Mai: Illegale Blüten
1.5. »Tag der Arbeit«.
2.5. Gewerkschaften werden besetzt.
5.5. Hitler verbietet Eingriffe in die Wirtschaft.
7.5. Oberfohren ermordet.
10.5. Bücherverbrennung auf dem Opernplatz.
Flaschenpost
An der Fähre von Clausthal standen zwei Arbeiter mit ihren Ess-Kesseln. Sie hatten eben den Schiffer gerufen, dass er sie überhole. Aus den Muscheln der Hände war ihr Ruf über die Saar gegangen und hatte sich gestoßen an der breiten Wand des Sandsteinplateaus, die fast senkrecht vom jenseitigen Flussufer aufstieg in den Abend.
»Er ist mal wieder taub«, meinte einer der Arbeiter.
»Er ist nur hier-.« Der Kollege zeigte auf die Stirn. »Seit die Grenzwache verstärkt ist, fürchtet er sich vor jeder Uniform.«
»Er wird wissen, warum.«
»Unsinn, er hat nie geschmuggelt. Eher weiß er ganz andere Sachen.«
»Was denn?«
Der Arbeiter antwortete nicht. Aus den weiten Feldern hinter ihnen war fast unbemerkt ein SA-Mann angekommen. Jetzt traten seine genagelten Schnürstiefel die Pflastersteine, die in die Landungszunge eingelassen waren. Der zweite Arbeiter erblickte die Uniform und verstand das Schweigen.
»Heil Hitler!« sagte der braune Soldat.
»Nabend«, dankte der zweite Arbeiter. Der erste aber hob wieder die Hände zum Mund: »Hol über!« brüllte er über das graue, langsam dahinziehende Wasserband. »Über«, gab die hohe Felswand zurück.
»Das Faultier schläft wohl«, meldete sich jetzt der Hitlersoldat. Prall saß die Uniform an ihm; seine Haut war rissig, hing in kleinen Fetzchen um ein bartloses Kinn, die Augenlider hatten
rötliche Wundränder. Er sprach in freundlichem Ton, überzeugt, dass er hier werben könne. Die Arbeiter schwiegen. Sie merkten, dass der junge Bursche fremden Dialekt sprach. Jederzeit hätte sie das neugierig und gesprächig gemacht, aber das braune Hemd lehrte, schweigsam zu sein. Gefahr ging aus von diesem Koppel mit dem Hakenkreuz. Sie sahen in die Luft, in der die rote Felswand aufwuchs, schimmernd an seinen oberen Rändern im Abendlicht, das aus ziehenden Wolken niederfloss. »Was steht eigentlich da oben für ein Denkmal?« fragte der SA-Mann, zeigte mit der Hand auf die Höhe der Wand und klatschte dann hinter dem Rücken die Hände wieder ineinander; er wippte dabei in den Hüften und hielt die entzündeten Augen auf die beiden Männer gerichtet wie ein hochmütiger Schulmeister.
Die Arbeiter streiften mit flüchtig erhobenem Blick die steile Felsenkanzel, die aus der waldigen Gebirgsmauer hervortrat und in schwindelnder Höhe eine scheinbar unzugängliche Kapelle trug. Nicht mal die Klause kennt er, dacht der erste Arbeiter, der nur schlecht seine Abneigung gegen den fremden braunen Soldanten verbarg. Der zweite Arbeiter fühlte sich überlegen in seiner Lokalkenntnis und beschloss, zu antworten; dem da würde ja das Königsgrab imponieren, dachte er: »Da habense einen begraben«, sagte er schließlich.
Der SA-Mann freute sich, dass der Anschluss endlich gelang. »Ein bisschen hoch«, sagte er, überzeugt, dass es sich um einen Witz handele.
Der Arbeiter rieb sich die Nase, fuhr dann um sein stoppeliges Kinn, seine dunklen Augen, umrändert vom Schatten der Müdigkeit, zwinkerten vergnügt: »Das haben sie extra gemacht, damit er besser sehen kann. Er war nämlich blind.«
Der SA-Mann hörte angestrengt zu, aber er kam auf keinen Sinn. Noch verstand er nicht die Feindseligkeit der beiden Männer.
»Ich verstehe nicht«, meinte er höflich, »von wem sprechen Sie denn?« Sein Ton war immer noch freundlich; unpolitische Arbeiter soll man leutselig behandeln, sagte der Führer.
Der Arbeiter hatte die Frage erwartet: »Von dem blinden König da oben. Der hat doch den Reichstag angesteckt.«
Nun wandte sich auch der andere Arbeiter um. Er war vorgetreten ans Wasser und hatte mit einem Stein nach einer am Rande des Flusses schaukelnden Flasche gezielt. Ein helles
Klingen antwortete, aber die Flasche torkelte unverletzt weiter. Da hörte er die Antwort des Arbeitskollegen. War der Peter verrückt geworden? Er sah zu dem SA-Mann zurück; der junge Bursche hatte die Stirn in Falten, seine höckerige Nase vibrierte; jetzt fühlte er die Provokation. Noch gemäßigt im Ton, aber mit Mühe die Erregung zurückhaltend, sagte er: »Was schwätzen Sie da für einen Unsinn!«
Der Arbeiter verzog sein Gesicht in ein seriöses Erstaunen; seine kleine Gestalt schien sich dabei zu spannen, eine jungenhafte Fröhlichkeit erhellte die arbeitsgrauen Backen, die Augen verbargen seine listigen Absichten nicht, aber der Mund war beherrscht, und ganz ernsthaft sagte Peter: »Es ist wahr! Der hat ihn angesteckt« - er zeigte auf die Grabkappelle des Böhmenkönigs - »der da und die Kommunisten.«
Der Arbeitskollege drehte sich schnell zu dem Wasser um. Das Drahtseil über seinem Kopf begann eben in der Rolle zu singen, der Fährmann stieß drüben ab. Über den Fluss hin grinste der Arbeiter: Jawohl, Peter war zu gebrauchen, der zog sie durch den Kakau, und sie konnten nicht einmal Krach schlagen. Wie der Braune still geworden war! Gegen Witz kam sone Uniform nicht an.
Der Arbeiter sah wiederum einen Flaschenhals vorbeikommen. Halloh, da kamen gleich drei auf einmal! Jetzt fiel ihm auf, dass sie alle verkorkt waren. Eine stieß an die Steine der Landungszunge, hob ihren Bauch höher aus dem Wasser und blieb plötzlich im seichten Ufersand stehen, bespült von kleinen Wellen, aber fest fußend. Der Arbeiter staunte: der Pfropfen auf der Falsche war vollkommen neu, und unter dem Glas steckte - ein langer weißlicher Knäuel wie ein Taschentuch oder eine knittrige Stange von Papier. Er wollte sich vorbeugen, dann dachte er an den Nazi hinter sich. Es war plötzlich eine Vorsicht in ihm, die ihn selbst belustigte. Das Fährschiff trieb heran, er sah das Wasser steigen, die Wellen stießen an die ruhende Flasche, sie wehrte sich vergebens, das Schiff knirschte in den Sand, die Flasche musste zur Seite springen, und schon trug sie wieder der Fluss.
»Nabend«, sagte der Fährmann. Er war ein kräftiger Greis; weiße Stoppeln schimmerten auf einer rosigen Haut, der man die Trinklust anmerkte. Die Hand, die das Seil hielt, war breit und sehnig, die andere hielt er jetzt ausgestreckt, um den Fährlohn zu empfangen. Der erste Arbeiter und Peter legten ihren
Sechser hinein. Der SA-Mann fuhr grüßend an die Mütze: »Dienst«, sagte er; es sollte der Ersatz für die Bezahlung sein.
Der Fährmann ließ ihn ins Schiff springen, aber er examinierte ihn noch einige Augenblicke von oben bis unten; die elegant um den Hintern geschnittenen Hosen, die glänzenden gelben Stiefel, geschnürt bis unter die Kniekehlen, die knappe Jacke und der steife Kragen. Sie spielen Offizier, auf unsere Kosten, dachte er, und schloss die Hand über den zwei Arbeitermünzen. Eine Flasche bullerte an den Bug des Fährkahns.
Der Greis neigte sich zur Seite, erblickte das schaukelnde Glas, sein alter Kopf stand über dem Strom, spiegelte im hellen Wasser dicht neben der angehaltenen Flasche, es war wie ein schneller Gruß, dann griff der Mann mit beiden Händen nach dem Draht und schob den Kahn in die Strömung.
Die Arbeiter saßen in der Mitte, der SA-Mann hatte sich an die Spitze gestellt. In der Pose des Kapitäns schaute er über die im Abendlicht schillernden Fluten. Der Bug des Schiffes schnitt die rötlichen Wellen zu weißem Gekräusel auf, es war ein märchenhaftes Geräusch, als striche eine zärtliche Hand mit Leidenschaft über ein seidenes Kleid. Plötzlich bumste wieder eine Flasche an die Bretter. Der Greis zog den Mund zu einem breiten Lachen auf.
»Was sind das für Flaschen?« fragte der SA-Mann.
Man sah eine größere Anzahl torkelnd wie Betrunkene den Fluss herunterkommen. Ihr aufgeregter Tanz hatte die Komik der Überhast; nicht schnell genug schien die Strömung sie zu tragen, sie stolperten nach vorn und tauchten für Sekunden dann in kleinen Wellenbergen unter.
Der Fährmann zog an seinem Seil und antwortete nicht. Meinetwegen, dachte er, sollst du selber draufkommen, aber nicht durch Matz, den Fährmann.
Der Kahn stieß jetzt an das Ufer. Der braune Soldat sprang als erster aufs Land. Vorsichtig die Kleider schonend, bückte er sich dann zu dem Wasser und ländete eine Flasche. Er zerschlug sie am Schiffspfahl, der zackige Hals blieb in seiner Faust. Die Arbeiter warteten im Schiff die Untersuchung ab. Glassplitter spritzten zu ihnen hinüber, der Fährmann stand auf seinem Brett und sagte immer noch kein Wort. Die Flasche war leer, enttäuscht warf der Soldat den Flaschenrest ins Wasser. Er hat eine Niete erwischt, dachte der Alte.
Der SA-Mann hatte sich wütend umgedreht. Ohne Gruß stieg er den Ufersaum hinauf und schlug den Saumpfad in Richtung zur saarländischen Grenze ein. Als er außer Hörweite gekommen war, schickten sich die Arbeiter an, das Schiff zu verlassen.
»Wart noch«, sagte aber der Alte, vertäute das Boot und griff mit einer jähen geschickten Bewegung ins Wasser. Zwei Flaschen zog er heraus. Er grinste, als seien es schwere Hechte, sah sich noch einmal nach dem Nazi um, der schon tapfer seiner Grenzwache zueilte, und entkorkte eine der Flaschen. Glucksend schlüpfte der Pfropfen aus dem Glashals, der Alte stieß einen Drah hinein, seine Zunge kam vor Erregung vor die lachenden Lippen.
»Da!« sagte er, und die Arbeiter sahen, dass ein graues Papier aus dem Flaschenhals stieg. Wie ein Tier, das sein Futter vor einem gefräßigen Feind zu schützen hat, deckte der Alte das Knäuel noch einmal schnell mit beiden Händen zu und äugte über die linke Schulter nach dem Hitlerrekruten. Beruhigt, den Braunen schon ganz klein in der Tiefe marschieren zu sehen, entfaltete er dann das Knäuel. Der Kopf von Goebbels wurde sichtbar, um ihn brennende Bücher, die fette Nase einer Ölkanne, hinter Goebbels die brennende Kuppel des Reichstags.
Die Arbeiter ergriffen den Rand des Kahns, stützen sich auf und lasen die Unterschrift.
»Es ist die AIZ«, sagte der alte Fährmann. Seine Stimme war leise aber nicht mehr aus Vorsicht; es war, wie wenn Jungens von Polforschern sprechen, oder Konsomolzen vom Reitergeneral Budjonny. »Nehmt sie euch mit«, fuhr in gleicher Ehrfurcht der Alte fort, »es steht drin von der Brandnacht und den Verhaftungen. Hier: Egon-Erwin Kisch - In den Kasematten von Spandau.« Der Alte wischte sorgfältig die Falten aus dem Papier. »Hier!« sagte er und reichte die antifaschistische Illustrierte über den Rand des Schiffes. Er kniff die andere Flasche unter den Arm und stand auf: »Und die ist für mich«, sagte er.
Die Arbeiter sahen ihn mit stummem Verwundern an. Dann stiegen sie die Ufertreppe hinauf. Der Abend sank aus den Wäldern. Vom Tabener Wald her jammerte ein Ave-Glöcklein. Die Männer stapften noch eine Weile der Grenze zu. Dort sitzen sie also doch, dachte Peter und sah in die Wälder der Saar. Und sie arbeiten schon wieder. Und wir sind nicht allein.
Als er den Fluss ansah, schien er ihm viel schöner und breiter,
wie etwas, das man nicht sperren und nicht vernichten konnte, ein sauberer, mächtiger Strom hier nach Deutschland herein.
Flugblätter auf Reisen
Die Aufwartefrau des D-Zuges 102 C Saarbrücken-Köln benutzte den Zollaufenthalt in Serrig, um frische Luft zu schöpfen. Es war ihr verboten im Dienst den Wagen zu verlassen, aber Frau Prüm hatte jene merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber Strafe und Entlassung, die aus der Nachkriegsentlohnung und der Fürsorgepraxis der eben verschiedenen Republik notwendig entspringen musste. Schlecht ging es mit Arbeit, schlecht ging es ohne Arbeit. Schuften musste man immer, und ob es jetzt zu Hause war mit Stempelgeld oder hier in den rollenden Häuschen, das war schon ganz einerlei.
Frau Prüm ging an den Ausschank auf den Bahnsteig. Sie sah dort Männer, die eilig Bier in sich gossen. Ein Becher würde nichts schaden, dachte sie. Aber das trug der Etat nicht. Zollbeamten gingen an ihr vorbei. Sie zupfte ihre graue Schürze zurecht. Der stramme Wachtmeister Fasian grüßte kollegial. »Gut aufgestanden heute«, rief sie ihm lachend nach und suchte ihre Zufriedenheit mit dem Schankmädchen zu teilen. Sie schmunzelte nach hinten zu der arbeitenden Kleinen.
»Er hat gestern eine Auszeichnung bekommen«, sagte das Mädchen und zeigte mit dem Finger dem Uniformierten nach. »Er hat einen Spion erwischt.«
Die Männer mit den Biergläsern in den Händen horchten auf bei der sensationellen Nachricht.
»Es gibt jetzt 'ne Masse hier an der Grenze«, fuhr das Mädchen fort. »Der von gestern wollte ihnen weglaufen. Er hat ihn aber gekriegt.« Sie winkte wieder mit dem Kopf nach dem Mann. »Dann ist er nochmals weg, und da haben sie ihn erschossen. Es war ein Kommunist, schon ein älterer Mann. Er liegt oben im Kirchhofshäuschen.«
Frau Prüms Gesicht verdüsterte sich plötzlich, sie sah dem redenden Mädchen in den aufgeregt schwätzenden Mund. Sie zählte die Goldzähne dort: fünf Stück und eine Krone. Das ist anscheinend die Wirtstochter, dachte sie. Bis jetzt immer vernünftig. Aber nun auf einmal eine Quatschsuse. Tut sich wichtig mit einem armen toten Kerl. Ein älterer Mann war's, dacht Frau
Prüm und erschrak. Er war vielleicht so alt wie ich. So was schießen sie gleich über den Haufen? Als wenn ein Kommunist unbedingt schlecht sein müsste.
Die Männer stellten die geleerten Gläser auf den Schanktisch. Der Zeiger der Bahnsteiguhr zuckte auf einen neuen Minutenstrich. Es ist Zeit, dachte Frau Prüm und blieb doch an dem Fenster des Ausschanks noch stehen. Die Leiche des Erschossenen sah sie liegen, hier in der Nähe in der Kapelle, um die hundert Grabkreuze standen. Ein grauer Kopf, Blut auf einer Decke, Fliegen auf den Flecken und ganz unheimliche Stille ringsum.
Frau Prüm las in ihrem kleinen Abteil viel Kriminalromane; sie wusste, dass Kommissare mit großen Photoapparaten solche Leichen aufnahmen, sobald man sie gefunden. Sie liebte die Stellen, wenn die Kommissare kamen und selbst einen Augenblick entsetzt zurückprallten. Aber hier war es doch etwas ganz anderes. Frau Prüm kaute an ihrem Zeigefinger und stierte auf den Sand des Bahnsteiges. Sie wusste nicht, warum ihr dieser Tod nicht gefiel. Sie hatte das Gefühl, ein Verwandter läge da, dicht auf der Grenze lag er. Plötzlich kam ihr zum Bewusstsein, dass hier eine Kriegsgrenze war; es war gar kein Frieden, der Bahnsteig lag in der Sonne und die Männer hatten Bier getrunken. Aber es war Krieg. Man erschießt ältere Männer, Arbeiter in meinem Alter, dachte Frau Prüm.
Sie hörte die Pfeife des Stationsvorstehers und sprang mit zwei Schritten nach vorn zu der offenen Tür des nächsten Waggons. Jetzt muss ich die Handtücher kontrollieren, dachte sie abwesend. Nach der Grenze, wenn keiner mehr den Zoll fürchtete, fingen die Leute immer wieder an, die kleinen Tücher zu klauen.
Sie griff sich an den Haltern des Waggons in die Höhe, der Zug schleifte langsam den Bahnsteig entlang, die Bude glitt vorbei, aber der Tote blieb in den Augen der Frau Prüm. Sie dachte: der Mann war ein Familienvater, und klinkte die Tür zu dem nächsten Abort auf.
Mit fachmännischem Blick erkannte sie, dass alles in Ordnung war; der Klosettdeckel war geschlossen, der Boden trocken, das Waschwasser floss, als die den Hebel drückte, und die Handtücher füllten den kleinen, weißgestrichenen Eisenkasten bis zum oberen Rand. Sie begann die Tücher zu zählen. Als sie beim vierten angekommen war, fühlte sie Papier unter den groben Mustern des gefalteten Gerstenkorntuches.
Vorbereitet wie sie war, schöpfte sie sofort Verdacht und schloss die Tür hinter sich.
Nach fünf Minuten erst verließ sie die Zelle. Ein glückliches Lachen hing um ihren Mund, aber im Korridor besann sie sich auf ein mürrisches Gesicht. Sie schlich auf den ausgetretenen Pantoffeln, das Wischtuch in der Faust, den Gang entlang, ein unfreundliches Gespenst, das keinen Blick zu haben schien, weder für die Menschen hinter den Glasscheiben, noch für die Landschaft, die rechts von ihr wegglitt. Sie stieß vorwärts wie ein Tier, das auf etwas Böses sinnt, wie ein hurmorloser alter schmutziger Rachegeist; und doch war sie glücklich mit ihrem Geheimnis, das unter ihren Handtüchern verborgen lag. So bog sie um die Wölbung am Ende des nächsten Korridors und stieß die Tür der Toilette auf. Wieder sperrte sie sich ein, wieder riss sie das Schränkchen auf und wieder knisterten die Handtücher nach Papier.
Frau Prüm zog das Fenster hoch. Saarburg näherte sich. Da kommen Braune, dachte sie; Braune, die den Alten erschossen haben und noch hundert andere. Eben hatte sie es gelesen. Eins der Flugblätter steckte in ihrer Unterhose. Dutzende der Flugblätter fuhren da mit dem Zug über die Grenze. In Saarbrücken musste man sie eingeführt haben. Keiner vermutete sie zwischen den sauberen weißen Lappen. Gewiss nahm sie jemand in Trier aus dem Zug. Frau Prüm bewunderte den unbekannten Täter. Er hatte die oberen Tücher, die bis zur Grenze eventuell gebraucht wurden, ohne Blätter gelassen. Das war geschickt, sie fühlte in sich das Knistern einer kriminellen Spannung. Ein Roman ereignete sich in ihrem Zug und sie, die Frau Prüm, spielte mit. Sie ging in ihr Dienstabteil und zog die Vorhänge vor das schmale Fenster. Eine Sekunde kam ihr der Gedanke, dass man sie verdächtigen könne, aber es war eine Verwandlung vorgegangen mit der Bedienerin. Sie saß lächelnd dort auf der Holzbank und war nicht mehr die gewöhnliche Leserin von Wallace.
Die anklagenden Blätter, die man da aus der Saar ins Reich schickte, der Tote, von dem das Mädchen so gedankenlos erzählt hatte - Frau Prüm merkte, wie sie plötzlich ganz anders über diese Geschichte dachte. Es kam ihr vor, als sei sie die Spionin, die auf einer Lokomotive ins feindliche Land fuhr. Hinter ihr, in dem Land, das der Zug verlassen hatte, war eine Armee, und die Armee schickte Botschaften an die andere jenseits der Grenze. Frau Prüm ahnte dies alles mehr, als sie es hätte ausdrücken können, aber in jedem Fall verscheuchte es ihr völlig jede Angst vor der Entdeckung. Sie war eine Illegale geworden.
Sie saß in ihrem Abteil und lachte nachdenklich vor sich hin. Der Zug bremste und stand. Die Schaffner riefen: »Saarburg!« Türen flogen krachend auf. Schlürfende Schritte. Harte Stiefel.
Die SA war im Zug. Sie hörte sie vorbeigehen und wusste, die Blätter sind nicht entdeckt.
Wohlig kam ein Gefühl der Rache in ihr auf. Noch einmal dachte sie an den erschossenen Arbeiter, der so alt war wie sie.
Mai-Andacht
Lisbeth Biesel huschte sehr eilig aus ihrem Laden. Sie hatte den linken Arm noch nicht ganz im Mantel. »Na Sie haben aber pressiert«, sagte der junge Felsenthal und empfing dafür sofort einen verwarnenden Blick der Mutter: »Sie geht doch in die Abendandacht - was kümmerst du dich.«
Lisbeth war schon auf der Straße. Kirchenglocken riefen durch die Häuserschlucht. Das Mädchen hörte sie und beschleunigte den Gang. Das versäumte sie nun auf keinen Fall, die Maiandachten vor der schönen Frau im blauen Mantel. Hell stand die Maria da, Kerzen waren wie lauter lustige Stimmen um sie herum und Blumen in Guirlanden und Sträußen. Hunderte hatten gebracht, was die Gärten schon gaben.
Lisbeth zupfte noch an ihrem kleinen Sträußchen herum; saubere weiße Osterblumen mit dem gelben Stern in der Mitte.
Lisbeth sah schon die Kirche. Viele Frauen kamen aus den Gassen herbei. Noch flimmerte der Frühlingstag in der Luft; die Kirchentür stand schwarz geöffnet, aber drinnen war das Licht, drinnen war das junge Jahr und war so bräutlich wie die Wiesen um die Stadt, wie der Krokus in den Beeten des Vorgartens am Bürgermeisteramt, war so neu wie die ersten klebrigen Blätter an den Kastanienbäumen und so ungewiss, selig ungewiss wie das andere - Lisbeth errötete, als sie soweit gekommen war mit ihren Gedanken. Dicht vor der Kirchentür hatte sich das Herz mit dem wahren Namen gemeldet, Werner trat neben das kleine Ladenmädchen. Sie fühlte, wie er bei ihr war, bis an die Treppe mitging. Und dort besann sie sich; denn Werner
folgte nicht mehr. Ihr Erröten wurde tiefer und wurde ängstlich, sie spürte, dass sie recht empfunden hatte: Werner würde nur bis zu dieser Treppe mitgehen, keinen Schritt weiter. Er war ein Roter. Er glaubte nichts. Es war schrecklich, aber deshalb musste man doch gerade beten, ihn der Mutter Gottes empfehlen. Vielleicht dass sie ein Mittel wusste. In diesem ihrem Ehrenmonat schlug sie nicht so leicht etwas ab.
Lisbeth sah nicht, dass Werner tatsächlich in der Nähe des Hauptportals stand und sie ankommen sah. Sie trippelte schnell die Treppe des Seitenportals hinauf und trat in den dunklen Raum. Bänke sperrten steif die Gänge. Aber in der Tiefe einer Seitennische flimmerte helles Licht.
Lisbeth umschritt die dunklen Hindernisse, beugte vor der roten Ampel des Mittelschiffs das Knie und ging dann auf den Zehenspitzen der Helligkeit und dem Gebet zu, das von der Seite kam.
»Gegrüßet seist du Maria«, hörte sie und betete leise mit, »du bist voll der Gnade«, Ehrfurcht ließ sie anhalten in ihrem Schleichschritt, »der Herr ist mit dir«, sie ging langsam weiter, »du bist gebenedeit unter den Weibern«, sie flüsterte die bewundernden Verse dem Priester nach, und jetzt sprach sie ungeduldig laut: »und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus!«
Der Priester setzte noch ein Gesetz hinzu: »den du zu Elisabeth getragen hast«, dann überließ er den Abschluss des Aves der frommen Versammlung; die antwortete etwas düsterer, mit vielen Stimmen des Flehens verstärkend: »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen!«
Lisbeth stimmte erlöst in das Chorgebet ein; sie war jetzt um die letzte Säule gebogen und sah die Nische mit dem Bild der hohen Fürbitterin, sah den Priester im weißen Chorhemd an seinem Pult knieen, sah den Messknaben und das Räucherfass, das er mit leisen Bewegungen in Glut hielt.
Inbrünstig wiederholte sie mit den ungefähr vierzig Menschen, die da knieten, das Bittgebet, aber sie mischte schon in die ersten Worte, mit den ersten heißen Blicken, die sie zu dem Heiligenbild schickte, ihre großen und gar nicht allgemeinen Bitten hinein. Er ist ein Roter, betete sie. Er hat es mir gesagt, gleich am ersten Abend, als wir uns getroffen haben. Als er mir alles erklärte. Er hat recht gehabt. Man darf die Juden nicht
verfolgen, nicht wahr. Und er hat auch recht, dass die Nazis immerzu lügen. Weil sie die großen Warenhäuser gar nicht zugemacht haben. Und der Tietz und der Wertheim, die bleiben auch wieder groß, und keiner tut ihnen was. Nur die Kleinen schikanieren sie. Und das ist überhaupt alles gelogen. »Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen.« Und das alles will er nicht. Er will Gerechtigkeit in der Welt. Bestimmt ist er nicht schlecht. Deshalb habe ich ihn auch gern. Und ich meine, er glaubt nur an nichts, weil sie ihm gesagt haben, das wäre altmodisch und nichts für Männer.
Lisbeth hob jetzt den Blick zu dem Gnadenbild: sie hatte bis dahin gestanden und nur gefühlt, wie das Licht der hundert Kerzen ihr heißes Gesicht überflutete. Nun kniete sie nieder auf den harten Mosaikboden, als wenn es ungehörig wäre, länger so viel zu erbitten, ohne seine ganze Demut bekundet zu haben.
Sie forschte im Gesicht der weißen Figur, ging von der glitzernden Krone, die im echten Blondhaar saß, zu dem tiefen Schwarz der Augen und hinab zu dem Lächeln des blassroten Mundes. Sie dachte an den Frühling draußen. Birkenbäume müssten neben der Figur stehen. Im Freien müsste sie lachen. Die ganze Stadt müsste sehen, wie schön sie war und wie man froh wurde beim Gebet an sie.
Lisbeth schwärmte, aber es war zugleich ein Buhlen um die Gunst der heiligen Frau; je höher sie die Frau setzte, desto eher hatten die Wünsche Aussicht, erfüllt zu werden. Lisbeth musste viele Worte von Werner übertönen mit ihrem lebenden Schwall. »Aberglauben«, hörte sie ihn sagen. »Götzendienst, Fetisch«, so hatte er gesagt. Lisbeth betete lauter als alle Nachbarn.
Ihre Gedanken gingen hastig neben den zitternden Bitten. Götzendienst! Ja, das war wirklich ein Entschuldigungsgrund für Werner. Aber gegen die Nazis. Gestern am 2. Mai hatte er von Berlin erzählt, hatte von dem Götzen gesprochen. Von dem Götzen Adolf. Ob das vielleicht ein Katholik mitmachen könne? Wie er da auf dem großen Tempelhoferfeld sich eine Tribüne bauen ließ und dann eine Million Menschen hingeschickt würden und dann kämen auf einmal hundert Scheinwerfer und richteten sich alle aus der Nacht auf die Tribüne, und da wäre nichts anderes zu sehen als der eine Mann? Jawohl, sagte Lisbeth und nickte der Madonna zu. So genau passt Werner auf.
Er ist gar nicht ungläubig. Er war so böse, dass sie den einen Mann da anbeteten, und es ist doch auch eine Schande, dass sie ihn so verehren. Wo er nur Hass predigt, wie Werner sagt.
Lisbeth spürte, dass ihr Gesicht mit der Madonna einen günstigen Ausweg fand. Werner hatte recht, wenn man an diesen seinen Spruch von gestern dachte. Er war ja in Wirklichkeit fromm. Er ging nur nicht in die Kirche. Das war alles. Aber die Mutter Gottes würde ihn nun wieder zurückholen. Ich gelobe dir, betete Lisbeth, dass ich jetzt jeden Sonntag an ihm arbeiten werde, bis er mitkommt. Und wenn er’s zuerst nur mir zuliebe macht. Aber ein Roter wird er bleiben, denn das lässt er sich nicht nehmen.
Sie hob wieder die Augen über die dunklen Köpfe der Versammlung hin. Wie mild floss das Licht, wie zart deckten die Blumensträuße die Füße der Heiligen! Wie sauber war das alles, wie ein Gedicht. Und nun fiel ihr wieder der Mann vom Tempelhofer Feld ein. Das verzerrte Gesicht, die Tränensäcke unter den Augen, die Bürste über dem verbitterten Mund und die kleinen Fäuste, die er in die Nacht hinausgestreckt hatte. Wahrhaftig, es war ein Götze! Ein schreiender Bosnickel, den man fast nicht erkannte, so groß war die Tribüne um ihn herum. Und das alles im Monat Mai, im Muttergottesmonat. Wo es Blumen gibt und die Nische da. Fromm wurde man in diesem Monat, machte seinen Dienst besser, sprach freundlicher mit den Menschen. Und alles war anders. Die Nacht da in Tempelhof aber, das war nicht katholisch. Werner hatte recht. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen.«
Das Mädchen sang die Verse mit glücklicher Stimme nach. Noch wenige Gesetze, dann war die Andacht zu Ende. Dann trat sie an die Heilige heran und legte ihren kleinen Strauß zu all dem anderen Blütenduft, neigte sich noch einmal vor der hellen, lächelnden Figur und ging glücklich zum Ausgang. Die Augen voll Licht ging sie zurück durch das stille, dunkle Mittelschiff, behutsam die Schritte dämpfend, um nicht zu schnell die harte Feierlichkeit der Stunde zu zerstören.
Aber wenige Schritte vor dem Haupteingang zerriss ein Schrei von der Straße die Poesie des schwingenden Schweigens. Lisbeth achtete beim ersten Mal noch nicht darauf, dann als sie die Tür griff, um in den dämmrigen Abend zu treten, verstand sie jäh erschreckend, wer dicht vor der Kirche vorbeizog.
»Heil Hitler«, schrie ein Trupp junger Burschen im weißen Hemd. Sie streckten dabei die Hälse nach der Kirche hin. Lisbeth zog die Schultern hoch, das war zu plötzlich da und war zu fremd. Fast schmerzte es körperlich; sie sah, dass einer der Burschen jemand die Zunge herausstreckte, fast sah es aus, als wenn er sie verhöhnen wollte. Aber Lisbeth blieb nicht lange in diesem Zweifel, denn jetzt sprang eine zu gut bekannte Figur aus dem Winkel des Hauptportals, sauste auf die Gruppe zu und schlug dem billigen Spötter mitten ins Gesicht: Werner! Wollte er mich verteidigen? Meinte er, sie hätten mich gehöhnt? Aber ich war ja so weit weg, so fast bei den Heiligen.
Mit einem verzeihenden Lächeln stand das Mädchen an der Kirchentür, während der Geliebte drüben dicht bedrängt wurde. Sie merkte es erst, als das Geheul stärker wurde und sie Werner nicht mehr genau erkennen konnte. Ihr liebendes Herz alarmierte sie, heftig hämmerte plötzlich das Blut, die Wirklichkeit schrie von der Straße die himmlische Sphärenmusik nieder. Sie rührte dennoch keinen Fuß, stand mit dem noch nicht eingewickelten Rosenkranz in der sich krampfenden Rechten; das duftige Pastell der Andacht verwischte, eine graue widerliche Prügelszene trat in ihre Augen, und eine ganz simple Angst um den geliebten Jungen schob nun alle anderen Gefühle weg.
Jetzt sah sie Werner wieder; er hatte sich eine Gasse geschlagen. Menschen liefen aus allen Läden herbei. Sie sah die Szene wie ein Theater an, wie einen Spuk, mit dem der Teufel sie scheuchen wollte, und wusste doch, wie echt die Gefahr war, in der sich Werner befand. Er wird immer in Schlägereien drin stecken, kam ihr gefährlich klar zum Bewusstsein.
Die Gruppe flog auseinander. Lisbeth sah, wie einige der Nazis in die Tiefe der Straße deuteten, wo ein Landjäger heraufkam. Aber Werner war nicht gestört dadurch. Er hatte die Faust schon wieder oben und drosch nach allen Seiten. Als der Landjäger nah herankam, war er fast allein mit einem der Nazis.
Lisbeth konnte endlich sich bewegen. Die Lähmung wich, als die Uniform vor Werner stand; jetzt hatte sie zu sagen, wie man ihn provoziert hatte, mit Zungeherausstecken und so weiter. Sie lief die Treppe hinab.
Aus allen Ecken schlichen die geflüchteten Nazis wieder herbei. Die Uniform schien sie sicher zu machen.
Lisbeth näherte sich der Gruppe. Der Landjäger hatte das Buch schon aus der Gesäßtasche gezogen. »Guten Abend«, sagte Lisbeth und trat dicht an den Landjäger heran. Sie war stolz, dass sie vor Werner beweisen konnte, wie sie ihm recht gab. Von denen da brauchte er sich nichts bieten zu lassen. Ganz glücklich war sie in ihrem kühnen Entschluss:
»Ich habe alles gesehen«, sagte sie, »man hat ihn herausgefordert.«
Weiter kam sie nicht. Werners Hand hatte sie am Arm gegriffen, nicht gerade schmerzhaft, aber doch hart und erschreckend bestimmt:
»Hau ab, Betschwester, hier reden jetzt Männer.«
Sie versuchte nicht, gegen seinen Griff anzugehen: Tränen stiegen ihr in die Kehle; ganz hilflos starrten ihre Augen ihn an. Er war ihr fremd, ungeheuer fremd. Warum packte er sie wie einen unbekannten Menschen? Sie spürte, wie sie ihm das Recht gab, sie so fest anzupacken; einen Augenblick wollte sie ihm etwas Liebes sagen. Dann verstand sie wieder, dass sie noch gar nicht wusste, was das für ein Mensch war. Wie ein Fels kam das plötzlich aus der Erde, ein Fels zwischen ihr, der Kirche da, der weichen hellen Madonnenfigur und dem feisten Landjäger mit den brüllenden Jungens, ein Fels zwischen allem, und der Fels war schließlich Werner selbst, der sie so weggeschoben hatte, dass sie jetzt noch seinen Griff am Oberarm spürte.
Sie machte nur einen kleinen Schritt auf Werner zu; ich verstehe dich ja, wollte sie sagen; ganz demütig wollte sie sein. Du kannst ja rot bleiben, wollte sie ihm zugeben. Aber er hielt sie mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen fest; dann sagte er endgültig:
»Solang du in die Kirche läufst, wirst du nichts kapieren.«
Der Landjäger steckte sein Buch schroff in die Tasche und fasste nach der Säbelscheide.
»Ihr kommt jetzt alle mit«, bollerte er und stieß Werner an die Knie.
Warum schlägt er nur nach ihm, dachte Lisbeth und sah, wie sie ihn abführten. |
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