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Gustav Regler – Im Kreuzfeuer (1934)
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Dieses Buch ist Herbert Becker gewidmet, der im Oktober 1933 an der Saar von Nationalsozialisten aufgespürt und erschossen wurde.
Ein Saarländer hat dieses Buch geschrieben, der einmal glaubte, auf den blutigen Höhen des Chemin des Dames sein Elternhaus verteidigen zu müssen. Heute ist ihm dieses Elternhaus verschlossen durch die Bilder der Mörder seiner Freunde, durch die Bilder Hitlers und Görings, die groß aus den Fenstern der väterlichen Buchhandlung drohen. Aber der Verlust ist wettgemacht: der Autor hat erkannt, wo die wahren Feinde seiner Heimat stehen, hat es erkannt, wie Herbert Becker, wie Zehntausende von Saarkumpels, deren Hütten - eine neue Heimat -dem Autor offen stehen und in denen andere Bilder hängen, Bilder, die stolz machen, zum Kampf anfeuern und die länger hängen werden, die Bilder von Thälmann und Dimitroff.
Zu deinem Andenken, Herbert Becker, Kampfgenosse!

Februar: Explosion und Provokation

1.2. Der deutsche Reichstag wird aufgelöst.
Hitler verspricht zwei große Vierjahrespläne.
10.2. Explosionsunglück in Neunkirchen.
24.2. Karl Liebknecht-Haus besetzt.
27.2. Göring lässt den Reichstag anzünden.
28.2. Massenverhaftungen.

Die Explosion

Durch die Schutt- und Kohlenhalden über die kahlen Wälder zwischen Elversberg und Neunkirchen blies ein kalter Abendwind. An den braun verstaubten Rohren der Ferngasleitung reifte der nächtliche Nebel.
Vögel schrieen aus hungriger Einsamkeit. Der Vollmond ging auf. Es war 17 Uhr 20 Minuten mitteleuropäischer Zeit am 10. Februar 1933.
Ein Lieferauto donnerte eben die Landstraße hinab. Leere Bierfässer tanzten unter den Seilen des Verdecks gegeneinander und klapperten ein grobes Konzert in die sterbestille Mondlandschaft.
Die Röhren der Ferngasleitung vibrierten von den Stößen des Wagens und berührten leise den Lehm der Halden, an deren Seitenwänden sie festgebunden hingen. Ein längst gestorbenes Blatt löste sich von seinem Baum und glitt in den Sumpf. Dann war wieder Stille in der Wald- und Haldenschlucht. Es war jetzt 17 Uhr 35 Minuten mitteleuropäischer Zeit.
Plötzlich hörte man aus dem Wald gen Elversberg Flüstern und eilige Schritte. Dann standen schmale Figuren am Rande der Kläranlage. Ein halbes Dutzend Männer. Einer von ihnen sackte mit seinem Bein in den Morast. Er schrie kurz auf, wurde gepufft, verstummte und ließ sich von zwei Kumpanen aus dem Schlamm auf festes Land reißen.
Da standen sie jetzt zwischen Wald und Sumpf im Mondlicht. Sie schleppten Säcke auf den Schultern, ihre Gesichter
waren verrußt; in den Händen hatten sie Haupickel, es waren heimliche Kohlengräber.
Am Wegrand hielten sie an, warfen die Säcke stöhnend von den Rücken, wischten sich umständlich den Schweiß aus den Augen, setzten sich nieder. Ein Pfiff scheuchte sie sofort wieder auf. Sie krochen schleunigst hinter die Büsche, die den Chausseegraben überhöhten.
Ein Auto näherte sich in langsamem Tempo. Die Lichtarme der Scheinwerfer tasteten den Wald ab. Im Busch schimpfte einer der Männer: »Ich mache nicht mehr mit!«
»Schnauze«, verwies ihn ein zweiter.
»Es kommt doch nichts bei raus«, flüsterte erregt ein anderer. »Und sie schnappen uns zum Schluss noch und leeren uns die Säcke!«
»Feiglinge, mit euch gehe ich zum letzten Mal, haltet das Maul, da kommt ein Auto, können Landjäger drin sein oder Grubenhüter.«
Das Auto schlich merkwürdig langsam heran.
»Ich hätte mir beinah noch die Beine zerschlagen heut«, jammerte mit unterdrückter Stimme wieder einer der Gräber. Sie waren alle erschöpft und stöhnten der Reihe nach.
»Wenn sie uns schnappen, gibt’s Kahn, es ist doch Diebstahl«, ängstigte sich einer der Anfänger.
»Diebstahl! Diebstahl!« höhnte ein letztes Mal der Führer. »Als wenn der Franzose etwas anderes macht. Der hat doch alles geklaut, wir holen uns nur die deutsche Kohle wieder zurück. Verstanden!«
Nun verstummte das Geflüster, das wie ein unfreiwilliges Krächzen heiserer Raben geklungen hatte. Das Auto war an die Abladestelle der Säcke herangekommen und hielt mit stukkerndem Motor. »Verdammt«, sagte der Führer der Schwarzschürfer und äugte durch die Büsche und wieder rückwärts, wo der Weg zur Flucht blieb.
Aus dem Auto sprang ein Mann. Er achtete nicht auf die Kohlensäcke, ging ein Stück seitwärts, breitbeinig und steif, und schlug sein Wasser ab.
Aus dem Chauffeurverschlag kam eine zornige Stimme: »Mach los, sie können doch hinter uns her sein!«
Der Andere lachte: »Mensch, ich muss, und wenn sie uns schnappen. Es ist auch kaum mehr mit zu rechnen. Wir sind doch schon fünfzehn Kilometer von der deutschen Grenze weg.«
»Mach los«, knurrte der Chauffeur. »Ich will mein Auto nicht sehen lassen. Dein verdammter Sprit ist keinen Ford wert.«
Der Mann am Wegrand schloss behaglich den Hosenlatz. Er lachte:
»Sie erwischen uns schon nicht. Die Preußen sind genau so dumm wie der Schangel. Alles eine Blase. Na denn mal weiter!« Er stieg auf.
Der Fahrer kuppelte ein und gab donnerndes Vollgas, der Wagen flog mit einem Ruck nach vorn.
Im Busch erhoben sich die Männer. »Spritschieber«, sagten sie und gingen zu ihren Säcken.
Es war jetzt 17 Uhr 50 Minuten mitteleuropäischer Zeit.
Als sie ihren versteckten Wagen aus einem Seitenweg zogen, die Säcke aufgeschmissen hatten und nach Elversberg abzogen, trafen sie auf einen Kumpel, der von Grube Heinitz aus der Schicht kam. Sie fürchteten jetzt nichts mehr. Sie grüßten den Kollegen; der antwortete freundlich: »Nabend«, und ging weiter auf Neunkirchen zu.
Es war jetzt 17 Uhr 55 mitteleuropäischer Zeit. Die Spritschmuggler fuhren schon durch die Straßen von Bildstock, die Kohlenmänner drückten sich gen Elversberg auf Waldwegen an die heimischen Häuser heran. Der Kumpel schritt Niederneunkirchen zu und dem Eisenwerk mit dem 80 Meter hohen Gasometer, der oben über der Stadt mitten unter den Zwerghäusern der Saarbrückerstraße stand. Der Kumpel rechnete sein Gdinge aus, dachte an sein letztes Gespräch mit dem Divisionär: der sieht immer so sanft aus, als wenn er nicht bis drei zählen könnte. Und heimlich schnüffelt er und legt jeden ab, der ihm nicht passt. Sind alles Schweine!
Der Kumpel fasste den Stock fester und stieß ihn wütend in den Schotter der Landstraße. Da kam der Schlag.
Gleichzeitig mit dem dumpfen Geräusch, das ein furchtbares Gesicht am Horizont schwarz und ungeheuer groß hochsteigen ließ, kam der taube Schlag ins Gesicht, wie von einer Riesenfaust gezielt. Der Kumpel wankte.
Es war jetzt 18 Uhr 7 Minuten mitteleuropäischer Zeit.

Durch das Neunkirchener Eisenwerk ging das vielfältige Geräusch der Nachmittagsschicht. Aus verlöschenden Glühkohlen stiegen zischend breite, heiße Schwaden und hüllten die Kokerei in gasigen Wasserdampf. Blutrot und bedrohlich knatternd schwelten die Feuergarben aus den Batterien der Hoch­öfen. Loren donnerten durch das Schienengewirr, die Kräne schwenkten kreischend über die leeren Züge und ließen aus ge­öffneten Krallen Schotter und Roheisen niederpoltern.
Um den Riesengasometer nah der Wohnsiedlung der Schlawerie brodelte der Dampf der Kühlerpyramiden. Der mächtige Turm stieg in drei sauber gehämmerten Etagen ruhig auf in den wirren Geräuschen. An seinem Fuß hockten ein halbes Dutzend Arbeiter; Zwerge mit winzigen Hämmern klopften am Sockel des Riesen, der in den Abend ragte, als sei er für die Ewigkeit gebaut, und es vereinigten und beruhigten sich alle aufgeregten Werkvorgänge in seinem majestätischen Zylinder.
»Es muss schon bald sechs sein«, sagte einer der Männer in der Tiefe. »Wir schaffen das so nicht mehr.«
»Ich versteh nix davon,« knurrte ein anderer. »Da kannst du hämmern, das hält wie Gift.«
»Wir werden Überstunden machen müssen -- «
»Sag das noch mal, aber pass auf, dass keine Ohren herumlaufen, die es hören.«
Der Gewarnte lachte: »Dann geh ich noch mal mit dem Schweißer dran, verstehste.«
»Von mir aus. Jedenfalls mache ich keine Überstunden mehr.« Er höhnte: »Da steht neuerdings Todesstrafe drauf. Von der Generaldirektion.«
Wenige Minuten danach zischte mit weißem Licht das wütende Feuer gegen das Stahlblech.
»Halt«, rief einer der Arbeiter, »ich schlage jetzt mal drauf.«
Ein kurzer Hammerschlag knallte in das surrende Gebläse. Der Arbeiter hob entsetzt den Kopf. »Da kommt Gas«, schrie er und sprang in die Höhe. Die Männer wichen ein paar Schritte zurück.
Eine mannshohe Flamme sengte ihre Gesichter an, stieg nach oben, knatterte in wilder Detonation in den Abend. Die Männer ließen das Gebläse und den Hammer fallen.
Miteinander liefen sie ins Werk hinein. Jeder spürte nur das Klopfen des Bluts in der Brust. Sie stolperten nebeneinander über Schienen und Schlacken. Riesengroß hob sich hinter ihren Rücken der Tod. Sie liefen um ihr Leben. »Jesusmaria«, stammelte einer. »Jesusmaria!«

An einem Fenster der kleinen Häuser gegenüber dem Gasometer stand im Dämmerlicht des Abends die Frau des Walzwerkmeisters Schlick. Die schönste Stunde des Tages war da; der kleine Hans schlief, der unermüdliche Frager und Quäler; noch ein Streicheln über seine Stirn, dann zurück den Vorhang und jetzt schlafen! Die Frau griff den Bergmannskalender vom Küchenschrank, den ihr der Bruder gestern dagelassen hatte. »Es stehn Stückchen drin und auch etwas über den Kleinen, wie man ihn großfüttert - na das wüssten wir schon, wenn wir genug in die Düte kriegten«, hatte er gesagt. Man kann das Licht noch sparen, dachte die Frau und ging ans Fenster.
Ein Photo blätterte auf; sie las die Unterschrift: Paris, die Cité, der älteste Kern der Stadt. Das ist Wasser ringsum, sah sie, und das ist sicher eine Kirche. Das ist vom Flugzeug aufgenommen. Schön muss die Stadt sein. Wenn unsereins mal dahin könnte.
Sie drehte sich um. Nie kommt man weiter als auf die nächste Kirmes. Sie sah das Bild wieder an. Das liegt wie ein Schiff da. Zu Weihnachten hat Hans auch ein Schiff gekriegt. Es ist schon kaputt. Sie blätterte um: Place de l'Etoile mit dem Triumphbogen. Wie lauter Tortenstücke ist die Stadt geteilt, dachte Frau Schlick und musste lachen. Warum das Tor da in der Mitte stand, ging ihr nicht ein. Die Wagen fuhren doch alle drum herum. Sie betrachtete das Verkehrsgewimmel um den weißen Steinbogen. In Paris gab es sicher viele Millionäre. Sie dachte an ihren Mann. Der sagte immer: sie sind reich durch unsre Knochen. Versailles hat sie reich gemacht. Politik - sie verstand nichts davon. Wenn man nur zu leben hatte. Gut, dass Schlick fleißig war und sich nicht so vorwagte mit dem Maul. Die Nachmittagsschicht musste übrigens doch bald zu Ende sein. Frau Schlick blätterte zum neuen Bild um: das Pantheon, buchstabierte sie, da fiel der rote Lichtschein über die Seite. Ganz grell traten die Hallen und die Kuppel des fremden Gebäudes in ihre Augen. Sie hob verdutzt die Augen und sah drüben den Flammenschein an der Wand des Gasometers hochlaufen. Da kam auch schon der erste Schlag.
Katharina Schlick stürzte in die Stube, griff sinnlos ein Glas vom Tisch, stieß einen Stuhl um; das Kind erwachte und rief. »Ja, mein Kleiner«, sagte sie und kniete neben seinem Bett nieder.
Das Kind begriff nicht, warum die Mutter sich so breit über
seinen Kopf legte. »Nein!« hörte es die Mutter schreien. Dann fegte zerreißend das Todesgewitter durchs geöffnete Fenster, zerschnitt das Gehör der beiden, stopfte ihre Lungen mit mörderischen Fäusten und begrub die grausam Erwürgten unter niederkrachenden Steinen und splitternden Möbeln.
Am Werkeingang drüben raste ein Stahlbrocken von Armlänge dem fliehenden Arbeiter Albert Schlick in den Rücken und streckte ihn zu Boden.

Der Gasometer war verschwunden. Auf den Hügeln um die Stadt klatschten seine Trümmer in den Boden. In den geborstenen Mauern der Arbeiterhäuser steckten sie; blutüberflossen ragten sie aus halb bedeckten Leichen am Rand der Straße. In siebzigfachen Tod hatte sich der Behälter verwandelt, achtundzwanzig Häuser hatte er rasiert. Die brennende Benzolfabrik in der Tiefe des Werks beleuchtete mit unruhigem Licht die Verwüstung. Nach dem Kohlenwald zu wankte fassungslos die dunkle Karawane der Frauen aus der Schlawerie. Man hatte sie aus den aufgerissenen Häusern holen müssen. Sie hatten am Boden gesessen neben umgestürzten Möbeln, bedeckt mit Glassplittern, überrieselt von Kalk, willenlos. Rufe weckten sie aus ihrer Lähmung.
»Es kommt noch eine Explosion!« schrie jemand, da erwachte der Rest von Leben in ihnen, und sie kamen vor die Türen. Nun gingen sie in die Nacht, begleitet von Kumpels, die ihnen Nachtlager versprachen. Weinend stapften sie durch die rötlich beleuchtete Landschaft. Autos sausten an ihnen vorbei, Wagen der Regierung, Sanitätswagen.
Bei den Schutthaufen der Schlawerie waren Kolonnen junger Arbeiter erschienen, sozialistische Jugend, junge Männer vom Roten Frontkämpferbund. Sie rissen die Trümmer auf, brachen Wände nieder, suchten nach Leichen und Verwundeten. Der zweite Alarmruf kam. Die Benzolfabrik konnte jeden Augenblick einstürzen und neue Vernichtung über die Stadt werfen. Die Neugierigen rasten die Straßen hinunter, die Landjäger warnten kurz, dann zogen sie sich ebenfalls zurück.
Der junge Werner, ein erwerbsloser Metalldreher, sah den Rückzug. Sieht euch ähnlich, dachte er. Aber meinetwegen. Jetzt können wir ungestört arbeiten. Später, wenn die Luft sauber ist, kommt ihr ja doch mit euren Vorschriften und hindert uns. Er riss eine lockere Tür aus den Angeln. Eine grenzenlose
Wut saß in seinen Fäusten. So ging man nun mit Proleten um. Sagte jahrelang, dass so ein Ding absolut sicher ist, und dann knallt es weg. Erschlägt die Frauen mitten in ihren Häusern. Und Schuld hat nachher keiner.
Er schmiss die Tür hinter sich, setzte den Spaten in den Schutt. Ein Bildrahmen stieß an die Schaufel. Er hob die Leiste hoch. Ein Herz-Jesu-Bild. War nicht vorhin ein Pfarrer da? Das steht dann morgen in der Zeitung. Aber wo ist der Mann? Da, mit den Landjägern! In drei Tagen wird er wiederkommen, wenn die Beerdigung ist. Dann wird er eine Rede halten. Man müsste einen Sprechchor auf dem Kirchhof machen. Wir müssten einen Redner haben. Mensch, warum haben wir Arbeiter so etwas nicht. Er stocherte in dem Dreck. Wieder ein Bild. Er grub weiter und stockte, seine Schaufel war auf weiches Fleisch gestoßen. Vorsichtig scharrte er Kalk und Steinbrocken auf die Seite. Ein Bein kam zum Vorschein. Er bückte sich und arbeitete mit den Händen weiter. Ein Möbelstück lag über dem Körper. Noch war Hoffnung. Werner räumte hastig, sein Kopf fieberte, seine Hände rissen in Nägel. Blut tropfte in den staubigen Schutt. Ein Mensch war dem Tod zu entreißen, die Frau eines Arbeiters, der auf dem Nachhauseweg war, den er, Werner, empfangen konnte: Haste Schwein gehabt, Kollege, wir haben ihr den Atem freigemacht, als es gerade noch langte. Mensch, und die Freude. Ich könnte vieles vergessen dann. Werner stemmte sich gegen die Bretter des fest eingeklemmten Möbels. Er hatte die Hand in der Höhle, die über dem Menschen freigeblieben. Er konnte schon nach dem Körper greifen, aber er wollte ihn erst ganz freilegen.
Die Bretter gaben nach. Werner sah in die Höhle und schrak zurück. Dann schaute er noch einmal ganz genau hin, wie ein Arzt, sachlich prüfend und als sei er nicht beteiligt. Er wollte die Bretter fallen lassen und wegtreten, wie man von einem Grab wegtritt. »Die ist hin,« sagte hinter ihm die Stimme seines Freundes. »Holen wir sie raus«, sagte er traurig.
Sie trugen die Tote über die Steinhaufen auf die Straße. An der Schwelle stolperten sie, und die Last, die beinahe aus ihren Händen glitt, schien plötzlich doppelt schwer. Sie will nicht fort, dachte Werner und überblickte noch einmal die bis auf den letzten Stein niedergerissenen Wände. »Dann geh doch schon«, forderte der Kamerad. Werner packte den Rock der Toten fester um die steifen Schenkel und ging weiter. Sie stapf-
ten die mit Trümmern besäte Straße hinauf zu den Sanitätswagen.
Die Halle der Benzolfabrik knisterte in kleinen Explosionen. Kommandorufe in der Tiefe brüllten gegen den Lärm des immer stärker werdenden Brandes. Jetzt könnt ihr schreien, dachte Werner und stapfte über die Fetzen des Gasometers. Jetzt gibt’s auf einmal Polizei und Landjäger und Feuerwehr. Jetzt sind eure Autos da. Er sah ein verchromtes Chassis aus dem rötlichen Dämmer aufblitzen. Er ging mit bitterer Entschlossenheit auf die Rote-Kreuz-Wagen zu.
So müsste man alle Toten durch die Stadt tragen, durchs ganze Saargebiet. Nicht in Särgen, nein, so öffentlich. Er ließ nicht mehr ab von dem Gedanken. Ob sie dann riskierten, den Mund aufzumachen?
Als sie ihm eine Bahre vor die Füße schoben, zögerte er einen Augenblick, seine Last abzulegen. Er sah schon die Beerdigung vor sich. Zylinder, Vereinsfahnen. Aber die Toten kriegten einen Deckel über die zerquetschten Schädel. »Aus welchem Haus ist sie«, fragte ein dicker Landjäger. Werner sah ihn von oben bis unten an. Dann drehte er sich um. Kein Händel jetzt. Außerdem gab es da hinten andere, die vielleicht noch zu retten waren.
Sie passierten einige Häuser, die nicht der ganze Stoß der Explosion getroffen hatte. Die Türen waren eingestoßen, die Fensterrahmen hingen gebrochen mit winzigen Glaszacken über die geborstenen Wände. Ziegel waren aus den Dächern gerissen, aber der Tod schien hier nicht eingekehrt. »Hör mal«, sagte der Kamerad zu Werner und blieb stehen. Aus einem der Häuser kam ein lautes schmalziges Geschrei eines Menschen, unterbrochen von einem Knattern, wie es kleinen Blitzen zu folgen pflegt. Über die schmutzige Fassade des Hauses zuckte der Feuerschein der brennenden Fabrik. In die Löcher der eingebrochenen Fenster floss das rote Licht wie in tiefe Gruben; schwarz standen sie in dem Flackern. Die Burschen stierten hinein, vorgebeugt und voller Spannung.
Die Stimme, die aus der Wohnung kam, schien ins Hundertfache übersteigert. Werner hörte sie und stellte sich einen alten Mann vor - warum, konnte er nicht sagen -, der dort am Boden saß, von allen seinen Leuten verlassen, irrsinnig geworden durch den Knall, wie ein Hund bellend, erbärmlich jaulend, sinnlos. Immer lauter wurde die Stimme, riesengroß
wurde sie, und nun unterschieden die beiden, die mit stockendem Atem still auf der Straße standen, auch schon einzelne Worte. Bis jetzt waren sie nicht sicher gewesen, aus welchem der kleinen Häuser die Stimme kam, wo der Unglückliche saß und seinen irren Fluch ausstieß, nun fiel aller Zweifel, welche Wohnung den so grausam Gestörten mit den wackligen Mauern umhüllte.
Sie gingen näher an die Fassade des Zwerghauses heran. Die Stimme war nun ganz deutlich zu verstehen. Sie war auch nicht mehr jammernd; überlaut und böse schwoll sie aus den Fenstern und durch die zersplitterte Tür. Ein Grauen beschlich sie, das natürliche Grauen vor der unbestimmten Gefahr, die von jedem Geisteskranken ausgeht. Aber sie hatten zu retten, und hatten in jedem Fall auch hier zu retten und nach dem Rechten zu sehen. Ein Irrer konnte in den halbwegs verschonten Häusern noch Brände anlegen und großen Schaden anrichten: man musste ihn herausholen.
Sie traten zögernd in den kleinen Vorflur des Hauses. »Ist hier jemand?« fragte Werner in den Lärm hinein. Die Stimme antwortete: »Daher fasste ich als ein namenloser und unbekannter Soldat den Entschluss, eine Bewegung zu bilden, die das deutsche Volk auf einer neuen Ebene vereinigen kann... «
Die beiden jungen Arbeiter standen im flackrigen Licht des Zerstörungsfeuers und sahen nun links oben auf einem Schrank einen Lautsprecher, dessen Röhren schwach aus der Dunkelheit leuchteten. Durch das Zimmer schwankte mit mattem Schimmer die Spirale der Zimmerantenne.
»Vierzehn Jahre Marxismus«, sagte die Stimme, »haben Deutschland an den Rand des Ruins gebracht, ein Jahr Bolschewismus würde es vernichten... «
»Ist das Adolf?« fragte jetzt der Freund neben Werner. Der antwortete nichts. Er hatte einen Augenblick gedacht, den Kasten zu packen und zum Fenster hinauszuwerfen. Aber das hieße, einen Proleten bestehlen. »Diese Novemberverbrecher haben vernichtet, was sie vernichten konnten. In vierzehnjähriger Arbeit, in der sie von niemand gestört worden sind... «
Werner stand mit ineinandergerungenen Händen in der von Lärm angefüllten Stube, Das war nun der wahnsinnige Greis -wahrhaftig, der war nicht wahnsinnig. Der da wusste schon, was er tat. Werner sah auf seine Hände, auf ihren kalkigen Fingern trocknete ein kleines Rinnsal von Blut. Er brüllt in tote Ohren,
dachte er, über ein Leichenfeld hinweg brüstet er sich. Der Arbeiterführer!
Ihm fiel plötzlich ein, was ihm ein kommunistischer Freund gesagt hatte vor ein paar Tagen: der Hitler hat im »Kaiserhof« erklärt, er will nicht mehr länger warten, er will jetzt Kanzler werden, er ist jetzt über vierzig, er will an die Macht.
Werner sah zu dem sprechenden Brett hinauf: jetzt hat er sie. Nun braucht er nicht mehr zu warten. Nun kann er sich an den Tisch setzen. Noch eine Wahl - nein, nein, nein. Werner stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Es darf noch nicht soweit sein! Der Arbeiter muss es noch merken. Merken, wie ich es jetzt merke, hier in der Stube, wo der da um Stimmen bettelt mitten ins Elend hinein. Dafür kann er nichts? Woher ist denn das Geld? Hat der Wolff da drüben ihm keins gegeben? Dasselbe Geld, das er an den Arbeitern gespart hat. Werner lachte böse. Wenn er seinen Gasometer an den Wald gesetzt hätte, statt mitten unter die Arbeiterhäuser? Ganz recht, dann hätte er dem Adolf vielleicht weniger spendieren können. Dann könnte der hier nicht in die Trümmerhaufen hineinbrüllen, ohne dass jemand ihn daran hindern kann, dann könnte er nicht uns und die da, die Toten da rings um uns, verkohlen, verhöhnen.
Die Stimme des Kanzler drängte sich in seine Gedanken; sie wurde noch einen Ton stärker. Werner hörte: »Erster Programmpunkt: Wir wollen nicht lügen und wollen nicht schwindeln... «
Werner lachte auf, da machte der Freund neben ihm einen Sprung nach vorwärts und hieb in den Kasten hinein. »Du Lump«, brüllte er, »du Betrüger.« Werner konnte ihn nicht mehr zurückhalten. Wie ein Besessener schlug der Bursche auf den Kasten. Die Stimme des Kanzlers wehrte sich noch eine Weile, dann erstickte sie in dem Krachen der Bretter und dem kurzen Knallen der elektrischen Birnen. Keuchend stand der junge Arbeiter vor dem zerschlagenen Apparat. »Da drau­ßen«, sagte er nur, »da draußen... «
Werner packte ihn plötzlich am Ärmel. »Du, komm mal mit raus!« Er drehte sich in dem nun völlig dunklen Raum um: »Hier hört schließlich doch noch jemand zu.«
Sie gingen auf der Straße stumm nebeneinander. Dann erklärte Werner die Idee, die wie ein Blitz in sein Denken gefallen war.
»Glaubst du wirklich«, sagte der Freund nach langem Nachdenken, »dass er selber zur Beerdigung kommt.«
Werner zuckte die Achseln: »Das weiß man nicht, aber - was hältst du davon?«
»Er müsste kommen«, sagte der andere. »Dann sollten sie im Reich erleben, was die Arbeiter an der Saar fertig bringen. Dann werden auch die Kommunisten staunen... «
Werner unterbrach: »Du, denen sag nichts. Die sind dagegen. Also wirklich: halt dicht!«
Sie gingen zu den Haufen der rasierten Häuser. In den Augen des Kameraden leuchtete plötzlich ein wildes Feuer. Immer wieder sah er von der Arbeit auf und streifte mit fragendem Blick den Werner.
Als das Frühlicht die zerhackten Bäume, die Häuserhäufchen und die noch immer brennenden Batterien der Benzolwascher grau zu färben begann, legte Werner gerade die elfte Leiche auf die Bahre der Sanitäter. Seine jungen Augen waren hart geworden, tiefe Schatten lagen auf seinem Gesicht.

Der Definitor Beißnagel von Neunkirchen ging unruhig in seinem Zimmer umher. Das Brevier lag aufgeschlagen auf dem Betstuhl; er hatte die Lektüre unterbrochen seit jenem furchtbaren Schlag, der über die Dächer seiner Pfarrei gefegt war. Er überlegte: Trier musste angerufen werden. Aber die Uhr war inzwischen schon fast zehn geworden. Durfte man Seine Eminenz noch wecken? Vielleicht war er ungehalten, vielleicht schlief er schon. Aber er konnte auch ebenso gut zürnen, dass man ihn nicht sofort benachrichtigt hatte. Der Definitor beschloss seinen Kaplan zu befragen.
Er fand ihn nicht in seinem Zimmer. Die Haushälterin kam auf den Ruf: »Herr Kaplan ist zum Versehen an die Unglücksstätte gegangen.«
»Gut, gut«, sagte der Definitor. Ich hätte es ganz vergessen, dachte er und ärgerte sich. »Verbinden Sie mich mit dem bischöflichen Sekretariat in Trier!« befahl er der Wirtschafterin. Die Alte nickte: »O Herr Jesus«, sagte sie, »was ist das für ein schreckliches Malheur. Der Hochwürdige Herr Bischof wird einen Schreck bekommen.«
»Gehen Sie nur! Es ist eilig.«
Schon nach fünf Minuten klingelte es. Der Definitor ging klopfenden Herzens an den Apparat. »Hier bischöfliches Sekretariat«, hörte er und verneigte sich: »Hier ist die Pfarrei Neunkirchen. Wir sind heute Abend von einem entsetzlichen Unglück heimgesucht worden. Der Gasometer des Eisenwerks... «
»Das wissen wir schon. Eminenz warten schon seit einer halben Stunde auf Euren Anruf. Ich verbinde.«
Der Definitor erschrak heftig. Da war schon die Stimme des Bischofs. »Definitor Beißnagel? Hören Sie! Alle Geistlichen des Sprengeis sind an der Unglücksstätte. Ich denke, Sie waren auch dort. Ich wünsche, dass die Herren der Nachbarpfarreien zugezogen werden. Man muss viele von Ihnen sehen. Ist eine Kirche in Mitleidenschaft gezogen? Nein? Gut! War es eine sehr katholische Straße? Sehen Sie zu, dass die Sanitäter hauptsächlich ins katholische Krankenhaus einliefern. Bezüglich Gottesdienst werden Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
Der Bischof machte eine Pause. Der Definitor hauchte ein ergebenes Ja.
»Ich lege Wert darauf, dass in diesen nächsten Stunden besonders gut gearbeitet wird. Sie haben eine große Verantwortung. Definitor. Überall sein! Man muss den Unterschied merken. Eine solche Heimsuchung kann zu religiösen Erneuerungen führen. Ich nehme das sehr wichtig, Definitor. Das Saargebiet ist ein Schmerzenskind, besonders Neunkirchen. Tun Sie das Ihre. Sie werden meine beste Unterstützung haben; ich schicke Ihnen keinen geringeren als den Hochwürdigen Herrn Weihbischof. Er wird Ihnen das weitere erzählen. Geldmittel werden Sie auch haben. Gehen Sie vorsichtig damit um. Machen Sie etwas daraus. Es kommt jetzt auf den ersten Eindruck an; das heißt, auf jede Minute. Sie haben mich verstanden, Definitor! Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit, Amen!« sagte der Definitor und blieb noch eine Weile mit dem Hörer am Ohr stehen. Der Weihbischof kommt, war sein erster Gedanke. Sind die Bücher in Ordnung, sein zweiter. Was wird man essen, sein dritter. Alle anderen gingen unter in seiner Erregung.

Am anderen Ende legte ein Kaplan den Hörer aus der Hand des Bischofs auf den Apparat. »Haben Sie den Herrn Weihbischof gebeten?«
»Er wird sofort erscheinen«, antwortete der Kaplan-Sekretär. »Schicken Sie dann ein Telegramm an den Vatikan«, befahl
der Bischof. »Warten Sie! Es ist nicht nötig, ich kann das auf mich nehmen.«
Die Tür öffnete sich; ein kräftiger Greis im Hausornat des Domkapitulars trat herein. Der Kaplan verneigte sich und ging.
Der neue Mann setzte sich gegenüber dem Schreibtisch und ordnete umständlich seinen Rock.
»Ich weiß nicht«, begann der Bischof, »ist dieser Schlag nun als Mahnung oder als Strafe zu denken?«
Listige Frage, dachte der Weihbischof ihm gegenüber. Mahnung zu besserer Arbeit oder Strafe für versäumte Kirchenwerbung? Soll ich wieder mal eine Saarbilanz ziehen? Der Weihbischof hob bedauernd die beringten Hände.
»Heimsuchung in nächster Umgebung hat mir seit Jahren immer die meisten Gedanken gemacht. Aber erst nach Jahren ahnt man, was der Unerforschliche vielleicht gemeint hat.«
Er weicht aus, erkannte der Bischof; aber ich brauche seine gute Stimmung, es ist höchste Zeit, dass wir die Saar mal wieder abtasten.
Besser, als sich wieder in Andeutungen verlieren über die alten Intrigen um ein Saarbistum.
»Ich habe«, sagte der Bischof und schmeckte seinen Speichel mit leisem Geräusch, »das ganze Kapitel zu einem Requiem in den Dom gebeten. Wir wollen aber noch kurz besprechen, wie die Reise am besten zu ordnen ist. Sie haben verstanden, Weihbischof, dass ich Sie wählte?«
Ich habe es nur zu gut verstanden, dachte der Kollege. Damit hier die Vorbereitungen zum heiligen Rock noch diskreter getrieben werden können, damit noch mehr Briefe mit Berlin gewechselt werden, von denen man nie etwas erfährt, damit die Versetzung in die bessere Pfründe unter dem neuen Regime ohne meine Einsicht geregelt werden kann.
Der Weihbischof glaubte, seinen Kollegen zu durchschauen, er ärgerte sich. Dieser nun Jahre zurückreichende Kampf um die Saar, die Schlachten zwischen Metz, Trier und Rom hatten ihm bewiesen, dass man nicht so rasch seine Politik ändern soll. Ich werde nicht widersprechen, dachte er und nickte höflich mit dem Kopf.
»Ich weiß«, sagte der Bischof, »dass Sie an dieser Pfarrei Neunkirchen sehr gehangen haben, aber Sie hängen ja auch sehr am ganzen Gebiet. Ich wollte deshalb vorschlagen, dass Sie mit der Reise eine Inspektion der Industriestädte um Saarbrücken verbinden. Prüfen Sie, wie man dort über das neue Berlin denkt. Sehen Sie besonders, ob das Zentrum nicht wandlungsfähig ist; wir müssen rechnen, dass diese Entscheidungen noch in diesem Sommer fallen. Die Saar kann da nicht zurückbleiben; ich habe das zugesagt. Die neuen Männer in Berlin sind stark, dagegen gibt es gar keine Einwendung. Das ist das eine. Das andere wäre eine Kampagne für unsere große Wallfahrt. Auch das habe ich bei den Verhandlungen mit ins Spiel geführt. Die Herren von Berlin legen wert darauf, dass die Saar den besten Eindruck von den braunen Truppen und ihrer Ordnung hat. Wir müssen also die Saarländer geschlossen herführen. Drängen Sie bei allen Pfarrherren darauf! Ich denke, dass ich Ihre Reise noch durch Telefonate ankündigen werde und unterstreiche, wie Ihr persönliches Erscheinen die Bedeutung der Stunde anzeigt.«
Er ist ein unverbesserlicher Schmeichler, dachte der Weihbischof, aber es störte ihn nicht. Die Politik ist falsch. Er setzt zuviel auf die braunen Männer. Er wirft zu rasch das Steuer um. Es kann einen Kulturkampf geben. Es wäre eine Renaissance der Kirche.
Er sah sein Gegenüber an. Sah er das nicht? War er nur ein Taktiker für den Tag?
»Und schließlich«, sagte der Bischof, »zu Neunkirchen selbst: sehen Sie zu, dass die Unterschiede der Konfessionen taktvoll gemacht werden, aber versäumen Sie nicht, auf die Regie der Trauerfeier einen Einfluss zu nehmen. Ich glaube, es wird günstig sein, wenn Sie erst hinter dem Protestanten sprechen. Das letzte Wort haftet. Außerdem kann man noch verbessern, wenn jener zu lang gesprochen hat. Das Wichtigste aber: die örtlichen Stellen müssen alles tun, um die Caritasarbeit ganz in die Hand zu bekommen. Wer zuerst da ist, hat die Seelen. Ich weiß nicht, wie die Neunkirchener sind. Ich hatte eben nicht den besten Eindruck von dem Definitor, aber zum mindesten ist er ergeben. Die katholische Caritas also muss führen. Wir brauchen das an der Saar. Mobilisieren Sie im gleichen Sinne auch die Presse. Machen Sie bekannt, dass auch der Papst eine Summe gegeben hat! Ich habe noch keine Anweisung, aber wir können nicht warten. Sie brauchen keine genaue Zahl zu nennen. Aber es muss morgen schon drinstehen. Und noch ein letztes: ich weiß, Sie werden dort auf Abneigung gegen von Papen stoßen. Das ist nicht so rasch beseitigt. Die Pressefürsten glauben, dass sie gegen ihn sein könnten. Er ist stärker als sie. Sagen Sie das vorsichtig! Papen selbst können Sie meiden. Jedenfalls nicht zuviel Zusammenhang. Man grollt ihm da unten wirklich noch. Aber vielleicht ist es auch nur Theater, das sie vor ihren Arbeitern nötig haben.«
»Auch in diesem Fall müsste man ihnen entgegenkommen«, meinte der Weihbischof. Er sprach nun ganz gegen seine Überzeugung. Niemals durfte man so weit gehen und sich ganz an die Machthaber des Tages binden, besonders nicht an diese größenwahnsinnigen, die schon ihre Volksreden mit »Amen« schlossen und volle Atheisten waren. Die wollten Götter werden, sie mussten übermorgen Feinde sein. Der Weihbischof sah die Männer vor sich, ein Schrecken befiel ihn; er wird es erleben, er soll es erleben, dachte er und starrte in seltsamer Schadenfreude auf den Siegelring des Bischofs.
Lächelnd hatte der Bischof den Zwischenruf gehört; er war glücklich, seine Politik gefiel dem Kollegen - jedenfalls nahm er sie an. »Ich vermute, dass von Papen nach Neunkirchen kommen wird. Sie können ihn hierher einladen. Ich möchte ihn gewinnen für das Fest der Ausstellung des heiligen Rocks. Vergessen Sie das nicht! Und glauben Sie mir, Weihbischof, ich weiß, dass Rom diesen Mann noch lange halten wird.«
Auch das ist nicht sicher, dachte der Weihbischof, aber er verbeugte sich schweigend.
Der Kaplan trat ein und meldete: »Es sind jetzt schon 54 Tote, sagt das Telefon.«
Die beiden schreckten aus ihren Gedanken. Tote? »Gehen wir zum Requiem«, sagte der Bischof.

Werner blätterte in der »Arbeiterzeitung«. Er las die Titelzeilen sämtlicher Artikel und fand nicht, was er suchte. Unwillig warf er das Blatt auf den Tisch. Er nahm seine Sturmkappe und ging zum »Goldenen Adler«, wo er die »Landeszeitung« fand. Er griff die Zeitung vom Haken und studierte sie bis auf die letzte Seite. Totennachrichten, nichts als Totennachrichten. Beileidskundgebungen. Immer wieder derselbe Text. Man meinte fast, sie machten sich eine Reklame. Telegramme. Telegramme. Was es alles gab: Saarvereine. Oberbürgermeister. Minister. Halt, da war auch Adolf. Er las das Telegramm des Kanzlers mit Aufmerksamkeit. Nichts von Herkommen stand drin. Wo steckte der Bursche?
Werner sah eine neue Überschrift: Die große Berliner Automobil-Ausstellung. Mitten im Bericht war eine Zeile im weißen Raum gesperrt hervorgehoben. Wieder Adolf! Werner suchte nach dem Datum des Berichts. 11. Februar. Das war Sonnabend. Also war er noch in Berlin. Abwarten, wo er morgen auftauchte.
Er las die Rede Hitlers in der Ausstellungshalle: »Als ein Mann, der selbst seit vielen Jahren im Auto ein unentbehrliches Verkehrsinstrument kennen und schätzen gelernt hat... « Schau, wie er es mit den feinen Leuten hält! Bin selbst Autobesitzer. Seit Jahren schon. Bitte schön. Sie können ruhig mit mir verkehren, wenn ich auch Anstreicher war.
Werner warf die Zeitung weg. Die Rückseite zeigte Photos. Werner beugte sich darüber. Adolf in Gala. Inmitten von blitzenden Opel- und Mercedeswagen. Dafür war also die SA marschiert! Lauter Zylinder um ihn herum. Seine erste Sorge: Autos zu besichtigen! Werner folgte ihm, wie er sich über offene Motoren beugte. Eleganter Affe! Hatte dem jemals schon einer in die Fresse geschlagen. Werner lachte: darauf ist bisher überhaupt noch keiner gekommen! Dass man den ganzen Führer mit einer Faust zusammenhauen konnte wie eine Friseurpuppe. Vierhunderttausend SA-Männer, Kerle wie Dempsey waren darunter, und hatten das alle noch nicht gemerkt. Alle Bilder-Werner hatte sich ihn jedes Mal genau angesehen - waren gleich: ein Haufen Angst ging einmal mürrisch, einmal lachend durch tausend feste Kerle. Ich möchte mal mit dem ringen. Und wie der umklappen würde!

Werner steigerte sich in seine Gedanken hinein. Er hatte etwas anderes vor mit dem Volkskanzler. Jetzt besann er sich auch darauf. Obs gelingen wird? Werner stierte auf den Tisch, sah den mürrischen Angsthasen vor sich und glaubte eine Minute, ihn schon in Gedanken zwingen zu können. Ganz deutlich hatte er aus seiner Kraft heraus plötzlich die Empfindung eines Hypnotiseurs. Er wollte, dass der Kanzler kam. Die Brandnacht stieg blutig rot in seiner Erinnerung auf. Die im Morgenlicht steif auf den Bahren liegenden Toten. Das brennende Werk des Nazifabrikanten dahinter.
Werner sah plötzlich seine Faust auf dem Tisch. Der Zeigefinger bewegte sich leise über der Hand, als läge er prüfend am Abzug seiner Pistole. Er griff danach, als müsse er die Hand
beruhigen. Morgen wird es in der Zeitung stehen, ob er kommt, dachte Werner. Ich muss warten.

Die Internationale Arbeiterhilfe Saar hatte ihre Schnellküche für die Explosionsopfer in vierundzwanzig Stunden aufgestellt. Junge Arbeiter, Erwerbslose, Pioniere und Kinder fuhren mit Karren durch die Stadt, sammelten Lebensmittel, Kleider, Strümpfe, Schuhe. »Kommst du mit?« hatte ein Kommunist zu Werner gesagt. Und wieder war Werner sofort dabei. Jede praktische Handlung mobilisierte ihn. Besuch von Kursen schlug er lachend ab, er erklärte sich für zu dumm dazu. Auch die Partei reizte ihn nicht. Er hatte Freunde im RFB. Er sagte, dass er zu Thälmann halte. Wenn er von Rosa Luxemburg sang, wurde es ihm warm ums Herz. Er fehlte bei keiner Demonstration.
Jetzt nahm er seinen Karren aus dem Stall und fuhr los. »Sie verbieten uns das doch nach ein paar Tagen«, sagten die Kameraden. »Die Geistlichen werden uns nicht in Ruhe arbeiten lassen. Sie fürchten die Konkurrenz.« »Also dann los«, sagte Werner, »eh's zu spät ist.«
Werner fuhr vom frühen Morgen an mit den Freunden. Sie machten keinen Hehl daraus, wer sie waren. Über jedem Wägelchen schwankte das rote Transparent: »Gebt für die Opfer der Katastrophe! Solidarität tut not.« Werner verhandelte freundlich und kurz mit den Krämern.
Es gab Störrische, die das rote Tuch nicht gern sahen. »Wir haben schon gegeben«, sagten sie, aber Werner sah durch die abweisenden Gesichter hindurch die Lüge. »Soviel ich weiß, kaufen hier Arbeiter«, sagte er und drehte um. »Karl, merk dir mal die Bude!« Oft half die leise Andeutung, öfter war es schon genug, dass Werner einfach stehen blieb.
Er stand, als sei er als Denkstein in den Laden gesetzt, als Schandmal für einen Geizigen: hier wo ich stehe, sagte der Denkstein, haben Arbeiter in höchster Not umsonst einen Händler um Hilfe gebeten. Werner meinte einmal: »Proleten haben ein gutes Gedächtnis, Herr!« Auch solche freundlichen Hinweise halfen. Werner sprach niemals im schroff-drohenden Ton. Man konnte seine Festigkeit genau so gut für ein väterliches Mahnen nehmen.
Gegen Mittag lieferte er den dritten Karren in der Küche ab und zog dann schleunigst los. Er ging, seine Zeitung zu lesen.
Adolf ließ ihn warten. Nichts stand von seinem Kommen in dem Journal. Wahlkämpfe. Reden. Die Nazis hatten das ganze Radio besetzt.
Er sah einen Gärtnerburschen die Straße herunterkommen, der trug einen breiten Tannenkranz, in den rote Beeren gesteckt waren.
Menschen traten aus ihren Haustüren und sahen dem Gärtner nach.
Noch lagen rings um die Neugierigen Splitter zerdrückter Scheiben auf den Trottoirs. Nebel hing in den heimgesuchten Gassen. Die kalte Melancholie des Februar schlich durch den Tag, der nicht mehr hell werden wollte.
Werner ging nun ebenfalls auf den Gärtnerburschen zu. Er sah die blutroten harten Beeren, den silbrigen Glanz der Schleife. Da hatte wieder ein Amt, ein Minister, irgend jemand Offizielles einen Reklamekranz gestiftet. Auf einmal erinnerten sie sich an die Arbeiter, auf einmal!
»Laß mal sehen«, sagte er.
Er griff nach der Schleife, aber er ließ sie sofort wieder fallen. Er meinte, er fiebere: Adolf - unserm unvergesslichen Adolf stand auf der Schleife. Es war ihm, als hätte ihn jemand im Genick gefasst. Die Schleife foppte ihn, war wie ein Steckbrief und wie Verhaftung zugleich.
Der Gärtnerbote sah in sein verstörtes Gesicht. »Das ist für einen der Eiflers«, sagte er, »da sind es direkt vier Stück geworden von der Familie.«
Werner hörte nicht mehr hin; der Gärtner ging weiter, gewichtig sein buntes Bündel vor sich tragend. Viele Leute kamen nun vor ihre Türen. Immer wieder trat einer auch auf die Straße und bat, die Schleife lesen zu dürfen. »Unserm unvergesslichen Adolf« lasen die Leute.
Werner rieb sich den Spuk von den Augen und beschloss, nun doch zum Parteilokal der Kommunisten zu gehen. Dort erfuhr man etwas Neues. Vielleicht konnte man sich doch einen Rat holen.
Das Radio schmetterte einen Marsch, als er eintrat; es war ein deutscher Sender angestellt. Werner ging zum Büfett und überschaute den kleinen Saal. Fast alle Tische waren besetzt. Viele hatten sich einen Becher Bier gekauft; sie tranken ihn sparsam und mit Vergnügen. Man hörte, dass sie von dem Unglück sprachen.
»Der Simon könnte euch darüber erzählen. Er wird mich besuchen morgen. Man muss das in die Zeitung bringen. Der Graben ist noch immer nicht überdeckt«, sagte ein Arbeiter zu den aufmerksamen Genossen.
»Das ist da oben gegen Elversberg zu. Ich kann’s euch zeigen. Er hat ein Streichholz hineingeworfen, das gab dann eine mächtige Zündflamme. Und als er’s meldete, da haben sie ihm zwei Zigarren gegeben und haben gesagt, er solle darüber nicht reden.«
Die Männer um den Tisch nickten zustimmend. »So sind sie, und hinterher schicken sie dann - Untersuchungsausschüsse.«
»Das ist ja nur ein Beispiel«, sagte der berichtende Arbeiter. »Das erzähle ich ja auch nur deshalb. Natürlich war nichts als Benzol in dem Abflussgraben, und wahrscheinlich ist auch jetzt noch welches drin.«
»Ach Mensch«, meldete sich ein anderer, dessen Stuhl dicht an Werners Schenkeln stand, »du musst doch nur hören, wo die Ingenieure waren, wie es geknallt hat. Einer saß mit einem Abnehmer im Kasino, ein anderer beim Friseur.«
»Die hatten vielleicht keinen Dienst«, meinte ein älterer Arbeiter.
»Jeje, geh weg«, protestierte die Runde. »Musst die auch noch entschuldigen! Es gehört sich auf keinen Fall, dass man Arbeiter am Gasometer Schweißarbeiten machen lässt ohne Aufsicht von einem Fachmann.«
Der ältere Arbeiter wagte noch einen Einwurf: »Die Gasfachleute haben in die Zeitung gesetzt, dass am Trockenbehälter ruhig mit Schweißern gearbeitet werden darf, das wäre polizeilich erlaubt.«
Der wild ausbrechende Hohn der Arbeiter machte den Mann verstummen: »Natürlich ist es erlaubt, uns in die Luft zu sprengen. Wir sind ja nicht mehr wert. Red du denen nur nach dem Maul! Polizeilich erlaubt? Der Gasometer ist vielleicht nicht geplatzt, was?«
Werner hörte das Gespräch nur noch mit halbem Ohr. Der Lautsprecher hatte ihn eben alarmiert: »Wir übertragen jetzt die Richard Wagner-Feier aus dem Leipziger Gewandhaus, die in Gegenwart des Herrn Reichskanzlers Hitler stattfindet...«
Werner starrte auf den Apparat. Störungsgeräusche krachten, dann kam neue Musik aus dem großen Brett; eine pathetische Musik; feierliche Choräle, übergehend in schrille Disharmonien, die nach immer wieder gelingenden Fortissimi endlich besiegt wurden durch dunkle, sakrale, breit hingezogene Posaunenchöre. Das Parsifalvorspiel.
Werner hatte die Ankündigung gehört. Er ist also in Leipzig, dachte er. Er wird also nicht kommen. Dienstag ist die Beerdigung. Heute ist Sonntag. Mit dem Flugzeug ginge es noch. Er fliegt immer. Es sind noch anderthalb Tage. Werner lachte plötzlich wieder verächtlich: Musik hörte er sich an. Das sind ihre Sorgen. Vierzehn Tage an der Regierung, und sie kaufen sich Autos und sitzen im Konzertsaal.
»Was machst du denn hier?« Werner schrak zusammen; Hermann, der politische Leiter des RFB stand vor ihm. Werner wurde rot im Gesicht, fühlte sich ertappt, lachte abweisend: »Glas Bier trinken, was sonst!« antwortete er und sah dem jungen Arbeiter fest in die Augen. Der weiß etwas, bildete er sich ein. Ja, es war auch so. Karl hatte gequatscht. Wie ich den verhaue! Übrigens hat er mir nichts zu sagen. Ich bin nicht in ihrem Verein.
»Komm mal raus!« sagte Hermann. »Muss dir was erzählen.« Er hat mir nichts zu befehlen, wiederholte Werner, aber die Autorität des Organisierten war größer. Langsam folgte der große Bursche. Mich kriegste nicht herum, dachte er trotzig.
Hermann wartete im Hof bei der kleinen Treppe, die zu einem Waschraum führte. Der strenge Geruch eines Pissoirs stand in dem verwinkelten Hofraum. Ein dünner Regen überzog die Zementplatten. Durch die Fenster kam das unechte Pathos eines Redners der Leipziger Feier.
»Was denkst du dir eigentlich dabei?« begann Hermann unvermittelt.
Werner sah, dass alle Ausflüchte umsonst waren:
»Woher hast du denn das?«
»Das kommt hier nicht in Frage, ich will nur wissen, ob du unserer Partei damit absichtlich schaden willst?«
Werner wollte lospoltern: Partei? Was hab ich mit Eurer Partei zu tun? Ich bin nicht Mitglied der Partei, ich kann tun, was ich will. Ich will losschlagen, sonst nichts. Wie es die Nazis seit Jahren machen! Die SA! Wären sie denn soweit, wenn sie nicht immer losgegangen wären?
Aber vor Hermanns ruhigem Blick verflossen ihm die Argumente.
»Ich will euch nur eins sagen... « meinte Hermann.
»Sag nicht euch,« knurrte Werner, »was heißt das: euch? Mit dem Karl will ich nichts mehr zu tun haben. Und was tut denn eure Partei?«
»Schön, reden wir allein! Du musst dich gar nicht so erhaben fühlen über unsere Partei. Da sitzen schon Leute, die weiter denken. Meinst du, die wollten nicht losschlagen, wenn die Zeit da ist.«
Werner gefiel der Ton plötzlich nicht: »Na, warum schlagen sie dann nicht los?«
»Darüber muss man sich eben hier den Deetz anstrengen«, sagte Hermann und klopfte an die Stirn. »Aber hier können wir nicht reden.«
Die Tür zum Lokal ging auf; ein Gast kam langsam aus dem Wirtssaal. Das Radio wurde wieder lauter: »Gerade mit der Stadt Leipzig war das Leben des Meisters hervorragend verbunden... « Der Mann ging in das Pissoir. Die beiden jungen Männer schwiegen; man hörte den Mann in dem Verschlag ausspucken. Sie gingen die kleine Treppe abwärts zur Waschküche.
»Das mit dem Losschlagen«, sagte Hermann, »ist nicht so einfach. Also, ich weiß, du bist so ziemlich das beste, was wir unter den Sympathisierenden haben. Nun stell dir mal vor, du hättest da übermorgen wirklich geschossen. Auf dem Kirchhof wahrscheinlich. Mitten unter den ganzen Leuten. Was glaubst du wohl, was sie aus dir gemacht hätten?«
Werner glaubte, wieder Oberwasser zu bekommen. Er lachte: »Das wär also das Wichtigste, was? Dass sie mich gelyncht hätten, was?«
Aber Hermann verbesserte sich sofort: »Nein, nein, von deiner Wichtigkeit ist gar nicht die Rede. Aber sie hätten behauptet, dass du zu den Kommunisten gehörst. Und du bist doch auch schon dicht dabei. Du denkst gar nicht daran, was dann passiert wäre?«
Werner verzog das Gesicht. Hermann fasste ihn am Knopf seiner Jacke. Es wurde ihm warm ums Herz vor diesem wilden Draufgänger. Das war guter Stoff. »Hör mal zu«, sagte er freundlich, »weißt du, dass man keinen ungünstigeren Platz aussuchen kann, als so einen Friedhof, an so einem Tag. Ich muss dir das sagen; das wäre gar keine politische Tat mehr gewesen, sondern eine Schweinerei. Eine Leiche bei all den vielen Särgen. Du kannst totensicher damit rechnen, dass am nächsten
Tag in der Zeitung gestanden hätte: die Kommunisten hätten sicher auch die Explosion hier auf dem Gewissen. Die Partei wäre verboten worden, der Sturm aufgelöst, IAH, Rote Hilfe, alles weg! Und jetzt kommt das Schlimmste! Im Reich! Hast du gar keine Ahnung, wie gut die Partei in diesem Wahlkampf steht? Meinst du, die Nazis wären freiwillig mit den Stahlhelmern gegangen? Aus Zwang sind sie gegangen, weil sie allein es nicht schaffen können... Die Partei wird mächtig wachsen. Ja, jetzt fällt endlich der Groschen. Du meinst, sie denken nicht bei uns. Und jetzt stell dir noch mal vor« - Hermann hob seine Stimme und achtete nicht mehr darauf, ob ihn noch jemand hören würde - »wenn man uns jetzt nachsagen könnte, dass wir für individuellen Terror sind. Mensch, darauf warten sie ja nur! Die werden so etwas vielleicht noch erfinden vor der Wahl, nur um unseren Wahlsieg unmöglich zu machen - -«
Werner hob den Kopf. Bis dahin war ihm alles unangenehm klar geworden, es war eine große Dummheit. Aber jetzt schlug es wieder um: wenn sie sich etwas dergleichen erfinden, dann können wirs ja auch gleich tun.
»Du meinst, dass sie ein Attentat inszenieren?« fragte Werner. »Na und dann ist es vielleicht nicht besser, wir machen’s selber und haben wenigstens was davon?«
Nun rannte ihm Hermann die Faust in die Seite. Werner sah in ein fanatisches, strenges Gesicht.
»Werner«, sagte Hermann - sein Ton war jetzt völlig verändert -, »ich frage dich als Arbeiter. Ich weiß, du bist noch nicht bei uns, aber ich frage dich trotzdem, willst du der Partei schaden oder ihr helfen? Es gibt nur eins von beiden. Die Zeit ist nicht zu Abenteuern da. Wir dürfen nicht losschlagen, wenn ihre Stellung zu stark ist. Erst recht aber keinen Einzelwahnsinn, verstehst du?«
Werner sah an Hermann vorbei auf die Eisentreppe. Ein Tropfen lief an dem Geländer abwärts, schluckte die feine Regendecke ab, lief schneller und purzelte dann über den Griff zu Boden. Natürlich muss es Zweck haben, dachte er; wenn wir keine Massen damit kriegen, hat es keinen Zweck.
»Laß mal«, sagte er und wehrte mit der Hand die allzu schroffe Frage ab. »Ich muss zuerst noch etwas wissen: seid ihr für den Kampf oder nicht?« Sofort schüttelte er den Kopf: »Quatsch, so meine ich das nicht - ich will nur wissen: wird man uns rufen oder nicht?«
Er machte eine Handbewegung zur Hintertasche und ärgerte sich, dass er sich verraten hatte.
»Wir rufen immer zum Kampf. - Heute, morgen und auch wenn’s ums Ganze geht«, sagte Hermann in unverändertem Ernst. »Aber was anderes sage ich dir: wenn du kein Zutrauen zu mir hast - oder meinst du, ich möchte nicht am liebsten die ganzen Kerle hier und dort über den Haufen knallen, dieses Gesindel, das den Arbeiter betrügt und ihn bestehlen wird, wie wir es noch nicht erlebt haben, glaubst du, ich wüsste nicht, dass mal diese Stunde kommt. Aber wir müssen vorbereitet sein. Wir müssen die Mehrheit der Arbeiter haben. Und nicht sie in Katastrophen jagen.«
Er fasste das Geländer an, als wollte er es schütteln: »Was hast du für eine Vorstellung vom Klassenkampf! Laß dir das sagen: Millionen von Arbeitern klarmachen, ihnen beweisen, dass sie nur organisiert es zu etwas bringen, dass sie alle falschen Ideen sich aus dem Schädel reißen müssen, dass sie gemeinsam marschieren müssen, in vielen Kämpfen, in vielen Niederlagen, aber immer weiter und immer zusammen, nie allein - und dann kommt der Tag, wo sie in jeder Stadt zu Zehntausenden losmarschieren in die Gaswerke, auf die Bahnhöfe, in die Rathäuser, zu den Kasernen, vor die Gefängnisse - Mensch, wenn man das so vor sich sieht und weiß, dass es nur so geht und wie schwer das ist und wie viel wir da noch zu leisten haben! Und du willst da einen Kerl umlegen? Einen Kriminalroman machen, wo man ein paar Millionen zum marschieren bringen soll? Du hast hier alle Arbeit schon gemacht? Brauchst auf uns nicht mehr zu hören? Und wenn’s mal kritisch wird, dann macht man seinen Privatladen auf? Weißt du, weil du soviel nach der Partei fragst: für mich ist sie Alles, gerade wenn’s kritisch ist, und da braucht sich keiner zu schämen, wenn er alles auf eine Karte setzt und auch Vertrauen hat und auch stirbt dafür. Aber nicht so, nicht so, nur um was gemacht zu haben. Wir sind nicht allein und wir dürfen auch nicht allein sein. Und wir werden auch nicht allein sein! Verstehst du? Glaub mir schon! So sieht’s aus!«
Werner hörte den Freund mit wachsendem Erstaunen an; nie hatte er eine solche Erregung in dieser Stimme gehört, gerade das aber brauchte er in dieser Stunde. Keinen selbstgefälligen Berater, für den alles und immer in Ordnung war, wenn’s in der Zeitung gestanden hatte.
Noch ging das alles ihm nicht ein, aber er hörte den Ton, den
Glauben, den Ernst. Er konnte nicht antworten. Es war nur die Tat, die ihn ganz wachrief. Er drehte sich um, ob niemand aus dem Fenster sah, dann fasste er in seine Gesäßtasche und zog den Revolver heraus:
»Da, steck ihn ein!« sagte er.
Der Kommunist sah ihn an und lächelte; er verstand die Geste, und sie rührte ihn. »Behalt ihn nur«, sagte er.
Als sie in die Stube traten, war der Bericht der Wagnerfeier schon abgelöst durch Tagesnachrichten: der Reporter erzählte von dem holländischen Meutererschiff »Zewen Provinzien«, das sich auf Bombenwurf ergeben habe, im Gefangenenlager an Land sei immer noch Unruhe. Dann lachte Werner plötzlich auf: der Sprecher gab bekannt, dass die Reichsregierung auf der Neunkirchener Beerdigung nicht durch den Herrn Reichskanzler, sondern durch Herrn von Papen und Herrn Seldte vertreten werde.
Werner beugte sich vor zu Hermann: »Adolf hat Angst herzukommen«, sagte er, »Angst vor der deutschen Saar.«

Werners Vernunft hatte einen Tag gedauert. Am Beerdigungstag zerbröckelte sein Entschluss. Noch war er nicht belehrt, wie es dem Problem gebührte.
Am Beerdigungstag saß er in der Küche der kleinen Wohnung, die er mit seiner Mutter teilte, und las. Ein Roman aus der russischen Revolutionsgeschichte war ihm in die Hände gefallen, ein Kamerad hatte die Teile ausgeschnitten aus der Berliner Illustrierten; es war die Geschichte vom Terroristen und Spitzel Asew. Werner las und konnte nicht aufhören. Die Stadt Neunkirchen war in wilder Aufregung, die Mutter war schon vor Stunden zu Bekannten gegangen, um einen guten Fensterplatz zu erwischen. Werner las, wie man früher gearbeitet hatte. Ja, das war gute Arbeit!
Da lagen sie, die Ministerpräsidenten; unter den Schlitten hatte man die Bomben geworfen; ein Krach riss den Kasten aus der raschen Fahrt in die Höhe, die Pferde schrieen, eine Feuerkugel brannte auf, der Kutscher sank vom hohen Bock, und dann war alles nur noch ein Trümmerhaufen; der Ministerpräsident hing an den Straßenwänden, und in der Mitte, unter dem krepierenden Pferd, lag ein blutiger Kleiderhaufen mit dunklen Brocken Mensch gefüllt, der Galakutscher. Der Zar wartete vergeblich auf seinen Minister; wunderbar! Die Höflinge zitter-
ten, bis sie Ihrer Majestät die Wahrheit zu sagen wagten. Und dann jagten schon die Ochranatiger in der Stadt herum und suchten die Bösewichter, die mal wieder gezeigt hatten, was sie konnten. Es war immer nur eine Handvoll. Siehst du, dachte Werner, man brauchte gar nicht mehr. Für die anderen schien es doch eine ganze Armee zu sein, weil sie eben nicht zu fangen war, weil man sie nie alle erwischte.
Schon während des Lesens hatte er nach seiner Pistole gegriffen, hatte sie vor sich gelegt, weitergelesen und mit der Sicherung gespielt, während die blutigen Zeilen unter seinen Augen wegliefen. Plötzlich war er aufgestanden. Glocken kamen aus dem grauen Morgen. Noch standen die Särge in den Kapellen und Krankenhäusern. »Sie brauchen gleich noch einen Sarg«, murmelte er verstört und tonlos. Einen silberbeschlagenen mit der Baronskrone drauf. Jetzt hielten sie die Totenmesse. Bimbam bum. Die Kirchen jammerten. Ein Sarg ist zu wenig. Bimbam bum. Ich hole euch noch eine Leiche. Sie vertritt eine bessere, die nicht gekommen ist. Bimbam bum.
Werner lief zum Kirchhof hinauf. Vielleicht ist alles nicht wahr, ich träume das Unglück, ich träume den Hitler, ich träume diesen Glockenlärm. Bimbam bum. Du sollst nicht töten. Jawohl, aber gerade das sollte zuerst Herr von Papen berücksichtigen.
»Was wollen Sie hier? Hier ist gesperrt!« Werner war so überrascht, dass er erschrak und keine Antwort gab. Der Landjäger war schroff aus der Kirchhoftür getreten. Hinter ihm sah man Gärtner mit Spaten laufen. Der Landjäger stellte sich breit vor die Tür. Als wenn ihr ein Verbrechen zu beschützen hättet, dachte Werner und sah in den Totenacker.
»Scheren Sie sich weiter!« brüllte jetzt der Landjäger. Bimbam bum wimmerten leise die Glocken. Spatenstiche krachten dazwischen. Sie verscharren heimlich Ermordete, dachte Werner und ging langsam weiter. An der nächsten Tür hielt ihn ein anderer Landjäger fest. »Haben Sie eine Zutrittskarte?« fragte er.
»Ich bin ja noch nirgends«, antwortete Werner und suchte den Knopf seines Rockes aus dem Griff des Uniformierten zu reißen.
»Lassen Sie sich hier nicht mehr sehen«, sagte der Landjäger und hob die Säbelscheide. »Sonst machen wir dir Beine.« Und schon schlug der Mann ihm hart den Säbel an die Knie.
Dazu müsst ihr erst Grund haben, dachte Werner, aber das Blut schoss ihm in den Kopf. So sind sie, so sind sie, heulte er und dachte an den Freund. Schwer vor Wut wandte er sich ab. Ich werde euch Grund geben, mich zu jagen.
Alle Gegengründe flogen auf wie gescheuchte Vögel. Jetzt weiß ich, dass es Sinn hat. Wie viel von euch sind denn auf Wache gestellt? Die großen Herren sorgen füreinander.
Er sah über der Kirchhofsmauer einen dritten Landjäger erscheinen. Euch allen wird es schlecht gehen, wenn ich’s geschafft habe. Jeden von euch Halunken treffe ich. Seine Wut verwirrte ihn völlig.
Langsam trottete er nach Hause. Er war so voller Gift, dass er sich hinlegen musste. Die Hand sollte ruhig bleiben zum Schuss.

Er erwachte wieder vom Geläut der Glocken. Der Trauerzug war schon im Gang. In zwei Minuten hatte er eine Straßenecke erreicht, an der sie vorbeikamen. Da standen sie schon, mussten halten, weil die Spitze nicht weiterkam. Werner drängte sich durch das Spalier der Menschen; er hatte einen Schulfreund im Zug erkannt. »Laß mich mal rein«, bat er und stellte sich neben dem Altersgenossen auf.
Entrüstet stieß ihn dieser zurück. »Warum denn nicht?« fragte Werner. Hab ich nicht oben mit aufgeräumt? wollte er fragen. War ich nicht die ganze Nacht dabei? Sechs Leichen sind von mir. Ich gehör doch dazu.
»Hier sind nur Vereine«, erklärte fast feierlich der andere; dann sah er auf Werners Rock: »Und außerdem bist du ja gar nicht angezogen.«
Das klang wie ein Todesurteil. Inzwischen setzte sich der Zug in Bewegung, und Werner blieb am Rand der Straße stehen. Ein Lachen kam ihn an. Man brauchte Eintrittskarten und einen schwarzen Anzug. Ein Vereinsabzeichen oder ein Papier, dass man Minister war. So meinte es der Prolet. Nein, kein Spießbürger, ein Arbeiter hatte es gesagt. Ein Arbeiter dachte so. Werner stand am Straßenrand und ließ den Trauerzug vorbeigehen. Der Freund fiel ihm wieder ein. Da kroch die Wahrheit heran. Die Straße hinauf schlich sie. Werner sah den Zug hinab. Tausende trotteten auf ihn zu, an ihm vorbei.
Da, die Herren vom Werk! Pfiff keiner die Mörder aus? Die stehende Menge wisperte, nannte mit Ergebenheit Direktorennamen.
Kriegervereine kamen mit dem Trauerflor um die Stange. Herr von Papen war ihr Ehrenpräsident.
Blaue Polizisten, gelbe Landjäger, weißbemützte Sanitäter, messingblanke Feuerwehrleute neben den vollgeladenen Leichenwagen. Die Menge auf den Trottoirs genehmigte die Uniformen mit Kopfnicken. Das war bunter, als wenn die Werkkameraden den Sarg begleitet hätten, die Kumpels der Hütte.
Ein Geraune ging jetzt los. Man stieß Werner an. Er sah alle Köpfe aufgeregt verdreht. Da kamen Zylinder. Werner fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Da kam die Regierung. Er erkannte Papen. So ein Gesicht vergisst man nicht.
Werner sah auf die Menschen an beiden Seiten der Straße, sah, wie sie sich auf die Zehen stellten, Arbeiterfrauen, Proleten. Werner wollte brüllen: Der da hat euch Hitler gebracht, Notverordnungen. Hunger und Terror.
Wisst ihrs wirklich noch nicht?! Plötzlich sprach er wie der Freund. Nur an die Arbeiter dachte er, glühend waren seine Backen.
Die Zylinder waren jetzt schon ganz nah. Aber Werner sah nicht mehr auf die Minister, er sah nur noch die Menschen an. An den Fenstern lagen sie und zeigten scheu mit Fingern auf die Zylindermänner. An den Schultern der Vordermänner hielten sich die hinten Stehenden fest, um einen Augenblick dem schwarzen Herrn ins Gesicht sehen zu können. Kein Pfiff, nur Staunen und stummer Respekt.
Werner beugte sich endlich der Erkenntnis: Ein Schuss ins Leere wäre dieser Schuss. Nichts würde darauf folgen. Keine hundert Mann würden sich auf meine Seite stellen. Der Prolet war noch taub. Er würde den Schuss nicht hören, würde nur erschrocken sehen, dass einer der Herren zusammensackte.
Werner nahm die Hand aus der Tasche. Papen ging vorbei mit Leichenbittermiene, als sich der junge Erwerbslose durch die Gaffenden wieder nach hinten drängte. Es war Werner, als erstickte er plötzlich in all den Menschen; er begriff jetzt, wie fremd sie waren, wie rasch man sie mit einer Feier betrog; die Mauer sah er, die einzureißen war, damit sie erst einmal sich selbst erkannten. Er stieß durch die Menschen und atmete befreit auf, als er in der leeren Seitengasse stand.
Der Zug stapfte mit langsamen, knarrenden Leichenwagen, mit Uniformen, Priestern und Ministern zum Friedhof. Werner saß zu Hause, heilsam belehrt.
Am Berg war sie ausgehoben, die weite Grube für vielfachen Tod. Neunundsechzig Särge unter grauem Februarhimmel, gefüllt mit erstickten Kindern, zerfetzten Frauen, verbrannten Männern.
Der Weihbischof Dr. Nonne hob seine Stimme über die Weihrauchwolken, die der Definitor Beißnagel, Gebete murmelnd, ausgeschwenkt hatte in die kalte Februarluft:
»Wenn ich aber das Letzte und Tiefste ergründen sollte, warum ein allwissender, ein allmächtiger, ein allgütiger Gott diese Heimsuchung über euch kommen ließ, dann werden wir warten müssen, bis die letzten Schleier von den Augen unseres Geistes gefallen sind. Die Seelen unserer geliebten heimgerufenen Brüder und Schwestern, deren Sterbliches in den Särgen liegt, haben jetzt diese Erkenntnis und sind nicht mehr im Zweifel, dass Gottes Weisheit auch bei ihrem plötzlichen Tod alles gelenkt hat... «
Vor der Reihe der protestantischen Leichen, gerade gegen­über der katholischen Grube, stand der Superintendent Dr. Boltendoff. Er ist viel politischer als ich, dachte der Protestant; er geht aufs Detail. Er wird einen besseren Eindruck machen.
An der Querseite der Saargruben stand die Regierung der drei Länder, der Franzose Paganon, der Saarpräsident Knox und die Reichsminister von Papen und Seldte. Sie hielten den Zylinder in den behandschuhten Händen. Sänger in Bratenröcken waren neben ihnen aufgepflanzt. Ein Wald von Fahnen rahmte die Särge; Feuerwehrmänner packten das Absperrseil mit frierenden Fäusten. Der Geruch der Kränze stieg betäubend in die Luft.
Ob es richtig gewirkt hat, dass wir selbst kamen, dachte der Vizekanzler von Papen. Die Pressekonferenz nachmittags in Saarbrücken wird es erweisen.
Der Arbeitsminister Seldte zählte behutsam mit den Augen die Särge. Er war glücklich, dass er keine Reden zu halten brauchte. Man müsste sich erkundigen, dachte er gelangweilt, ob ein Frontsoldat darunter war, und einen speziellen Brief vom Stahlhelm schreiben lassen.
Paganon dachte an das Unglück auf Grube Maybach: Man steht lieber am Grab, für das man nicht direkt verantwortlich ist. Hieraus wird man uns keinen Strick drehen können. Er überflog die Bänder der Kränze; man hatte sich sehr angestrengt. Eine französische Spende erscheint mir doch nötig,
dachte der fremde Arbeitsminister. Die Deutschen nehmen es ja auch auffallend wichtig. Er sah zu dem Bischof hinauf; wie fremd war diese Sprache, wie anders das Pathos des Tons! Der Fahnenwald, die Pompiers, die Vereinsmützen, die Bratenröcke, man war wahrhaftig in einem ganz anderen Land. Paganon spürte, wie weit das alles von Paris entfernt war.
Der Bischof sprach:
»Soll der vergangene Freitag nicht auch deswegen gekommen sein, damit wieder einmal in unserer Zeit des Eigennutzes und der kalten Selbstsucht die enge Verbundenheit der Menschen in helles Licht gerückt werde? Ich denke an die heldenmütige Berufstreue der Feuerwehren, der Männer vom Roten Kreuz, der Polizei, der Behörden. Ich denke an die unbedingte Bereitschaft der Ärzte, der Krankenschwestern, der Geistlichen, aller die Verwundeten pflegenden und betreuenden Kräfte.«
Wir haben die Saar nicht erobert, dachte Paganon, und wir werden sie nicht erobern. Er suchte neben sich das glatte Gesicht des Saarministers und Landsmanns Morize. Er fand das des langgewachsenen Kanadiers Knox. Paganon glaubte in dieser Minute etwas einzusehen. Vor den langen Reihen der Särge verstand er plötzlich, dass die Saar nie freiwillig sich zu Frankreich bekehren würde. Er sah die Uniformen und den Ernst der frierenden Reihen. Wie sie alle strammstanden! Die Fahne stach aus den Fäusten. Preußen, Vereinsbrüder, keine Bürger, dachte er. Der Demokrat wurde stolz. Sie waren am Grab, an diesem Grab sogar noch Soldaten.
Ein gellender Aufschrei übertönte die Predigt des Bischofs. Das wahre Leid schrie. Sanitäter zwängten sich durch die Vereine zu den Reihen der Hinterbliebenen. Eine Arbeiterfrau war zusammengebrochen; sie sah mit brechendem Auge auf all die fremden Menschen. Keinen kannte sie. Es waren ja auch keine Arbeiter. Als sie zusammensackte in den schwarzen Reihen, kam dieser einen das Bewusstsein, wie leer es um sie war trotz all dieser Tausende von redenden Männern und Priestern. Die Kameraden, mit denen der Tote zur Schicht ging. Die Jungens, die nachts aufgeräumt hatten, die ihn gefunden hatten. Wo waren die? Sie erinnerte sich an die Leiche: Für immer tot. Für immer allein. Ihre Knie brachen nach unten.
Der Bischof ließ sich nicht unterbrechen.
»Unser Glaube lehrt, dass unsere lieben Verstorbenen wegen
geringer Fehler im anderen Leben die Schuld tilgen können und wir zu helfen vermögen... «
Die Glocken der Stadt setzten eben wieder ein und füllten die feuchtkalte Luft mit ihrem jammernden Lärm. Der Bischof schloss seine Rede. Ein Kirchenchor rückte dichter zusammen mit Notenblättchen in den Händen, ein Lehrer im Cutaway trat in die Mitte der Särge und hob einen schwarzen Taktstock. Der Kirchenchor sang, umgeben von den geistlichen und weltlichen Würdenträgern, den Feuerwehrleuten, Vereinsbrüdern und schluchzenden Hinterbliebenen, ein letztes Lied. Die Chauffeure an der Kirchhofmauer warfen die Motore an. Die Neugierigen vor den Mauern drängten an den Eingang des Friedhofs, um wenigstens jetzt einen der hohen offiziellen Herren zu sehen.
Langsam kamen die Zylindermänner heraus. Sie unterhielten sich. Fast wunderte man sich, dass sie menschliche Stimmen hatten. Sie grüßten und sahen sich nach ihren Wagen um. Die Chauffeure liefen. Die Herren stiegen ein.
Drei Regierungen entfernten sich von den Särgen von siebzig Proleten. Die Leichen waren zu Grabe getragen und mit ihnen - so hofften sie alle drei - die Empörung der Arbeiter. Sie gingen zurück an ihre Arbeit. Monsieur Paganon zur Revision ins Saarbrückener Bergwerksamt. Mister Knox in sein Saarbrücker Schloss, um einen Dankbrief an den Neunkirchener Bürgermeister zu entwerfen. Herr von Papen ins Gebäude der Regierungskommission, wohin er die gesamte Saarpresse eingeladen hatte. Papen wartete. Aber nur die Redakteure der »Saarbrücker Zeitung« kamen; sie kamen, wie die Eingeweihten sagten, zu ihrem neuen Brotgeber. Alle anderen fehlten.
Der Kampf um die Saar trat in seine letzte und heftigste Phase.

Die Provokation

Der pfälzische Gauleiter der NSDAP kam überraschend mit seinem Privatauto nach Saarbrücken zu dem nationalsozialistischen Führer Vitriol. Sie standen sich gegenüber in einem kleinen Salon und betrachteten sich eine Weile mit verlegenen Blicken.
»Ist dieses Zimmer dicht?« fragte dann der Pfälzer den saarländischen Parteigenossen.
»Wir sind bei Freunden. Es ist niemand im Haus als eine Wache.«
»Gut, hören Sie. Eine unerhört wichtige Aufgabe. Der Kurier von Berlin mit höchster Weisung. Es muss vor der Wahl etwas steigen. Die Kommune rückt uns auf den Leib. Berlin will, dass die Saar an der Wahl mitarbeitet. Der Plan ist gefährlich. Wir müssen beweisen, was wir können. Um kurz zu sein -wir sind wirklich allein?« Der Pfälzer sah sein Gegenüber durchdringend an, streifte dann die Türen, die zu den Nachbarzimmern führten, mit misstrauischem Blick. Der Saarländer lachte, ging aber doch zu einer der Türen, und riss sie auf: »Hier ist ein Wintergarten. Der Zugang vom Garten ist bewacht.«
Man sah auf Zimmerpalmen, einige Geweihe an den Wänden und die beschlagenen Scheiben der Veranda. »Und hier« -der Saarländer ging durch das Zimmer und öffnete die zweite Tür - »ist mein Arbeitszimmer, das nur durch diese Tür zu erreichen ist.«
Der pfälzische Gesandte war zufrieden: »Es müssen Aufstände organisiert werden. Wir haben heute den 16. Februar. Bis zum 27. muss es hier Krawalle geben. Verstehen Sie! Vielleicht gelingt es auch drüben im Reich. Aber es ist unsicher, die Kommune hält Disziplin; und die Führung hat strenge Anweisung von Moskau, keine Terrorakte zu dulden. Sie rechnen mit großem Stimmengewinn. Berlin aber kann nicht warten. Verstehen Sie? Nein? Also etwas deutlicher: es sind sofort alle Verbindungsleute zur Kommune zu alarmieren. Man muss dem RFB einreden, dass die SA einmarschieren will. Man muss an den Reichsjammer heran. Es gibt auch da genug Kerle, die losschlagen wollen. Drittens: die christlichen Verbände. Sie sind schwach hier. Aber man kann da nachhelfen. Am 20. spricht Brüning in Kaiserslautern. Meine Leute werden angreifen. Es wird wohl nicht ganz unblutig hergehen. Das wäre dann auszunutzen, haben Sie verstanden? Nein? Also seien Sie nicht so fad! Die Saar soll ihre kleine Revolution haben. Wir glauben nicht, dass die Franzosen eingreifen werden. Die Regierungskommission ist ausreichend. Wie es ausgeht, interessiert auch vorläufig nicht. In jedem Fall denkt man sich in Berlin die Sache so: die Kommune wird einzelne Gemeindehäuser besetzen. Ein paar Landjäger werden draufgehen. In Völklingen werden sie vielleicht die Röchlingsche Villa belagern -«
Was nichts schaden könnte, dachte der saarländische Nazi, er hasste den Industriellen, aber er sagte fürs erste noch nichts.
»Wie ich die Erwerbslosen kenne«, fuhr der Pfälzer fort, »werden sie die Parolen zur Plünderung der Geschäfte gut befolgen. Man wird plündern. Es kann nichts schaden, wenn auch Attacken auf das Regierungsgebäude versucht werden. Innerhalb vierundzwanzig Stunden wird der Belagerungszustand verhängt werden. Wenn die Ereignisse in kleinen Einzelaktionen ersticken, ist nachzustoßen. Sie haben zweifellos Leute, die Sie jederzeit der Kommune zuschreiben können? Gut! Die kommen dann in Frage. Ich meine, wenn es nur nach kleinem Übergriff aussieht. Dann hat nämlich auch der Eingriff in die internationale Frage zu erfolgen. Denken Sie sich beispielsweise irgendeinen prominenten Franzosen; vom Bergwerksamt oder von der Regierung. Wenn er umgelegt würde, wäre für Frankreich der Einmarsch von Forbach aus selbstverständlich. Ich sehe, Sie staunen, verstehen Sie nicht, um was es sich handelt?«
»Warum soll ich nicht staunen? Das ist doch alles, als wenn einer einen schlechten Traum hätte. Wozu soll das führen? Wirklich, ich verstehe vorläufig noch gar nichts.«
»Was nur beweist, dass Sie noch viel lernen müssen, werter Parteigenosse. Lernen von unserem Propagandaminister, von Ihrem Ministerpräsidenten, um gar nicht vom Führer zu sprechen. Im übrigen ist dies ein Befehl. Ich bitte Sie darum, nicht zu zweifeln, dass man sich das oben gut überlegt hat. Für Sie handelt es sich nur darum, die Chose Ihren Ortskenntnissen entsprechend auszuführen.«
Der Saarländer hörte den drohenden Ton; er begriff, dass sein Amtskollege ihn zu missachten begann. Es war kein Zweifel, dass hier eine Gelegenheit gegeben war, Besonderes zu leisten. Er straffte seine Gedanken; wenn es nur so rasch zu begreifen gewesen wäre. Aber warum der Einmarsch der Franzosen, die als erstes den ganzen Bezirk nazirein machen würden? Warum eine Lynchung von Landjägern, an deren Zersetzung man nun seit Monaten gearbeitet hatte? Der Saarländer sah die Details, wie sie der Spezialist sieht; er sah seine Arbeit bedroht und ahnte zugleich die günstige Gelegenheit zum groß angelegten Husarenstreich.
»Ich staune natürlich«, sagte er dann mit gespielter Sicherheit. »Der Plan verrät den Propagandaminister. Entschuldigen Sie, werter Parteigenosse, dass ich schon in den Details bin, die Schwierigkeiten muss man doch abwägen. Das ist eine Schlacht. Und es geht um mein Gebiet.«
»Es geht um Deutschland«, erwiderte schroff der Auftraggeber. Er stieß den Landesnamen mit grober Stimme heraus.
Der Saarländer kniff die Augen zu in plötzlicher Wut. War dieser Pfälzer vielleicht mehr als er, dass er ihn so anschnauzte? Als wenn man mich an Deutschland erinnern müsste!
Er wollte zurückbrüllen, aber im letzten Augenblick fiel ihm Berlin ein. Sein Gegenüber war in diesem Augenblick wirklich mehr als er; er war Kurier des Führers; übrigens kam das alles entweder von Goebbels oder von Göring.
»Berichten Sie weiter«, sagte er ruhig. »Zuvor nur eine Frage: zu was soll es gut sein, wenn die Franzosen hier einmarschieren und die Bevölkerung von Plünderern erretten?«
Der Pfälzer spürte die Unterwerfung, denn die Frage war schon in ergebenem Ton gestellt; sie war nebenbei auch nicht dumm gestellt; man setzte viel aufs Spiel. Aber im Gesamten gesehen, lohnte sich eine Provinz. Es ging um die Macht. Hinterher konnte man weitersehen.
»Gewiss wird das alles uns an der Saar sehr schaden. Aber nur kurze Zeit. Denn inzwischen: vergessen Sie das nicht, lieber Freund, inzwischen haben wir die Macht drüben. Und nun stellen Sie sich vor, was wir dort vor der Wahl noch arbeiten können. Wir können die Kommune ausrotten. Wir können Sie völlig vernichten. Vom 27. an, oder wenn es auch früher schon losgehen wird, kann man mit Radio, mit Presse, mit allem, was wir doch schon in der Hand haben, in das ganze Volk hineinschreien: »Schaut's her! Plündern tun sie.« Und weiter: was kommt dann hinterher? Wiederum: »Schaut's her. Sie holen den Erbfeind an die deutsche Saar.« Das sind zwei Schläge mit einem Tag. Ich habe mir das alles durch den Kopf gehen lassen jetzt unterwegs: es ist ein großartiger Plan. Und wenn wirklich ein Franzose draufgegangen ist, dann können wir auch damit rechnen, dass die Franzosen sich genau so benehmen wie 1919 hier. Sie werden mehr als ein Todesurteil fällen. Sie werden nicht länger als 48 Stunden als die Retter erscheinen. Die Retter werden wir drüben sein. Wir werden die Sehnsucht werden für die Saar. Unser Führer wird das sein für sie alle, was er ja
auch ist: der Retter vom Bolschewismus. Man muss aber nachstoßen, in der Politik braucht man handgreifliche Beispiele. Und was Sie zu machen haben, das ist ein solches handgreifliches Beispiel.«
Der Pfälzer redete sich in eine immer stärker hörbare Begeisterung hinein. Der Saarländer, bedrängt von den Schwierigkeiten, die er vor sich sah, besorgt um seine politische Provinz, erschrak vor dem Befehl, der ihm jetzt ganz deutlich geworden war. Husarenstreich, schön; er hatte sich immer schon einen gewünscht. Aber dieser hatte zu weite Konsequenzen. Undeutlich spürte er, dass er sich wehren müsse; aber er wagte keinen Einwand mehr. Die Aufgabe kam wie ein Feind entgegen. Man musste sich stellen. Die Flucht brachte nichts besseres. Verloren war man in jedem Fall. Der Pfälzer verzog sein Gesicht zu vertraulichem Grinsen:
»Übrigens - ich will das nicht vergessen - brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen um sich selbst. Oder meinen Sie, dass Sie aus diesem Gebiet nicht in ein anderes versetzt werden, wo mehr dabei herauskommt als hier. Sie stolpern die Treppe hinauf, glauben Sie mir das. Ich beneide Sie fast um die Arbeit.«
Der Saarländer fühlte sich überrascht durch die tröstende Versicherung. Aber sie erleichterte ihn wirklich.
»Hören Sie«, meinte der Abgesandte, »im Prinzip sind wir uns einig. In der Tatsache, dass es sehr schnell gehen muss, auch. Also fehlt nur noch, zu beraten, wie mein Gau Ihnen helfen kann. Setzen wir uns! Und gehen wir der Reihe nach alles durch!«

Im Büro der kommunistischen »Arbeiterzeitung« war die erste Morgenbesprechung der Redakteure. Der politische Redakteur stand am Pult und überflog den »Völkischen Beobachter«, in der Hand hielt er, eh ein Kollege sie beschlagnahmen konnte, die Frankfurter. Der Lokalredakteur, ein junger Arbeiterkorrespondent mit blondem Schopf, schnitt schon aus der »Volksstimme« ein Zitat heraus. Zwei andere Redakteure durchstöberten den »Temps« und die katholische »Landeszeitung«. Die Morgenarbeit sollte beginnen.
Einer lachte plötzlich und las: »Protest im Reichsrat - Verfassungsverletzung. Mensch, die protestieren immer noch. Die Mainlinie protestiert.« Er ließ seine Worte in Lachen ersticken.
Die anderen hörten nur kurz zu ihm hin, dann lasen sie weiter. Wer sorgte sich heute noch um eine Rettung von Weimar durch Bayern? Nur Dummköpfe oder Sozialdemokraten.
Ein scharfer Pfiff kam vom Tisch des Außenpolitischen. Ein Pfiff, wie wenn jemand die Schärfe eines Messers prüft und erschrickt.
»Admiral von Levetzow ist Polizeipräsident von Berlin«, sagte der Außenpolitische. Die anderen horchten auf aus ihrer Lektüre. »Den Burschen kenne ich«, sagte einer, »das ist so ziemlich das Brutalste an Preußen, was man sich vorstellen kann.« Der Redakteur sah ernst auf die Nachricht; »Jetzt wird's gut«, sagte er leise. Man hörte das Grauen aus dem Ton seiner Stimme.
»Post!« rief eine Stimme aus dem Nebenzimmer. Sie stürzten alle vier hinaus. Jeder griff nach neuen Zeitungen. Der Chef riss die Briefe auf; Korrespondenzen kamen aus den Umschlägen, Manuskripte mit Arbeiterhandschrift, ein Gedicht. Plötzlich rief einer: »Hört mal zu!« Seine Stimme war beglückt. »Da haben sie gestern Abend in Stuttgart dem Adolf das Rundfunkkabel zerhackt.«
»Hätten sie ihn nur selber zerhackt. Zeig her!«
Der Entdecker der Nachricht strahlte. »Was sagst du dazu«, wandte er sich zu dem Außenpolitiker. »Unsere Jungens sind unterwegs, was!«
»Gehen wir an die Arbeit«, mahnte der Chefredakteur.
Sie verteilten sich in die drei dicht nebeneinander liegenden Zimmer. Im ersten Zimmer war eine Minute Stille.
»Daraus mache ich eine knorke Sache«, sagte dann der eine Genosse zu seinem jungen Gegenüber vom Lokalteil. Es klopfte. »Mensch, das fängt ja früh an heute - herein!«
Ein mächtiger Bursche trat ins Zimmer, sah forschend hinein und ließ die Tür hinter sich offen. Der kalte Wind der Toreinfahrt schlug herein.
»Mensch, mach das Loch zu, die Fliegen erkälten sich.« »Und unsere Kohlen sind sowieso alle«, jammerte ernsthaft der junge Fachmann fürs Lokale.
»Wenn ich wieder raus komme, könnt ihr neue haben - aus meinem Stollen«, antwortete lachend der Bursche.
Die Redakteure sahen ihn fragend an. Der Bursche nahm jetzt die Mütze ab:
»Also - sie haben mich verknallt wegen der Püttlinger Sache.
Vier Wochen muss ich rin. Vom Schnellgericht. Ich habe einen Nazi gebürstet. Wenn ihr was bringen wollt.«
Das Telefon klingelte. »Ja natürlich, Genosse, wart mal.« Der ältere Redakteur ging an das Wandtelefon. Er hörte lange hinein, endlich sagte er: »Wie war noch Ihr Name? Ach so, Genosse, ja sag mal, kannst du nicht mal herkommen?« Die Gegenseite schien das zu verneinen. »Ich schreibe mir's auf, also: Reiner, Burbach, Krumme Straße 4. Ist gut, ich gebs gleich weiter.« Er hing den Hörer ein. »Eine tolle Sache«, meinte er und kratzte sich das schlecht rasierte Kinn. »Muss ich gleich drin sagen.«
»Was ist denn, du, bleib doch mal hier. Erzähl doch«, bat der Lokalredakteur. »Er diktiert schon, stör ihn jetzt lieber nicht.«
Der Redakteur vergaß völlig den Besuch. Er stierte auf den Zeitungshaufen und suchte sich in seinen Gedanken zurechtzufinden.
Der junge Kollege drängte. »Na, dann schieß doch schon los!« bat er neugierig.
»Eine tolle Sache«, murmelte er. »Ein Klempnergeselle hat die Nazis abgehorcht. Sie wollen SA einmarschieren lassen.«
Der Arbeiter an der Tür horchte auf. Die beiden Genossen diskutierten erregt. Er zählte sein Geld in der Hosentasche. Das war eine Trambahn wert. Das mussten die Genossen sofort erfahren.
»Ich geh jetzt doch rein zu ihm«, sagte der Redakteur. Der junge Arbeiter grüßte und ging. Schon im Torbogen lief er.
Der Redakteur kam bald zurück aus dem Nebenzimmer.
»Nun«, fragte der kleine vom lokalen Teil.
Der andere verzog das Gesicht: »Er hat recht, es werden jetzt Enten losgelassen. Man muss sich in Acht nehmen.« Er setzte sich nieder. »Wir sollen abwarten, bis der Klempner herkommt.«

Die »Arbeiterzeitung« schwieg über den geheimen Telefonanruf, denn der Arbeiter Reiner aus Burbach, Krumme Straße 4, meldete sich nicht mehr, und als nach seinem Dienst der Genosse sich das private Vergnügen machte nach Burbach zu gehen, um nachzuforschen, fand er in keinem Haus der Krummen Straße einen Arbeiter Reiner.
Aber am Abend nach dem Anruf gingen in zwei Dörfern oberhalb von Völklingen Patrouillen durch die Straßen. Das
Sturmband um das Kinn gelegt, schritten junge und ältere Arbeiter vor ihrem Lokal auf und ab. Am Rand der Dörfer lagen Bäume im Graben der Landstraße, frisch gefällte, die in wenigen Minuten sperrend über die Hauptwege geworfen werden konnten.
Kumpel verließen das Dorf und trotteten zur Schicht. Manche von ihnen wurden angehalten und belehrt. Sie hatten Lust, die Schicht zu versäumen. Aber man riet ihnen nicht genug zu. Die Wachen glaubten, dass diese Nacht noch ruhig bleiben würde. Morgen wären genauere Instruktionen da. Dann könne man weiter beraten. Die Kumpel stapften in die Nacht. Aus der Dunkelheit kamen ihre Stimmen, die eifrig die Nachricht berieten. Je mehr sie sich entfernten, desto drohender schlich wieder an die Wachen das Gefühl der Unsicherheit. Wie gern hätten sie dem vagen Gefühl ein Ende gemacht! Dem Angriff zuvorkommen. Aber auf welche Art? An der Grenze müsste man sein. Eines Tages war es doch bestimmt soweit. War dann die Saar gerüstet?
Die Nebel wehten über die leeren Felder. In den dichten Wolken des Himmels erschien für eine kurze Zeit das spärliche Licht des bis zum letzten Viertel abgeblendeten Monds. Eine Patrouille kam den Weg herunter. »Freiheit«, antworteten die Posten. Die Botschaft des Besuchers der »Arbeiterzeitung« hatte die beiden Dörfer alarmiert. Sie standen an den Rändern des Waldes und warteten. Im schwarzen Mantel der Nacht lagen hinter ihnen die kleinen Häuserzeilen der Kumpel. Kinder schliefen, den Daumen im Mund hundert Meter von den Wachtposten. Die Frauen lagen dort im Dunkel. Die Männer fühlten, wie sehr sie mit diesem Dorf verbunden waren. So musste es im Krieg gewesen sein, dachten die Jungen. Sie wünschten sich den Kampf. Aber gerade in dieser Nacht kam kein einziges Auto.
Aus den Talgründen schrie ein hungerndes Reh. Hoch oben im Gewölk stand bis zum Morgengrauen ein rötlich schimmernder Lichtkreis, der Widerschein der Hochöfen von Röchling. Die Nacht schlich durch die feuchten Stunden. Die Dämmerung vertrieb aus den frierenden Männern die schlimmsten Visionen.
Als die Nachtschicht der Kumpel zurückkehrte, hob man den Großalarm auf und verabredete sich zu einer Besprechung für den frühen Nachmittag.
Einige Posten blieben unterwegs, bis Ablösung geschickt wurde.
Die Losung der nächsten Nacht hieß »Karl Liebknecht«. Die jungen Sozialisten sprachen sie nach, ohne zu zögern. Am Morgen war der »Vorwärts« verboten worden. Die jungen Genossen dachten an den 20. Juli und an Severing. In diesen Dörfern diskutierten sie nicht mehr als feindliche Brüder.
Sie standen auch diese zweite Nacht bis zum Morgen. Sie hielten ein Auto an, das mit Bier aus der Saarpfalz unterwegs war. Im Nachbardorf fiel ein betrunkener Nazi der Wache in die Hände. Dann floh er. Die Wachen gingen bis zum ersten Läuten der sonntäglichen Frühmesse. Langsam fraß sich ein Zweifel in sie. Aus der Stadt war keine Bestätigung gekommen. Sie standen ihre zweite Nacht zu Ende. In jedem Fall war es eine Probe.

Der NSDAP-Führer sandte Spitzel um Spitzel aus. Die erste Nachricht hatte nichts erreicht. In einigen Ortschaften war am 18. und 19. Februar verschärfter Massenselbstschutz aufgetreten. Um so schlimmer. Das hatte nur dazu geführt, dass die Arbeiter noch mehr Respekt vor der Kommune bekamen. Die SPD? »Wissen Sie was«, sagte der Bezirksführer zu seinem Adjutanten, mit dem er nach den zwei erfolglosen Tagen die Lage besprach. »Braun wird wahrscheinlich nichts Eiligeres zu tun haben, als die Regierung zu alarmieren. Ich habe heute alle Papiere hier wegschaffen lassen, weil wir jederzeit eine Hausuntersuchung fürchten müssen nach meinen Informationen unseres Gewährsmannes in der Regierung. Das ist das Resultat. Wir müssen anders vorgehen. Ich glaube nicht, dass es auf dem Umweg über die Parteiorganisationen geht. Wir müssen einfach Leute aus dem Reich holen, die hier plündern, hier und in Burbach, in Völklingen, vielleicht noch in Neunkirchen.
Ich denke an die Stunde abends. Da sind in diesen Städten viele Erwerbslose auf der Straße. Das muss schlagartig einsetzen wie damals in Berlin in der Leipzigerstraße. Steine in die Fenster. Ein Zugreifen unserer Leute zum Schein und dann sofort alle weg. Die Erwerbslosen werden sich sofort beteiligen. Es werden genug Kommunisten darunter sein. Der Anfang ist dann gemacht. Ich erinnere mich, wie beliebt das Plündern hier war 1920. Ich glaube, das ist das beste Mittel. Alles andere geht nicht in dieser kurzen Zeit. Und die Zeit ist kurz, verdammt kurz. Ich könnte verzweifeln. Aber ich sehe ein, dass es gemacht
werden muss. Wir müssen nur sofort daran gehen, die besten Leute auszusuchen, und noch ein paar Leute durch gut gedeckte Mittelsmänner zu kaufen. Ich denke, Sie übernehmen Saarbrücken. Ich selbst fahre heute nach Völklingen. Über den Termin sprechen wir heute Abend, wenn Sie sich umgesehen haben und ich auch da unten die Lage schon etwas ausgekundschaftet habe.«

Die verbotene SA der Hauptstadt rebellierte an diesem Abend zum ersten Mal. Der Unterführer hatte vermieden, den jungen Leuten einen vollen Einblick in die Hintergründe der Provokation zu geben. Er hatte vorgeschlagen, einen Fensterscheibenprogrom zu machen. Die ganze Bahnhofstraße hinunter. Es seien ja nur Juden, sagte er, der große Weill, sicher auch das PK, wenn es dies auch bestreite. Man brauche gar nicht so ängstlich zu sein. Auf einen verfehlten Wurf käme es nicht an. Natürlich sofortige Flucht nach den Steinwürfen, möglichst kurz vorher Diskussionsgruppen mit den Erwerbslosen. Hinweis, dass gleich etwas los sei. Die Kommune sei da. Es gebe was zu holen.
Die SA-Gruppen hörten geduldig zu. Dann brach eine Diskussion aus, die der Unterführer nicht erwartet hätte.
»Haben wir das nötig«, sagte der erste Redner, ein Student. »Der Führer ist drüben an die Macht gekommen und wir wenden noch Methoden an, die vor der Machtergreifung schon das Gegenteil erreichten?«
Der zweite Diskussionsredner verstand nicht, warum man nicht zu seiner Tat stehen wolle. Er jedenfalls sage nie im Leben zu irgendeinem Arbeiter, dass er von der Kommune sei. Das ginge nicht über seine Lippen. »Ich bin ein Nationalsozialist«, schrie der SA-Mann. »Und kein Untermensch und Barackentier!«
Ein großer Arbeiterbursche erhob sich: »Ich will ja nur mal fragen, was das für Reden sind. Ich denke, wir haben das Führerprinzip. Nun also - was wird dann hier geschwätzt. Und von wegen Barackentier - also immerhin sind wir Nationalsozialisten, und sone Barackentiere gehören doch wohl auch zu dem deutschen Volk. Da sagt auch der Führer nichts anderes drüber, und da können wir also ruhig die Schniß halten und uns nicht so mopsig machen. Meine Meinung. Heil Hitler!« Er hob die Hand zum römischen Gruß. Die anderen ließen sie automatisch
ebenfalls kurz zur Schulter steigen. Aber sie schwiegen betreten. Die Angestellten überwogen unter ihnen. Der Arbeiter erinnerte sie aber alle, wie man sich gemein gemacht hatte gegen seinen Stand mit allem, was sich Pg nannte; das war nicht leicht zu schlucken. Man war leutselig, weil der Führer es wünschte. Zu weit aber ging die Sache, wenn hier von der Arbeiterseite her die Vorwürfe kamen, wenn so ein Fabrikarbeiter einen zu belehren anfing.
Auf den kann man sich verlassen, dachte der Unterführer, der fürs erste die Diskussion noch nicht zügelte, sondern die Kräfte prüfen wollte. Manchmal merkt man doch, dass so ein Arbeiterkerl zwanzigmal mehr wert ist als die ganzen Bürgersöhnchen.
»Hat vielleicht noch jemand was zu sagen?« Der Unterführer entschloss sich zu einem drohenden Ton. Keiner hob die Hand. »Ich wollte es auch meinen. Seit wann sind wir ein Diskussionsklub? Sind wir vielleicht Kommune? Wollt ihr hier Zellenabende machen? Oder sind wir die Kampftruppe der deutschen Revolution? Also, ich wiederhole den Befehl der Leitung. Zu einem Zeitpunkt, der noch bekannt gegeben wird, ist in der Bahnhofstraße ein Fensterscheibenprogrom zu organisieren, der die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die jüdischen Geschäfte lenken soll. Da ist noch viel zu wenig hier getan. Wer das nicht versteht, wer da noch lange herummeckert, der soll seinen Kopf gar nicht erst anstrengen, sondern gefälligst parieren. Im übrigen kann ich zu der ganzen Aktion nur eine Staffel von ganz ausgezeichneten SA-Leuten gebrauchen. Eh ich sie bestimme, fordere ich zwölf Mann auf, sich freiwillig zu melden.«
Der Unterführer schien die Kraft seiner Autorität überschätzt zu haben. Als einziger stand der Arbeiterbursche auf, der kurz vorher gesprochen hatte. Das war Rebellion!
Der Unterführer sah sich einen Augenblick hilflos in der Runde um. Die großen Abzeichenteller der Partei mit dem Hakenkreuz grinsten ihn aus allen braunen Schlipsen an. Kletterwesten trugen sie. Elegant waren sie. Er brüllte plötzlich:
»Was denkt ihr euch eigentlich? Feiglinge seid ihr. Der Sturm wird aufgelöst werden. Noch heute Abend spreche ich mit dem Landesführer. Schämen sollt ihr euch -«
Ein Faustschlag unterbrach seine Rede. Ein grimmig aussehender wohl schon dreißigjähriger SA-Mann mit einem Durchzieher durch die fetten Backen hatte auf den Tisch gehauen: »Ich lasse mich hier nicht beschimpfen. Ich weiß ganz genau, was Disziplin ist. Das braucht uns keiner hier zu erzählen. Wir sind keine kleinen Jungs hier. Wir haben schon anderes mitgemacht. Wir werden uns ebenfalls beim Landesführer beschweren. Und zwar heute noch. Noch eh die Unterführung uns dort verleumden kann.«
Der Unterführer lächelte jetzt überlegen: »Soviel ich die Vorschrift kenne, hat kein SA-Mann das Recht, sich vor dem Ablauf von 24 Stunden nach einem Vorfall zu beschweren. Außerdem geht dann die Sache an den Kreisuschla. Und nicht an den Landesführer. Man sieht, dass hier noch sehr unerfahrene SA-Leute sitzen.«
Sein Wort machte Eindruck. Die Versammlung besann sich auf die große Macht des Führerapparats. Jeder war plötzlich in Gedanken in seiner Straße. Wo er sonst am Abend Gespräche hielt. Wo er von dem Tag der Macht sprechen konnte. Wo einen die Sympathisierenden beneideten, die Mädchen bewunderten. Wo man hinter sich hatte die ganze Macht des braunen Heeres und alle Achtung genoss, die bis hinauf zum Führer von der Straße gewährt wurde. Sie besannen sich auf die Blamage. Das sollte ab morgen alles verloren gehen? Wegen Gehorsamsverweigerung? Und dazu kam noch die Feme. Wer konnte wissen: jetzt meldeten sich vielleicht alle zurück und man blieb allein übrig. Dann war man vogelfrei, konnte an jeder Straßenecke auf seine Prügel rechnen. Besser man lenkte ein.
So dachten sie alle. Der Unterführer aber merkte nichts davon. Er gab seine Schlacht verloren. Jetzt erst spürte er, dass irgend etwas an diesem Räuberplan ihm von Anfang an nicht gefallen hatte. Er ärgerte sich über den Landesführer. Der hatte das wohl nach oben vorgeschlagen. Und nun zerschlug das die ganze Disziplin. Er winkte dem Arbeiterburschen zu, der noch immer aufrecht stand: »Melde dich morgen im Sturmlokal von Burbach. Das übrige wegtreten!«
Ganz schroff schloss er die Sitzung. Sie sahen ihn überrascht an. Einige versuchten, ihn zu grüßen. Sie standen auf, als er sich durch die Tische schob, klappten die Hacken zusammen, hoben die Hände und sagten »Heil Hitler«. Aber der Unterführer, obschon selbst verwirrt, kam doch noch auf einen Einfall: er glaubte, dass er sie durch Nichtachtung strafen müsse.
An ihrer Ehre muss man sie packen, dachte er und ging stumm hinaus. Sie blieben beschämt und wütend zurück.
Die Sonntagsglocken hämmerten die Luft aus allen Türmen der Stadt Burbach. Die festliche Langeweile der Straße wich dem heiligen Lärm. Die Stadt erwachte und besann sich auf alle Christenpflichten: Geputzte Kinder kamen eilig mit dicken Gesangbüchern aus den niedrigen Häusern. Ein Nonnenschwarm trippelte die Hauptstraße hinauf; die weißen Scheuklappen der Bräute Christi wippten leise um die vergilbten Gesichter. Den Berg herunter kam ein strammer Kaplan. Die Schwestern neigten grüßend die Häupter; in den Augen der jüngsten leuchtete ein glückliches Lächeln auf. Sie barg es im schamhaften Neigen der steifen, sauberen Haube. Mädchen kamen herbeigelaufen, die Hand des Geistlichen zu fassen. »Gelobt sei Jesus Christus« , sagten sie mit einem Knicks und liefen wieder davon. Der Geistliche überquerte die Straße mit niedergeschlagenen Augen. Er erschrak vom klagenden Pfiff einer Autobremse. Dicht vor ihm hielt ein braunes Cabriolet. Der Fahrer hinter der Scheibe machte wütende, fast spottende Gesten. Der Geistliche ging vor dem Kühler stumm vorbei.
»Dämlicher Kerl«, knurrte der Fahrer. »Schwarzer Bruder! Totfahren sollte man euch!« Der Mann war sehr verärgert. Es war Vitriol, der Nationalsozialist. Er schaltete den ersten Gang wieder ein und sah wütend auf die herbeiströmenden Gläubigen. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Da haben wir noch gar nichts versucht«, sagte er und schien sehr befriedigt von seiner Erkenntnis.

Wenige Minuten später hielt er vor einem Haus im Zentrum der Stadt. Er klingelte an einer Mietswohnung des zweiten Stocks. Eine ältere Frau öffnete ihm. Überhöflich verneigte sie sich vor dem jungen klobigen Menschen. »Zu Hause?« fragte Vitriol. Im Hintergrund klappten ein paar Militärstiefel zusammen, dann sprang aus dem Dunkel der Unterführer. »Heil Hitler«, sagte der hohe Besuch. »Ich habe mit Ihnen zu reden. Können wir allein sein«, setzte er brutal hinzu. Die ältere Dame verneigte sich noch einmal. »Ich gehe sowieso gleich in die Kirche, da sind die Herren sofort allein«, sagte sie und huschte durch den Korridor. »Es ist eine Schweinerei sondergleichen«, begann Vitriol,
als die Männer in einem altertümlichen Salon sich gegenüberstanden. »Eine Woche ist vorbei, und nichts ist geschehen. Heute morgen rief die Pfalz an. Man ist total verärgert an höchster Stelle. Wir haben versagt!« brüllte Vitriol. Der jüngere Helfer stand mit zusammengerissenen Stiefeln starr vor dem Polternden. »Lauter Nichtskönner habe ich um mich. Der Merziger, dieser Dürmel, schreibt wehleidige Briefe, weil er mit den paar Stahlhelmern nicht fertigwird. Hat Ehrbegriffe! Ich habe ihn zurückgerufen. Er wird heute hier eintreffen und sich bei Ihnen melden. Ich muss nach Neustadt rüber. Ich ermahne Sie noch ein letztes Mal. Sie haben nicht einmal Ihre Kampftruppe in Ordnung. Nichts als Stank höre ich seit Tagen. Dabei haben wir eine geschichtliche Aufgabe bekommen. Ich gebe Ihnen einen Tipp, den Sie heute noch zu nutzen haben. Es ist eine große Erregung in der katholischen Welt. Es kommt mir jetzt auf gar nichts mehr an.«
Er lief einige Schritte durch den muffigen Salon.
»Ich kann sowieso die Pfaffen nicht leiden. Also sehen Sie sich um. Sie wissen, dass es in der Pfalz Zusammenstöße gegeben hat. Sie wissen, dass die Pfaffen seit Tagen auf allen Versammlungen und heute wie wahnsinnig auch von den Kanzeln gegen den Führer hetzen. Hören Sie sich das an. Nehmen Sie sich gegen Abend ein paar Leute mit. Zum Donnerwetter, ich muss ihnen doch nicht immer alle Details auf einen Zettel schreiben. Haben Sie gefälligst Initiative.« Der Führer hob ein letztes Mal die Stimme: »Bis zum 28. muss etwas passiert sein an der Saar, es muss!«

Als der Unterführer Franz Weber zwei Stunden später vor der Kirche von St-Arnual ankam, hatte die letzte Messe bereits begonnen. Immer noch kamen Gläubige heran, um von dieser rettenden Einrichtung des späten Gottesdienstes wenigstens noch die vorgeschriebenen Minuten zu profitieren. Weber schob sich durch die Reihen der Männer, die in merkwürdiger Gleichgültigkeit bis auf den Kirchplatz standen und als einziges Zugeständnis an die heilige Handlung im Innern das Gesicht zum offenen Portal gewendet hielten. Weber blieb in den hinteren Reihen unter dem Glockenturm stecken. Man hörte aus dem Bau die Stimme des Predigers. Er las das Evangelium:
»In jener Zeit nahm Jesus die Zwölfe zu sich und sprach zu ihnen: »Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles in Erfüllung gehen, was durch die Propheten über den Menschensohn geschrieben worden ist. Er wird nämlich den Heiden ausgeliefert, verspottet, gegeißelt und angespieen werden, und nachdem sie ihn gegeißelt haben, werden sie ihn töten; und am dritten Tag wird er auferstehen.« Sie aber verstanden nichts davon; dieses Wort war ihnen dunkel, und sie begriffen das Gesagte nicht.«
Weber fürchtete, dass er die Predigt nicht ungestört von seinem Platz aus hören würde, denn man sprach rings um ihn im halblauten Ton über ganz profane Dinge. Er drängte sich energisch nach vorn und kam bis zu den Weihwasserkesseln. Um jedem Verdacht seiner Umgebung zuvorzukommen, nahm er sich Wasser aus dem kleinen Trog und bekreuzigte sich.
Der Geistliche schloss gerade seine Vorlesung, sagte: »Soweit diese heiligen Worte«, küsste das Buch, legte es beiseite und bekreuzigte sich. Die besondere Spannung des Tages war nun fühlbar in dem angespannten Schweigen, dem schweren Atmen der Menschen um Weber und den erwartungsvollen Blicken, die aus allen Bänken zu der geschnitzten Kanzel und dem Mann dort oben mit der Stola und dem weißüberworfenen Chorhemd gingen. Und schon sprach jener mit leicht vibrierender Stimme:
»Es ist fast ein Geheimnis um das Sonntagsevangelium. Sein erhabenes Wort kommt immer zur rechten Stunde. Oder ist es nicht mehr als ein Zufall, dass das heutige Evangelium spricht von den Verfolgungen, die der Herr hat erdulden müssen für seine Heiligkeit, für seine Ideen? Ist es nicht wie eine Mahnung an alle, stark zu bleiben in diesen Stunden der Versuchung?«
Die Gemeinde fühlte, dass jetzt die Sensation des Tages kam. Man gab dem Nachbar ein Zeichen, sah sich an. Weber hörte, wie neben ihm jemand sagte: »Kaiserslautern.«
»Denkt man nicht«, fuhr der Priester fort, »an die alten Bismarckzeiten, die unsere Väter erlebt, wenn man heute in die Zeitung sieht. Priester werden angegriffen von jungen verführten Burschen. Am heiligen Gewand der Gottesdiener hat man sich vergriffen. Treue und Glaube ist dem Verrat und der Verleumdung gewichen. Der Antichrist geht um. Man soll sich wappnen.«
Weber spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Dass man nicht antworten konnte, still dastehen musste und das alles anhören, biss ihn wie heiße Zangen.
»Man soll sich wappnen«, sagte der Priester, »damit man
kämpfen kann und bereit ist in dem Kulturkampf, der kommen muss. »Wachet und betet«, heißt es heute, denn man weiß weder die Zeit noch die Stunde, da der Feind kommt.«
Wie hinterlistig war das alles. Der Name Hitler fiel nicht, die Partei wurde nicht genannt. Alles klang unpolitisch und war doch nichts anderes als eine unwidersprochene Wahlrede und Wahlhetze.
Weber roch jetzt den Mief, der aus den Kleidern neben ihm stieg, der süßliche Weihrauchduft machte ihm Ekel. Er sah auf den Altar, auf den Aufbau von unverständlichen Gegenständen und teuren Symbolen, auf die Holzfiguren neben dem redenden Priester. Er hasste mit einem Mal alles, die Menschen, die Luft, das Gebäude, das gebrochene Licht, die Säulen und Schnitzereien. Sein Ärger über Vitriol verschwand. Er erinnerte sich, wie lange er auch seine protestantische Kirche nicht mehr besucht hatte, und entdeckte, wie richtig ihn sein Instinkt da geführt hatte. Die Kaiserslauterner hatte recht, die Krefelder hatten recht. Runter mit den schwarzen Lügenpelzen! Reingehauen in die feisten Stegerwaldgesichter! Sie haben sich immer nur angeschlichen an die Machthaber, rangeschmiert. Die anderen konnten kämpfen, sie kamen hinterher. Aalglatt waren die heiligen Bonzen, so fromm, dass man das Kotzen bekam. So ohne Mut. Während unsere SA den Kopf hingehalten hat, haben sie mit den Sozis sich das Fressen geteilt.
Der Priester unterbrach die Gedanken von Franz Weber:
»Man mag sich«, sagte er, und seine Stimme wurde leer und unecht, »die Epistel des vorigen Sonntags ins Gedächtnis rufen. Was da der Apostel gesagt hat: »Von den Juden habe ich fünfmal vierzig Streichen weniger einen bekommen. Dreimal wurde ich mit Ruten geschlagen; einmal wurde ich gesteinigt; dreimal litt ich Schiffbruch; einen Tag und eine Nacht brachte ich in Meerestiefen zu. Auf Reisen war ich oftmals in Gefahren auf Flüssen, Gefahren durch Räuber, Gefahren durch Volksgenossen, Gefahren durch Heiden, Gefahren in Städten, Gefahren in der Wüste, Gefahren auf dem Meer, Gefahren unter falschen Brüdern.« Soweit der Apostel. Ist dies nicht wiederum für alle Brüder gesagt, die nun verfolgt sind? Gefahren durch Volksgenossen, wer hat sie erwartet gerade für die katholischen Männer, die seit Jahr und Tag ihre beste Kraft hingeben, um des Volkes Not zu steuern, um ihm seinen Glauben zu erhalten?«
Franz Weber spürte, dass die Predigt einging in die Menschen
unter der kleinen Kanzel. Wie eine Narkose legte sich der Zauber der Kirche auf seine eigene Stirn. Er griff sich ins Gesicht, schnaubte wütend durch die Nase. Gleich würde er rufen, würde den Raum nicht mehr achten. Man konnte das nicht anhören!
Er sah den langen Schweizer mit der Messinghellebarde durch den Mittelgang kommen. Der rote Zylinder reizte ihn zu wütendem Lachen. Die Gläubigen neben ihm schauten ihn an. Er senkte den Kopf. Gehorsames Pack! Würde das jemals einen Aufstand machen? Nein, Märtyrer wollten sie werden. Brüning und Aufstand? Weber überlegte: der Geistliche hetzte, aber er glitt über alle praktischen Folgerungen hinweg. Sagte er überhaupt etwas von Widerstand? Weber fiel sein Auftrag ein: hier war nichts zu entzünden. Oder gab es ein Mittel? Er stierte in das hohe Schiff. Der Geistliche redete weiter. Der Schweizer drängte sich an Weber vorbei zu dem Eingang hin. Er roch nach Schnaps, das lange samtene Mantelhemd nach Weihrauch. Die gelb blitzende Hellebarde endete in einem Halbmond. Ein Theatersoldat. Nein, sie waren nicht zum Kampf zu rufen. Man konnte sie ohrfeigen, ihnen die Kleider vom Leib reißen. Sie blieben fromme Christen. Weber stierte durch die Säulen zu einem Seitenaltar.
An der Kerzenpyramide war ein Wachsstumpf umgefallen und hatte die Nachbarkerzen angezündet. Ein Messner lief herbei und versuchte die hochleckende Flamme auszupusten. Stinkender Qualm hüllte die kleine Kapellennische ein. Der Geistliche ließ sich nicht stören.
Das wäre das einzige, dachte plötzlich Franz Weber und sah, wie der Messner mit dem kleinen Flammenherd sich herumschlug. Man muss sie an ihrem Geiz packen. Hier wird man sie treffen. Ihr Sonntagslokal muss man ihnen nehmen, das wird sie in Wut bringen. Er stellte sich vor, wie sie ihn greifen würden, wenn er diese Gedanken jetzt hinausschreien würde. Selbst der Zylindersoldat käme in Fahrt.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!«
Der Prediger hatte geendet, er schlug ein großes Kreuz, die Gläubigen rings um Weber ahmten ihm nach, die Orgel setzte ein. Weber hörte nichts mehr. Sein Plan trieb ihm das Blut in die Schläfen, er zwang sich zur Ruhe. Nachträglich machte er ebenfalls das Kreuzeszeichen, schielte nach den Seiten, ihm war, als
müssten sie seine Gedanken erraten. Dann betrachtete er mit sachlichen Blicken den heiligen Raum.
Viel Holztäfelung war da. Die Bänke, die Beichtstühle an den Seiten, das Gewölbe. Es blieb nichts übrig, wenn man es geschickt machte. Katholische Kirchen waren den ganzen Tag geöffnet. Man konnte sich einschließen lassen. Eine Kanne Benzin reichte aus.

»Werdet euch wundern«, sagte er leise durch die zusammengebissenen Zähne, da klingelte es zur Wandlung.
Vorne verneigte sich der Priester vor dem goldenen Kelch. Weber verstand nichts von der heiligen Handlung.
Neben ihm lagen die Menschen jetzt auf den Knien wie in einer Lähmung.
Der Priester bewegte sich. Franz Weber krallte die Fäuste ineinander. Eine Glocke tönte mit feinem silbernem Klang. Ein Aufatmen ging durch die Kirche. Der Priester hob, ohne sich umzudrehen, hoch über seinen Kopf den goldenen Kelch. Die Glocke klingelte noch einmal. Dann bogen sich die Menschenleiber unter Franz Weber nach oben und standen auf. Einige wischten sich die Kniee ab.
Die Orgel setzte ein, lief in jubelnden Trillern über das allgemeine Räuspern und Husten, Stimmen fielen ein, durch das Schiff schwoll ein befreites Danklied, der Priester ging an die Seite des Altars, um aus einem aufgeschlagenen Buch zu lesen.
Franz Weber sah, dass einige seiner Nachbarn ihn mit misstrauischen Blicken streiften. Er wünschte sich das Ende der unverständlichen Zeremonie. Aber erst nach einer Viertelstunde stießen ihn die Ellbogen der Nebenmänner an, und er sah, dass sie zum Ausgang strebten.
Vor der Tür schüttelte er sich. Wie ein Hund, dem unversehens Rauch in die feinnervige Nase gekommen ist, schnaubte er zweimal den Atem aus. Dann ging er um den Kirchplatz und sah sich die Kirche von außen an. Beglückend kam die Idee der Brandstiftung wieder über ihn.
Emil Biber, der ebenfalls schwer gerügte Nazifunktionär des nördlichsten Saarbezirks, hatte den Anschnauzer erst nach Stunden verwunden. Er war durch die Straßen der Hauptstadt gewandert, verwundet in seinem Stolz, knirschend vor Wut, wenn er wieder an die peitschenden Schimpfworte des Führers
dachte. Er ging über die Saarbrücke, stand mit abwesenden Gedanken, das Gesicht zu dem Kohlekanal, und sah das Eisenwerk von Burbach Feuergarben in den Sonntag werfen. Französische Laute kamen von den Schiffen unter der Brücke. »Bö, bö, bö«, höhnte er hinunter, aber die Schiffer hörten ihn nicht. Ein Hund sprang an den Rand eines Schiffes und kläffte mit wedelndem Schwanz seinen Gruß zu einem vorbeipromenierenden Artgenossen, der das Ufer abschnüffelte. Mit wei­ßen großen Buchstaben schien der Name des Kohlenkahns herauf zu dem Leutnant der Nationalsozialistischen Reklamefront, Emil Biber. Espérance I. Biber las es mit bösen Lippen nach. Das liegt in deutschem Gewässer! Das muss man sich ansehen!
»Je crois bien, mais Daladier connait ses généraux!«
Biber warf den Kopf herum. Französische Beamte gingen in lebhaftem Gespräch mit Familie und Kinderwagen über die schmale Leiste der Fußgängerbrücke. Wie zu Hause fühlte sich das Pack! Biber drehte sich wieder dem Fluss zu. Er erinnerte sich, dass das Werk in der Tiefe der Burbacher Häuserkomplexe auch den Franzosen gehörte. Er hatte plötzlich, was er brauchte, den Brandstoff, auf den er sein Feuer übertragen konnte.
Er ging eilig über die Brücke und stieg in die Parkanlagen hinab. Deutsche Sauberkeit überall. Konnte das jemals der Changel mit so viel Akkuratesse anlegen? Biber war noch nie in Paris gewesen, aber er war überzeugt, dass es unsauber, verschlampt, nur aufgeputzt, trügerisch, ja verwirrend war, ebenso wie es natürlich so verhurt war, dass man nicht dran denken mochte. Er ging durch die rötlichen, gut gestampften Sandwege des Parks, an Lorbeerrondells vorbei, an Bänken, auf denen noch Schneereste froren, trat in knisternde Eispfützen und kam an der nächsten Brücke wieder unter Menschen.
»Mais je vous assure, les étangs de la Patte d'Oie permettent la pêche au lancer du brochet dans d'excellentes conditions. J'étais là cette année pour toute ma permission. Excellente, cette pêche là!«
Schon wieder das fremde Gesindel! Biber sah den beiden Herren nach: Trägt Pelze. Stiehlt Kohle, nimmt unsereinen die Plätze weg. Wie viele von ihren Ingenieuren waren hier in den Gruben, wie viele Beamte? Er ging den Männern einige Schritte nach. Wie auf dem Kriegspfad schlich er hinter ihnen
her, suchte Worte zu verstehen, obwohl er kein Französisch konnte, dachte: sie reden Verdächtiges, man müsste sie anzeigen, der nächste Schutzmann müsste sie verhaften.
Ganz sinnlos versteifte er sich in seine Detektividee, verwirrt durch seinen Hass, ging einmal schneller, überholte die Männer, sah ihnen, stehen bleibend, frech ins Gesicht, trappte dann wieder hinter ihnen her. Er war jetzt an der Kreuzung der Eisenbahnstraße mit der Luisestraße angelangt. Ein Polizist hielt sich in der Mitte der Trambahnschienen auf, nestelte an seinen weißen Sonntagshandschuhen und wartete auf den Verkehr, dem er seinen Weg zeigen wollte. Biber fühlte einen wuchtigen Schlag auf seinen Schultern.
»Hallo, Emil, was schleichst du denn hier herum und siehst niemand?«
Biber sah über seine Schulter in ein pockennarbiges längliches Gesicht, das die Brauen hochgezogen hatte über kalten stechenden Augen. Biber besann sich einen Augenblick, dann schüttelte er empört die Hand von seinem Mantel:
»Josef Thiel. Einmal Deutscher gewesen. Jetzt verkauft an die Franzosen. Vaterlandsverräter. Pfui.« Emil Biber stieß jedes dieser Worte mit einem lächerlichen Stakkato heraus; er trat dabei einen Schritt zurück, als habe er sonst nicht genug Abstand für seine Anwürfe, die wie ein fünfmaliges Anspucken wirken sollten.
Aber der Pockennarbige lachte. »Warum bist du denn hinter den beiden hergewesen?« fragte er und winkte mit dem Kopf den immer weiteren Abstand gewinnenden französischen Männern nach. »Kennst du die vielleicht? Es hätte sich rentiert, sie zu belauschen. Aber der Herr Propagandachef kann ja nicht mal die Sprache des >Erbfeinds<.«
Biber fühlte den Hieb; es juckte ihn, wie ein Zahnnerv vom kalten Atemzug zu brennen anfängt. Er staunte, dass der Schulkamerad so viel von ihm wusste. Der sagte spöttisch: »Dabei glaube ich, man sollte auf die Dienste von unsereinem nicht so leichtsinnig verzichten.«
»Wie viel verlangt der Herr Landesverräter für eine gute Nachricht«, sagte beißend der Nazipropagandist.
»Wenn der Schupo nicht da drüben stände, hättest du jetzt deinen Uppercut weg. Aber ihr seid doch nur komisch, ihr hundertprozentigen. Das einzige, was sympathisch ist, das ist euer Hass. Da kann man was mit euch anfangen. Gehen wir ein bisschen auf Seite. Ich rede nicht gern unter den Augen der Polizei.«
Biber merkte mit Staunen, dass er dem Mann folgte. Jeden Augenblick konnte ein Pg ihm begegnen und ihn anrempeln, dass er mit so etwas ginge, mit einem Saarländer, der sich der Bergwerkdirektion freiwillig zum Dienst angeboten hatte und früher preußischer Offizier gewesen war. Zusammenschlagen müsste man ihn, anspucken, sagte sich Biber und trottete doch neben ihm her.
Sie gingen wieder auf die Schlossbrücke zu. »Was willst du beispielsweise wissen«, begann nach einigen Schritten der Pockennarbige. »Du Straßen-Sherlok! Etwas über die Kohlenpreise, über den Raubbau, das Wahldossier oder die geheime Propaganda. Ja, jetzt guck nur! Ich schlage dir einen Besuch im Office des Mines vor. Kleines Freundschaftsgeschenk. Mit Vaterlandsverräter kannst du mich nicht locken. Frag mal deinen Adolf, wo sein deutsches Tirol ist. Und ob er nicht von den Skodatschechen auch einige Milliönchen gekriegt hat. Also da zieh Leine. Aber ich will dir etwas sagen, ich habe da eine kleine Wut im Bauch. Zur Zeit wird viel bei uns gespitzelt. Komm, wir gehen hier über die Straße.«
Sie waren schon an der Ecke der Bahnhofstraße angelangt. Lange Autoparks standen die Victoriastraße hinunter, französische Wagen, Peugeots, Citroens, Renaults mit eingebeulter Kühlernase, alle ohne Fähnchen, nur Mascottepuppen baumelten an den hinteren Fensterscheiben. Mitten drin die deutschen Wagen; Hakenkreuzwimpel steckten provokatorisch am Kühler und an den Kotflügeln. Der junge Staat machte seine erste Reklame. Josef Thiel zeigte nach links, wo das Bergwerksamt sichtbar wurde. Die Trikolore war vom Regen ausgewaschen. Ganz matt glänzte oben am First das Gold eines Grubensymbols.
Biber ärgerte sich, dass er dem Mann immer noch folgte. Nun sah er in der Portalöffnung eines Hotels die grellen Reklameplakate von Parteizeitschriften.
Unmöglich, dort vorbeizugehen mit diesem Mann. Aber sein Angebot lockte, jagte einen verbrecherischen Einfall in Biber. Seit der Schlossbrücke wusste er, dass es nur so gehen würde. Außenpolitik ist Trumpf, der Mann war ein Geschenk, mit einem Schlag war man dicht dran, an der Quelle. Biber dachte, so was kommt nicht alle Tage vor, der Mann ist Gold wert, in
einem Monat können wir ihn erschießen, vorher schon, aber jetzt führt er ins Zentrum. Wollen sehen, was er dafür verlangt. »Gehen Sie einen Moment schon vor, ich komme nach, muss mir nur hier ein paar Zeitungen kaufen.«
Josef Thiel verstand und gehorchte lächelnd. An der Treppe zum Bergwerksamt erwartete er ihn. »Viel haben Sie nicht gewonnen, man kann uns auch jetzt noch zusammen in den Franzosenbau gehen sehen.« Er lachte. »Eilen wir uns, damit noch ein paar Chancen bleiben.«
Sie gingen an dem Portier vorbei, der Thiel höflich grüßte. »Ist Monsieur Lanrezac da?« fragte Thiel. Der Portier verneinte. Monsieur Lanrezac sei in Paris, käme erst morgen Abend wieder. »Merci.«
Er ist hier wie zu Hause, dachte Biber. Ihm war nicht wohl in der Hochburg der »Räuber von Versailles«, wie er sie nannte. Hier notierten sie ihre Diebstähle, hier berechneten sie den Preis deutscher Kohle und lachten sich ins Fäustchen.
Sie stiegen die breite Freitreppe hinauf. Ihre Schritte hallten auf den kalten Steinplatten. Ob er meinen Gedanken schon erraten hat? Sie bogen am Ende des Korridors in einen halbdunklen Gang. »Hier wohnt der alte Fuchs«, sagte Thiel. Biber beugte sich vor. M. Lanrezac las er. Herein ohne anzuklopfen. Pas frapper. »Er ist fast taub, aber er hört mehr, als er soll«, erklärte Thiel. Biber merkte jetzt den Hass, den jener auf den Mann geworfen hatte, der hinter dieser Tür hauste. »Was stellt der Monsieur dar?« fragte er.
Thiel ging in den Hauptgang zurück, spähte, ob niemand käme, dann kam er eilig wieder, griff in die Tasche und steckte einen Schlüssel ins Loch. Er klinkte die Tür auf, zog Biber hinein, schloss sie wieder. »Pst, jetzt nur noch leise«, forderte er. Biber sah eine Bibliothek, Glasschränke voll mit Büchern und Broschüren. Mappen auf dem Tisch, ein wüster Haufen von Zeitungen auf dem Boden. »Hier arbeitet die Wühlmaus«, flüsterte Thiel. Seine Augen flackerten, dann ging er daran, in den Mappen zu kramen, die verstreut auf dem Schreibtisch lagen. Plötzlich stieß er einen kurzen Pfiff aus.
Biber ging dicht heran. »Dossier Thiel« stand auf der Mappe. Der andere riss den Deckel auf. Biber sah, wie er Blatt für Blatt aus der Mappe nahm und aufmerksam las. Es handelte sich also um ein Verfahren gegen Thiel. Ein Schritt weiter, und der Mann ist mein.
»Verfluchte Sau«, zischte der andere. Dann drehte er sich um zu Biber: »So nehmen Sie doch«, sagte er, plötzlich siezte er den Schulfreund. »Greifen Sie sich, was Sie wollen, es kommt niemand heute. Es gehört alles uns. Außer diesem. Das ist mein persönliches Eigentum.« Er zeigte auf die Mappe und ihren vollen Inhalt. Biber bemerkte die verengten Pupillen des Eindringlings. Der Mann war reif zum Verbrechen. Hatte er nicht eine hohe Stellung hier? Konnte man ihn selbst benutzen? Biber hatte keine Lust, leise zu sprechen, er versprach sich auch etwas davon, wenn er mit gewöhnlicher Stimme jetzt seinen Vorschlag machte:
»Ist Ihr Freund für Frankreich wichtig? Ich meine, würde man seine Ermordung zu einer Aktion benutzen?«
Thiel schwieg überrascht. Er hielt ein Blatt aus seinem Dossier in der Hand, las flüchtig noch einmal die Schreibmaschinenseiten: der Ingenieur Thiel, stand da, war zu verwenden, aber zweifellos trage er auf zwei Schultern. Man solle sich klarsein, dass er nicht in französischen Dienst nach 1935 übernommen werden könne. Man solle keinerlei dahingehenden Vertrag anbieten. Weitere Recherchen seien im Gang.
Plötzlich zerknüllte Thiel die Seite. Dafür hatte er spioniert, hatte für den Saarbund geworben, hatte sich mit den Kommunisten herumgeschlagen, zehn Jahre in Todesgefahr gestanden als einer der gefürchtetsten Beamten, dafür war er in den Dreck gegangen-!
Biber begriff nicht, wie viel in dieser Minute vorging in seinem Gegenüber. Die eigenartige Lage, der Einbruch, alles machte den Augenblick so unwirklich. Aber zäh klebte an seinen Gedanken der Wunsch, heute noch zu einem Ziel zu kommen. Er griff nach der Mappe und schlug sie zu; das lohnt nicht mehr, sagte die Geste.
»Ich brauche eine Tat mit weiten Folgen«, meinte er. »Sie können einen Mann haben, der gut schießt. Es muss aber auf die Kommune fallen. Besser gesagt, lassen Sie schießen! Ich werde dafür sorgen, dass der Verdacht in die Herbertstraße, auf die KP fällt.«
Thiel antwortete immer noch nicht.
Ich träume das alles nur, dachte Biber wieder und sah sich in dem fremden Raum um. Kalender der »Société des Amis des pays de la Sarre« lagen herum. Klebemarken für die politische Propaganda.
Biber wünschte sich, mehrere Stunden hier sein zu können. Welches Material könnte er nach Berlin liefern! Unbezahlbare Gelegenheit, dachte er. Aber der Plan behielt die Oberhand. Vielleicht konnte man später noch eine Mappe füllen und das Haus verlassen. Dieser Mann da musste kochend gehalten werden.
»Ich garantiere Ihnen, dass das Reich nicht undankbar sein wird«, sagte er. Wir werden dich an der Grenze schon stumm machen, dachte er und fühlte, wie gut er schon in den Gedanken von Berlin zu denken gelernt hatte. »Lesen Sie Clausewitz« - der Propagandist hörte den Münchener Instrukteur wieder reden - »und studieren Sie die Jesuiten dazu.« Keiner würde mir das zutrauen, dachte Biber, und eine Welle von Stolz flutete durch ihn.
Josef Thiel klappte die Mappe zu. Vorsichtig ordnete er alles Durcheinander, das er mit seinen wilden Griffen angerichtet hatte.
»Man könnte ihn ja noch viel schlimmer treffen«, sagte er. Seine Zähne bissen in die böse lächelnde Unterlippe. Er machte die Geste des Streichholzanzündens. Biber hörte, dass der Mann auf seinen Vorschlag gar nicht geachtet hatte.
»Machen Sie beides«, rief er. Ein Zittern in der Stimme verriet, wie er um seinen Plan bangte. Jetzt da er dicht davor war, entglitt ihm das Werkzeug. Blitzschnell bedachte er die Konsequenzen: dieser Verbrecher hatte ihn in der Hand. Konnte sich salvieren, indem er seinen Feind warnte. Biber sah sich verzweifelt in der unaufgeräumten Bibliothek um. War er in eine Falle gegangen? Wenn jemand im Nebenzimmer zugehört hatte? Vielleicht war alles eine List? Warum konnte Thiel so ungefragt am Sonntag ins Haus gehen? Woher hatte er den Schlüssel? Vermutlich war er der Mitarbeiter dieses Kerls - wie war der Name? Aber der Hass, der da aus dem anderen wie Funken ging? Die Einladung? Das Dossier mit dem Namen Thiel? Biber beruhigte sich wieder. Wenn man die ganze Bude ansteckte, war die Wirkung noch viel bedeutender. Vielleicht ging das ganze Amt in die Luft; die Trikolore verbrannte. Und die Forbacher marschierten wirklich ein.
Der Ingenieur bemerkte eben wieder den Gast, den er mitgeschleppt hatte. In seinem fiebernden Gehirn schwankte das Bild des Franzosen. Der Schnauzbart, der volle Mund eines alten Genießers, die misstrauisch durch eine brüchige Brille blinkenden Augen. Die ganze undurchdringliche Höflichkeit des westlichen Beamten. Er sah ihn vor sich. Und nun kam dieses andere Gesicht hinein, das junge, energische Blondgesicht, gläubig, etwas dumm, gehorsam, aber mit Kraft und Brutalität und idealistisch. Ein verlorenes Land, dachte er, aber wiederzugewinnen, am letzten Tag aufnahmebereit, weil es noch Überläufer brauchte. Er betrachtete den Jungen. Anstecken will er, erschießen will er. Wie tollkühn versteigen sie sich!
Der Ingenieur spürte, wie sich die Haut an seinen Schläfen straffte. Die Betäubung wich, das Herz beruhigte sich. Ich werde ihn korrigieren, auf Details versteht er sich noch nicht. Er will eine Provokation. Er bezahlt sie. Ich nehme die letzte Chance.
Er streckte die Hand aus. »Es ist sehr eilig?« fragte er. Der junge Nationalsozialist bejahte mit ernstem Kopfnicken.
»Dann bin ich auch für beides«, sagte Thiel. »Ich nehme den Dienstagmorgen. Kurz vor dem Dejeuner. Da sind die meisten schon unterwegs zu ihren sechs Gängen. Der Alte trottelt immer noch eine Viertelstunde länger. Sie haben nur für eins zu sorgen. Dass die »Saarfront« schon am Nachmittag ein Extrablatt herausgibt, wie Sie es sich wünschen. Ich schätze, sie wollen den Einmarsch. Also schicken Sie Ihre Leute herum und machen Sie Panik. Lassen Sie auch durch einen Spitzel im kommunistischen Parteihaus die Panik eintreten. Die Leute müssen sich auffällig benehmen. Ich gebe Ihnen gleich noch Details über bevorstehende Maßregelungen. Der Artikel muss morgen an die »Arbeiterzeitung« und am Dienstagmorgen parallel erscheinen. Der Alte muss darin erwähnt werden. Das andere überlassen Sie mir. Komisch, wie rasch wir einig werden!« Er sah sein Gegenüber noch einmal eindringlich an: »Ich will etwas wiedergutmachen«, sagte er knapp.

»Großer Fastnachtsrummel. Heute Rosenmontag, 27. Februar, großer Tanz. Damenwahl. Kapelle Schurmann spielt. Stimmung, Humor, Allotria. Eintritt frei.«
Das schwarz auf rosa gedruckte Plakat in allen Fenstern der Wirtschaft Bellermann in der Nähe des Saarbrücker Markts. Wenn die Tür aufging nach der dunstigen Straße, hörte man Kreischen von Frauenstimmen und die Paukenschläge der dankbaren Kapelle, die einem Bierspender zuprostete. Ein Bettler versuchte vergebens durch die gelben Vorhänge in das
lustige Innere der Wirtschaft zu schauen; nur die Schatten von vorbeitanzenden Köpfen huschten über die Tücher. Ein Fuß trat ihm an das Schienbein. »Mensch, geben Sie doch acht«, sagte eine brutale Stimme. »Scheren Sie sich doch nach Hause, wenn Sie kein Geld haben.« Der Bettler sah einen jungen Mann in Reitdress auf dem schmalen Trottoir stehen. Ein großes Hakenkreuz steckte in seinem Schlips, eine Reitpeitsche in den hohen Stiefelschäften. Der Mann riss die Tür zur Wirtschaft auf. Musik schwemmte auf die Straße. Eine Frauenstimme sang: »Ade, du kleiner Gardeoffizier.« Die Tür schloss die Musik wieder ein in die warme Gaststube. Der Mann im Reitdress stand in dem rauchigen Tanzsaal und suchte die Tische mit prüfenden Augen ab. Es war der Unterführer der NSDAP-Sektion Saarbrücken.
Bekannte winkten ihm zu. Gut so, dachte er. Gut für das Alibi. Er hob die Hand zum Parteigruß und blieb stehen. Der Wirt kam hinter dem Büffet an der Tänzerin vorbei geschlängelt und wies auf einen halbleeren Tisch. »Sehr voll heute, aber der Tisch wird schon wieder frei werden.« Der Unterführer dankte gnädig. Hauptsache, dass viele ihn sahen. Morgen Abend würde er sich auch noch zeigen, eh er in die Kirche sich einschließen ließ. Er hatte festgestellt, dass sie noch einen späten Abendgottesdienst auf dem Zettel der Kirchentür angekündigt hatten. Benzin war besorgt. Im weiten Lodenmantel fiel es nicht auf. Morgen. Das Herz klopfte ihm bei dem Gedanken. Möchte nur wissen, was der Merziger gemacht hat. Natürlich nichts. Hallo, da sitzt er ja!
»Heil Hitler.« Er ging auf einen Tisch in der Ecke zu, wo mehrere junge Burschen mit Emil Biber saßen. Am Büffet stieß er mit einem Mann zusammen, der einen aufgestellten Gummimann mit wütenden Boxschlägen bearbeitete; eine Frau mit wirren blonden Locken feuerte ihn an. Der Unterführer blieb stehen und holte zum Schlag aus. Eine kleine Zündplatte explodierte; er hatte einen Bravurschlag getan. Der Wirt griff eilig in den Glasschrank neben dem Bierkran. »Eine Zigarre«, rief er, »Sie haben eine Zigarre gewonnen.« Der Unterführer nahm lächelnd an. Tanzende waren stehen geblieben. »Ja, unsere SA, wo die hinschlägt,« sagte einer. »Pst«, warnte ein zweiter. Die betrunkene Frauenstimme kreischte aus der Nähe des Musikerpodiums: »Ade, und vergiss mich nicht.«
Der Unterführer erreichte den Tisch. Die Parteigenossen
sprangen wie Offiziersburschen von den Stühlen, hoben die Hand laut Vorschrift und sagten den Gruß laut Vorschrift. Dann setzten sie sich wieder mit polternden Stühlen.
»Allerhand Stimmung hier«, sagte der Unterführer. Emil Biber betrachtete ihn mit Neugier. Er erwartete Fragen über seine Arbeit, aber der Kollege betonte, dass er heute mal privat sein wolle. Wenn du wüsstest, dachte Biber und grinste in sich hinein. Morgen wirst du Augen machen. Den Vorsprung holt keiner mehr auf. Das führt geradezu in den SS-Stab. Biber hob sein Glas: »Mal einen Schluck auf den Führer«, sagte er und ließ offen, ob er damit den Kollegen meinte.
Die Tanzenden lösten sich aus ihren schwitzenden Umschlingungen. Die Kapelle legte die Lärmwerkzeuge unter sich und griff nach den Biergläsern. Hinter dem Nazitisch rasselte plötzlich ein Uhrwerk, dann ging Licht an in einem Kasten an der Decke und eine Puppenkappelle begann nach dem Taktstock eines roten Miniaturteufels eine Serenade zu spielen. Der winzige Dirigent wackelte mit seinem gehörnten Haupt in regelmä­ßigen Abständen. Die wächsernen Zwergmusikanten strichen über saitenleere Geigen.
»Tolles Panoptikum hier«, sagte ein Parteigenosse. »Bin zum ersten Mal hier. Haben Sie auch schon den Trompeter da gesehen?«
Der Unterführer nickte freundlich mit dem Kopf und sah zu dem bronzenen Säckinger, der mit wallendem Federbusch zum Blasen bereit vor ihm auf hohem Sockel stand.
»Gib mir einen Franc«, bettelte eine Stimme. »Er bläst so süß. - Uh, seid ihr ernst hier!«
Ein gelbseidenes Kleid stand vor dem Tisch, blickte die Tischrunde an, sah die Parteiabzeichen und lachte. »Bin ich euch blond genug, schaut, da ist noch alles da.« Sie drehte den Kopf kurz herum und zeigte in den Händen die vollen, aufgesteckten, hellen Zöpfe.
»Sind sie auch echt«, fragte einer der Nazis und stand auf. Er knöpfte sich den Rock zu und verneigte sich: »Darf ich bitten, Gnädigste?«
Sie tanzten fort. Die Kapelle hatte die automatische Konkurrenz überbrüllt, die Wachszwerge zuckten noch ein paar Mal mit den steifen Gelenken, dann ging über dem Nazitisch das Licht wieder aus.
Ein Betrunkener wankte vorbei. Säuerlicher Geruch fegte
aus den Toiletten in den Saal. Der Lärm erstickte jede Unterhaltung. Geklirr von Biergläsern, Plantschen von Wasser, Kellnerinnenorders, kreischende Frauenstimmen und über allem eine harte Posaune, ohrenzerreißend.
Der Unterführer sah in die Klumpen der sich schiebenden Paare. Er hatte dem Tisch den Rücken gedreht. Ein Grinsen lief in seinem Gesicht herum; er beherrschte mühsam seine Freude. Alles klappte. Und das Alibi stimmte. Der Brief an den Pfaffen knisterte in seiner Rocktasche, wenn er den Ärmel andrückte. In einer Stunde sollte ihn Mutter hier anrufen. Dann hörten sie alle seinen Namen. Sturmführer sollte sie sagen. Auch wenn gar nichts los wäre. Jawohl, das war Taktik!
Von der Straße kam das scharfe Knattern einer Explosion, knallte über den Lärm; einige Tanzende hielten inne. »Es sind doch nur Frösche«, sagte halb empört dicht vor dem Unterführer der Tänzer zu seiner erschrockenen Partnerin. »Es kommt doch soviel vor«, entschuldigte sich das Mädchen und legte den Arm wieder fester um den Hals des Liebhabers, stieß ihren Schenkel an ihn.
Sie haben den Artikel fest angenommen, jubelte hinter dem Unterführer Emil Biber. Das war aber auch ein Material! Zahlen, Namen, die Divisionäre wörtlich aufgezählt. Hoffentlich korrigieren sie die Drohung am Schluss nicht weg. Und du saarländischer Schafskopf wirst das Nachsehen haben, höhnte Biber den Unterführer und beugte sich in stillem Triumph gegen den breiten Rücken des Rivalen.
Vom Schanktisch kam ein vielstimmiges Grölen: einige Kaufleute standen dort mit geröteten Gesichtern und den unsicheren Bewegungen halb Betrunkener. Sie hoben jetzt die Biergläser und sangen, das Gesicht zu den Tanzenden, der Kapelle den Schlager nach: »Das ist die Liebe der Matrosen - auf die Dauer lieber Schatz - ist mein Herz kein Ankerplatz... « Ihre Mäuler glänzten feucht. Die Tanzenden johlten ihnen zu.
»Weißt du, Kleiner«, sagte die blonde Tänzerin zu ihrem strammen SA-Mann, »ich freu mich so heute Abend. Wie die Feste alle abgesagt wurden wegen dem Neunkirchener Unglück, hab ich schon gemeint, dieses Jahr käm' ich gar nicht zum Karneval. Und ich tanze ja sooo gern.« Er spürte ihre Finger in seinen Nackenhaaren und presste ihr Kreuz näher an sich. Die jungen Brüste drückten sich zart an sein Jackett. Herrlich, dass man so ein richtiges deutsches Mädchen auch hier im Arm haben kann! Ob sie ihre Eltern bei sich hat? Geht mich nichts an. Tanzt rassig, scharfe Sache. Ob sie politisch ist?
Das Mädchen flötete: »Du bist doch ein feiner Kerl. Da hat vorhin der Jude da hinten mit mir tanzen wollen. Ich zeig dir ihn nachher. Ist aber abgeblitzt. Da sitzt er! Bäh.« Er sah, dass sie den Kopf etwas abhob von seiner Brust und eine Grimasse zu einem gutgekleideten Mann in der Ecke zog. »Du, der wäre beinahe frech geworden.«
Der Nationalsozialist sagte: »Oho, das wollen wir ja mal sehen.« Sie spürte, wie er sich straffte und drückte sich noch wärmer an ihn; die Musik unterbrach schroff ihren Schlager und jodelte einen neuen hinterher: »Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt, heididel - heidideldum.«
Zimbeln klimperten, der Paukenschläger holte mit weiten Armen aus. Der Bierverein am Büffet grölte, die Männer griffen sich an und schwenkten sich plump wie die Tanzbären umeinander. »Genug«, sagte plötzlich der Nazimann. »Komm mit an unseren Tisch, magst du?«
Sie nahm sich die Papiermütze aus dem Haar, gab ihm die Hand und ließ sich durch die Tanzenden ziehen. »Erst noch mal den Trompeter«, bettelte sie, als sie an dem Sockelautomaten vorbeikamen. »Man hört jetzt doch nichts«, wehrte er ab und zog sie dicht vor den Unterführer. Dort stellte er sich auf, die Hacken zusammenschlagend und salutierte, die Papiermütze in der erhobenen Rechten. »Zur Stelle, Herr Leutnant!« meldete sie und griff sich dann den Kopf ihres Tänzers, um ihn zu küssen. Sie traf nur seine Ohren, denn er schüttelte sie vermahnend ab.
»Ich melde den werten Pgs, dass diese junge Dame, ein echtes deutsches Mädchen die Belästigungen eines Juden vorhin abgewehrt hat. Ich schlage vor - da der Herr noch anwesend ist, mal nach dem Rechten zu sehen.«
Der Unterführer sah das Paar einige Sekunden nachdenklich an. War ein Skandal gut? Machte man sich unbeliebt hier? Er hörte die Männer grölen. Wieder stand ein total Betrunkener vor dem Punchingball nah dem Büffet und schlug unter dem Gejohle der Umgebung wütend auf das klatschende Leder. Die Stimmung war weit genug. Geprügelt wurde doch bald. Er nickte dem immer noch mit erhobenen Händen dastehenden Paar zu. Es kann dem Alibi nützen, dachte er abschlie­ßend.
Der Parteigenosse zeigte in die Ecke. »Der Nebentisch ist gerade leer. Wir wollen uns mal näher heransetzen alle.«
Die Nationalsozialisten standen auf. Biber zögerte; er fürchtete Polizei. Manchmal saß man dann einen halben Tag auf der Wache. »Komm schon«, sagte sein Nachbar und sah ihn erstaunt an. Biber stand auf. Man konnte sich nicht drücken. Gut, im Notfall verschwand man rechtzeitig.
Die Horde drängte sich an den Tanzenden vorbei in die Ecke, wo der Jude saß. »Das ist unser Tisch«, rief ein Mädchen aus dem Kreis der Tanzenden.
»Es dauert nur ein paar Minuten«, beschwichtigte Biber und lächelte den Tänzer bedeutungsvoll an.
Die Parteigenossen saßen schon, als Biber ankam. Er ergriff den Stuhl und musterte den Juden in der Ecke. Ganz kräftiger Kerl; der wird nicht so leicht sich vertreiben lassen. Na, wir sind ja genug.
»Es riecht ein bisschen stark nach Knoblauch hier«, sagte einer der Burschen und rieb sich die auf dem Tisch aufgestützten Hände. »Sagten Sie etwas?« fragte er den Juden und drehte sich schroff um.
Der junge Jude wurde blass und zog nervös an seiner Zigarette. »Resi!« rief er dann und winkte mit gespielter Gleichgültigkeit der mit Bierkrügen vorbei sich quetschenden Kellnerin. »Eine Runde für die Kapelle.«
Die Horde am Tisch grölte. Biber hielt die Kellnerin fest:
»Zwei Runden von uns, aber die da« - er zeigte auf den Juden - »wird nicht angefahren, verstanden.«
Er sah sich im Kreise um; waren die anderen zufrieden?
»Macht doch keine Menkenke heute«, bat die Kellnerin und verzog missmutig das rotbackige Gesicht.
»Er hat gegrinst, das Judenschwein«, sagte einer der Parteigenossen und sprang auf.
Der Saal war inzwischen aufmerksam geworden. Einige Tänzer ließen ihre Mädchen los. Am Rand der Tische bildete sich ein neugieriger Kreis. Der junge Wirt äugte ängstlich vom Büffet durch den Rauch. Die Kapelle wechselte schnell den Schlager und blies mit aufgeregtem Humor einen schneidigen Marsch.
»Juden raus!« brüllten jetzt alle acht Parteigenossen. Im Sprechchor wiederholten sie ihren drohenden Befehl: »Juden raus! Juden raus! Juden raus!«
Die Musik gab ihre Versöhnungsmanöver auf und setzte die Instrumente ab. Zitternd und blass lief der Wirt herbei. Die Tanzenden standen still und sahen zu der gefährlichen Ecke hinüber.
»Aber meine Herren«, meinte der Wirt beschwörend, da klingelte perlend das Telefon, das neben der Spieluhr an der Wand hing. Der Wirt schob einen Stuhl beiseite und griff nach dem Hörer. »Ruhe«, rief er und horchte hinein. Die Nationalsozialisten standen jetzt dicht um den Juden. Der Unterführer gebot den anderen zu schweigen, dann sagte er scharf und für jeden in der Stube zu hören: »Sie stören hier deutsche Volksgenossen bei ihrer Abendunterhaltung. Verlassen Sie sofort das Lokal!«
Der Jude klopfte in höchster Erregung die Faust auf den Tisch.
»Herr Sturmführer Willibrandt an den Apparat!« Die Stimme des Wirts.
Sichtlich erleichtert über die Unterbrechung reichte er dem Unterführer den Hörer. Das Publikum hatte ihm bereitwillig Platz gemacht. »Einen Augenblick warten alles«, hatte Willibrandt den Kameraden zugerufen; sie standen gehorsam um ihr Opfer herum.
Mutter ist zuverlässig, dachte beglückt der Unterführer. Das hat gewirkt. Gerade der richtige Moment. Sturmführer Willibrandt. Wie das durch sie durchging! »Hier Willibrandt, ja, wer ist dort?«
Das Publikum, gewohnt den Telefonaten Stille zu gewähren, blieb fast stumm auf seinen Plätzen. Nur ein Tänzerpaar ging schmollend an seinen Tisch zurück.
»Was«, brüllte plötzlich der Unterführer. Alle merkten, dass eine besondere Nachricht durchgegeben wurde. »Ja, ja, ja«, stotterte nun mehrfach der Unterführer, »ich komme dann -sofort, ja, ich komme gleich.«
Er hing den Hörer ab und stand einen Augenblick völlig geistesabwesend an dem Apparat. Dann sah er in die Versammlung, sah die wartenden Tänzer, den Wirt, der vergeblich versuchte, den Juden zum weggehen zu bewegen, sah die Kameraden, Biber, den Studenten, die Hakenkreuze an den Reversen, den Rauch, die Kapelle mit den klingelnden Narrenmützen, die vollen Biergläser auf dem Tisch, die Konfettipünktchen auf dem Boden, die zertretenen Papierschlangen.
Zu spät gekommen, wollte er sagen, riss sich aber in letzter Sekunde zurück und sagte tonlos in den Saal:
»Meine Herren und Damen, der deutsche Reichstag ist soeben in Brand gesteckt worden.« Biber zuckte zusammen. »Von den Kommunisten«, fügte der Unterführer hinzu und starrte in den Saal.
»Macht doch endlich wieder Musik«, rief ein betrunkenes Mädchen, das mit herabhängenden Armen über einer Stuhllehne hing. »Musik«, kreischte sie noch einmal und ließ dann weinend ihren Kopf auf die Brust fallen.
Der Jude sah, dass sich der Kreis seiner Feinde lichtete. Einer nach dem anderen rückte von ihm ab und ging zu dem Unterführer, der von fragenden Gästen umringt war. Der junge Jude kniff die Augen zu und krümmte den Rücken. Sein Gesicht wurde ganz eng. Dann sprang er mit einem Satz zur Tür, riss sie auf und rief:
»Sie haben ihn angezündet!«
Sein starrer Zeigefinger stieß auf die Gruppe der Nazis zu. Hinter ihm bleichte im silbrigen Mondlicht der alte Brunnen des Markts. Der kalte Nachtwind blies hinein. Ganz schmal stand der Ankläger vor dem gespenstischen Hintergrund. Dann drehte er sich um und war weg.

 

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