Achtes Kapitel
Therese war zurückgekommen. Sie hatte den ganzen Rückzug von Dorsten, einmal mit dieser, einmal mit jener Schar, mitgemacht, immer wieder Verwundete verbindend. Sie griff manchmal selbst nach einem Gewehr und schoss mit den Männern gegen die vorrückende Reichswehr. Weil ihre Hoffnung, dass Franz noch lebe, immer mehr sank, bewegte sie der Gedanke, dass sie ihn jetzt zu vertreten habe. Und sie widersetzte sich den Männern, die sie durchaus zwingen wollten, die Truppe zu verlassen und sich zu retten.
Sie war an dem Tage nach Hause gekommen, als Tauten von den Reichswehrsoldaten verhaftet worden war. Sie fand die Mutter krank im Bett Hegen. Die alte Frau empfing sie mit der Klage: „Der Vater ist verhaftet worden. Er ist doch unschuldig, weshalb hat man denn ihn weggeholt? Geh hinaus, Kind, und sieh nach, wo er geblieben ist!"
Therese war diesem kleinen, engen Leben und diesen Klagen schon so fremd geworden, dass sie die Seufzer der verängstigten Mutter im Augenblick gar nicht rührten. Sie zog das abgerissene und verdreckte Zeug aus und ließ sich am Fenster nieder. Franz kommt nicht mehr! dachte sie.
Tauten kam gegen Abend zurück.
Er sah die Tochter am Fenster sitzen und blieb an der Tür stehen. Einen Moment lang glitt ein kurzer Schein der Freude über sein noch blasses Gesicht.
„Das Kind ist da", sagte er, „nun bin ich auch die letzte Sorge los." Er ging auf die Tochter zu und sagte: „Wir haben uns beide unsinnigerweise hinreißen lassen, aber das kommt mir nicht mehr vor. Jetzt wird wieder der Arbeit nachgegangen und alles vermieden, was uns noch einmal in eine solche Lage führen könnte."
Therese blickte ihn starr an: „Du hast wohl wieder deine Meinung gewechselt", sagte sie enttäuscht und bitter. „Franz liegt wohl draußen irgendwo totgeschlagen und Hunderte haben sich geopfert. Nur Schigalski hat es nicht verstehen wollen und hat dich wohl wieder zu dieser neuen Umkehr verleitet. Ich glaubte, dich anders vorzufinden."
Tauten hörte ihr verlegen zu. Er entschuldigte sich: „Was ich getan habe, das musste ich tun, und das haben auch viele andere getan. Man kann sich nicht gegen die Gewalt stellen, wenn sie stärker ist als wir. Und man kann ja auch in Frieden erreichen, was man mit Auflehnung und Widerstand nicht schaffen kann. Ich habe mich wieder besonnen, ja, und beabsichtige nicht mehr, gegen den Willen meiner Partei zu handeln. Wenn Schigalski nicht gewesen wäre, dann wäre ich wohl jetzt nicht mehr losgekommen."
Therese sagte erst nach einigen Minuten Grübelns: „Du hast nicht recht gehandelt. Deine Umkehr ist Flucht vor dir selber, und die Politik deiner Partei führt zum Verderben. Ich habe mich entschlossen, von heut ab mehr auf die anderen als auf dich zu hören. Wenn du glaubst, dass ich hier im Haus bleiben soll, dann bleibe ich, aber unsere übrigen Wege haben sich getrennt."
Tauten fand darauf keine Antwort mehr. Er sah sie noch eine Weile starr an, schüttelte den Kopf und ging stumm in seine Kammer.
Therese wusch sich und zog sich um. Sie wollte zu den alten Kreusats. Die brauchten jetzt jemanden um sich.
Sie begegnete in den Straßen den umherstehenden Soldaten und wandte ihre Augen ab. Sie hasste diese Gesichter und diese Uniformen. Sie eilte schneller.
Die alten Kreusats saßen stumm in ihrer Küche. Als sie eintrat, stieß Frau Kreusat einen Jammerlaut aus: „Da kommt sie!" Sie fragte: „Hast du Franz mitgebracht?"
Therese lief auf sie zu und zog die alte Frau in ihre Arme. „Mutter!" Beide weinten.
Martin Kreusat stand auf und ging in seine Kammer.
Bedrückende Wochen durchlebten die Menschen. Endlich verkündigte die Regierung eine Amnestie.
Die außerhalb des Ruhrgebiets weilenden Flüchtlinge wurden aufgefordert, zu ihren Familien zurückzukehren; es würde ihnen nichts geschehen.
Man spürte aber keine Freude. Überall lebte der Schrecken weiter. Die Leute auf den Feldern erhoben schnell ihre Köpfe, wenn irgendwo ein Hufschlag ertönte. Man war noch nicht sicher, ob die Ordnungstruppen nicht noch einmal ankämen. Die Ruhe war ein dauerndes Zittern und Ausschauen nach neuen Feinden.
Den Sommer über wartete man auf jene, die noch nicht zurück waren. Man hatte sie vor Dorsten, vor Wesel, in Mülheim und einige noch vor Essen gesehen, aber sie kamen nicht. Der Wurzbacher fehlte, der Johann Kaluga fehlte, der Edy Koschewa und der Martin Kaminski fehlten; aus den Nachbarstraßen fehlten welche. Aus allen Orten und aus allen Kolonien rundum fehlten noch viele.
Die paar Bäumchen, die in den rußigen Straßen standen, verloren schon ihre Blätter. Dürr und welk nahte der Herbst. Der Mensch spürte Hass und Erbitterung. Wenn es eine Ordnung und Gerechtigkeit gäbe, dann müsste eine furchtbare Strafe über diejenigen hereinbrechen, die dem armen Volk dieses neue Unglück bereitet hatten. Man konnte ja einander nicht mehr anblicken, ohne nicht selber in Heulen und Knirschen auszubrechen, so schwer war das Leben wieder geworden,
Oft sah man auch Therese vor dem Haus, wo Kreusats wohnten, stehen. Sie sagte nichts, sie klagte nicht -ein sonderbar still und ernst gewordenes Geschöpf. Sie erwartete ihre schwere Stunde.
Die Naumannsche traf sie zuweilen vor der Tür und schrie jammernd: „Warte doch nicht, Kind, reg dich lieber etwas und versuche, darüber hinwegzukommen!" Die ewig beschäftigte Frau trug wieder die Zeitung aus und rannte von Haus zu Haus, um die bedrückten Leute aufzumuntern, die alle noch unter dem Alpdruck lebten.
Endlich war auch Zermack mit Miller und Fritz Raup zurückgekommen. Die Frau und die Kinder empfingen ihn schreiend: „Der Vater ist da!"
Als sich der erste, schmerzliche Wiedersehenssturm gelegt hatte, fragte Zermack: „Ist Kreusats Junge wiedergekommen?" Die Frau schüttelte den Kopf und fuhr mit der Schürze über ihre Augen. Der große Mann kämpfte mit sich. Er setzte sich auf die Bank und hob seinen Jüngsten auf. Er strich dem Kleinen, der ihn nicht wieder erkannte, über den Kopf und beruhigte: „Schrei doch nicht, Kind, oder bin ich dir schon so fremd geworden?"
Seine Frau fragte ihn ängstlich: „Und wirst du wieder anfahren?"
„Es ist ja Amnestie", antwortete er, bitter auflachend, „und angeblich Order, alle wieder anfahren zu lassen."
Sie griff nach einigen Grubensachen: „Die muss ich auch noch flicken, wenn du wieder anfahren wirst." Sie sagte es nur, um ihre Tränen zu verbergen, die ihr immerfort aufstiegen. Es gab ja überall nur Trauer und Angst um die nicht heimgekehrten Männer; und auch sie hatte sich schon allerhand Gedanken gemacht, ob sie ihn nicht festgenommen und ihm was angetan hatten.
Als sie aus der Kammer einige Sachen hervorholte, um sie zu flicken, und der Hauer sich wieder gedankenvoll auf dem Schemel niedergelassen hatte, erschien in der Tür plötzlich bleich und aufgeregt der älteste Junge. „Vater, verschwinde irgendwo, man will dich holen", sagte der Junge und drängte ihm rasch den aufgegriffenen Rock in die Hand. „Geh, geh, sie wollen herkommen!" Frau Zermack kam aus der Kammer und sah erschrocken ihren Mann an.
„Mein Gott, wieder!"
„Ruhig", ermahnte der Hauer und nahm widerstrebend den Rock. „Erschreckt nicht gleich wieder. Wer sagte denn das?" wandte er sich an den Jungen.
„Geh, geh", drängte der aufgeregte Junge, und auch Frau Zermack bat: „Geh weg, Vater!"
Zermack zögerte noch, während der Junge erzählte: „Der Tille hat's dir sagen lassen. Ich soll dich warnen. Man will dich holen."
„Der Tille." Zermack kannte den alten Schutzmann als einen vernünftigen Mann. Er sagte trotzdem noch widerstrebend: „Es kann doch nur Unsinn sein. Die haben doch die Amnestie erlassen..." Er glaubte aber selber nicht mehr daran, denn schon auf dem Heimwege war ihm von neuen Verhaftungen in der Stadt erzählt worden. Er ließ sich jetzt ohne Widerstreben von dem Jungen hinausziehen. Der Hauer stand auf dem Hof. Er hatte, in einer kurzen Auflehnung, das Verlangen, in den Stall zu gehen, dort das Beil zu nehmen und sich, wenn sie ankämen, zur Wehr zu setzen. Aber der Junge zog ihn bei der Hand weiter ins Feld hinaus. „Geh in die Kolonie, da kannst du vielleicht irgendwo unterkommen; ich sage, du bist noch nicht zurück." Er schob ihn weiter.
Zermack stand einen Augenblick auf dem Feldweg. „Das ist die Heimkehr." Er schüttelte den Kopf. Er ging langsam nach der Kolonie hinauf. Vielleicht konnte er dort eine Weile bei einem Kumpel unterkommen, bis sich die Gefahr verzogen hatte. In Gedanken versunken ging er in die Straße hinein, wo Wurzbachers Familie wohnte. Er wusste nicht, dass Wurzbacher noch nicht zurückgekommen war, und klopfte bei ihm an. Frau Wurzbacher kam heraus. Er sah ihr verhärmtes Gesicht und wagte nicht, nach dem Mann zu fragen. Sie sagte selber: „Ihr seid alle zurückgekommen, nur meiner ist irgendwo liegen geblieben; jetzt sitz' ich hier mit den sechs Kindern ohne Brot. Die Mörder, die verfluchten!" weinte sie.
Zermack stand beklommen da und wusste nicht, was er der Frau sagen sollte. Er ging endlich weiter. Da rief ihn jemand an. Er sah sich um, erkannte Christian Wolny. „Die sind wohl auch hinter dir her?" fragte der frühere Kuli.
Zermack nickte abwesend. „Ja, man hat sich kaum sehen lassen, schon jagen sie hinter einem her. Ich musste von Hause weg, weil sie zu mir kommen wollen!"
Christian Wolny zog ihn mit: „Komm, gehn wir zu Heise." Zermack zögerte, aber Christian erzählte: „Der Schigalski hat ihn zwar wieder herausgeholt, aber Heise hat sich in den letzten Tagen gewandelt und hält zu uns. Auch Renteleit hält sich bei ihm auf, weil sie ihn schon gesucht haben!"
Heise empfing sie wortkarg. Renteleit saß in der Stube. „Jetzt spielen wir wieder Hasen, trotz der Amnestie", sagte der schwerfällige Mensch und lachte ingrimmig.
Heise trat in die Stube und sagte zu Zermack: „Ich halte es für richtiger, wir bringen euch woanders unter, denn ich bin noch nicht sicher, ob sich Schigalskis Sinn nicht wieder wandelt."
Zermack erfuhr von Renteleit, dass Heise mit der Sozialdemokratischen Partei gebrochen hatte, und verstand jetzt erst, dass dieser früher so widerspruchsvolle Mann ihnen bereitwillig seine Hilfe anbot. Heise hatte durch andere erfahren, dass sein Junge glücklich fortgekommen war. Heini saß noch irgendwo in Elberfeld.
Heise brachte Zermack am Abend zu seinem Schwager Schocke, der in der Stinnesstraße wohnte, schon länger zu der Opposition stand und sich gleich bereit erklärte, Zermack bei sich unterzubringen. Schocke hatte sich an dem Kampf nicht beteiligt, weil er Grubeninvalide war, und wollte wohl jetzt einen Teil Schuld abtragen.
Der junge Zermack war wieder nach Hause gerannt. Er stieß auf der Treppe auf eine Menge Nachbarn, und als er hinauf lief, hörte er in der Küche die Stimmen einiger fremder Männer. Der Junge stürzte herein und stellte sich erregt vor die Mutter.
„Wo ist Ihr Mann?" fragte Heumisch Frau Zermack. Als sie keine Antwort gab, ging er in die andere Stube und sah sich da um. Er fragte den Jungen: „Wo ist der Vater?"
Der Junge blickte ihn feindselig an: „Was wollt ihr wieder von ihm? Ich schreie die ganze Umgebung zusammen, wenn ihr nicht gleich geht!"
„Ich schlag dir gleich was auf das Maul!" knurrte der Beamte und wandte sich an die zwei anderen, die mit ihm gekommen waren. „Er ist ausgerückt! Wir hätten besser aufpassen sollen. Wir finden ihn aber noch", sagte er, sich nochmals nach der Frau umwendend. Sie gingen. Draußen war die Menge noch größer geworden. Man empfing die herauskommenden Polizisten stumm und mit finsteren Blicken. Heumisch ging schneller. Er hörte hinter sich mehrere der Männer grollend reden: „Das ist ihre Amnestie. Man sollte die Kumpels auffordern, gleich wieder die Brocken hinzuschmeißen. - Wir sind doch nicht ihre Hunde, dass sie uns immer wieder hetzen können."
„Schämt euch!" schrie die Naumannsche hinterher. „Geht zu dem reichen Krupp und verhaftet den Kerl, der unser Elend verursacht!"
Noch lange standen an diesem Abend die Leute vor den Häusern und unterhielten sich empört über die ewige Jagd nach den armen Menschen.
„Man sollte ihnen zeigen, dass wir noch nicht ganz zu Kreuze gekrochen sind", sagten die Männer.
„Ja, man sollte es ihnen noch mal zeigen." Zermack musste sich noch einige Tage verbergen, bis er endlich die Gewissheit hatte, dass man nicht mehr nach ihm fahndete. Die Partei und die Union hatten gegen diese neue Maßnahme der Regierung zu einer Demonstration aufgerufen.
Es war wieder wie in den Märztagen, als Zehntausende mit roten Fahnen, die Internationale singend, durch die Stadt zogen. Die Grünen standen mit ihren Karabinern da - sture Jägerblicke, aber sie wagten diesmal nicht, zu schießen und die Demonstration aufzuhalten. Diese neuerwachte Masse erschreckte sie und erinnerte sie wohl an jene Tage, da sie vor ihrem Sturm kopflos geflüchtet waren.
Die Regierung hatte die Strafverfahren endlich aufheben lassen.
Zermack und Raup, denn auch dieser hatte auf einige Tage verschwinden müssen, waren wieder nach Hause gegangen. „Hoffentlich ist jetzt die Jagd zu Ende", sagte Zermack, der nach den letzten Wochen um viele Jahre gealtert aussah.
Die gewaltige Demonstration hatte gezeigt, dass ihr Widerstand, ihr Aufstand noch nicht zu Ende war. Zermack und alle hofften und wussten, dass die Macht der Krupp und Stinnes, und wenn es noch so lange dauerte, doch einmal zu Ende gehen musste. Ihr zähes Anklammern an diese stumpfsinnige Macht ihrer Söldnerarmee und all ihre Versuche, sich auch der schwankenden Noskes und Schigalskis zu bedienen, um diese ihre Macht zu behalten, würden einmal zu Ende sein. Und sie, die Gehetzten und Elenden, die Schlepper dieses herzlosen Gefängnisstaates, sie würden wieder auferstehen, ja, auferstehen, einiger und mächtiger, und für sie würde es keinen Waffenstillstand mehr geben, bis die blutige Macht von ihrer Erde verschwunden sein würde.
Draußen fielen die letzten Blätter von den Bäumen. Die beiden Kreusats saßen am Fenster und sahen hinaus. Die Stadt donnerte wieder von Arbeitslärm, und von den Schächten tönten die Fördersignale. Man konnte das Rollen und Klirren der Förderwagen und der Eisen hören.
„Sie arbeiten wieder", sagte der alte Mann. „Sie haben sich wieder untergeordnet. Sie schleppen wieder ihr Kreuz."
Die Tür ging auf, und Therese schwankte unter einem Schmerzenslaut in die Küche. Ihre Augen zeigten Angst, und ihr Ächzen weckte die beiden alten Leute aus ihrer Versunkenheit.
„Was ist denn, mein Kind?" schrie Frau Kreusat und lief ihr entgegen.
Martin Kreusat stand auf und rief mit dem gleichen Erschrecken: „Kind, was ist denn?"
Therese stand an der Tür und blickte hilflos von einem zum anderen. Sie ging langsam, mit schleppenden Schritten seufzend auf Frau Kreusat zu und fiel ihr um den Hals: „Das Kind!"
Frau Kreusat führte sie in die Kammer. Sie streichelte ihr die Stirn und wehklagte laut: „Das Kind kommt - und nicht ein reines Lümpchen haben wir zur Hand. Nicht einen ganzen Bettbezug!"
Thereses Hände verkrampften sich in ihre Arme: „Mutter, er kommt nicht!"
Auch Kreusats Gesicht erzitterte und wurde feucht. Frau Kreusat drückte der hereinkommenden Naumannschen rasch den Eimer in die Hand: „Holt Wasser und setzt den großen Topf auf; fach das Feuer an", sagte sie zu dem Mann, „ich renn' rasch weg, ein paar Laken borgen."
Die Naumannsche brachte das Wasser und goss es in den Topf, den Kreusat auf das Feuer stellte. „Mein Gott, man muss doch die Frau holen." Und sie lief eilig hinweg, um die Hebamme zu holen. „Lieber Gott, lieber Gott", jammerte sie, während sie hastig die Treppe hinunterstieg, „jetzt kommt auch noch dieses Elend. Aber es ist vielleicht für alle ein Glück; so kommen sie von ihren Gedanken ab."
Die Wehemutter, Frau Kaduba, groß, breit, mit mütterlich besorgtem Gesicht, kam mit einem Seufzer: „Ach, dieser Jammer!"
Frau Freising hatte einen ihrer wenigen Bezüge mitgebracht, sie ging in die Kammer und warf in Eile das zweite Bett auf.
„Los, sie kann sich hier reinpacken!" Sie war so alt wie Frau Kreusat und hatte das gleiche bekümmerte Gesicht. Sie faltete die Hände und stieß klagend aus: „Wofür schindet man sich eigentlich mit ihnen ab, sie werden einem doch nur umgebracht!" Sie hatte zwei im Krieg verloren, und ihr Bruno war auch noch nicht nach Hause gekommen.
Während Frau Kreusat jammernd umherlief, legte Frau Kaduba die erschöpfte Therese in das andere Bett. Die Frauen umstanden in der Kammer das säuberlich bezogene Bett und gaben Therese, die zuweilen laut aufschrie, Dutzende Ratschläge. „So, leg die Arme um meinen Hals, halt dich ganz fest." - „Brüll ein bisschen, kreisch drauflos, das hilft schon." So redeten sie aufgeregt durcheinander.
Frau Kreusat hatte auch die Tautens rufen lassen. Sie kamen beide an. Frau Tauten lief schreiend in die Stube: „Ach, mein Kind, mein armes Kind!" Sie fiel jammernd über die Tochter.
Tauten blieb in der Küche. Er sagte nichts und horchte nur ängstlich nach der Kammer. „Setz dich, Jakob", forderte ihn Martin Kreusat auf. Er murmelte: „Es wäre besser gewesen, wenn der Junge wiedergekommen wäre. Aber er kommt nicht - er kommt nicht mehr, sonst hätte er sich schon irgendwie gemeldet!"
Tauten, der mit schuldbewusster Miene dagestanden hatte, sagte endlich: „Nun haben wir doch wenigstens das Kleine!" Er zog leise für sich eine zweite Bank heran und saß abwartend da, seine Angst in der Faust erstickend.
Als die Weheschreie lauter anhuben, stand er auf und ging auf und ab. Auch Martin Kreusat hatte einen unruhevollen Gang aufgenommen und murmelte öfters: „Es könnte doch wohl jetzt schon genug der Qual sein!" Da erhob sich drinnen der letzte, laute Schrei. Die beiden Männer verstummten und starrten nach der Kammer. -Jetzt erscholl das kleine, kreischende Stimmchen.
Beide Männer stöhnten erlöst. Tautens Augen flossen jetzt ungehemmt über.
Frau Kaduba trat heraus: „Es ist da!"
Hinter ihr kam zitternd Frau Kreusat: „Es ist da, ein Jüngelchen!" Sie schnaubte in die Schürze. „Mein Gott, jetzt fehlt nur der Große noch!"
Der Große lag im Wald bei Wesel.
Oben in der Salkenberg-Kolonie saßen bei Renteleit eine Anzahl Männer. Man sah auch Zermack, Raup und Miller darunter. Miller war mehrere Monate weggewesen und kam wortkarger zurück. Zermack hatte die Genossen zusammengerufen. Im Oktober hatte in Halle der Vereinigungsparteitag der Kommunistischen und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei stattgefunden, und auch hier sollte, wie überall, der Zusammenschluss der beiden Parteien vollzogen werden. Miller hatte noch keine Erklärung abgegeben. „Entscheide dich", sagte ihm Zermack, „du weißt, dass von deiner Entscheidung vieles abhängt, ob wir die ganze Ortsgruppe mitbekommen. Es sind über hundertachtzig Mitglieder, und wir wollen sie nicht einer neuen Verwirrung überlassen."
„Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll", sagte Miller. Stamm meldete sich. „Du weißt, dass ich mit mir schwere Kämpfe durchzumachen hatte", sagte er, „und ich hab' mich für ein Zusammengehen mit euch entschieden. Und auch heute entscheide ich mich wieder für euch. Die alte Zeit mit dem vielen Schwanken muss ein Ende nehmen. Dir dürfte es auch nicht so schwer sein, dich für das Bessere zu entscheiden."
Miller schwieg. Sein Gesicht arbeitete angestrengt. Die anderen warteten und sahen ihn an. Endlich hob er den Kopf und sagte: „Ich kann mich noch nicht entscheiden."
Die anderen standen auf. Zermack sagte: „Überlege es dir, enttäusche die Genossen nicht, Wilm. Unser Kampf beginnt erst." - Die anderen nickten. - Auch der graue Heise nickte. - Zermack sah Miller an: „Du willst doch jetzt nicht auf der Strecke liegen bleiben?"
Miller stand auf und ging allein hinaus.
Die anderen folgten. Draußen sagte Miller: „Es ist eine ernste Sache, aber ich will nicht nachgeredet bekommen, dass ich flüchten will!"
Die Feuer brannten wieder, und vom Schacht tönten die Fördersignale. Aus einem der Häuser ertönten die Klänge eines Bandoneons. Zermack hörte die Melodie und den Gesang mehrerer junger Stimmen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder, zum Lichte empor, hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor..."
Es war Christian Wolny. Christian führte jetzt die Kommunistische Jugendgruppe. In der kleinen Kammer saßen der junge Heise, Martin Kaminski mit Edy Koschewa und Bruno Freising und eine Schar anderer. Bruno spielte Bandoneon. Christian Wolny stand aufrecht und sang mit glücklichem Blick: „Auf, und verjagt die Tyrannen, auf dass ihre Herrschaft zerschellt..."
„Unsere guten Jungen!" sagte Fritz Raup. „Unsere Hoffnung. Aber wir sind auch noch da und werden nächstens noch mit mehr kommen. Mit noch mehr."
Die Flammen im Krupp-Werk stiegen hoch in den Himmel. Zermack sah hin und lauschte. Er hörte das Dröhnen der Eisen und das Pochen der schweren Hämmer. Er sah die Schächte und die Berge von Kohle und dachte an die vielen, die sich unten und in dem flammenden Werk wieder um das trockene Brot abmühten. Ihr Müheland, ihr Schmerzensland, ihre Ruhr! „Und wir werden uns von all den Peinigern frei machen, und wenn wir noch dutzende und hunderte Male in den Tod ziehen müssten!" sagte er. „Und wenn wir es nicht selber erleben, dann sollen es unsere Kinder erleben. Ja, wir werden uns nicht aufgeben, bis das Land von allen Henkern frei ist. Es ist unser Schweiß, es sind unsere Blutstropfen, unsere Mühe. Unsere Mühe!" „Unsere Mühe!" sagte Stamm.
Die Stadt stand rot und hell in dem auflodernden Flammenschein, als schürten dort mächtige Arbeitsarme die neue Glut. Und das Klirren der Ketten und die Schreie der Lokomotiven hörten sich an, als risse ein stöhnender Riese an seinen Fesseln... |
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