsene über einen dummen Jungen. Und jetzt sprach der neue Staat schon. Mit aufgezwirbeltem Bart. Die Diktatorfaust am Lenkrad. Ein Wahlresultat unter den Füßen zum Draufstehen. Die Tasche voll von Verhaftungsbefehlen.
Kahn drehte einen Finger in die Nase. Jawohl die Republik ist weg. Bürger untereinander, das gibt’s nicht mehr. Das alte Kleid ist ausgezogen. Geh paar Schritt weiter, Gendarm, da liegt es auf der Straße. Ich bücke mich ja schon vor Ihrer Uniform, Herr Landjäger.
»Nicht früher als Herr Wachtmeister selbst«, sagte singend Kahn und spreizte die freie Hand.
Der Beamte runzelte die Stirn. Schau nur, dachte Kahn, ich bin nicht mehr der Kahn von vorgestern. Aus mit dem Frontkämpfer! Patriot futschikato! Kleiner Jüd bin ich. Gar kein Stolz. Über die Grenze will ich. Nur noch vorbei an diesem letzten Deutschen, an der Uniform.
Der Wachtmeister umging mit verächtlichem Gesicht die Kuh. Er sagte kein Wort, schritt um das Tier, als wenn es irgendwo verborgen goldene Vliese an sich hängen hätte. Plötzlich stand er dicht neben Kahn und brüllte ihm ins Ohr:
»Der Boden wird Ihnen wohl heiß, Kahn?«
Der Viehhändler verzog keine Miene, obschon er zu tiefst erschrocken war. Jetzt hätte ich zusammenzucken sollen, dann wäre alles aus gewesen.
»Ist ein schönes Stück Vieh«, sagte er blödelnd und schob, sein eigenes Urteil anerkennend, die Unterlippe vor.
Enttäuscht ließ der Wachtmeister nun von seinem Verdacht. Kahn musste ja nicht über die Grenze wollen. Dort vor dem Wald gingen immerhin zwei Wege ab. Und mit dem Vieh kam der Kerl sowieso nicht über den Zollweg.
Der schwere Mann schwang sich aufs Rad. Unhöflich und fast nicht hörbar sagte er »Morgen« und stieß in die Tiefe.
Noch zitterten die Konturen seines Rades unsicher in den Nebelschwaden, als Kahn das Seil fallen ließ, den Stock mit beiden Händen hob und die Kuh mit grausamen Schlägen den Berg hinunter dem Dorf zu jagte.
Nach kurzem Zögern trottete das Vieh weg; er sah ihm nach und war glücklich, dass es nicht brüllte. Dann schmiss er auch den Stock weg und lief bergauf in das dämmrige Nichts.
Er lief eine halbe Stunde bis zum nächsten Dorf. Es war Orscholz im Saargebiet, ein Dorf von paar hundert Einwohnern, unter dem Schutz des Völkerbunds.
Als die ersten Häuser sich aus dem Dunst hoben, sackte Kahn in den Knieen ein und hielt mit dem Laufen an. Seine Brust zitterte wie eine Maschine, er musste husten. Er las das Schild, das den Namen des Orts ankündigte. Dann ging er weiter in das Dorf, über dem der Himmel sich schon aufhellte.
Als er um die erste Ecke einbog, lag die neue Dorfgasse schnurgerade vor ihm. Eine Wirtschaft blockierte ihr Ende; aus ihren oberen Fenstern hing eine Fahne. Kahn schritt die Straße abwärts; leise kam die Freude über die Sicherheit auf, die ihm hier gewährleistet schien. Wenige Schritte vor dem Wirtshaus erkannte er die Fahne; sie trug im weißen Kreis das Hakenkreuz.
Die Sonne brach durch den Nebel.

Werner hatte schwere Wochen hinter sich. Die Erkenntnis an jenem Beerdigungstag war wie eine Ohrfeige gewesen, die man stumm einstecken muss. Er suchte den Freund nicht mehr auf. Nur für die IAH-Küche war er noch jede freie Stunde unterwegs.
Der Wahlkampf kam. Deutschland dröhnte vom Radau des Radiokriegs. Die Nazis lärmten über alle Sender. Zeitungsverbote gingen auf alle, die noch leise hofften, nieder wie Hagel. Noch träumte Werner von einem Aufstand und von General-
streik. Aber er las, dass die SPD zur Besinnung rief statt zum Kampf.
Am 21. Februar, als von der Pfalz die Nachrichten kamen, dass die katholische »Volkswacht« ihre Priester nicht mehr vor den Nazis schützen konnte, ging Werner wieder zu seinem Freund, dem Kommunisten. Er zeigte seinen Revolver. »Sie werden auch hierher kommen«, erklärte er, »aber mich fängt keiner lebendig, das kannst du glauben.« Der Freund sah ihn an: was konnte man sagen zu soviel echtem Hass! Er betrachtete den Revolver: »Ja, man wird schießen. Aber erst wenn auch noch etwas anderes so gut geputzt ist wie das Ding da. Hier!« Hermann klopfte an seine Stirn. Werner lief wütend weg.
Noch ein letztes Mal tobte Werner, das war am 23. Februar. Da bekam er eine Illustrierte in die Hand und sah, wie die SA in Berlin als Hilfspolizei vereidigt wurde. Er prüfte die Gesichter. Mensch, da waren doch auch Proleten drunter! Ihr werdet was erleben, knirschte er, aber er war zu klug, um nicht seine Ohnmacht zu spüren. Einer der SA-Leute führte einen Polizeihund durch die Straßen, einen schönen Schäferhund. Alles bekamen die Kerle in die Hand! Jetzt ging die Hetze los. Noch ein paar Tage, dann waren sie so weit.
Werner hatte sich überzeugt, dass die Nazis in der Wahl nicht siegen konnten gegen die Kommune. Er las, er diskutierte, bis zur Polizeistunde saß er in der Wirtschaft, durch die kalten Stra­ßen lief er mit Kameraden, machte Pläne, hörte auf jedes Gerücht, wie ein Fieber kam über ihn die Ahnung, wie wichtig diese Tage werden konnten.
Er hörte von den Aufrufen der Kommunistischen Partei. Er las, in wie vielen Orten die Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern schon zustande gekommen war. Er freute sich, fasste neuen Mut.
Dann aber kam der 27. Februar, und alles änderte sich wie mit einem Schlag. Er hatte am Abend bei einem Freund eine Zimmerdecke frisch gekalkt und Zeitungen über die Wände geklebt. Sie hatten Möbel gerückt, die alten Tapeten abgekratzt. Zehn Stunden hintereinander hatte er gepinselt und gewirtschaftet. Er war früh zu Bett gegangen und fuhr nun, wie er dem IAH-Kameraden versprochen hatte, mit dem Leiterwagen seine Sammeltour ab.
Geruch von Fastnachtskrapfen kam aus dem Haus des Bäckers, dem er einige Brote abringen wollte. Er stand im Laden
und wollte eben seinen Spruch sagen, so langsam, wie er es gewohnt war.
Und da fauchte nun der mehlverschmierte Kerl. »Schluss!« rief er. »Ich gebe nichts an Brandstifter.«
Werner war nicht sofort gegangen, er hatte sich erst aufklären lassen und auch dann noch ein paar Worte mit dem dicken wei­ßen Mann gewechselt. Aber am Schluss hatte er keine Lust mehr gehabt, noch um Brot für die Küche der Explosionsopfer zu betteln. Mitten in der Rede hatte er sich umgedreht und war hinausgegangen.
Warum sage ich ihm nicht kräftiger Bescheid, fragte er sich. Er schleifte seinen Wagen die steile Straße hinauf; ihm war, als käme er niemehr oben am Marktplatz an. Blei war in den Sohlen, wie in Essig gehängt brannte das Herz.
Eine Trambahn knirschte bremsend den Berg hinunter. Neben ihm mühte sich ein Arbeiter, die Höhe mit dem Fahrrad zu bezwingen. Jetzt sprang er ab: »Man schafft's doch nicht!« sagte er zu Werner; es klang wie eine Entschuldigung. Werner hörte nur die Worte. Sie passten zu gut auf seine Situation. Er riss den Karren mit einem Ruck an sich heran, die kleinen Räder stie­ßen an seine Waden, Schmerz lief die Schenkel hinauf. »Wir schaffen es doch«, brüllte er.
Ein Krämer winkte ihm von seinem Gemüsestand aus zu: »Na willst nix haben heut?« Werner konnte nicht mehr denken. Sie höhnten ihn, auch der da mit seinen Kohlköpfen höhnte ihn. Was war man denn noch?!
Er sah Schreckensbilder vor sich, eins jagte das andere, eins war eine größere Schmach als die andere. Zu Dutzenden hatte man sie also gehetzt heute Nacht.
Der Bäcker hatte gelacht, als er es erzählte. Das Berliner Polizeipräsidium saß voll von ihnen. Das ganze Zentralkomitee der Kommunisten soll sitzen. Torgier soll schon an die Wand gestellt sein.
Er warf wütend den Kopf in den Nacken. Nein, nein, nein! Es waren alles Lügen. Er ging schneller. Er musste jetzt eine Zeitung lesen. Es konnte nicht wahr sein.
Werner fieberte, als er in die Parteiwirtschaft eintrat. Er sah sich in der Runde um und wartete auf Angreifer. Die große Diskussion seines Lebens musste jetzt kommen.
Aber die Wirtsstube war leer. In der Ecke saßen ein Viehhändler und ein Metzger, die einen Handel betranken. Die Wirtstochter stellte ihnen eben wieder zwei Becher auf die Pappteller. Keiner von den Kommunisten im ganzen Raum. »Willst du was trinken?« fragte die Wirtstochter und ging sofort wieder weg.
Werner sah ihr nach, sah die festen Beine, den Zipfel eines weißen Unterrocks. Er wollte etwas Gemeines sagen, raufen mit jemand, zu dem Metzger da drüben gehen und ihm eine reinhauen.
Aber dann stand er auf und ging traurig fort.

Einige Tage später traf ihn ein neuer Schlag.
»Wo sind denn die Führer der Kommune?« fragte ihn mit heuchlerischer Teilnahme ein Krämer, bei dem er sich Zigaretten kaufte.
Führer? Werner dachte an Thälmann, den Kommunisten. Teddy nannte er ihn, wie die Hamburger zu ihm sagten und die Kameraden vom RFB. Er hatte seine Bilder gesehen in den Illustrierten; umgeben von einem Meer von Arbeitern stand Teddy im Lustgarten von Berlin an der Rampe des Schlosses unter dem Balkon, von dem aus Wilhelm gesprochen. August 1914, am Morgen des großen Massenschlachtens.
Werner sah das Photo wieder vor sich. Wie stand der Mann da, hinausgehoben von denen da unten; Kraft war er, hatte mehr in den Knochen und im Hirn als die ganzen Generäle, als die Goebbels und Görings. Feuer war er, das sie alle heizte. Sie sahen zu ihm hinauf; der Transportarbeiter sprach, der ihre Not kannte. Blut war er von ihrem Blut, und wenn er die Faust schloss und sie über sie alle stieß in wilder Kurve, dann war es, als raffte er mit dieser Geste all ihre Kraft da unten zusammen: dann wusste man, eines Tages kommt der Tag, und man wird beginnen, alle Not zu überwinden. Werner lächelte, er griff nach den Zigaretten und zündete sich eine an: »Die Führer?« sagte er selbstbewusst, »der Teddy wird ihnen schon zeigen.«
Der Krämer wies mit dem Kopf nach hinten zu dem Lautsprecher.
»Ist vorgestern eine Nachricht durchgesagt worden. Interessiert Sie vielleicht. Der Thälmann ist nach Schweden geflohen... «
Werner stieß heftig den Rauch aus der Lunge. »Was?« Er lachte verächtlich: »Das sagen die Nazis. Das ist Schwindel. Da glaubt doch kein vernünftiger Mensch dran.«
Schon indem er sprach, wurde er unruhig. Der Krämer nickte mit dem Kopf: »Jawohl, mein Lieber. So was können sie nicht sagen, wenn's nicht wahr ist. Da würden sie sich ja selber schaden.« Er räumte das Geld weg, das Werner auf die Glasplatte gelegt hatte und sah ihn mit gespieltem Bedauern an: »Da haben sie erst zum Generalstreik geblasen, und dann lassen sie die Arbeiter sitzen.«
»Sie sind ja gar nicht im Bild«, sagte Werner: für einen Augenblick erholte er sich wieder von der plötzlichen Lähmung, die ihn befallen. »Mit dem Generalstreik hat die SPD die Kommunisten sitzen lassen. Damit sie's genau wissen. Und wenn die Kommunisten nicht so gefährlich wären, warum sitzt denn der Alex voll von Gefangenen? Warum schwindeln sie denn, der Lubbe sei von der Kommune? Warum haben sie denn einen Steckbrief auf den Teddy gemacht? - Ah, davon wissen Sie natürlich nichts. Sie horchen nur in den Kasten da rein, und alles was da raus kommt, ist so, als wenn's der Pastor von der Kanzel gesagt hätte.« Werner drehte sich herum und ging zur Tür. »Es ist noch nicht aller Tage Abend«, sagte er und verließ den Laden.
Er ging geraden Wegs zur Parteiwirtschaft, wo er Kommunisten zu treffen hoffte. Freunde begegneten ihm auf der Straße, er sah niemand. Er starrte vor sich hin; seine Stirn war von tiefen Furchen gequält. Ein Gymnasiast fuhr mit einem Fahrrad dicht an ihm vorbei, ein Hakenkreuzwimpel zitterte an den Speichen, »Heil Hitler«, rief der Schüler provokatorisch und sauste schleunigst in eine Seitengasse. Werner beachtete ihn nicht. Er sah Teddy vor sich. Die hochstehende Faust. Den festen quadratischen Schädel. Schweden. Ausgerechnet Schweden. Wie der Ludendorff. Mit blauer Brille vielleicht. Mitten aus der Schlacht heraus. Er schlug plötzlich die Faust durch die Luft. »Nein«, rief er, »der türmt nicht!«
Als er in die Wirtschaft trat, war seine Unsicherheit sofort wieder da. An allen Tischen saßen junge Erwerbslose. Fast keiner trank etwas. Sie diskutierten. Werner ging zum Schanktisch und stellte sich wie immer mit dem Gesicht zu dem kleinen Saal.
»Weil du dann einfach nichts verstehst von illegaler Arbeit«, hörte er einen jüngeren Arbeiter sagen. »Es gibt Augenblicke, wo es wichtiger ist, dass wir jemand haben, der uns noch führt, als dass er sich einfach abschlachten lässt. Und damit du's genau weißt« - der junge Kommunist beugte sich über den Tisch zu seinen Kameraden, »ich halt's für einen Fehler, dass er nicht weg
ist. Hierher an die Saar hätt er kommen sollen. Dann fings von hier aus an. Dann wüsste man, wies hier ausgehen wird. Da kannst du Gift drauf nehmen.«
Wovon reden sie, dachte Werner und sah fragend zu der Wirtstochter, die den Schaum eines frisch angestochenen Fasses in Gläser laufen ließ.
»Gib mir noch ein Bier«, sagte er mürrisch. Der Saal horchte jetzt nur noch auf die Diskussion des einen Tisches. Der Jungarbeiter war aufgestanden, er sah, wie sie alle auf seine Worte warteten. Er riss sich die Mütze tiefer ins Gesicht, sein Mund war von Bitterkeit zusammengepresst.
Werner sah ihn wütend an. Wenn der wüsste, was ich weiß, würde er nicht so groß hier angeben. Plötzlich ließ er den Zweifel in sich schießen wie ein heißes Gift. Er wandte sich nach der Wirtstochter um, die ihm das Bier hinschob:
»Weißt du schon, dass der Thälmann nach Schweden abgehauen sein soll?« Er sagte es laut und herausfordernd. Die anderen sollten es hören, sollten über ihn herfallen, jawohl, sie sollten kommen, er wollte ihnen schon was erzählen.
Aber keiner hörte auf ihn. Der junge Arbeiter hatte wieder zu sprechen angefangen. »Ich weiß jedenfalls, wie wichtig es war, was die besten Bolschewisten vom Ausland her für die Revolution taten.«
Werner drehte sich brüsk herum: »Der sollte lieber von seinem Thälmann reden!«
»Er spricht doch davon!« sagte das Mädchen. »Hast du denn keine Zeitung gelesen?« Sie griff nach dem Holz an der Wand, in das ein Journal eingespannt war. Zögernd nahm Werner das Blatt. »Lies nur«, sagte das Mädchen und zeigte auf eine fett gedruckte Nachricht auf der ersten Seite. Werner beugte sich langsam nieder über das Blatt: »Thälmann verhaftet« stand da in fetten Lettern. Als habe er einen elektrischen Draht berührt, zuckte Werner zusammen. Er las die Nachricht, sah auf das Datum. Teddy! Sie hatten geschwindelt. Er hob den Kopf, sah das Mädchen an. Sie nickte ernst: eine schlimme Sache.
Werner sah ihre vorgeschobene Lippe, die Falten auf ihrer Stirn, aber es war, als stände sie gar nicht da.
Plötzlich lachte er. Als ob es heller würde in der Stube, strahlte sein junges Gesicht. Sein Mund stand mit einem Mal froh geöffnet, die blauen Augen blinkten wie frischgewaschen. Teddy war mitten in Berlin gewesen! Während sie rings schon
herumjagten mit Autos und Fangkommandos. Während sie durchs Radio logen, er sei gleich am ersten Tag über die Grenze. Während sie die Schiffe durchsuchten in Hamburg und Stettin. Teddy war im roten Berlin geblieben.
»Den werden sie jetzt schön zurichten«, meinte das Mädchen. Werner hörte gar nicht hin. Er hatte die Zeitung wieder gepackt und las die kurze Notiz. Dreimal las er sie. Er glaubte dabei zu sein und fasste einmal schnell nach seiner Gesäßtasche, wo er den Revolver glaubte. Er sah Thälmann im Kreis der Krimis stehen.
Plötzlich sprach er über die Zeitung hinweg: »Der hat mehr Grütze im Kopf als ihr alle zusammen. Der bleibt bei uns.« Er höhnte über die Zeitung: »Bringt ihn nur in den Wagen, ihr könnt nicht mehr von Flucht schwindeln!« Werner sah die Menge von Polizisten vor dem Haus. Fünfzig Pistolen gegen einen Mann ohne Waffe. Jetzt bildeten sie sich etwas ein auf ihren Fang. Das war ein Kunststück! So, nur so können sie kämpfen! Mit Anschleichen, mit Angebern, Verrätern. Fünfzig gegen einen.
Werner ließ sein Bier stehen und verließ die Stube. Er wollte jetzt mit niemand reden. Wie konnte er erklären, dass ihm leichter geworden war vor dieser Zeitung. Thälmann war in höchster Gefahr. Jawohl, sie hatten die Macht gekriegt und sie hatten ihn, ihren schlimmsten Feind; es war scheußlich, aber das Andere, das Andere - war das nicht auch wichtig?
Er merkte, dass Trauer in ihm aufkam, dass er sich betrog. »Es ist zum Kotzen«, redete er vor sich hin, und plötzlich mitten im ernsten Grübeln lachte er wieder.
Mit heißem Kopf lief er durch die Straßen der Industriestadt. Seine Mutter fand ihn am Abend in der Küche, wie er eine Postkarte mit Thälmanns Bild als Rotfrontkämpfer an der Wand festmachte. Gegenüber seinem Platz, wo er aß. Wo er ihn gerade sehen konnte, wenn er aufschaute vom Teller. »Jetzt erst recht«, sagte er, und ein böses Lächeln flackerte über seinen Mund.

Zwei Tage später saß er bei seiner Mutter, als jemand ans Fenster klopfte. Er hatte die Füße in einer Waschschüssel und bürstete die Zehen. »Geh mal hin!« bat er die alte Frau. Sie brachte einen Neunkirchener Kommunisten und einen Fremden mit. »Rotfront«, sagte der Neunkirchener. »Rotfront«, sagte auch
der Begleiter. »Kann der hier schlafen?« fragte der Neunkirchener. Werner sah den Fremden an. »Er kommt vom Reich«, erklärte der andere, »die Sache geht ihn Ordnung.«
Werner griff nach dem Handtuch und sah auf seine Mutter.
Sie verstanden sich beide sofort. Dunkelte die Tapete nicht noch feuchter in diesem Augenblick, da man gefragt wurde, ob man einen Gast aufnehmen könnte? Roch man nicht schärfer den Geruch der Zwiebelsuppe, die immer ohne Fleisch war? Ging nicht wie von einer harten Hand geführt der Blick der Mutter zu dem Eierbecher auf dem Küchenschrank, in dem die wöchentlichen vierzig Francs schon wieder auf wenige Centimes eingeschrumpft waren.
Ich will es nicht abschlagen, sagte Werners Blick.
Hab keine Angst, beruhigten die Augen der Mutter. Ich sorg schon für deinen Kameraden.
Werner brummelte zufrieden. »Ja, wird schon gehen«, meinte er. »Na denn Rotfront!«
»Rotfront, Fritz.« Die Tür klinkte ein. Die drei Menschen standen stumm voreinander. Die Mutter betrachtete die Kleider des unbekannten Gastes. Werner hatte einen der nackten Füße auf den Stuhl gestellt und fingerte an den Zehen herum. Er spürte, wie sein Herz klopfte. Nun sollte er die Wahrheit erfahren. Da kam einer von drüben, einer der dabei gewesen war, der alles wusste, der alles sagen konnte. Wie durch einen zerreißenden Damm brach die mühsam gestaute Flut seiner Wünsche und Zweifel wieder durch. »Setz dich doch«, sagte er. Der fremde Genosse nahm den nächsten Stuhl, ließ sich nieder und legte die Mütze auf den Boden. Plötzlich stöhnte er; es schien ihm furchtbare Schmerzen zu machen, sich nach der Seite zu beugen. Werner drehte sich erschrocken um. Der Genosse wurde totenblass, hatte die Augen geschlossen und atmete hastig.
»Bring ihm ein Glas Milch«, befahl Werner der Mutter, aber die Frau hatte schon die Wasserleitung aufgedreht, eine Tasse gefüllt und stand vor dem Leidenden. Gierig schluckte er die Tasse leer und öffnete wieder die Augen.
Werner vergaß ganz, dass er ein Verhör mit dem Gast beschlossen hatte. Da kam etwas anderes ins Zimmer. Aus der Nacht, in der die Stadt schlief, über die neblige Grenze, durch die Wälder schlich das geprügelte Deutschland ins noch geschützte Gebiet. Die Genossen kamen, Zeugen der Verfolgung. Boten des Grauens, das drüben ausgebrochen war. Die Wahrheit stieß zur Tür herein, und die Wahrheit stöhnte.
Werner zog die Strümpfe über. »Hast du noch was zu essen da, Alte«, fragte er dann. Die Mutter ging stumm an den Herd und holte einen Topf aus dem Backofen. Der Fremde versuchte ein Lächeln: »Ist nur vorübergehend«, sagte er zur Entschuldigung. »Ich hätte mich gern ein bisschen gewaschen.«
Werner griff die Schüssel vom Boden und ging sie auszugie­ßen. Sie hörten, wie sorgfältig er sie spülte. Die Mutter hob einen Kessel vom Herd: »Du kannst etwas Warmes dazu tun.« Er hielt die Schüssel hin und fühlte mit einem Finger über den Rand die Temperatur des Wassers. »Zieh ruhig das Hemd aus«, meinte er und setzte die Schüssel auf den Stuhl. »Meine Alte ist das gewöhnt.«
Die Mutter rührte in einem Topf, hob dann einen Ring aus dem Ofen, um das Feuer aufzustochern. Der Fremde hatte den Rock abgeworfen, seine Hände steckten hinter dem Gürtel, aber er zögerte, das Hemd herauszuziehen. Werner sah ihn nur flüchtig an und machte sich dann am Tisch zu schaffen. Sie drehten ihm beide nun den Rücken zu und hörten, wie er das Hemd abstreifte, nach der Seife griff und im Wasser plätscherte.
Als Werner sich umwandte, um eine Tasse seiner Mutter zu reichen, sah er die alte Frau mit entsetzt aufgerissenen Augen am Ofen stehen. Er folgte ihren Blicken, sie gingen auf den in die Waschschale niedergebeugten Rücken des Fremden. Blau unterlaufene Streifen liefen quer über die ganze gekrümmte Hautfläche. Zwischen Schulterblättern und Kreuz aber stand in schwärzlichen Punkten eingebrannt ein großes Hakenkreuz. Werner hatte das Gefühl, dass er schnell wieder wegsehen müsse, aber er sah nur noch intensiver auf den geschundenen Leib. Alle seine kritischen Gedanken stürzten herbei, er verjagte sie wütend: So hatte man also gehaust mit den Proleten! So wehrlos hatte man sie gemacht und sie verhöhnt obendrein. Nun da er ein Opfer von ihm vor sich hatte, verstand er erst den Feind. Die Wunden riefen ihn wach. Das da - er sah auf die grässliche Wunde - beantwortete man nur mit Rache.
Blitzschnell zog das alles durch den Kopf von Werner, während er noch niederstarrte auf das furchtbare Mal. Dann hob der Gast den nassen Kopf. Er sah die beiden Menschen an, als hätte er sie ganz vergessen. Das Wasser tropfte von seinem
Kinn herab. In den Augenhöhlen schäumte noch Seife. Er spürte, wie aus dem Nacken Rinnsale in die Wunden flossen. Es linderte und brannte dann schärfer. Er wollte nach dem Hemd greifen, um sich abzutrocknen, aber die Hand folgte nicht. Plötzlich begann er zu reden; als wenn er sich verantworten müsse, als wenn die beiden da ihn ertappt hätten; ganz starr hielt er den Körper, der Rücken glühte; im Zickzack lief der Schmerz um die Wirbelsäule herum.
»Darmstadt«, sagte er, es sei am 10. März gewesen, nachts seien sie gekommen. In den Keller der Polizeiwache hätten sie ihn gebracht. Ganz nackt hätten sie ihn ausgezogen und dann mit Stahlruten geschlagen. Lieder hätte er singen sollen. Die Fahne hoch. Aber er wäre lieber ohnmächtig geworden. Mit Wasser hätten sie ihn begossen, und als er die Augen wieder aufgemacht, sei er wieder über den Tisch geflogen. Fünf Mann hätten ihn gehalten, einer habe geschlagen. Und er habe noch immer nicht gesungen. An die Wand hätten sie ihn gestellt. Mit der Stirn an die Steine gestoßen, dreimal den Kopf dagegen gehauen. Überhaupt nichts mehr gewusst habe er. Und hinter ihm hätten sie gesagt, jetzt würde geschossen. Noch einer habe neben ihm gestanden, so'n Intellektueller. Der habe in den Stein gebissen. Einen Krampf habe der im Gesicht gehabt, er habe nicht lange hinsehen können und zur anderen Seite geschaut. Und dann habe jener angefangen zu singen. Aber es sei etwas ganz anderes geworden! »Wacht auf Verdammte dieser Erde.«
Der Fremde hielt jetzt an, versuchte zu singen, die Töne erstickten in der Kehle. Schmerzlich lächelte er: »Und dann habe ich mitgesungen, noch lauter als der. Und der fiel auch um. Aber mich haben sie weggerissen und wieder auf den Tisch. Eine Weile haben sie mich liegenlassen, und dann kam einer mit einem Strick.«
Er biss sich auf die Unterlippe, die Erinnerung brannte ihn; er stockte, dann hatte er sich wieder gefangen und erzählte. Was sie vorgehabt, habe er noch nicht ahnen können; er habe auf die Stahlruten gewartet. Aber sie hätten sich alle Zigaretten angezündet. Er habe das Streichholz zischen hören, und wie sie tiefe Züge machten. Und dann sei plötzlich ein Stich an der Schulter gewesen, dass er aufgebäumt sei; aber die Stricke seien dicht um den Tisch gezogen gewesen. Und dann sei ein Stich nach dem anderen gekommen, einer ganz nah an der
Wirbelsäule, der habe am meisten gebohrt. Da sei er auch wieder ohnmächtig geworden. Und wieder wach geworden. Da seien sie immer noch an ihm gewesen. »Laß mich noch mal«, hätte einer gesagt und wieder einen tiefen Zug aus der Zigarette gemacht. Und er habe auch nicht aufgehört, die Zigarette in das Fleisch zu drücken, bis es schon brenzlig gerochen habe. Es sei aber der Schlusspunkt gewesen. »Ein schönes Hakenkreuz«, habe er sie sagen hören, und einer habe die Zigarette ausgespuckt und habe pfui Teufel gesagt, sie schmecke nach Marxistenfleisch. Drei Tage später sei dann eine Revision gewesen: im Büro habe er unterschrieben, dass er keinerlei Misshandlungen erlitten habe, und einer habe ihn beiseite genommen und ihm den Revolver gezeigt: wenn er irgend jemand seine Wunde zeige oder sich photographieren lasse, sei er in vierundzwanzig Stunden zur Nachkur wieder an einer anderen Stelle.
Werner hatte sich nicht von der Stelle gerührt; die ganze Erzählung war wie aus dem Mund eines Hypnotisierten geflossen. Sie standen alle drei in der Stube, als wenn eine Lähmung über sie gekommen wäre. Werner hielt ein Handtuch in der Hand, die Mutter einen dampfenden Topf, der Gast umklammerte mit einer Faust den Stuhl und sah an ihnen vorbei. Er war jetzt fertig und griff langsam nach seinem Hemd, wischte es sich durchs Gesichts und warf es dann über den Kopf. Werner winkte seiner Mutter, dass sie das Essen auf den Tisch stellen solle. Er wollte auf den Mann zugehen, ihn anfassen, ihm die Hand geben, aber erst musste er ihm etwas sagen. Verlegen schaukelte er das Handtuch in der Faust. Wie fing man da an?
»Genosse«, sagte er, sein Hochdeutsch klang feierlich, die Stimmer zitterte, »wir haben das alles nicht so genau gewusst, und wenn wirs gewusst hätten, dann wäre auch so - allerlei nicht geprahlt worden. Aber jetzt wo wirs wissen, da kann ich dir nur sagen, was mich betrifft, so hat mir das viel geholfen. Das kann ich dir sogar garantieren. Du wirst verstehen, was ich meine. Und du ruhst dich jetzt erst mal gut aus, da gibt's nichts. Und wir - fangen jetzt neu an. Wir haben ja noch ein bisschen Zeit. Fast zwei Jahre haben wir noch, wie du vielleicht weißt. Und deshalb« - Werner stockte, als wenn er etwas ganz Großes ausdrücken wollte und nicht so rasch formulieren könnte - »deshalb sage ich dir: hier - kommen sie nicht rein. Hier - gibt's
Barrikaden. Und da wirst du dich revanchieren können, so wahr ich ein Saarprolet bin, jawohl.«
Der Genosse steckte das Hemd in die Hose und zog den Gürtel wieder zu. »Iss gleich«, sagte die Mutter und wies auf den gefüllten Teller, »eh's wieder kalt wird.«

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur