Sechstes Kapitel
Es war gegen acht Uhr morgens.
Von Katernberg kamen eilige Radfahrer und riefen den Männern, die vor den Häusern standen, zu: „Besorgt euch schnell was in die Hände und besetzt die Straßen, die Grünen müssen aufgehalten werden, wenn sie kommen sollten. Unsere haben den Gelsenkirchener Flugplatz angegriffen!"
Ein Teil der Bergmänner ging in die Häuser und zog sich rasch ganz an. Die Frauen schrien: „Rennt doch jetzt nicht raus! Die Grünen können herkommen und euch totschießen!"
Zermack und Raup liefen, der eine nach der Salkenbergkolonie, der andere nach der Mittelstraße, mit einigen Gruppen jüngerer Kumpels, während andere auf ihre Räder sprangen und eilig nach dem Flugplatz jagten, um noch einige Gewehre und Munition zu holen.
Die Zermacksche hatte sich zu der Raupschen gemacht, mit der sie gewöhnlich all ihre Sorgen besprach. Sie hatten öfters im gleichen Hause gewohnt und hatten sich mit den Jahren eng miteinander befreundet. Beide waren wohl in demselben Alter und von der Derbheit immer schwer arbeitender Frauen. Die Zermacksche war die Ruhigere; sie hatte sich schon mit dem vielen Rennen ihres Mannes allmählich abgefunden, während die Raupsche noch immer aus der Fassung geraten konnte, wenn ihrer sich in solche Gefahren begab, wie sie dieser Tag wieder ankündigte.
„Mein Gott", empfing die kleinere Frau Raup, deren Kopf schon langsam ergraute, die Zermacksche, „die sind wieder unterwegs. Wenn das nur heute gut ausgeht!" Sie jagte den ältesten Jungen mit der Brotkarte zu Kleinemanns, um noch schnell etwas Brot ins Haus zu schaffen, weil man nicht wusste, ob man in der nächsten Stunde noch hinaus konnte.
„Sie sollen dir das ganze Brot geben", rief sie dem Jungen erbost nach, „oder ich komme dem Kerl, der bei unsereins immer knausert, selber hin!" Sie wandte sich wieder zu der Zermackschen um.
„Was tun wir nur, Menschenskind, wenn den Kerlen etwas zustößt! Der Miller sitzt schon seit gestern, und auch die alte Kreusatsche heult um ihren! Jesus, Jesus, diese verfluchte Zeit!"
Frau Zermack beruhigte sie, obwohl sie mit der gleichen Besorgnis gekommen war. „Nu, denk nicht gleich alles Schlimme. Unsere Männer sind doch nicht so leichtfertig, dass sie in das Feuer rennen. Ich wollte nur nachschauen, was du machst. Ich weiß ja, dass du gleich aus dem Rahmen gerätst, wenn deiner wieder loszieht. Mir ist es ja auch nicht recht, wenn meiner so ins Ungewisse hinausrennt; man kann aber doch die Männer nicht daheim festbinden, wenn alle hinaus müssen!"
Draußen rollten ein paar schwere Wagen. Frau Zermack sah durch das Gardinchen und erschrak: „Die Grünen!" sagte sie.
Frau Raup ging rasch an das Fenster. Mehrere Wagen, mit der Grünen Polizei vollbesetzt, rasten den ersten nach. „Jesus, Jesus", schrie sie, „und die Männer sind hinaus!"
Der Junge kam ohne Brot zurück. Er erzählte aufgeregt und fast erfreut: „Die Grünen fuhren vorbei, und an der Kirche schießen sie schon. Es sind Unsere!"
Frau Raup jammerte: „Warum hast du kein Brot mitgebracht? Der verdammte Kerl von Krämer will uns wohl jetzt verhungern lassen!"
„Der Laden ist zu", sagte der Junge. „Der Kleinemann ist wohl in der Stadt bei der Einwohnerwehr", fügte er hinzu. „Sein Gymnasiast hat damit herumgeprahlt. Es würde uns Fetzen schlecht ergehen."
Frau Zermack ging mit neuen Sorgen in ihre Wohnung zurück.
Draußen bei der Kirche fielen immer häufiger die Schüsse, und auch Maschinengewehre begannen zu knattern. Der Kampf tobte anscheinend zwischen der Mittelstraße, die nach Katernberg führte, und dem Stoppenberg, wo die kleine uralte Kirche stand.
Fritz Raup war mit Kahlstein und einigen anderen Kumpels nach der Mittelstraße geeilt, wo die Zollvereiner lagen. Er kam gerade an, als die Meldung eintraf, die Grünen wollten zum Gelsenkirchener Flugplatz, um dort die eingeschlossenen Polizeikompanien zu entlasten. Die Kumpels hatten kaum Deckung gesucht, als die schweren Wagen heranrollten. „Schießt!" befahl Raup den Genossen. Das eine Maschinengewehr, das sie hatten, und die Dutzend Gewehre entluden sich gegen den ersten auftauchenden Wagen.
„Halt!" schrie der oben stehende Offizier und befahl erregt den Polizisten, abzusteigen und auszuschwärmen. Sie erkletterten den Kirchberg und fingen von dort an, in die Mittelstraße hineinzuschießen. Sie waren mit ihrem Feuer den wenigen Gewehren der Arbeiter überlegen, weil sie mehrere Maschinengewehre hatten. Hagel von
Kugeln überschütteten die Straße. Die Männer konnten sich kaum noch mit den Köpfen hervorwagen, und Fritz Raup hatte alle Mühe, die durch das heftige Feuer der Grünen eingeschüchterten Kumpels zu einer weiteren Verteidigung zu bewegen.
Aber plötzlich fielen auch hinter dem Kirchberg Schüsse. Ein Maschinengewehr begann etwas entfernt zu klopfen. Es schien aus der Richtung des Salkenbergs zu kommen.
„Gott sei Dank", sagte Fritz Raup erlöst, „das sind Jupp Zermack und Kramm. Die helfen uns!"
Das Feuer auf dem Kirchberg wurde schwächer. Eine Anzahl der Grünen hatte sich wohl den neuen Angreifern zuwenden müssen.
Fritz Raup fasste wieder Mut, und er hieß einige Leute auf ihre Räder steigen und nach Katernberg jagen, um Verstärkung zu holen. Inzwischen waren noch mehr Stoppenberger herbeigeeilt, und er verteilte sie auf die umliegenden Gärten und Höfe. „Sieh zu", sagte er zu Kahlstein, „ob du nicht in die Salkenberg-Kolonie gelangen kannst, und schau mal, wie es Zermack und Kramm geht. Ich denke, die anderen müssen bald hier sein, und dann werden wir wohl weiter vorstoßen. Sag Zermack, dass wir uns nicht gegenseitig ins Feuer kommen."
Kahlstein übernahm jetzt den schweren Kurierdienst und lief und kroch die beschwerliche Strecke mehrere Male zum Salkenberg zurück.
Die Grünen hatten mit einer größeren, von dem Kirchberg abgezogenen Gruppe das Haus des Arztes Kondring besetzt und schossen gegen den Salkenberg und den Bahndamm, hinter dem Kramms Leute und Zermack lagen.
Der einfache Soldat Fritz Raup war an diesem Tage der Kommandant von fast einer Bataillonsschar seiner Bergleute geworden. Die nach dem Flugplatz weggeschickten Leute hatten noch einige dreißig Gewehre und ein zweites Maschinengewehr und die Nachricht mitgebracht, dass alsbald Verstärkung käme. Weil zu erwarten war, dass auch die Grünen Verstärkung erhalten würden, schickte Fritz Raup eine größere Schar mit dem zweiten Maschinengewehr auf Umwegen nach dem Nölle-Werk, von wo aus sie die von Essen herabsteigende Hauptstraße unter Feuer nehmen und ein Anrücken weiterer Polizeitruppen aufhalten sollten. Auch dort begannen jetzt die Gewehre zu knallen.
Es ging schon in die zehnte Stunde, aber der Feuerkampf tobte weiter. Katernberger Kuriere brachten Nachrichten, dass die auf dem Flugplatz eingeschlossenen Grünen den Kampf aufgegeben hätten, und Kuriere aus anderen Vororten Essens kamen mit der Botschaft, dass ihre Werkleute den Viehhof angreifen wollten.
Der Tag war gerettet.
Fritz Raup saß borstig und erschöpft auf einer Haustreppe und erteilte von dort seine Befehle. Die Kumpels, etwas entspannt, folgten ihm jetzt willig und verließen ihre Deckungen nicht mehr, wie am Morgen, wo noch verschiedene vor dem rasenden Feuer der Grünen immerzu entsetzt weggerannt waren.
Endlich kamen die ersten Scharen von Katernberg. Andere folgten. Fritz Raup beriet mit den leitenden Leuten. Sie beschlossen, den Kirchberg zu stürmen.
Die Scharen zogen sich auseinander und gingen vor. Mehrere Gruppen drangen die Essener Straße hinauf. Die Grünen verließen unter dem Feuer den Kirchberg und zogen sich gegen Essen zurück.
Um das Haus des Arztes entspann sich noch ein langwieriger Kampf. Die Grünen, die dort eingeschlossen waren, warfen Handgranaten. Anscheinend hatten sie dort die ganze Reservemunition abgeladen.
Um die elfte Stunde entschloss sich Kramm, das Haus mit seinen Kumpels zu stürmen. Da sie viele Handgranaten von den vom Kirchberg geflüchteten Grünen erbeutet hatten, begann jetzt ein furchtbarer Kampf mit den Granaten. Mehrere der Koloniekumpels liefen blutend aus dem Feuer. Einige blieben vor dem Haus liegen.
Die Grünen hofften anscheinend auf Hilfe und Entlastung und richteten sich drinnen auf eine längere Verteidigung ein.
Während Kramm mit seinen Leuten um das Arzthaus kämpfte und andere, aus der Mittelstraße heraneilende Kumpels das Feuer gegen die nach Essen zurückweichenden Grünen aufnahmen, gingen Fritz Raup und Zermack mit Wirrwa und einigen älteren Leuten zurück: „Wir wollen uns auf der Wache umsehen", sagte Zermack. „Es muss sofort etwas Ordnung in das Durcheinander gebracht werden. Und einige Küchen werden wir wohl auch einrichten müssen." Sie fanden die Wachstube verlassen. Die Blauen, auch Herr Loew, waren an diesem Morgen nicht zu ihrem Dienst erschienen.
„Wir werden die Herrschaften holen", entschloss sich Zermack. „Sie sollen uns erzählen, wo sie Miller und die anderen Genossen gelassen haben."
Herr Loew, der im Nebenhause wohnte, wurde geholt. Er knöpfte sich unterwegs den Rock zu: „Meine Herren, Sie werden entschuldigen, aber ich habe immer nur meine Pflicht getan und habe mich um die politischen Geschichten nie gekümmert", entschuldigte er sich immerfort.
Fritz Raup antwortete ihm voller Ingrimm: „Sie haben sich schon immer darum gekümmert, wie Sie uns loswerden könnten. Und Miller und die anderen sind auch nicht ohne Ihr Zutun verhaftet worden."
„Ich schwöre", stammelte Herr Loew, „ich weiß nichts von dieser Verhaftung."
Da schrie Fritz Raup empört: „Sei still, verfluchter alter Heuchler, wir kennen dich!"
Herr Loew wurde still und knöpfte wieder an seinem Rock. Er fragte nach einigen Seufzern: „Wird - man mich erschießen?"
„Wir werden uns an Ihresgleichen nicht die Hände besudeln!" antwortete Fritz Raup, Und er fügte böse hinzu: „Wie erbärmlich seid ihr doch, wenn ihr Menschen sein sollt - wie jämmerlich!"
Der Kommissar saß dösend in der Wachstube. Endlich fragte er Zermack, der ebenso düster wie Raup umherging: „Was geschieht jetzt mit uns?"
Zermack fragte ihn: „Wo sind die Verhafteten? Ihr habt es doch sicherlich angezettelt! Wenn wir nicht erfahren, wo ihr sie hingebracht habt, dann sperren wir euch alle ein!"
Herr Loew gestand nun: „Die sind nach Essen transportiert worden. Aber", fügte er hinzu, „ich hatte mit dieser Angelegenheit nichts zu tun!" „Wer hat es getan?" fragte Zermack.
Herr Loew zögerte erst, dann sagte er: „Herr Heumisch hatte den Auftrag gehabt!"
„Den Auftrag!" lachte Zermack, und seine Stirn wurde rot. „Auftrag! Wenn den Genossen ein Leid angetan worden ist, dann holt euch alle der Satan!" versprach er. „Lasst ihn wieder nach Hause gehn. Wir brauchen ihn hier nicht!" sagte er zu Raup und Wirrwa.
Herr Loew ging, er knöpfte noch immer an seinem Rock.
Zermack und Raup suchten das Haus ab, ob nicht irgendwo Gewehre lagen, denn die Blauen hatten in den letzten Tagen welche getragen. Sie fanden nichts.
„Die werden sie wohl alle weggeschafft haben, die Halunken", sagte Zermack. „Man macht es immer falsch, man lässt sich immer noch rühren, anstatt sie festzuhalten oder zu erschießen."
Sie ließen den alten Henke, einen zuverlässigen Genossen, mit einigen anderen auf der Wache zurück und gingen wieder nach der Essener Straße.
Die Grünen hatten sich am Bahnhof und auf dem Sportplatz, in der Nähe des Bahnübergangs, festgesetzt, wo sie hinter einem Abhang Schutz fanden, und beschossen von dort die Essener Straße und den Bahndamm vor dem Salkenberg.
Die Grünen hatten im Verlaufe des Nachmittags Verstärkung bekommen, und es blieb vorerst nur bei dem Feuerkampf, der zeitweise abflaute, aber nach einigen Minuten wieder heftiger anstieg.
Mehrere Tote und Verwundete waren schon weggetragen worden. Unter den Toten lag auch Hermann Kahlstein, den an dem Arzthaus eine Kugel getroffen hatte.
Zermack und Fritz Raup gingen zu den kämpfenden Gruppen, die sich jetzt rund um die Ortschaft festgesetzt hatten. Seit dem Mittag waren immer neue Scharen aus Katernberg und Rotthausen zugestoßen, und man wartete noch auf die angekündigten „Hagener", die nach den Berichten schon eine kleine Armee darstellen mussten. Man fragte auch Zermack und Raup überall ungeduldig, ob „die Hagener" nicht bald ankämen.
„Die werden wohl erst noch Gelsenkirchen und die anderen Löcher frei machen müssen", antwortete Zermack, „sonst wären sie bestimmt schon hier. Sie wissen, dass wir auf ihre Hilfe warten."
„Dann sorgt dafür, dass sie bald kommen", drängte Bruno Freising, der an dem Nölle-Werk lag. „Die Grünen scheinen etwas vorzuhaben!"
Die beiden hatten von Kahlsteins Tod vernommen, und Fritz Raup zog, als sie wieder in den Ort zurückgingen, Zermack in den kleinen Hoffrone-Saal, wo die Toten lagen. Sie erkannten Hermann Kahlstein an seiner Matrosenbluse, die er an diesem Morgen wieder angezogen hatte. Das bärtige, blasse Gesicht schien trotz der harten Falten, die der Kampf um das Arzthaus auf seiner Stirn zurückgelassen hatte, zufrieden zu lächeln. „Guter Junge!" sagte Zermack und streichelte die schwere Hand.
Unter den anderen lag noch ein großer, schwerer Mann mit düsterem, herbem Gesicht. „Der Gutschnick!" sagte Fritz Raup.
„Gutschnick!" Zermack dachte an Gutschnicks Gram und Hass. „Du konntest den erhofften Tag deiner Freude nicht mehr erleben, Gutschnick!" seufzte der große Mann.
Die anderen Toten waren fremde Männer.
Fremd? Heute war ihnen keiner fremd, alle waren ein Teil ihrer selbst, waren Genossen.
Zermack strich auch dem toten Gutschnick über die benarbte Hand und murmelte: „Und wir sind erst am Anfang..."
Sie gingen.
Fitz Raup entriss sich draußen dem lähmenden Druck, der sich bei dem Erkennen der ungeheuren Schwere ihres Kampfes auf seine Seele gelegt hatte. „Wir dürfen uns jetzt nicht entmutigen lassen", sagte er mit plötzlicher Härte, „wir müssen vorwärts!"
Es war mittlerweile wieder Abend geworden. Fritz Raup war, während Zermack wieder nach der Wache zurückging, auf einen Sprung nach Hause gegangen, wo er Zermacks Schar mit der seinen versammelt vorfand.
„Mein Gott, da kommt er endlich!" schrie Frau Raup und griff nach seiner Hand. „Was haben wir diesen Tag ausgestanden! Du bleibst doch jetzt hier!"
Er schüttelte den Kopf. „Ich muss wieder weg!" „Warum musst du denn wieder weg?" begann sie zu weinen.
„Sei still, ich muss raus!" sagte er fast zornig.
Frau Zermack fragte: „Wo ist meiner?"
Er sagte, dass Zermack auf der Wache sei. „Ist ihm nichts geschehen?" fragte sie besorgt. „Nein!" sagte Raup. „Er ist wohlauf!" Er hieß den Frauen, nicht rumzusitzen, sondern mit den Kindern zu Bett zu gehen. Heut nacht wird es wohl zu nichts kommen. Er wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte, denn jede Stunde konnte eine Änderung eintreten, aber die Angst der Frauen war eine Fessel, und weder er noch Zermack durften jetzt Müdigkeit oder Missmut zeigen.
Er aß etwas und ging wieder eilig weg. Er traf auf der Wache Tauten an, den er in den letzten Tagen nur wenig gesehen hatte. Tauten hatte die Nachricht gebracht, dass Kapp und Lüttwitz wieder abgedankt hätten und dass die alte Regierung und die Gewerkschaften bald zum Abbruch des Generalstreiks aufrufen würden.
Zermack raste. „Ihr seid wahnsinnig. Kapp und Lüttwitz gehen, aber sie lassen ihre Söldner zurück, die gleich wieder als Schergen auftreten, wenn wir jetzt den Kampf aufgeben."
„Aber Leute", wandte Tauten ein, „wenn Kapp und Lüttwitz wieder gehen, dann wird auch die Polizei zurückgerufen werden. Der unselige Kampf wird gewiss abgebrochen. Wir können damit ganz sicher rechnen. Seid doch nicht so halsstarrig!"
„Du kannst den Kampf jetzt nicht mehr abbrechen", antwortete Zermack noch in Groll. „Da ist der Hass schon zu hoch gestiegen. Geh zu den Kumpels, die schon geblutet haben, ob sie sich aufgeben wollen; sie werden dich davonjagen. Und die feindliche Gesellschaft drüben denkt gar nicht daran, sich deiner Regierung zu fügen; die Mörder verhöhnen eure Einfalt. Da, hör sie draußen. Ihre Maschinengewehre schießen weiter."
Tauten brummte: „Ich denke, es hängt von beiden Seiten ab, ob der Frieden wiederhergestellt wird."
Zermack antwortete ihm. nur mit einem bedauernden Blick.
Er wandte sich einigen Kumpels zu, die mit erschöpften Gesichtern hereinkamen. Kramm war mitgekommen. Er sagte heiser: „Ich glaube, die Grünen planen etwas. Sie sind vom Sportplatz verschwunden, aber der Viehhof scheint stärker besetzt worden zu sein, und in der Stadt bereiten sie, wie die Freisteiner erzählen, allem Anschein nach einen neuen Angriff vor. Wir müssen noch mehr Verstärkung heranziehen."
Tauten hörte dem Bericht missmutig zu und sagte wieder: „Leute, übertreibt's doch nicht. Ihr seht alle Gespenster. Ich sage: Morgen wird die ganze Geschichte vielleicht zu Ende sein."
Zermack hörte nicht auf ihn, er sagte zu Raup: „Schicke noch mal einige Leute nach Katernberg, sie sollen mehr Hilfe heranschaffen. Ich glaube auch, dass wir die Nacht etwas zu erwarten haben." Er wandte sich zu Tauten und sagte ihm: „Es wäre besser, du gäbst deine Gläubigkeit auf. Helf lieber hier mit. Setz dich mit deiner Fraktion zusammen und dränge den Bürgermeister, dass für unsere Leute einige Küchen eingerichtet und Lebensmittel beschafft werden. Es kann hier morgen schon ganz anders aussehen!"
Tauten zuckte die Schultern. „Ich habe gesagt, was ich euch zu sagen hatte. In eure Geschichten mische ich mich nicht hinein, denn kein Mensch weiß, wie es noch ausarten wird, wenn ihr auf dem Weiterkampf beharrt. Ich geh' jetzt nach Hause und kümmre mich nicht mehr um eure Dinge. Wenn die Gewerkschaften den Abbruch des Streiks beschließen, ist es für mich zu Ende", sagte er, sich noch einmal in der Tür umwendend.
Fritz Raup sagte nach einigem Schweigen zu Zermack: „Lass ihn laufen. Er wird noch zu sich kommen!"
Zermack schüttelte wieder den Kopf. „Wenn ihm einer neunzehnhundertfünf oder -zwölf gesagt hätte, was er heute selber redet, den hätte er als seinen Todfeind angesehn. Hoffentlich kommt er wieder einmal zu sich!"
Es wurde Nacht und frostig. Die Wache war jetzt ständig voller Leute, die sich entweder ein Gewehr holen wollten oder aus den Nachbarorten angerückt kamen. Auch die Kuriere von den verschiedenen Kampfstellen kamen mit Meldungen oder nach Brot, denn die meisten der auswärtigen Kumpels hatten seit vierundzwanzig Stunden nur von dem Wenigen gezehrt, was sie sich in Eile von Hause mitgenommen hatten.
Fritz Raup entschloss sich, den Bürgermeister zu wecken, damit dieser Anweisungen herausgab, das Brot zu beschaffen.
Herr Claus kam erst nach mehrmaligem Klopfen heraus. Als er Raups Vorschlag angehört hatte, sagte der alte Herr: „Aber, liebe Leute, ich kann das doch nicht allein anordnen. Das muss erst die Bürgermeistereivertretung beschließen. Übrigens", wandte er ein, „woher sollen wir denn jetzt das Mehl bekommen?"
Raup erwiderte: „Das ist Ihre Sache. Es gibt mehrere große Bauern am Ort, die auf den vollen Säcken sitzen. Lassen Sie dieses Mehl hergeben, und wir haben Brot genug!"
Der Alte wand sich noch, aber er sah die düsteren Männer mit den Gewehren dastehen und lenkte ein: „Also, ich will tun, was ich kann. Aber", fügte er mürrisch hinzu, „ich werde es dann wieder vor der Bürgermeistereivertretung zu verantworten haben."
„Wir brauchen das Brot sofort", sagte Fritz Raup nachdrücklich, und die Männer gingen.
Sie bekamen das Brot noch in der Nacht.
„So ein Gewehr spricht doch oft besser als die beste Zunge!" sagte der alte Henke, als die noch warmen Brote auf der Wache abgeladen wurden; er sah aus wie ein Stück alten Eisens, ruppig und rostig. Henke hatte ungefähr an die dreißig Jahre an den Öfen im Kruppwerk verbracht.
Zermack war mit Raup wieder in den Ort hinausgegangen. Sie waren auf dem Wege zu dem Nöllewerk, als plötzlich mehrere Knalle von Handgranaten dröhnten. Die mussten in der Nähe des Rathauses und der Wache gefallen sein, denn dort setzte gleich ein rasendes Gewehrfeuer ein. Gleichzeitig hub allerwärts das Schießen an. Es schien, als wären die Grünen in größeren Abteilungen und von mehreren Stellen aus vorgedrungen.
Da ist etwas geschehen", sagte Zermack voller Bedenken.
„Es hört sich an, als kämpften sie an der Kirche oder am Rathaus", sagte Raup. Aber der Ort ist doch von den Grünen frei, und die Straße ist über den Salkenberg nach Frillendorf durch unsere Leute gesichert!"
Und doch tobte mitten im Ort ein Kampf. Vom Salkenberg und um die große Kirche krachten in einem fort Salven und hämmerten Maschinengewehre.
Zermack gab der Gruppe, bei der sie standen, die Anweisung, die Hauptstraße im Auge zu behalten, und falls sich da die Grünen sehen ließen, die Straße sofort unter Feuer zu nehmen. Sie gingen eilig zurück. Sie stießen in der Mittelstraße auf Scharen völlig durcheinander geratener Leute. Die Grünen waren in der Dunkelheit von Frillendorf gekommen; sie hatten die Posten der Salkenberger am Kreuzberg überrumpelt und erschlagen. Dann sind sie weiter - anscheinend eine besondere Stoßabteilung - bis zum Rathaus und an die Essener Straße vorgedrungen und hatten dort die in einem Schulraum untergebrachten Sanitäter und Verwundeten totgeschlagen.
Die Grünen hatten in das Haus, in dem die Wache lag, Handgranaten geworfen, und sie waren nur durch das sofort aufgenommene Feuer einer draußenliegenden Gruppe vorläufig aufgehalten worden.
„Nun seid doch ruhig", schalt Fritz Raup die Ängstlichen aus. „Wo sind denn unsere anderen Leute hingerannt?"
„Die liegen überall in den Häusern und treiben die Grünen zurück", erklärte Henke. „Und wir wollen auch von hier wieder gegen die Wache und das Rathaus vorgehn, um sie dort herauszutreiben."
Zermack und Raup halfen, das Durcheinander wieder zu ordnen, und sie übernahmen jeder eine der vorrückenden Abteilungen.
Die Grünen saßen noch in der Schwanhildenschule an der Essener Straße und in den Straßen um das Rathaus. Doch von mehreren Seiten zugleich bestürmt und unter heftiges Feuer genommen, verließen sie, indem sie noch mehrere Handgranaten warfen, die unsicher gewordenen Positionen und rannten den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurück. Fritz Raup folgte mit seiner Schar den fliehenden Grünen bis über den Salkenberg hinaus, wo sie die toten Kumpels noch auf der Straße liegend vorfanden.
Der eine war ein älterer Mann und ein Unionist von ihrem Schacht, der andere schien kein Stoppenberger zu sein; er war wohl am Nachmittag mit den Schönebeckern angekommen, die sich den Kolonisten angeschlossen hatten.
Zu den Toten im Hoffrone-Saal waren wieder mehrere in dieser Nacht gefallene Kumpels gebettet worden. Eine Anzahl Verwundeter wurde in einem anderen Raum in der Mittelstraße von den Frauen, die sich für diesen Dienst gemeldet hatten, verbunden. Unter diesen Frauen war seit dem Nachmittag auch Therese Tauten zu sehen, die nach einem heftigen Streit mit Tauten die Wohnung verlassen und sich nach der Wache begeben hatte, um ihre Hilfe anzubieten. Sie vermochte in diesen Stunden nicht allein zu Hause zu sitzen, zumal Tauten dem angebrochenen Kampf immerfort Unglück und Verderben prophezeite! Im Grunde ihres Herzens war sie, trotz ihrer Widerreden, schon früher gegen seine langweilige Geduldspolitik gewesen, die auch ihre eigenen Entschlüsse lähmte. Sie spürte, dass Franz, wenn auch jünger, trotzdem entschlossener war, und dass seine Jugend diese Hemmnisse durchbrach und eigene Wege ging. Und jetzt, da Franz für seine Rechtlichkeit auch noch verhaftet und weiß Gott wo hingeschleppt worden war, war sie völlig schwankend geworden. Tauten, der die Absicht der Tochter erriet, wollte sie am Weggehen hindern und drohte, wenn sie gegen seinen Willen handelte, sich von ihr zu lösen; aber sie antwortete ihm mit plötzlich erwachtem Eigenwillen:
„Entschuldige, Vater, wenn ich dir dieses Mal nicht folge, aber weil du draußen nicht helfen willst, geh' ich." Und sie war trotz seiner Drohungen gegangen. Es war keine leichte Aufgabe, die sie übernommen hatte, und wenn wieder diese bleichen, blutüberströmten Männer hereingebracht wurden, kostete es sie jedes Mal alle Kraft, nicht, wie bei den ersten, in Tränen auszubrechen. Grausig war dieser Kampf, und die Nacht machte ihn noch entsetzlicher. Sie grollte dem Vater, der zu Hause saß und nichts anderes zu tun wusste, als nur Reden über Zerwürfnis und, Zwiespalt zu halten.
Man brachte auch die tote Sanitäterin, die die Männer unter den erschlagenen Verwundeten in der Schule gefunden hatten, und bei dem Anblick des von den Misshandlungen entstellten Gesichtes der Frau brach Therese in lautes Weinen aus.
Zermack, der Therese in diesem hilflosen Zustande antraf, strich ihr, selber erschüttert, väterlich über den Kopf. „Bleib stark, Mädel, wir müssen es alle sein. Die Jäger drüben sind rücksichtslos, du siehst es!"
Therese wäre jetzt, trotz aller Schrecken, nicht mehr zu bewegen gewesen, ihre freiwillig übernommene schwere Pflicht wieder aufzugeben. Sie entschloss sich, zu bleiben. Sie dachte auch an Franz, von dem sie nicht wusste, ob er noch lebte, oder ob er nicht auch schon irgendwo so still lag. Franz! Franz! Der Gedanke an ihn hatte sie in diesen plötzlichen Widerspruch mit dem Vater gebracht, hatte sie hierher getrieben. Franz sollte nicht denken, dass sie in solchen Stunden sich nicht als das Arbeitermädel fühlte. Sie schämte sich jetzt der Behaglichkeit daheim, während sie die verwundeten Männer, die trotz großer Familien mitgezogen waren, verband. Ja, sie schämte sich der Widersprüche des Vaters, der jetzt zu Hause grollte - wem? Nicht den rasenden Teufeln drüben in Essen, die wieder schossen, sondern den Männern hier, seinen Arbeitsgenossen grollte er. Sie erinnerte sich jetzt auch öfters Schigalskis, der einen großen Teil Schuld an dem Zwiespalt des Vaters trug und der ihm die Nachricht von Kapps und Lüttwitz' Abdankung und dem voraussichtlichen Abbruch des Generalstreiks ins Haus gebracht hatte. Schigalski hatte vom „Sieg" gesprochen, während die Grünen von Essen heranrollten und diese Abdankung gleich in eine Schlacht gegen die Arbeiter verwandelten. Therese sah jetzt alles klarer: Der Parteisekretär Schigalski hasste diesen Widerstand, diese Auflehnung der Hungerleider gegen seine zweifelhafte Ordnung, deren Ohnmacht und Zusammenbruch sie erst vor wenigen Tagen erlebt hatten.
So setzte sich das Mädel seit Stunden mit ihren eigenen und den Widersprüchen ihres Vaters auseinander, während sie sich, nach einem angelegten Notverband, von dem einen zu dem anderen der Verwundeten wandte. Wenn Franz hier wäre, dann wäre es mir nicht so schwer, dachte sie, aber was ist mit ihm geschehen? Franz! Franz!
Die Grünen waren bei dem nächtlichen Vorstoß bis zu der Wache vorgedrungen; der Hausflur war von einer Handgranate aufgerissen worden. Mehrere Handgranaten waren draußen krepiert. Henkes Leute hatten wieder die Wache besetzt, nachdem die Straße zum Schacht und bis Frillendorf mit stärkeren Scharen gesichert worden war. Am Nöllewerk und von der parallel mit der Hauptstraße laufenden Feldstraße, die an der Freisteinziegelei nach Essen führte, dauerte das Gewehrfeuer noch weiter an. Auch dort waren die Grünen in mehreren Schwarmlinien vorgestoßen; sie hatten aber, durch das Kreuzfeuer behindert, den Angriff wieder aufgeben müssen. Still und gespenstisch, wie sie gekommen, waren sie wieder verschwunden; dafür beschossen sie jetzt aus dem Viehhof mit mehreren Maschinengewehren die Straßen und die Ziegelei, wo die Arbeiter aus der Feldstraße vorgerückt waren.
Der Tag dämmerte schon wieder, aber nichts deutete darauf, dass die Grünen an einen Abbruch des blutigen Kampfes dachten.
Tauten, der die Tochter suchte, erschien gegen Morgen noch einmal auf der Wache. Er hatte die inzwischen angekommenen neuen Scharen der Dortmunder und Bochumer in den Straßen lagern gesehen, und er sah daraus, dass sich die vielleicht schon zu Tausenden anmarschierte Menge zu einem Sturm auf die Stadt vorbereitete. Brot und Munition wurden ausgeteilt, und die Gruppenführer brachten Informationen, wie die verschiedenen Abteilungen vorzugehen hatten.
Tauten, der auch auf der Wache diesem Treiben begegnete, geriet in einen neuen Zwiespalt; er wagte dieses Mal nicht, seine Einwände vorzubringen. Er sah eine Zeitlang verdrossen dem vielen Hin und Her zu und blickte Fritz Raup oder Zermack, die die Anweisungen an die Männer erteilten oder Meldungen entgegennahmen, vorwurfsvoll an. Der Anblick der vielen bewaffneten Leute machte ihn in seinem Entschluss schwankend, Schigalskis Auftrag laut werden zu lassen und zur Arbeitsaufnahme aufzufordern. Als er wieder gehen wollte, hielt ihn der fünfzigjährige Stamm an: „Was ist mit dir los, Jakob? Willst du nicht auch ein Gewehr nehmen, oder schläfst du noch. Du siehst, dass ich mich auch dazu bequemt habe."
Tauten sagte aufgeregt: „Du weißt, dass unsere Partei diesen unsinnigen Kampf nicht billigt!"
Da schrie Stamm: „Ob es die Partei billigt oder nicht, ich bin dabei. Es gibt heute keinen Unterschied. Ich bleibe bei meinesgleichen, auch wenn es der Partei gegen den Strich geht."
Tauten blieb stehen und sah den Genossen an. Er wand sich noch und sagte: „Eben war wieder der Schigalski da und sagte, dass die Regierung und die Gewerkschaften den Kampf als beendet betrachten und dass wir wieder anfahren werden. Was soll man denn machen?"
Stamm lachte wütend: „Das wage mal jetzt den Leuten zu sagen; dann hast du sie alle gegen dich. Nicht wir haben angefangen, sondern Watter hat seine Garden nach Dortmund geschickt, und die haben mit dem Mord begonnen. Geh, sag das den Kumpels, sie sollen jetzt aufhören sich zu wehren, und du wirst auf aller Widerstand stoßen. Höre mir endlich mit eurer Versöhnung mit den Spekulanten auf und bemühe dich lieber darum, hier als Genosse mitzuhelfen, dann tust du recht daran. Sonst sind wir geschiedene Leute."
Der kleine, breite Mann zitterte vor Aufregung und starrte den wieder stumm gewordenen Tauten zornig an. Tauten schwankte. Er blickte auf die Männer, die dem Gespräch zugehört hatten, und schien unentschlossen, ob er wieder nach Hause gehen oder dableiben solle. Schließlich wandte er sich noch einmal an Stamm und brummte: „Tatsächlich, man wird förmlich auseinander gerissen. Der eine will dahin, der andere dorthin, wahrlich, unglückselige Tage!" Er schüttelte den Kopf.
Stamm hatte nach einem an der Wand stehenden Gewehr gegriffen und reichte es Tauten hin: Da! Du kannst es ebenso tun wie die anderen und wie ich. Wir sind noch nicht zu alt, um den Kumpels nicht beizustehen. Lass die anderen zum Teufel laufen, die dir die Ohren von Arbeitsaufnahme und Aussöhnung mit den Spitzbuben vollblasen!“
Tauten sah ihn noch mit Unwillen an und nahm zögernd das Gewehr: „Ich sage aber, es ist nicht nach dem Willen der Partei. Und der Schigalski, wenn er sieht, dass auch wir hier mit dem Gewehr herumrennen, der wird es sofort an höherer Stelle melden, und dann sind erst alle Teufel los!"
Stamm wiederholte: „Hier sind wir keine zehn Parteien mehr, hier sind wir alle Genossen, die von den Henkern bedroht werden. Und wenn der Schigalski das nicht verstehen will, dann soll er mit den Spekulanten rennen!"
Tauten saß mit dem Gewehr da und wusste anscheinend nicht, was er damit anfangen sollte. Einer der Jüngeren reichte ihm noch Patronen hin, die er ebenso unwillig entgegennahm, aber sie doch nahm und in seine Taschen steckte.
Stamm setzte sich zu ihm hin und sagte wieder versöhnlich: „Siehste, so bist du doch wieder der alte Genosse. Man soll uns nicht scheel angucken und uns nachreden, dass wir unsere Menschen in der Not im Stich lassen. Der Zwiespalt muss endlich einmal aufhören, siehst du das nicht ein? Der Fritz Raup und der Zermack haben auch Familien und opfern sich auf. Denk doch daran, Jakob, was uns unsere Lehrmeister gesagt haben: ,Wir haben nichts mehr zu verlieren als unser Elend, als die verdammten Ketten, die sie auch jetzt wieder für uns bereithalten.' Nun murre nicht mehr, sondern helfen wir den Genossen, die draußen um ihr Leben kämpfen. Morgen werden wir die Fraktion zusammenholen und werden mit dem Bürgermeister und den anderen ein ernstes Wort reden. Sie sollen einmal aus ihrer reaktionären Haut heraus, diese Duckmäuser."
Jakob Tauten war in zwei Jakob Tautens gespalten. Der eine beschäftigte sich immer noch grollend mit Schigalskis Auftrag, und der andere Jakob Tauten beobachtete immer mehr erstaunt das Auf und Ab der Bewaffneten auf der Wache und schien schon mehr geneigt, Stamms Ratschlägen zu folgen. In diesem anderen Jakob war der frühere Sozialist und Treppauf-Treppab-Funktionär seines alten Verbandes erwacht, der den Kapitalisten und Ausbeutern einmal Hass und unerbittlichen Kampf geschworen hatte. Sein altes, volles Gesicht war nicht mehr so düster, es war eher nachdenklich geworden, während er von Zeit zu Zeit das Gewehr betrachtete oder den eifrigen und leidenschaftlichen Debatten der Kumpels zuhörte. Vielleicht haben diese Menschen hier doch das Richtige gewählt, dachte er einen Moment lang, und Schigalski und ich befanden uns die ganze Zeit in einem Irrtum. Aber - der Stamm wird von diesen Menschen weniger bedrängt und hat selbständiger entscheiden können, zog er wieder einen Unterschied zwischen sich und dem Genossen.
Und er grollte noch einmal, diesmal Schigalski und den führenden Leuten seiner Partei: Wie die Klötze hängen sie an einem, tatsächlich, und lassen einem keinen eigenen Willen mehr. Sie sollten sich hier mal mit dem Volk auseinandersetzen, vielleicht würden auch sie dann ihre Meinung ändern. Er dachte nicht mehr daran, von der Wiederaufnahme der Arbeit zu reden, und beschäftigte sich nur noch mit der Tochter, die sich im Streit von ihm getrennt hatte. In Sorge um das Mädel dachte er: Wenn sie nur nicht irgendwo draußen herumrennt und sich der Gefahr aussetzt. Sie ist jetzt tatsächlich das genaue Gegenteil von mir geworden. Vielleicht ist es meine Strafe, dass ich das Mädel immer von allen diesen Geschichten ferngehalten habe!
Die Entlastung, die von den Grünen vom Viehhof und von Frillendorf her für die noch in dem Arzthaus eingeschlossene Abteilung geplant war, war durch das schnelle Eingreifen der Arbeiter gescheitert. Die Kumpels am Nöllewerk und die Hunderte, die sich inzwischen oben in der Feldstraße angesammelt hatten, gingen zu einem Gegenangriff über und drangen über die Freisteinziegelei hinaus, wo sie sich verschanzten. Damit war den Grünen ein neuer Vorstoß unmöglich gemacht. In der Nacht stießen immer neue Abteilungen Arbeiter von Katernberg, Rotthausen und Gelsenkirchen hinzu und verstärkten die in Stoppenberg lagernden Scharen.
Um die zweite Stunde begann ein neuer, rasender Kampf um das Arzthaus, wo die eingeschlossenen Grünen - man wusste nicht woher - anscheinend immerfort neue Befehle zum Ausharren bekamen. Sie verfügten noch über große Mengen an Munition und Handgranaten. Hier hatten schon mehrere der stürmenden Kumpels ihren Tod gefunden, und immer wieder kamen Verwundete in den Raum an der Mittelstraße, um sich von Therese verbinden zu lassen.
Therese hatte ihren ersten Schrecken und ihre Empfindsamkeit überwunden und verrichtete ihre schwere Pflicht geduldig und umsichtig. Auch sie dachte gelegentlich noch an zu Haus und mit Bitterkeit an den Vater, der sie mit Gewalt hindern wollte, diesen Menschen hier zu helfen, die ihr Achtung abrangen mit ihrem Mut und ihrer Beharrlichkeit, und die trotz des sie bedrohenden Todes ihren Platz nicht zu verlassen gedachten. Einige Male war sie schon selber im Dorf gewesen und war unter den Männern, die hinter den Häuserecken und an Mauern gedeckt, immer den Geschossen der Grünen ausgesetzt, die Nacht verbrachten, herumgegangen.
Nein, sie war nicht mehr die gestrige Therese; sie hatte ihren Sinn völlig gewandelt, und der Vater hätte sie wohl nicht wieder erkannt, wenn er ihr begegnet wäre. Sie versprach den Männern, die in ihrer mangelhaften Kleidung froren: „Ich werde sorgen, dass man euch hier schnell etwas Essen und etwas Warmes zu trinken herschafft. Lasst euch nur nicht schrecken und haltet aus, wir werden bald Hilfe bekommen, und dann könnt ihr euch vielleicht etwas ausruhen!" Und sie lief mit laut pochendem Herzen wieder zurück. Sie ging zur Wache, um mit Fritz Raup und Zermack über die Versorgung der Leute zu sprechen. Da traf sie einmal ihren Vater. Sie war bestürzt, und auch Tauten war mit entsetztem Blick aufgestanden. „Aber Kind", sagte er erzürnt, „wo treibst du dich denn die ganze Nacht herum. Keiner weiß, wo du plötzlich geblieben bist, und die Mutter wird voller Angst sein, dass dir was geschehen ist. Sie sorgt sich doch immer so!"
Therese, die das Gewehr in seiner Hand erblickte, sagte: „Ich konnte nicht mehr zu Hause sitzen, seit ich sah, dass es hier ums Leben geht. Und ich sehe, du bist auch anderen Sinnes geworden!"
Sie strich ihm über das grämliche Gesicht: „Sei nicht bös, Vater. Ich bin ja kein Kind mehr, und es sind auch noch andere Frauen, die mithelfen!"
Er sagte noch einmal warnend: „Geh nach Haus, sonst kommt die Mutter überhaupt nicht mehr aus der Angst heraus!"
Sie antwortete eigenwillig: „Nein, Vater, ich kann nicht, man braucht mich!" Und sie wandte sich, da Fritz Raup und Zermack wieder unterwegs waren, an den alten Henke mit ihrem Anliegen, den draußenliegenden Männern sofort Brot und etwas Trinkbares zu schicken.
Stamm zog die Stirn kraus: „Das hätte man schon seit Stunden machen müssen, aber die verdammte Gesellschaft im Rathaus drückt sich noch herum. Komm, Jakob", sagte er zu Tauten, „lasst uns noch einmal zu dem Alten hingehen. Wir wollen ihm mal die Hölle heiß machen, dass er sofort alles in Bewegung bringt, damit wir warmes Essen für die Leute bekommen. Diese Herrschaften sollen nicht ruhig schlafen, wenn wir uns hier mühen, die Grüne Mordgesellschaft loszuwerden. Komm, nimm dein Gewehr, das gibt mehr Nachdruck."
Tauten zögerte einen Augenblick und wandte ein: „Ich weiß nicht, ob wir sowas auf eigene Faust unternehmen können. Ich denke, die Fraktion der Partei müsste die Maßnahmen beraten."
Aber Stamm wurde wieder böse: „Komm, komm, wir beide sind Fraktion genug. Und wenn sich die Herren weigern, dann werden wir sie einfach einsperren. Aber sie werden sich nicht weigern, denn sie wissen, dass Tausende im Ort liegen, die man nicht mit leeren Reden abspeisen kann!"
Tauten blickte die Tochter noch einmal vorwurfsvoll an und nahm sein Gewehr. Er schüttelte den Kopf und brummte: „Man gerät dazwischen, ohne dass man es will. Aber mir gleich, man soll mir nicht nachsagen, dass ich mich zurückhalten will..."
Und er ging Stamm nach.
In den ersten Morgenstunden kochten in verschiedenen Räumen die Frauen des Genossen Henke und einige andere, auch Frau Zermack und die schreiende Naumannsche, für die lagernden Leute das herbeigeschaffte Essen. Herr Claus zeigte offensichtliche Bestürzung, dass nun auch Tauten und Stamm mit Gewehren bei ihm erschienen. Er hatte einen vorsichtigen Einwand getan, ob auch sie schon von ihren bisherigen Grundsätzen abgewichen seien. Und ob sie sich nicht doch lieber vorerst mit der gesamten Fraktion ihrer Partei verständigen wollten. Doch Stamm antwortete ihm: „Wir können nicht bis morgen warten. Und wir sind jetzt alle eine Fraktion. Es gibt keine Unterschiede mehr zwischen uns, wenn man unsere Leute totschießt!"
Der Bürgermeister hatte wohl noch auf ihre Hilfe gerechnet, aber als er sah, dass er vergeblich hoffte, gab er noch in der Nacht die Anweisungen heraus, für die „roten Truppen" Lebensmittel zu stellen. Er schien gewusst zu haben, wo sie steckten, denn die Lebensmittel konnten plötzlich aus dem Werk-Konsum und noch von anderen Lagern der Zollvereinschächte und der Gemeinden geholt werden.
„Sieh", sagte Stamm zu Tauten, „die spüren, dass heut das Volk kommandiert, das sie immer hintenangesetzt haben, und sie werden so fügsam wie die Lämmer. Aber trau ihnen nicht, das sind sie nur, solange sie unsere Gewehre sehen. Wenn es morgen schief geht, dann wechseln sie schnell wieder ihr Schafsfell und ihre zahme Seele, und wir sind für die nur wieder die verachteten Schlepper."
Zermack war mit Fritz Raup unterwegs. Sie liefen einmal nach der weiter entfernten Feldstraße und wieder zum Nöllewerk und querfeld nach der Salkenberg-Kolonie, wo sich die Abteilungen auf den Angriff gegen die Stadt vorbereiteten. Der ganze Ort war schon ein Heerlager geworden. Überall rannten Kuriere mit Meldungen und es schleppten junge und ältere Männer an Gewehren und Munitionskästen. An dem Arzthaus tobte ein neuer, wilder Kampf, und immer zahlreicher und heftiger dröhnten die Explosionen der hinüber- und herübergeschleuderten Handgranaten. Die Grünen hofften anscheinend noch immer auf Entlastung und weigerten sich, trotz aller Rufe, den Widerstand aufzugeben.
Kramm empfing die beiden Kumpels mit wuterstickter Stimme. „Die Gesellschaft drinnen will nicht herauskommen. Ich schleudere eine Dynamitladung hinein, ich bin es jetzt leid geworden. Ich lass' sie alle erschießen, wenn wir noch mehr Leben verlieren sollen. An die zehn Genossen liegen schon tot oder verwundet. Eigenhändig erschieß ich sie wie die Hunde!" - Und er schleuderte wieder mehrere Handgranaten gegen das Haus. Die eingeschlossenen Grünen antworteten mit einem heftigen Maschinengewehrfeuer. Zermack und Raup mussten sich mit hinwerfen, um nicht von den Kugeln getroffen zu werden.
„Man wird tatsächlich schon abergläubisch", sagte Kramm verzweifelt. „Es ist, als hätten sie unterirdische Gänge nach Essen, sonst würden sie doch nicht so lange diesen hoffnungslosen Kampf fortsetzen!"
Zermack fragte: „Habt ihr schon die Telefonleitung durchgeschnitten?"
Kramm kratzte sich am Kopf und lachte wütend: „Nein, verflucht, das haben wir noch nicht getan. Ja, das ist es, sie können immer noch Telefonieren. Verdammt, das wird sofort gemacht!" Und er rannte fort. -
Die Telefonleitung, die die Grünen in dem Arzthaus noch immer mit Essen verbunden hatte, war zerstört. Kramm selber war an einem der Maste hochgeklettert und hatte die Drähte durchgeschnitten. In dem Arzthaus schien jetzt eine Verwirrung eingetreten zu sein, denn das Feuer flaute gelegentlich ab, und die eingeschlossenen Polizisten schienen untereinander zu streiten und zu beraten.
Es war schon wieder heller Tag geworden. Zermack und Raup waren in die Salkenberg-Kolonie gegangen, wo sich um den ganzen Berg herum die Scharen der Arbeiter gelagert hatten. Die gegen die Stadt liegenden Gruppen beschossen aus den Maschinengewehren den Viehhof, der sichtbar vor ihnen lag. Hier tobte hinüber und herüber ein rasender Feuerkampf. Der mächtige, schwerfällige Renteleit lag in einem Loch mit einigen selbstfabrizierten Dynamitladungen bereit. Er wollte mit einer Gruppe vorkriechen und diese Ladungen an die Mauerstellen legen, wo die Grünen ihre Maschinengewehrnester eingebaut hatten. Der kleine Christian Wolny, der wie Kramm und Kahlstein seine Matrosenbluse und Mütze anhatte, erzählte leidenschaftlich wie immer von seinen Erlebnissen in Kiel und von der Revolution in Russland, von den mutigen und todesbereiten Arbeitern und Bauern Lenins. Er warf sich von Zeit zu Zeit hinter sein Maschinengewehr und schoss erglimmt nach dem Viehhof hinüber, wo er die grünen Uniformen herum springen sah: „Dass euch der Satan holen mag. Wir werden euch noch zeigen, dass wir von Kiel kommen. Einmal habt ihr uns auseinander gebracht, aber heute liegen wir hier wieder zusammen. Und wir werden euch die Stadt noch abnehmen, mag's kosten was es will!" Und er schoss wieder. Als Zermack und Raup herankamen, fragte er sie ungeduldig: „Wann werden wir denn endlich gegen die Stadt vorgehen? Regt euch ein bisschen besser da unten im Ort. Wir können hier sofort vorgehen. Schaut, wir haben hier schon bald ein ganzes Regiment zusammen. Die Kumpels sind ungehalten, hier immer nur herumzuliegen und sich totschießen zu lassen!"
Zermack antwortete ernst: „Ihr kriegt bald Bescheid, wann es losgeht. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern." Und er fügte besorgt und auf den Viehhof weisend hinzu: „Aber es wird kein leichtes Spiel sein, Genossen. Wir müssen damit rechnen, dass die Grünen alle Anstrengungen machen werden, uns das Vorgehen so schwer wie möglich zu machen, und es wird noch mancher von uns dran glauben müssen. Seid also auf alles vorbereitet."
Nach diesen Worten Zermacks wurde auch der kleine Kuli einen Moment still und nachdenklich.
Er legte sich schweigsam hinter sein Maschinengewehr, und während sein Gesicht immer strenger wurde, schoss er von neuem hinüber.
Es war gegen acht Uhr morgens, als der letzte rasende Kampf um das Arzthaus wieder begann. Kramm ließ noch einmal seine Leute vorgehen, und die Handgranaten krepierten donnernd. Die Grünen, die keine Verbindung mehr nach Essen hatten, steckten endlich ein weißes Tuch heraus. Kramm, der diesem Zeichen noch nicht traute, ging mit einigen der jüngeren Leute vor und rief hinein, die Grünen sollten herauskommen. Es fiel kein Schuss mehr. Er ging gegen die Tür und stieß sie auf. Die Polizisten standen bleich und mit erhobenen Händen in dem Korridor. „Kameraden", sagte einer stammelnd, „wir sind nicht schuld, wir mussten die Befehle ausführen!"
Kramm überlegte einen Augenblick. Er war geneigt, seinem rasenden Hass nachzugeben und erhob die Pistole. „Jetzt Kameraden? Ihr habt es tatsächlich nicht verdient, dass man euch ungeschoren lässt. Wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Wer hat euch hergeschickt?" schrie er mit überschnappender Stimme. Der eine Grüne stammelte wieder: „Wir hatten Befehl..."
Kramm, der vor Wut nicht mehr sprechen konnte, winkte ihnen mit der Pistole, rauszukommen. „Schnell!" Die Grünen kamen mit erhobenen Händen und vor Angst erstarrt hervor. Einige stammelten wieder: „Kameraden!" Sie gingen durch die Reihen der verdreckten und erschöpften Arbeiter, scheu und plötzlich ergeben, und so gingen sie durch den ganzen Ort, begleitet von vielen, vielen grollenden und Hasserfüllten Blicken.
„Dass man sie so laufen lässt!"
„Man soll sie erschießen!"
Und viele der Männer erhoben den Gewehrlauf oder den Kolben. „Knechte! Erschießen soll man euch!"
„Wie die Hunde erschießen!"
Die Grünen zogen ergeben und mit erhobenen Händen mitten durch die lagernden Abteilungen der schon in die Tausende angewachsenen Menge. Ihr Mut war verschwunden, und sie waren nur zitternde Furcht. Sie hatten anscheinend an diese ihnen unbekannte Macht der verachteten Hungerleider nie glauben wollen. Jetzt lächelten sie ergeben und verzweifelt und baten immerfort um Gnade und murmelten: „Kameraden - Kameraden, schont uns!"
Der Sturm auf die Kanonenstadt war unter den Abteilungsführern nach längerer Beratung beschlossen worden. Die Scharen rückten vor, den Viehhof einkreisend, aus dem die Grünen mit allen Maschinengewehren und mit Minenwerfern die Angreifenden beschossen. Die Kugeln bohrten sich in die Häuserwände, und klirrend zerbrachen die Scheiben und Dachziegel.
Zermack und Raup gingen mit den Abteilungen aus der Essener Straße gegen den Bahnübergang vor. Es wurden schon wieder Verwundete vorbeigetragen, und auf dem offenen Gelände hinter dem Bahnübergang lagen die ersten Toten.
Zermack war beim Vorgehen mehrere Male in das Feuer der Maschinengewehre der Grünen geraten und kam in Gefahr, getroffen zu werden. Er suchte mit langen Sätzen eine Vertiefung. Seine Leute liefen und krochen hinter ihm her und warfen sich in seine Nähe.
Sie gruben sich rasch mit den Händen und dem Werkzeug, das sie bei sich trugen, ein, um sich vor dem Feuer zu schützen. Kramm rief: „Jupp, sei vorsichtig. Wir brauchen dich!"
Der große Mann sagte: „Ich bin schon vorsichtig, sorgt euch nicht. Aber wenn's nicht anders ist, dann müsst ihr auch ohne mich weiterkommen!" Sie krochen wieder vorwärts. Überall sprangen und krochen sie einzeln und in lang ausgeschwärmten Gruppen.
Das ganze Gelände war von liegenden und vorwärtsspringenden Gestalten wie besät, und zwischen ihnen staubten die kleinen Wölkchen der einschlagenden Geschosse hoch.
Zermack sah aus dem Liegen nach dem Salkenberg hinüber, auch dort krochen und liefen sie mit ausgeschwärmten Gruppen gegen den krachenden Viehhof. Er sah die Maschinengewehrgruppen über das offene Feld hasten. Christian Wolny lief mit Renteleit und einem Schwarm, ohne Schutz zu suchen, eine ganze Strecke vor. Zermack bangte um das Leben dieses eifrigen Jungen, da er wusste, dass er der einzige der verwitweten Mutter war. Und nicht dies allein: Christian war das schöne Bild eines jungen wertvollen Lebens, das in diesem Kampf nicht vernichtet werden durfte. Aber er sah überall diese jungen Gesichter mit dem gleichen Eifer und mit derselben Wut gegen die von Schüssen heulende Stadt starren, und sah diese jungen Hände die Gewehre abdrücken. Hass, Schrei und Tränen und Flüche richteten sich gegen diese Kruppstadt des ewigen, grauen Elends, und auch er knirschte: „Und wir werden euch heraustreiben, ihr Söldner, ihr Banditen, oder wir gehen alle in diesem Kampfe drauf, aber nachgeben werden wir nicht mehr!"
Er sprang wieder eine Strecke vorwärts, warf sich hin und winkte den anderen, eilig und vorsichtig nachzukommen.
„Du hättest eigentlich im Ort bleiben und da mit helfen sollen, dass die anderen nachkommen!" sagte Fritz Raup, der sich einen Augenblick neben dem Hauer hingeworfen hatte.
„Warum bleibst du denn nicht im Ort?" antwortete ihm Zermack, um das Leben des Genossen besorgt. „Du wirst da ebenso notwendig gebraucht. Sieh zu, dass du wieder zurückgehen kannst."
Sie stritten noch eine Weile, aber beide wollten nicht zurückbleiben, und so sprangen sie die nächste Strecke gemeinsam weiter. Sie lagen nur noch wenige hundert Meter von dem Viehhof entfernt, und die Kugeln schlugen immer dichter rund um die Liegenden ein. Aber der Ring der Stürmenden zog sich von allen Seiten immer enger und mächtiger um den Eingang der Stadt. Und der Kampf stieg immer heftiger an.
In den Wohnungen saßen die Familien entsetzt und gegen die schützenden Wände gedrückt. Schreie gellten zuweilen aus den Fenstern, und Jammern ertönte, wenn gelegentlich einige der Frauen hinaussahen, und wenn die Verwundeten oder Getöteten vorbeigetragen wurden.
Immer neue Abteilungen schwärmten aus und gingen zum Sturm vor. Die Sonne stieg schon hoch, und es versprach ein schöner Tag zu werden. Aber diese Märzsonne beschien einen Tag der Sorgen und eines blutigen Kampfes, sie schien auf Schmerzen und auf den Tod herab.
Die Salkenberger, der schwerfällige Renteleit mit einer Gruppe an der Spitze, waren springend und kriechend bis in die Nähe der Mauer des Viehhofes herangekommen, wo eins der andauernd feuernden Maschinengewehrnester stand. Renteleit kroch noch einige Meter weiter und richtete sich auf. Zermack und Raup sahen, wie er mit dem Arm ausholte und eine Ladung über die Mauer schleuderte. Eine furchtbare Detonation dröhnte, plötzlich schwiegen dort die Maschinengewehre.
Renteleit erhob sich wieder aus dem Liegen; er kroch einige zwanzig, dreißig Meter seitwärts, stand noch einmal auf und schleuderte eine zweite Ladung über die Mauer. Auch da verstummte das Maschinengewehr. Die Stürmenden eröffneten jetzt aus allen Gewehren und Maschinengewehren das Feuer, und auch aus der Häuserreihe vom Freistein begannen die Maschinengewehre zu klopfen, während die Schwarmlinien sich erhoben und vorwärts liefen.
Die Essener Straße, die Feldstraße und der Salkenberg füllten sich immer wieder mit neuen Zuzüglern aus Bochum, Dortmund und Hagen, und alles drängte gegen die Stadt. Der Widerstand der Grünen ließ endlich nach, und die Wellen der Arbeiter fluteten jetzt wie aus Dutzenden Kanälen immerfort vorwärts, vorwärts. Die Salkenberger und die aus der Essener Straße stürmenden Abteilungen hatten bereits die Mauern und Umzäunungen des Viehhofes erreicht, hinter denen die Grünen in voller Auflösung in die Stadt flüchteten. Renteleit und Christian Wolny überstiegen mit ihren Gruppen das Mauerwerk, während die Abteilungen vom Freistein von der anderen Seite hereindrangen. Einige Grüne wehrten sich noch verzweifelt und schossen, und es fielen noch einige Arbeiter. Christian Wolny warf sich sofort wieder hinter sein Maschinengewehr und schoss auf die letzten Nester, in denen sich die Grünen verschanzt hatten. Dann strömten von allen Seiten die Scharen der abgewetzten und erschöpften Berg- und Werkleute in die Festung, und die Welle der Menschen wälzte sich schreiend, fluchend, vor Freude lachend und heulend über den Viehhof und aus den Straßen in die graue Stadt hinein.
Zermack und Raup setzten sich einen Augenblick auf eine Haustreppe und sahen einander an.
„Jupp, wir sind drinnen. Aber es hat Blut und Angst gekostet", sagte Fritz Raup, der vom Staub und von der überstandenen, heimlichen Angst grau und alt aussah.
Er sagte ermahnend: „Jetzt wird es an der Zeit sein, dass wir wieder zurückgehn, denn man wird uns wirklich im Ort erwarten. Auch unsere Frauen wissen nicht, ob wir noch leben. Wir müssen uns sehen lassen und sie beruhigen."
Zermack trieb jetzt aber nur ein Gedanke: „Die verhafteten Genossen!" Er antwortete: „Wir müssen weiter. Vielleicht finden wir noch irgendwo Miller und unseren Franz lebend an. Komm, wir müssen in die Stadt!"
Fritz Raup widersprach dieses Mal nicht. Sie erhoben sich und eilten vorwärts in die Stadt, wo der Kampf mit den Grünen und auch anscheinend mit der Einwohnerwehr von neuem entbrannt war.
Auf der Straße blies ein Hornist die Internationale. Die Scharen, die vorwärts nach der Stadt drängten, sangen mit, junge und heisere Stimmen sangen es: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde..." Und in den Mienen dieser vorbeiziehenden Männer brannte der neue Mut und der Stolz, dass ihnen dieser Sieg nach den ungeheuren Mühen der vergangenen Tage gelungen war. Eine Abteilung der Grünen, die sich im Viehhof ergeben hatte, wurde vorbeigeführt. Man sah ihnen die Verwirrung und die Angst an, die Angst vor diesen Schleppern, die sie noch vor wenigen Minuten umbringen wollten. Aber jetzt erschraken sie vor dieser singend vorwärtsstrebenden Masse. Überall spürten sie die Abneigung und den Hass. Sie glaubten sicherlich, dass sie jetzt sterben müssten. Einige hundert Schritte weiter stießen Zermack und Raup auf eine zweite Abteilung Gefangener der Einwohnerwehr. Es waren dicke und behäbige Bürgergesichter; auch hier war nur Angst. Auch diese Kleinbürger glaubten an ihr Ende. Ihre Gesichter waren wie weiße Masken. Sie redeten immerfort mit den sie begleitenden Arbeitern. „Wir haben es nicht gewollt... wir sind unschuldig... Man hat uns gegen unseren Willen eingesetzt!"
Am Viehhofer Platz im Inneren der Stadt und oben im Turm der alten Gertrudiskirche hatten sich die Grünen mit Maschinengewehren festgesetzt und beschossen von dort aus die Straßen, in denen sich die Menge der stürmenden Arbeiter wieder staute. Jedes Haus musste einzeln genommen und auch die Kirche unter dem Feuer aus den verschiedenen Häusern gestürmt werden. Zermack und Raup hatten sich diesen vorwärtsdringenden Abteilungen angeschlossen und halfen, einige der umliegenden Häuser zu stürmen. Sie holten die in allen Winkeln und auf den Dachböden verborgenen Grünen heraus, und auch diese baten wie die vorherigen zitternd um Erbarmen. Bei diesem neuen Sturm waren wieder eine Anzahl Arbeiter gefallen und verwundet worden. Jeder Schritt dieses Sieges kostete Blut. Zermack stand plötzlich wie festgewurzelt und starrte auf einen Toten, der von Edy Koschewa und einigen jungen Leuten vorbeigetragen wurde. Er hatte eine Matrosenjacke an. Zermack trat hinzu und enthüllte das Gesicht des Toten, das die Kumpels mit einem Tuch bedeckt hatten. Ja, es war Kramm. Eine Kugel aus dem Kirchturm hatte ihn getötet. Kahlstein - Gutschnick - und jetzt auch der Genosse Kramm!
Zermack und Raup sahen noch lange diesem kleinen Trauerzuge nach. - „Unser Kramm! Unser guter Junge!" - Zermack fasste Fritz Raup beim Arm und sagte erstickt: „Komm, wir müssen weiter."
Er redete für sich: „Kahlstein, Gutschnick und Kramm, sie hätten leben können, wenn diese Söldner, die verfluchten, nicht da wären. Und Krupp und die anderen Schinder haben auch diesen Mord auf dem Gewissen!" Er ging hastiger, denn am Rathaus raste der Kampf weiter. Er griff einige Handgranaten auf, die von den Grünen in einem Hausflur liegengelassen wurden, und rannte vorwärts.
Die Arbeiter stürmten gerade das Rathaus und holten auch da wieder eine Abteilung der Polizisten heraus. Ein Offizier, der sich noch zu rechtfertigen suchte: „Ich habe nur meine Pflicht getan!" wurde von Hunderten Fäusten zusammengeschlagen und zu Boden gerissen. Zermack fühlte kein Mitleid, als auf den schreienden Offizier mehrere Kolben niederschlugen. „Das ist für Kahlstein und Gutschnick und Kramm", sagte er sich und wandte sich ab.
Die Menge drängte weiter. Der Hornist blies wieder die Internationale. Im Postgebäude und im Bahnhof und an dem sich quer hinziehenden großen Eisenbahndamm hatten sich die Grünen und die Einwohnerwehr neu festgesetzt und überschütteten die Straßen mit einem heftigen Feuer. Auch Zermack und Raup stürmten vorwärts.
Die Häuser und die Scheiben bebten und klirrten unter den dröhnenden Explosionen der Handgranaten. „Vor!" schrien einige der aufgeregten Männer.
„Seid nicht wahnsinnig, wir gehen alle drauf, wenn wir blind vorwärts rasen!" riefen andere empört.
„Vorwärts! Einige Abteilungen müssen die Häuser besetzen und den Postbau unter Maschinengewehrfeuer nehmen!"
Schreie und Kommandos. Verwundete taumelten blutend in die Häuser. Einige der in der Straße liegenden Männer standen nicht mehr auf. Das Feuer im Postgebäude setzte endlich einige Minuten aus. Jemand schrie: „Die hissen die weiße Fahne!" -und noch mehr Schreie ertönten: „Halt, nicht schießen, die hissen die weiße Fahne!" -
„Die haben sich ergeben!"
Doch als die Scharen in das Gebäude dringen wollten, da warfen die Grünen und die Einwohnerwehr wieder mehrere Handgranaten unter die Stürmenden und nahmen das Feuer von neuem auf. Schreie gellten. „Zurück !" - „Nicht mehr zurück!" - und die ersten drangen mit Handgranaten in den betürmten Ziegelbau.
Endlich verstummte das Feuer, und die Grünen und die Bürger, noch mit ihrer weißen Armbinde, kamen zitternd und bleich hervor. Wutschreie ertönten überall: „Schlagt die verfluchten Hunde tot!" In der Straße lagen wieder einige Sterbende und Tote. Sich drehend und um Erbarmen bettelnd zogen die Gefangenen unter dem Hass der Menge vorbei: „Gnade, Kameraden. Wir mussten nur die Befehle ausführen!" - „Gnade? Verrecken sollt ihr, da habt ihr wieder unsere armen Menschen umgebracht!" - und mehrere Male schlugen die Kolben nieder.
Aus dem Bahnhofsgebäude und vom Bahndamm prasselten die Salven aus Gewehren und Maschinengewehren der dort verschanzten Grünen Polizei und der Einwohnerwehr weiter den Stürmenden entgegen.
„Wir müssen zum Haumannshof kommen!" sagte Zermack zu Fritz Raup. „Ich hoffe, dass wir dort Miller und Franz finden!"
„Wenn sie noch leben!" antwortete Fritz Raup, der erschöpft in einem Hausflur an der Wand gelehnt stand und sein Gewehr neu lud.
„Hoffen wir es!" sagte Zermack.
Die Scharen in den Straßen bereiteten sich zu einem letzten Sturm vor. Man musste den Bahnhof umgehen und die Grünen und die Einwohnerwehr aus der Flanke und vom Rücken her angreifen, um ihren Widerstand zu brechen. Eine ganze Menge der Werkleute, die aus den Krupp-Kolonien und vom Segeroht zugestoßen waren, und ein Teil der von Stoppenberg gekommenen Scharen eilten über die Schützenbahn, die links vom Stadtinneren über den Bahnhof hinausging, um von dort anzugreifen. Und wieder tobte der Donner der Handgranaten und Maschinengewehre um diese letzten Verschanzungen des Feindes.
Durch die Straßen von Stoppenberg wälzte sich Zug an Zug, eine unübersehbare Menge von Männern mit Gewehren. Man sah Kuliblusen und -mützen und abgewetzte Feldröcke mit den wieder angesteckten roten Tuchkokarden, und Gruben- und Werkkleidung, verdreckt und grau von dem Staub der Straßen und der Felder, in denen die Männer tage- und nächtelang gelegen hatten. Man sah junge und alte zerfurchte Gesichter und von Übermüdung rotentzündete Augen. Die Männer griffen nach dem ihnen gereichten Stück Brot oder nach einem Becher mit Kaffee, den ihnen die Frauen unterwegs hinhielten, dankten mit rauer Stimme und zogen weiter. Der eine oder andere rief froh: „Die Stadt haben wir! Jetzt geht es weiter!"
Therese Tauten hatte ihren Sanitätsdienst in dem Raum an der Mittelstraße seit dem Beginn des Angriffs anderen herbeigeholten Frauen überlassen und war mit den Stürmenden mitgegangen. Mehrere Male hatte sie in dem Kugelregen im offenen Gelände die Verwundeten verbunden. Sie antwortete den Männern, die sie warnten, sie solle sich nicht zu sehr dem Feuer aussetzen, mutig: „Ihr müsst ja auch mitgehen, ihr braucht mich!" „Du bist doch eine Frau, und es wäre schade um dich!" wandten die Männer ein.
Sie antwortete wieder: „Ich habe keine Angst, auch wenn ich eine Frau bin. Sorgt euch nicht um mich, passt nur auf euch selber auf!" Und sie schloss sich immer wieder den Stürmenden an, um gleich bei der Hand zu sein, wenn man ihre Hilfe benötigte. Und man brauchte immerfort ihre Hilfe, immerfort.
Der Wunden waren viele, und oft stieß sie auf das bleiche, stille Gesicht eines jungen oder älteren Mannes, und sie erzitterte vor Erschrecken. Manchmal warf sie sich weinend hin: „Ich kann nicht mehr. Es ist furchtbar!" Aber als die Männer wieder vorwärtssprangen, und wenn sie wieder einen stürzen sah und stöhnen hörte, trocknete sie ihre Augen und lief mit ihrem Verbandkästchen weiter, um auch diesem Hilfe zu bringen.
Tauten war nicht mehr nach Hause gegangen. Er hatte sich durchgerungen und war auf der Wache geblieben. Er ging alle paar Stunden mit dem einen oder anderen der älteren Männer mit dem Gewehr und einer roten Binde hinaus, um draußen bei den Küchen nachzusehen oder neue Lebensmittel heranzuholen.
Herr Claus fügte sich scheinbar jetzt in alle Anordnungen dieser neuen, ihm fremden Verwaltung, aber er berief sich immer wieder auf die Mitverantwortung der Bürgermeistereivertretung und hoffte anscheinend noch immer, dass dieser Kampf durch Vermittlung von „oben" beigelegt würde. Er versuchte bei Gelegenheit, auch Tauten damit zu beeinflussen, aber Tauten hatte sich in den letzten Stunden sichtbar gewandelt, und auch er antwortete jetzt etwas selbstbewusster: „Wir können nicht warten, bis die ganze Bürgermeistereivertretung zusammengerufen wird, sondern müssen selbständig handeln. Die Stunde erfordert es, dass Sie jetzt unseren Menschen entgegenkommen und nicht entgegenhandeln!" Er sagte dies sogar sehr energisch, was den alten Herrn auch gegen ihn, den alten versöhnlichen Fraktionsredner der Sozialdemokraten, verstimmte. Herr Claus führte die Anordnungen scheinbar williger und eiliger aus, doch Stamm misstraute dieser Freundlichkeit und lachte oftmals ergrimmt, wenn sie wieder zurückgingen: „Der alte Fuchs ist in Wirklichkeit rasend, er wünscht uns allen den Henker. Glauben wir ja nicht dieser Bereitwilligkeit!"
Tauten hatte noch immer mit Zweifeln zu kämpfen. Schigalski war wieder bei ihm gewesen, was Tauten während eines kurzen Besuches zu Hause von seiner Frau erfuhr. Schigalski hatte vor der Frau getobt, dass er, Tauten, sich mit den Aufständischen eingelassen habe. Er hatte mit dem Ausschluss aus der Gewerkschaft und der Partei gedroht, und diese Drohung machte Tauten neue Sorgen. Schließlich war er eines der ältesten Mitglieder in der Partei und im Verband, und Schigalskis Reden erfüllten ihn mit Groll. Um seine Handlungsweise zu rechtfertigen, schalt er vor Stamm auf den Parteisekretär: Der Kerl kommt immer her und kommandiert nach seinem Willen und sieht in Wirklichkeit gar nicht, was vor sich geht. Unsereiner kann doch nicht mit dem Schädel gegen Mauern rennen. Wenn die Menschen nicht immerfort gehetzt und betrogen worden wären, dann hätten wir dieses unselige Blutvergießen nicht gehabt. Aber unsere Leute oben wissen oft selber nicht, was sie wollen. Es ist eine Plage, wahrhaftig!"
Stamm antwortete ihm: „Die wissen schon, was sie wollen, verlas dich drauf. Heut' weiß ich's, was sie schon seit dem November getrieben haben und wo sie hinauswollen, aber da wo sie hinwollen, da geh' ich nicht mehr mit. Ich nicht mehr!"
Tauten schwieg. Stamm konnte nicht erraten, was der Genosse in diesem Augenblick dachte. Vielleicht zog es ihn noch immer innerlich dorthin, wohin ihn Schigalski ziehen wollte, und er wusste, dass Tauten ein immer schwankender Mensch gewesen war.
Und Tauten wunderte sich seinerzeits, dass der sonst immer so friedliche und seiner Partei ergebene Stamm plötzlich so ein ganz anderer Mensch geworden war. Auch Stamm war eines der alten Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei und des Verbandes und war oft in den Versammlungen gegen die „Hitzköpfigkeit" Zermacks und Raups aufgestanden. Die Menschen wandeln sich über Nacht, wie er heute erfuhr, und auch er hatte sich, fast zu seinem Erschrecken, gegen alle seine frühere Einstellung gewandelt und geriet jetzt mit Schigalski in einen Widerstreit. Mit Schigalski! Der Gedanke an Schigalski hing ihm weiter wie ein Alpdruck an, und dieser Gedanke allein behinderte ihn, sich dieser neuen Geschichte ganz zu überlassen.
Herr Kleinemann, an den kein Mensch mehr gedacht hatte, befand sich seit dem gestrigen Tage in der Stadt. Willi Werner war mit einem Befehl gekommen, er müsse sofort mit, und hatte in diesem Befehl die Drohung durchblicken lassen, dass es um seine, Kleinemanns, Existenz gehe, wenn er sich vor der Pflicht etwa drücken wolle. Herr Kleinemann war mitgegangen und machte seit vierundzwanzig Stunden die Patrouillen und Wachen der Einwohnerwehr in der Stadt mit. Er tat es nicht mit Behagen, denn er war kein allzu großer Held, und er hätte lieber daheimgesessen. Aber diese verfluchten Befehle und diese Aufdringlichkeit der Werner-Gesellschaft und dieser elenden Einwohnerwehr hatten ihn eingeschüchtert. Und jetzt, einmal in der Stadt festgehangen, konnte er sich mit keinen billigen Ausreden mehr daraus retten.
Er trug ein Gewehr und Handgranaten und lag an diesem Morgen zitternd hinter dem Bahndamm. Er wusste, dass die Arbeiter bereits den Viehhof und den größten Teil der Stadt gestürmt hatten, und er überlegte rasend, ob er nicht das Gewehr einfach wegschmeißen und sich irgendwie noch still davondrücken könnte. Die Arbeiter hatten mit einem neuen unheimlichen Sturm begonnen. Das Krachen der Schüsse wollte schier die Enge der Häuser zerreißen. Der ungewöhnliche Feuerlärm betäubte ihn. Eisige Angst kroch ihn an, als sich der erste Tote neben ihm streckte. Aufgeregt sprang er auf und wollte wegrennen, aber er musste sich wieder hinwerfen, denn eine unsichtbare Macht pfiff mit Sensen und Peitschen um ihn herum. Er kroch fast in den Damm hinein, wenn sich Handgranaten brüllend in seiner Nähe entluden. Die Peitschenhiebe in der Luft zuckten schmerzhaft in seinem Kopf, und sein Gesicht nahm immer mehr die Leichenblässe aller an, die in dieser Schlachthölle verzweifelt schrien und rannten.
Als die fürchterliche Peitsche durchaus seinen Kopf treffen wollte, kam Herrn Kleinemann wieder der Gedanke: Laufen! Weglaufen! Aber dann dachte er wieder: Dann kommt mir die verfluchte Werner-Sippschaft auf den Hals. Ja, sie würden ihn boykottieren und noch ganz anderes tun, um ihn im Ort unmöglich zu machen.
Einer der Einwohnerwehrleute hatte ihm das Gewehr fast ins Gesicht geworfen und taumelte leichenblass davon. Herr Kleinemann schrie: „Wo rennen Sie hin?" Auch er hatte sein Gewehr weggeworfen und lief hinterher und schrie wieder: Wo rennen Sie denn hin?"
Er riss im Laufen die Binde herab und beseitigte eilig alle Spuren, die ihn als einen Einwohnerwehrmann verraten könnten, und stellte sich rasch in einen Hausflur. Und da kamen auch schon die Arbeiter herangestürmt, im Rücken des Bahnhofes. Herr Kleinemann betete fast: „Wenn ich aus dieser Hölle wirklich herauskomme, dann pfeif ich auf den Laden und auf die ganze Gesellschaft. Wenn ich nur wieder glücklich zu Hause wäre." Er lugte vorsichtig aus dem Haus und sah, dass eine große Anzahl der Einwohnerwehrleute bleich und mit erhobenen Händen vorbeigeführt wurden. Er seufzte noch einmal: „Das hätte auch mir passieren können. Ein Glück, dass ich noch früh genug weggerannt bin." Er machte sich mit einer gesetzten Miene auf Umwegen auf den Nachhauseweg. Man hielt ihn nicht an, und er gewann langsam sein Gleichgewicht wieder.
Ja, er blieb sogar einige Male stehen und sah zu, wie sich die Masse vorwärtswälzte, und sagte sich immer wieder: „Ich hab' verdammtes Glück gehabt. Und jetzt holt mich kein Teufel mehr aus der Bude!" schwor er sich.
Er blieb an einem Geschäft stehen, in das eine Menge eindrang. Einzelne liefen mit Uhren und anderen Gegenständen wieder heraus. Er konnte der Lockung nicht widerstehen und drängte sich auch hinein. Er griff ein paar herumliegende Uhren auf und musste mit einigen schreienden und miteinander kämpfenden Leuten erst einen heftigen Streit bestehen, bis er die Beute in seinen Taschen verbergen und sich wieder hinauszwängen konnte. Jetzt lief er eiliger unter der Last der Beute und auch der Angst, man könnte ihm den Raub der Kostbarkeiten im Gesicht absehen, ganz scheu und klein nach Hause.
Aber niemand hielt ihn an, niemand fragte ihn, wo er herkäme. Doch glaubte er immer noch, man entdecke sein Geheimnis und nehme ihm die Beute wieder ab, und führe ihn vielleicht zur Wache ab. Ich, Kleinemann, mein Gott, als Dieb verhaftet werden! Dieser Gedanke schuf ihm ein Entsetzen nach dem anderen, und ganz grau und fast gebeugt von der Last der Angst kam er endlich zu Hause an. Er verbarg die Uhren hastig in sicheren Verstecken, und er atmete erst jetzt etwas erlöst auf.
Seine Frau beobachtete ihn mit ihrem bösen Gesicht. Endlich sagte sie gallig: „Wo hast du dich die ganze Zeit herumgetrieben? Wenn das die Leute erfahren", drohte sie ihm an, „dann kommt dir hier kein Mensch mehr in den Laden hinein, und wer weiß, was dir dann noch geschieht!"
„Still, still, still!" sagte Herr Kleinemann erschrocken. „Natürlich, wenn du so laut schreist, dann können es die Leute hören, und dann ist der Teufel los. Du weißt, ich bin nicht gern hingegangen, aber diese verfluchte Sippschaft in der Wernerschen Kneipe ersinnt immer solche idiotischen Dinge. Sei still, ich bin jetzt wieder hier und will mich künftighin von allem fernhalten. Von allem! Mich legt die Sippschaft nicht mehr hinein."
„Heut gings wirklich auf Leben und Tod. Ja, auf Leben und Tod!" seufzte er und wischte sich den Schweiß der wiederaufsteigenden Schrecken aus dem zitternden Gesicht. An die Uhren wollte er nicht denken, das hatte noch Zeit. Hoffentlich kam man ihm nicht in die Stube hinein und suchte danach. Dieser Schreckensgedanke beherrschte ihn jetzt immerfort. Er versuchte, sich damit zu beruhigen, dass auch die anderen geräubert hätten, aber die Angst blieb. Und sobald er draußen Schritte hörte, erschrak er von neuem. Er lugte durch die Scheibe und lauschte ins Haus. Nein, es kam niemand, die Leute zogen vorbei. Langsam gewann er seine Sicherheit wieder. Ja, er war nur mit knapper Not dem Schlimmsten entgangen. Darum freute er sich jetzt seines wiedergewonnenen Lebens. Die Schwätzer bei Werner sollten ihm noch einmal mit solchen Einwohnerwehren und dergleichen Rattenfallen kommen!
Seine Frau hatte den Laden aufgeschlossen, und einige Frauen kamen herein. Herr Kleinemann beobachtete die Augen und die Mienen der Frauen, ob sie nicht etwa ahnten, dass er weggewesen sei. Nein, sie schienen nicht zu wissen, dass er in der Stadt gewesen war, Gott sei Dank. Er hörte von den Frauen, dass einige der Männer aus der Essener Straße und aus der Kolonie bei dem Kampf um Stoppenberg und um die Stadt gefallen seien und andere verwundet worden waren. Er fand sich sogleich bereit, den Frauen mit ein paar Kilo Kartoffeln und einigen Pfund Mehl zu helfen. „Schrecklich!" sagte er „dass die Oberen nicht einsehen wollen, was das hier für eine Not ist!" Seine eigene Rettung erfreute ihn jetzt noch mehr.
Alles, was in der Folge geschah, war für Herrn Kleinemann „unumstößlicher" Werdegang. Er hatte auch im November an einen solchen unumstößlichen Werdegang geglaubt, was er später aus der Erinnerung verloren hatte.
„Warum will man etwas durchaus aufhalten, was sich nicht aufhalten lässt!" Er sprach jetzt zu den Frauen, und ganz überzeugt, „dass man an diesem Werdegang gar nichts ändern könne!"
Aus der Hölle heraus, in der er ein paar Stunden unter Qualen verbracht und in der er sich bereits mehrere Male aufgegeben hatte, glaubte Herr Kleinemann nun mit vollem Blick erfasst zu haben, dass man den Boden der Tatsachen nie verlassen dürfe. Seine Miene drückte all seine innere Befriedigung über diese seine plötzliche Logik aus.
Herr Kleinemann wagte sich endlich langsam vor die Tür. Er bemerkte mit Erschauern, wie sich Kolonne auf Kolonne junger und graubärtiger Männer, in den eigenartigsten Uniformierungen, alle mit Gewehren bewaffnet, durch Stoppenberg wälzten. Ein strenger, drohender Mut erfüllte alle, so dass sich Herr Kleinemann mehrere Male sagte: „Und dagegen will man anrennen! Undenkbar!" Wie die Menschen winkten, aus den Fenstern, aus den Türen, aus allen Straßen winkten sie. Das war Optimismus. Es war nicht wegzuleugnen, diese elende Masse hatte die Gewalt in der Hand, daran konnte niemand mehr rütteln. Auch ihm winkten die Vorbeiziehenden. Nicht zurückwinken? Sie bestätigten ihm ja nur, dass er wieder sein Leben genoss. Auch er winkte.
Die Herren Werner und Herr Schwerlich und Heumisch, die saßen jetzt sicherlich in der Klemme. Wer wusste, ob sie überhaupt noch ausreißen konnten.
„Schadet manchem gar nichts", sagte sich Herr Kleinemann zufrieden, „wenn sie mal gehörig was auf das unglaubliche Maul kriegen." Er winkte. Er war ja aus dem Schlamassel heraus.
Auch sein Adolf schlich herein. Bleich wie ein Toter. Auch er war in der Stadt gewesen. Mit einem tückischen Blick auf die vorüberziehenden Scharen drohte der Gymnasiast: „Wartet, die Schlappe wird noch gerächt!"
Herr Kleinemann sagte verweisend: „Bist du wahnsinnig? Wem willst du drohen? Du siehst doch, wie sie ziehen. Und kann man nicht mit jedermann in Frieden auskommen? Man muss sich nur nicht der vernünftigen Abwicklung der Dinge absolut in den Weg stellen wollen!"
„Du balancierst ja schon wieder!" knurrte ihn der Bursche böse an.
„Was, zum Kuckuck, was balanciere ich denn; kann man sich denn den Tatsachen verschließen?" stammelte Herr Kleinemann empört.
Der Junge zischte: „Feigling!" und verschwand in der anderen Stube.
Herr Kleinemann stand wie versteinert. Eine unheimliche Wut ergriff ihn gegen den Burschen, der ihn feige nannte. Er wollte hinterher, aber da schrie seine Frau: „Ihr seid beide verrückt! Immer hab' ich es euch gesagt!"
„Halt das Maul!" befahl er ihr, noch zitternd. „Wenn einer wahrhaftig wahnsinnig wird, dann ist es dieser unverbesserliche Kerl da drinnen. Feige nennt er den Vater!"
Ja, auch der junge Kleinemann war in der Stadt gewesen. Die Gymnasiasten hatten das unter sich beschlossen gehabt, den Grünen und der Einwohnerwehr zu helfen. Sie fühlten sich als „ganze" Männer.
Er saß in der anderen Stube und starrte voller Hass auf die vorüberziehenden Kolonnen der Arbeiter. Er wünschte sich ein Gewehr, um hineinknallen zu können. Er hörte den „Alten", wie er Herrn Kleinemann nannte, mit der Mutter im Laden zanken und zischte: „Der feige Kerl."
Herr Kleinemann sammelte sich wieder etwas und trat vor die Tür. Der Zug der bewaffneten Arbeiter nahm kein Ende. Er winkte. Seine Angst, dass noch jemand von diesen Leuten in sein Haus kommen könnte, hatte sich gelegt. Er winkte. Er hörte, dass die Arbeiter die ganze Stadt hatten, und dass sie weiter zum Haumannshof marschierten, und tat so, als wäre es auch sein Sieg. „Ja", rief er den winkenden Frauen in den Fenstern zu: „So was haben wir wirklich noch nicht erlebt. Die ganze Stadt haben sie, und jetzt marschieren sie schon zum Gefängnis! Auch dieses werden sie sicher bekommen, mit diesen vielen Menschen. Ja, so etwas hat man noch nicht erlebt !"
Franz Kreusat unternahm sofort nach der Einlieferung eine Besichtigung der Zelle. Sie war klein und hatte ein hoch angebrachtes, stark vergittertes Fenster mit einem Kasten, so dass er nur den schwarzen Himmel sehen konnte. An der einen Wand war eine aufgeklappte Pritsche. Er suchte umher und fand unter dem kleinen Tisch einen Tonkrug.
Er griff hastig danach und trank. Das Wasser war abgestanden; doch er trank. Er trank lange und gierig. Als er genug hatte, hockte er sich auf den Schemel und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Wo er sich befand, wusste er. Sie sollten vor ein Kriegsgericht kommen, hatte der Grüne gesagt. Also die Gefahr war noch keineswegs zu Ende. Es war ihm trotzdem eine Wohltat, die Gesichter der Polizisten nicht mehr zu sehen.
„Was machen wohl die Genossen jetzt? Jupp Zermack? - Fritz Raup? - Was die Mutter?"
Die Mutter zermarterte sich bestimmt in Angst um ihn. Wenn sie ihn nur halb so lieb hätte. Er hörte immer ihre Ermahnung, gleich wo er hinging: „Junge, pass mir bloß ja auf!" So war es, als er das Gewehr wieder genommen, und so war es, als er die erste Schicht im Schacht wieder anfangen sollte. Sie hatte nichts essen können und saß untätig da, bis er wieder aus der Schicht nach Hause gekommen war. Mit Öl hatte sie ihm die ersten Narben und Schürfe bestrichen, die er sich in der Erde an Stein und Kohle gerissen hatte. Und als er in den Krieg musste: „Wenn sie dich nur nicht totschießen, mein Jung, mein armer Jung" - und immer wieder: „Junge, pass mir auf, pass mir ja auf!" Und als er zurückkam, war sie ihm fast fremd gewesen, so grau war sie geworden. Nur ihre Augen, die großen, angstvollen Augen waren die gleichen gewesen. In diesen Augen saßen der Schrecken und das Grauen der überstandenen Kriegsjahre. „Nun gehst du mir nicht mehr fort, mein Junge!" hatte sie gesagt; sie selber hatte ihm den Soldatenrock ausgezogen. Dann hatte sie sich die ersten Nächte an sein Bett geschlichen und gewacht, wie sie es früher getan hatte, als er noch in der Wiege lag.
Wenn sie gesehen hätte, wie sie ihn geschlagen hatten, sie wäre gestorben. Er sollte vor ein Kriegsgericht gestellt werden; wofür? Vielleicht würde man sie noch im letzten Augenblick erschießen oder totschlagen; warum?
Therese fiel ihm ein. Ja, Therese. Ich hätte doch noch hingehen sollen, wir haben uns im Streit getrennt. Was mag sie jetzt denken, und was tut sie jetzt? Er ging unruhig mit auf dem Rücken gekreuzten Armen, den Blick auf den braunen Fußboden der Zelle gerichtet, getrieben von stürmenden, quälenden Gedanken. Stunde um Stunde verging im gleichen Schweigen, in dem gleichen Hin und Her in der Zelle. Dann wurde er müde und nahm wieder auf dem Schemel Platz und grübelte vor sich hin. Sein Gesicht war eine Geschwulst und brannte fiebrig. Er wagte nicht, danach zu tasten. Einige Male in der Nacht versank er in einen tiefen Schlaf. Und so schlief er wieder einmal, bis ihn ein furchtbares Feuergetöse, der Donner von Handgranaten und Schüssen weckten.
Jemand schrie in einer anderen Zelle, und Fäuste donnerten gegen die Wände: „Unsere kommen, Unsere kommen!"
Franz erwachte aus der halben Ohnmacht: „Unsere!" Er stand in der Zelle noch immer in Zweifeln, ob es wahr sei, und horchte hinaus. Die Fäuste schlugen noch immer gegen die Wände, und er hörte wieder die Schreie: „Unsere, Unsere!"
Er hatte in der Nacht von einem der alten Gefangenen vernommen, dass noch eine ganze Anzahl anderer Genossen aus dem Segeroht und in der Stadt von den Grünen verhaftet worden waren, und dass sie hier im Untersuchungsgefängnis saßen. Wahrscheinlich waren es die Genossen, die da riefen. Er konnte es immer noch nicht glauben, aber die lauten Knalle der Handgranaten dröhnten immer näher, die Schüsse wurden lauter. Es schien in den umliegenden Straßen vor dem Polizeipräsidium und dem Gefängnis ein letzter, schwerer Kampf zu toben. Da kam der Wärter mit einem anderen Gefangenen herein, sie brachten ihm die braune Brühe. Er fragte den Wärter, ob es wahr sei, dass die Arbeiter heranrückten.
„Ich weiß nichts!" erwiderte der Wärter widerstrebend. Der Gefangene zwinkerte Franz bedeutungsvoll mit den Augen zu. Dann wurde die Tür wieder verschlossen. Franz besann sich, er stürzte zu der Tür und schlug mit den Fäusten dagegen, aber es kam niemand, um zu öffnen. Er nahm den Schemel und schlug gegen die Wände und die Tür und schrie, weil er auch die anderen schreien hörte: „Aufmachen!" Es machte niemand auf. Ratlos stand er da. Was jetzt? Draußen dröhnten die Handgranaten näher, und die Kugeln pfiffen und schlugen schon gegen die Mauern des Gefängnisses.
Hoffentlich kommen die Mörder nicht und knallen uns im letzten Augenblick hier in den Zellen tot! raste es in Franz. Er hob den Schemel, um sich sofort auf den nächsten, der hereinkäme, zu stürzen und sich bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen. Endlich hörte er Schreie, viele Schreie und ein Scharren und Laufen vieler Menschen, dann wieder lautes, frohes Rufen, Namen und Geschrei. Seine Lippen begannen zu zittern. Er ermahnte sich: „Warte; warte, Franz: Werde nicht verrückt!"
Und dann war das Geschrei ganz nahe. Er hörte: „Sprengt das Tor mit Handgranaten!"
Mehrere Explosionen krachten, und dann hörte der Gefangene mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl, wie sich ein Menschenhaufen in den Gefängnishof wälzte. „Die ,Politischen' heraus!"-„Wo sind die ,Politischen'?" Aus den Fenstern schrien die Gefangenen: „Hier! Hier!" - und auch Franz kletterte auf den Schemel und schrie so laut er konnte: „Hier! Hier! Hier!"
Schläge donnerten gegen die Zellentüren. Franz ergriff wieder seinen Schemel und schlug gegen seine Tür und schrie sich heiser: „Hierher! Hierher!" Und plötzlich wurde auch seine Tür aufgeschlossen. Der Wärter war mit einer Menge der Kumpels gekommen. Jemand schrie: „Franz! Franz! Unser Fränzchen!" Noch einmal hörte er die bekannte Stimme: „Fränzchen!" Und Franz sank in Zermacks Arme. Er weinte, und auch Zermack fuhr, während er mit der einen Hand Franz über den Kopf strich, mit der anderen über seine Augen. „Gott sei Dank, du lebst!" Er wanderte aus den Armen des einen in die Arme des anderen, und auch Fritz Raup strich ihm zärtlich über das zerschlagene Gesicht: „Na, Gott sei Dank, wir haben dich lebend wieder, Junge!"
Sie hatten auch Miller herausgeholt. Miller hatten die letzten Stunden und die Zelle noch schweigsamer und strenger gemacht. Er nahm die Begrüßungen und die Händedrücke der Genossen stumm hin und sagte: „Kommt, wir müssen nach Stoppenberg, und da nach dem Rechten sehen!" Er sah noch einen Moment nach Franz hin, als wollte er sich überzeugen, ob ihn die Schrecken der Verhaftung nicht schwankend oder mürbe gemacht hätten, aber Franz drängte jetzt ebenso eilig nach Hause, er war bereit, sofort ein Gewehr zu nehmen und den Vormarschierenden nachzuziehen. Er wollte kämpfen.
Die Stadt war bis auf einen letzten Stützpunkt, den Essener Wasserturm, einen burgähnlichen Bau vor Frillendorf, in den Händen der Arbeiter. Aus diesem Wasserturm dröhnten noch die Schüsse und die Knalle der Handgranaten. Die anderen Scharen der Werk- und Bergarbeiter, die schon in die Zehntausende angewachsen waren, zogen, ohne auf größere Widerstände zu stoßen, gegen Mühlheim und Duisburg.
Zermack und Raup entschlossen sich, mit Miller nach Stoppenberg zurückzugehen, um dort eilig mehrere neue Kompanien zusammenzustellen. Sie begegneten unterwegs vielen anderen, die mit zwei oder drei umgehängten Gewehren ebenfalls in ihre Orte zurückkehrten. Sie erblickten auch verschiedene Leute, die mit Beutestücken aus den geplünderten Läden und prahlend nach Hause zogen. Millers Stirn wurde düster: „Warum hat man das nicht verhindert?" wandte er sich erzürnt an Zermack. „Man sollte die Plünderer auf der Stelle erschießen. Diese Diebereien setzen uns doch nur herab. Wir dürfen solche Verbrecher nicht unter uns dulden!" Aufgeregt trat er selber einigen, die mit der Beute ankamen, entgegen und sagte zu ihnen streng: „Wo habt ihr das Zeug gestohlen? Ihr bringt es sofort zurück!"
Einer der Burschen lachte verlegen: „Nun, Mensch, mach doch nicht soviel Theater daraus. Es ist Revolution, geh aus dem Weg!"
Ein anderer erwiderte ihm: „Wenn du alles wieder zusammenholen willst, was sich die anderen herausgeholt haben, dann hättest du was zu rennen, geh mal in die Stadt, da leeren sie noch überall die Läden aus!" Und alle lachten.
Miller war weiß geworden. Sein Gesicht zuckte vor Zorn: „Ihr bringt alles zurück!" befahl er noch einmal streng. Als die Leute zögerten, entriss er Zermack die Pistole, willens, den nächsten niederzuschießen.
Die Plünderer lachten wütend und zuckten mit den Schultern. Der erste junge Bursche brummte: „Der ist verrückt!" Aber sie gingen zurück. Miller rief eine Gruppe vorbeigehender Werkleute an und befahl diesen, mit den Plünderern mitzugehen und zu kontrollieren, ob sie die Sachen wieder abgeben würden.
„Man soll diese Diebe alle einsperren oder erschießen!" sagte auch der Leiter der Gruppe, ein älterer Mann, in dem gleichen Zorn. „Wir haben schon einige einsperren müssen, weil sie sich wie die Räuber betragen!" Die Gruppe ging den Plünderern nach.
Miller war sichtlich verstimmt. Er grübelte finster. „Wenn es so weiter zugeht", sagte er, „dann ist unsere Geschichte gleich wieder verloren. Solche Dinge dürfen nicht vorkommen." Auch Zermack war erbittert. „Unsere Menschen setzen ihr Leben ein, und diese Banditen nutzen die billige Gelegenheit aus, um zu stehlen und uns in den Augen der Bevölkerung herabzusetzen und uns den Kampf wieder zu erschweren", sagte er voller Hass. Er wandte sich an den stummen Raup. „Wir müssen im Ort sofort eine Sicherheitswehr hinstellen und jeden Plünderer gleich festnehmen!"
Während sie zurückgingen, begegneten sie neuen Kolonnen, die den ersten eilig nachrückten. Am Bahnübergang stampfte ein schwerer Ackergaul vor einer großen Kanone, auf deren Lauf und Protze mehrere kräftige Burschen in Matrosenblusen und Mützen saßen. Es waren junge und erwartungsvolle Gesichter. Einige riefen den Zurückkehrenden entgegen: „He, wie weit sind wir denn schon, wo sind denn Unsere? Sind sie schon in Mühlheim?"
Polternd rollte das Geschütz weiter, während die Kulis die Mützen schwenkten und ein Lied anstimmten, in das gleich die ganze hinterher ziehende Kolonne mit einfiel: „Wir fürchten nicht, ja nicht, den Donner der Kanonen", - und als der Refrain kam: „dem Karl Liebknecht haben wir geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand" - pflanzte sich das Lied brausend durch alle folgenden Kolonnen fort.
„Brave Jungens", sagte Zermack, dessen Blicke sich wieder erhellten, und fügte hinzu: „Wir müssen sofort alles tun, um den Genossen den schweren Kampf zu erleichtern. Wenn wir zu Haus sind, werden wir alle, die noch müßig daheim sitzen, sofort heraus treiben. Sie sollen alle mithelfen, denn es ist unser aller Kampf. Wenn wir diesmal vorzeitig müde werden, dann kommen die Mörder wieder, und dann werden wir sie nicht sobald wieder los!"
Miller ging erst nach Hause, um seine Frau zu beruhigen. Zermack sah ihm nach, Miller schien nach dem Zusammenstoß mit den plündernden Banden sichtlich durcheinander geraten zu sein. Aber seine Sorge wich wieder, als Miller nachmittags wieder auf der Wache erschien. Zermack sagte: „Ich dachte, die Geschichte mit der Diebesrotte hätte dich entmutigt."
Miller zuckte die Schultern: „So können wir nicht weiterfahren. So beginnt sofort unser Verderben!" Er blieb nachdenklich und einsilbig.
Wie in der Stadt und im Ort herrschte auch hier auf der Wache noch ein völliges Durcheinander. Der alte Henke und Stamm liefen schimpfend und fluchend umher, weil ihnen die Arbeit über den Kopf wuchs. Dauernd versperrten Nachzügler und allerlei Gestalten, die vorher bei dem Kampf nicht zu sehen gewesen waren, aber jetzt plötzlich mit Gewehren herumzogen, den Eingang in das Haus. Der Wachraum war immerfort voller Menschen und Geschrei. Man verlangte Munition und Brot und Armbinden und Reisescheine. „Aber, Leute!" schrie Stamm verzweifelt, „wir können doch jetzt noch keine Reisescheine ausstellen, seid doch vernünftig. Und Brot haben wir auch nicht mehr. Es muss neues beschafft werden. Und hier sind die Lager schon leergeplündert!" Flüche und neues Geschrei und Drohungen antworteten ihm: „Ja, ihr habt euch hier schön niedergelassen und könnt gut maulen. Wir aber müssen nach vorn. Wenn ihr kein Brot beschafft, dann hole euch der Teufel, dann schmeißen wir die Knarren einfach wieder hin!"
Miller drängte sich durch den Haufen Menschen und rief streng: „Ruhe! Wir sind hier keine randalierenden Banden!" Es wurde allmählich still. Sein hartes und zerschlagenes Gesicht wirkte auf die Leute einschüchternd. Er wandte sich an die Schar: „Ihr stellt euch sofort draußen zusammen!" befahl er ihnen, „und marschiert den anderen nach. Wer nicht mit will, der muss sein Gewehr abgeben!" Die Leute murrten: „Man soll hier eine bessere Ordnung schaffen", und andere wiederholten ihre Forderungen nach Brot und Munition und Binden und Reisescheinen. Einige Flüche grollten noch nach.
Miller befahl noch einmal: „Seid still, wenn nichts da ist, kann man euch nichts geben. Auch die anderen haben mit leeren Händen angefangen und haben nicht gemurrt." Er suchte einen großen Mann unter ihnen aus, der ein gutes und ruhiges Gesicht hatte, und sagte ihm: „Genosse, du gehst mit ihnen raus und stellst sie zu einer Abteilung zusammen und ziehst mit ihnen den anderen nach. Wenn einer darunter ist, der nicht dazugehört, dem nimm das Gewehr ab und jage ihn weg. Geh, Genosse!"
Der Kumpel nickte und wandte sich an die noch murrenden Leute: „Nun folgt jetzt und kommt heraus. Ihr seht, dass wir draußen nötiger sind, als hier herumzuschreien!" Die größere Anzahl der Männer folgte jetzt willig, während die anderen unschlüssig dastanden.
Millers Gesicht wurde wieder streng: „Was wollt ihr noch? Wollt ihr euch ausschließen? Dann gebt die Gewehre ab. Wir werden auch ohne euch fertig!" Darauf gingen auch die letzten.
Stamm ließ sich erschöpft auf einen Stuhl nieder und sagte missmutig: „So geht es schon seit den frühen Stunden zu. Man hat hier immer alle Hände voll zu tun, und überall muss man immer wieder gegen neue Schwierigkeiten kämpfen. Man könnte bald selbst die Geschichte hinschmeißen!"
Miller hatte sich anscheinend wieder gesammelt, denn er blieb auf der Wache und griff überall mit ein. Zermack, der draußen dem Kumpel geholfen hatte, die Abteilung der Einzelläufer zusammenzustellen, kam wieder herein und befahl Fritz Raup: „Wir werden jetzt sofort alle zurückgekommenen Genossen zusammenholen und überall unsere Posten ausstellen. Und wir setzen uns mit der Bürgermeistereivertretung und Claus zusammen, damit die nötigen Lebensmittel schnell herangeschafft werden. Unsere Menschen wollen leben." Er wandte sich zu Franz und Renteleit, die mitgekommen waren: „Und ihr holt eure Kumpels und stellt gleich eine neue Abteilung zusammen. Unsere kämpfen noch um den Wasserturm, und wir müssen ihnen Hilfe schicken."
Franz, der sich die ganze Zeit mit der Mutter und Therese beschäftigt hatte, sagte zögernd: „Ich möchte aber erst noch nach Hause, um die Eltern zu beruhigen!"
Zermack nickte. „Geh, sie warten sicher."
Franz eilte nach Hause; sein Herz schlug laut. Er wäre auch gerne gleich zu Therese gerannt, aber zuerst musste er die Mutter beruhigen. Unterwegs riefen ihn die Leute an: „Franz, du lebst! Gott sei Dank!"
Aus dem Fenster in der Essener Straße schrien Frauen: „Der Kreusat-Junge ist wieder da. Er lebt!" Seine alte Straße begrüßte ihn, den Totgeglaubten. Was wird der Vater sagen, was die Mutter? Er ging eilig die Treppe hinauf, die Mutter hatte ihn schon vom Fenster aus kommen sehen und wartete in der Tür. Die alte, zitternde Frau hing ihm weinend am Hals: „Mein Junge, mein Junge, was hab' ich ausgestanden!"
Martin Kreusat kam mit grauem Gesicht und hüstelnd aus der Kammer. „Er ist da! Der Junge ist da!"
Franz hatte im ersten Augenblick gar nicht bemerkt, dass auch Therese da war. Therese war in den letzten zwei Tagen mehrere Male zu den alten Leuten hinaufgegangen; sie hatte immer noch gehofft, Franz käme wieder. Doch jetzt, als sie ihn wieder sah, war es ihr, als träume sie. Sie stand da und sah ihn an. Auch Franz erkannte sie nicht gleich wieder. Sie erschien ihm so verändert.
„Was machst du?" fragte er.
„Was mach' ich", lächelte sie unter Tränen, „frag die Mutter, was ich mache."
„Sie ist auch die ganzen Nächte unterwegs", ermannte sich Frau Kreusat. „Das Kind fällt auch bald um. Ach Gott", klagte sie wieder, „was haben wir diese Tage nicht alles erlebt!" Sie begab sich zum Herd und stieß mit dem Feuerhaken in die Glut und stellte das kleine Pfännchen auf. „Du wirst doch Hunger haben. Wir haben noch paar Kartöffelchen da, aber ohne Fett. Ich will sie dir heiß machen!" Und sie ging immer wieder zu ihm hin und strich über sein wundes Gesicht und jammerte: „Mein Gott, wie siehst du aus. Wer hat dich denn so geschlagen?"
Martin Kreusat hatte sich wieder auf seine Herdbank hingehockt und hüstelte: „Sie haben ihn geschlagen", murmelte er. „Geschlagen...! Ja, so sind sie, wenn der Mensch einmal sein Recht verlangt."
Franz musste von der Mutter wieder genötigt werden, etwas zu essen. Sie kam immer wieder zu ihm hin und strich ihm über den Kopf. Sie sagte: „Jetzt bleibst du doch wohl zu Haus?"
Franz gab ihr nicht gleich Antwort. Er sah Therese an und fragte: „Was machst du?"
Therese antwortete: „Ich habe die Verwundeten verbunden. Es war schrecklich!" Und sie weinte wieder. Franz strich ihr über die Hand: „Es sind schwere Tage, Therese. Ich freue mich, dass du dich anders besonnen hast. Wenn das vorbei ist, dann werden wir auch an uns denken können! Die Mutter wird uns das Kämmerchen
einrichten. Es wird vorläufig ausreichen." Sie sprachen wie früher und redeten von ihrer künftigen kleinen Familie, während die beiden alten Leute zuhörten.
Draußen vor Mühlheim dröhnten wieder die Schüsse der Tausende und starben schon wieder andere ihresgleichen und schleppten sich wieder Gruppen Verwundeter zurück.
Der Kampf ging weiter. Um die Stadt Mühlheim und gegen das Reichswehrkorps Schulz, das sich auf dem Kaiserberg bei Duisburg verschanzt hatte.
Zermack und Fritz Raup, die ebenfalls auf einen Sprung nach Hause gegangen waren, trafen ihre Frauen nicht an. Die Kinder erzählten, die Mütter seien in der Küche. Sie kochten für die durchziehenden Leute Essen.
Frau Zermack hatte auch Frau Raup aus dem Hause geholt, und beide wirtschafteten mit der Naumannschen und einem Dutzend anderer Frauen in einer Schule in der Essener Straße, wo Stamm in aller Eile eine neue größere Küche hatte einrichten lassen.
Die Naumannsche hatte auch ihren faulen Kerl mitgenommen, der mit einem umgehängten Gewehr und mürrisch an der Wache Posten stand.
Die Schule war immerfort von Haufen hungriger Durchzügler umlagert. Die Suppen waren dürftig. Und auch die abgehetzten Frauen mussten sich manches empörte Geschrei und Murren anhören. Die wenigen Vorräte erschöpften sich schnell, und die Frauen saßen verzagt herum und warteten, bis die Männer wieder mit neuen Lebensmitteln ankamen, die sie unter Mühen den Bauern abkämpfen mussten. So traf Zermack seine Frau an. Auch sie fiel ihm völlig erschöpft und weinend um den Hals. „Ach Gott, wenigstens der eine Trost, du bist wieder lebend zurück. Wir werden hier ganz kopflos. Wir können den Menschen nichts mehr geben, und sie verfluchen uns. Schafft doch Rat. Die Raupsche heult auch immer und will nach Haus. Ich muss sie mit Gewalt festhalten. Jesus, Jesus, sind das Tage!"
Zermack beruhigte die Frauen, dass sie sich schon bemühten, dem Mangel abzuhelfen. Er wusste selber nicht, wo sie die nötige Nahrung herbekommen sollten, aber er versprach, sie würden gleich alles besorgen, nur damit die verzagten Frauen nicht auseinander liefen. Er ging eilig wieder nach der Wache.
Vor der Wache stand eine große Schar der in Essen gefangen genommenen Einwohnerwehr. Darunter befanden sich auch einige Offiziere der Grünen Polizei. Eine Menge der aus der Stadt zurückkehrenden Leute standen herum. Miller war noch unentschlossen, was mit den Gefangenen geschehen solle. Die meisten der Arbeiter protestierten, dass man sie nach dem Flugplatz schickte, wo nach verschiedenen Nachrichten - niemand wusste, durch wessen Eingriff - ein Teil der Gefangenen schon wieder „auf Ehrenwort" freigelassen worden war. Einige Kumpels bestanden darauf, dass man die Gefangenen im Ort einschließen solle, bis die Stadt genommen sei, und dann sollten sie einem Tribunal zur Aburteilung übergeben werden. Die Einwohnerwehrleute standen mit bleichen Angstgesichtern da. Auch die Offiziere verrieten diese Angst. Man konnte merken, dass sie ihre Wut und Verachtung gegen die verwirrten Bürger kaum verbergen konnten, die immerfort stammelten: „Wir sind Geschäftsleute und Beamte, und man hat uns einfach hineingezogen" - „Wir haben ja die Gewehre abgegeben, und wir versprechen, uns nicht mehr hineinzumischen!" und dergleichen Entschuldigungen.
Ein hagerer Oberleutnant, dem man an der runden Spur um das eine Auge den Monokelträger ansehen konnte, mit einigen Schmissen in dem mageren, weißen Gesicht, sagte zu Miller: „Wozu war das alles nötig gewesen! Wenn die Leute nicht geschossen hätten, dann hätte es Ruhe gegeben."
Der Heiduck, ein Häuer, der das Arzthaus mitgestürmt hatte und mit einem verbundenen Arm dastand, schrie: „Wozu alles nötig war? Wozu seid ihr hergekommen? Um uns totzuschlagen!" Er erhob die Faust: „Sag noch ein Wort, und ich schlag' sie dir in das Schandmaul!" Der Offizier sah sich in der Runde um. Er sah den Hass und schwieg jetzt.
Ein anderer der Offiziere, ein junger, schmaler Mensch, redete zu den Bergleuten: „Wir haben nur unsere Pflicht erfüllt. Wir hatten Befehl und mussten die Stadt verteidigen." Sein schmales Gesicht war bleich und feucht. „Eure Pflicht!" schrien mehrere Frauen wütend. „Eure Pflicht war wohl, unsere Männer totzuschießen! Schlägt uns noch nicht genug die Arbeit und die Not? Ihr... man soll euch prügeln wie die Hunde!"
Der Offizier wurde noch bleicher und trat einige Schritte zurück.
Miller, der von einigen älteren Leuten gedrängt wurde, die Gefangenen weiterzuschaffen, schrie zornig: „Nu zerreißt mich doch nicht. Wir müssen erst mit den anderen beraten. Ich kann nicht allein entscheiden, was wir mit den Gefangenen machen sollen."
„Sie haben doch die Gewehre abgegeben und sind nicht mehr gefährlich", sagte der graue Heise, der hinzugekommen war. „Am besten wär's, man lässt sie weiterbringen oder ganz und gar laufen." Miller schüttelte den Kopf und ging in die Wache zurück.
Die Grünen und die Einwohnerwehrleute schöpften merkbar wieder Hoffnung. Der Oberleutnant, der Millers Unschlüssigkeit gemerkt hatte, meldete sich noch einmal: „Meine Herren, Sie sehen ein, dass es ein Unsinn ist, uns hier festzuhalten; wir erklären Ihnen auf Ehrenwort, dass wir uns von dem weiteren Kampf fernhalten werden. Wir haben unsere Waffen abgegeben, und das muss Ihnen Garantie genug sein, dass wir es ernst meinen."
Während auch die anderen wieder ihre Entschuldigungen vorbrachten, die von der Menge immer wieder mit Gelächter und Wutausbrüchen unterbrochen wurden, kamen Schigalski und Tauten an.
Schigalski fragte: „Was ist hier lös? Warum schafft man die Leute nicht weiter?"
Eine Frau schrie: „Komm auch du noch und rede für sie, für die nichtsnutzigen Kerle. Unsere Männer haben sie totgeschossen, und du fragst noch, was wir von der verfluchten Gesellschaft wollen."
Schigalski wandte sich an die Menge und sagte aufgebracht : „Es ist nicht unsere Sache, die Gefangenen festzuhalten. Wir setzen uns nur in Unannehmlichkeiten!" „Du kommst wieder wie ein Apostel an und predigst Vergebung!" schrie einer der Männer aus der Menge. „Wenn wir sie loslassen, dann haben wir sie morgen wieder auf dem Hals. Und dann zahlen sie uns unser Mitleid doppelt!"
Man schrie nach Miller. Miller kam ärgerlich heraus. „Lasst mich doch endlich in Ruh, ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht." Er sah Schigalski an und sagte diesem: „Du hältst dich natürlich von allem fern und überlässt uns die Sorge um alles."
Schigalski sagte, was er schon zu den anderen gesagt hatte: „Halse dir nicht diese Verantwortung auf, lass die Gefangenen weiterschaffen. Wir können uns hier nicht als Richter über diese Leute setzen. Ich weiß, dass sich viele verpflichtet haben, nicht mehr mitzutun, und ich glaube auch den Beteuerungen dieser Leute hier. Wir wollen keine Schuld auf unser Gewissen laden. Lass sie da hinschaffen, wo die anderen hingekommen sind. Mag man sich da mit ihnen weiter beschäftigen."
Miller gab dem Vorschlag nach einigem Zögern statt. Er wandte sich an die älteren Leute, die mit ihren roten Armbinden dastanden, und befahl ihnen: „Schafft sie nach dem Flugplatz!"
Die Menge murrte. „Auch er wird schon verrückt!" rief einer erbost. „Er hat wohl schon die Prügel vergessen, die er von ihnen bekommen hat."
Ein anderer schrie: „Man soll alles hinschmeißen. Wenn man die Schinder so gnädig behandelt, dann ist schon die ganze Geschichte verloren!"
Henke brachte mit einigen anderen die Gefangenen, die sichtlich aufatmeten, weg. Die Menge verzog sich murrend und fluchend langsam wieder in ihre Straßen. „Unsere verfluchten Dummköpfe - Narren sind es!" „Wir haben eine Dummheit begangen", sagte Zermack, als Miller wieder in die Wache kam. „Der Schigalski scheint sich auch mehr um diese Gendarmen zu sorgen, als um unsere eigenen Leute, die in der Stadt bluten. Wir hätten wenigstens die Offiziere festhalten sollen", sagte er missmutig. „Die werden doch gleich jede neue Gelegenheit benutzen, um uns die Gnade wieder heimzuzahlen."
Miller brummte: „Ich will mir nicht jede Verantwortung aufbürden, ich hab' genug an den anderen Sorgen zu tragen!"
Zermack schüttelte den Kopf und schwieg.
Man hatte Miller gemeldet, dass die Grubenverwaltung wieder die Kessel eingeheizt und Leute in die Grube geschickt hätte.
„Der Streik geht weiter", sagte er dem Mann, der ihm die Nachricht gebracht hatte, und sein zerschlagenes Gesicht wurde rot vor Jähzorn. Seine Nachgiebigkeit bei den Gefangenen schien ihn jetzt selber zu wurmen. „Wenn die Direktion eigenmächtig handelt, dann lass' ich sie alle einsperren", drohte er aufgeregt. Er schickte Stamm mit einigen Leuten, die seine Anordnung dem Betriebsführer überbringen sollten, nach der Zeche.
Stamm zauderte erst einen Augenblick. „Warum wartest du noch", fragte Miller, „geh und führ es aus!"
Stamm zuckte die Schultern; er antwortete aber nicht und sagte zu den Leuten: „Kommt!"
Franz Kreusat kam zurück. Es hatte einen neuen Kampf zwischen ihm und der Mutter gegeben, als er wieder wegging. Sie wollte ihn durchaus im Haus festhalten, und es hatte ihn Mühe gekostet, sich ihr zu entwinden. „Ich muss zu den anderen, ich kann jetzt auf keinen Fall zu Hause sitzen, es geht nicht. Wir haben ja erst den Anfang getan!"
Therese war wieder in ihre Verbandstube gegangen, wo noch Verwundete lagen, die ihre Hilfe brauchten. Das Wiedersehen war kurz gewesen, und sie hätten sich so vieles sagen können, aber sie waren nicht dazu gekommen. Franz hatte auch von Tautens Wandlung gehört, aber er glaubte noch nicht ganz daran, dass es dabei bleiben würde. Er kämpfte auch gegen eine Sorge, denn Therese hatte durchblicken lassen, dass sie mit nach Mühlheim wollte. Er hatte ihr in dem ersten Schrecken abgeredet, aber sie hatte mit dem Kopf geschüttelt: „Wenn du gehst, dann gehe ich auch." Als er wieder auf der Wache erschien, griff er gleich nach einem der an der Wand stehenden Gewehre.
Zermack sagte zu ihm: „Nimm die hier herumliegenden Leute und ein Maschinengewehr mit und macht euch sofort nach dem Wasserturm auf!"
Franz, der eins der Maschinengewehre und einige Munitionskästen herausholen ließ und die aufgestandenen Leute mit Gewehren und Munition versah, dachte einen Augenblick an Christian Wolny. Wo mag der jetzt stecken? Vielleicht ist er auch schon gefallen? dachte er gegen Willen, und die Angst drückte plötzlich wie eine schwere Last sein Herz.
Christian Wolny war nicht zurückgekommen, er war mit den anderen nach Mühlheim gezogen. Der kleine Kuli erzählte unterwegs den erschöpften Genossen von seinen großen Erlebnissen in Kiel und erzählte ihnen leidenschaftlich wie immer von den revolutionären und todesmutigen Bauern und Arbeitern in Russland und von Lenin...
Er glaubte, Lenin habe dieses Mal mit seinem Finger auf diese ihre Stadt, auf ihren schwarzen Kohlenpott gezeigt: „Ihr müsst hier alle Feinde herausschlagen. Sie dürfen nicht mehr zur Ruhe kommen. Christian Wolny, du bist verpflichtet, den Genossen, wenn sie nicht mehr mitkönnen, immer wieder neuen Mut zu machen, dass sie weiterkämpfen, bis die Revolution gesiegt hat." Und der kleine Kuli erzählte, selber zu Tode erschöpft und mit heiserer Stimme. Und wenn der Hornist die Internationale blies, stimmte er zu Dutzenden Malen in den mächtigen Gesang ein, der ihn berauschte und ihm neue riesige Kräfte eingab. Und wir werden siegen, wir werden sie herausschlagen - und er sang immer wieder:
„Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Nur ein bitterer Gedanke beschlich ihn von Zeit zu Zeit: Ob er Franz Kreusat noch einmal wieder sehen würde? Ob der Genosse Franz noch lebe, oder ob man ihn nicht mehr wieder gefunden habe? Und bei diesem Gedanken wurde das junge Gesicht noch bitterer und härter. Und so erging es vielen der Marschierenden, jeder dachte an einen oder an mehrere seiner Freunde, die während des Kampfes in der Stadt von ihnen getrennt wurden, jeder dachte dasselbe wie Christian Wolny: Lebt der Genosse noch? Leben sie alle noch?
Und weiter vorne am Kaiserberg, wo sie hinmarschierten, dröhnten immer lauter und heftiger die Schüsse; die Schlacht um Duisburg tobte und forderte neue Opfer. -
Franz Kreusat eilte mit seiner Schar und dem Maschinengewehr die Frillendorfer Straße hinauf und nach dem Wasserturm, um den seit Stunden schwer gekämpft wurde. In dem festen und dicken Gemäuer hatten sich die Grünen die ganze Zeit halten können. Aus den hohen, schmalen Fenstern flogen die Handgranaten gegen die Stürmenden und knatterten die Maschinengewehre. Mehrere Stürme der Arbeiter waren an den schweren Verschanzungen und den Eisentüren gescheitert. Man warf immer wieder die geballten Handgranatenladungen gegen diese Eisentür, aber sie brach nicht auf, und der Kampf tobte wieder.
Franz Kreusat nahm die Maschinengewehrgruppe mit und stieg auf den Dachboden eines Hauses und nahm von dort durch eins der Dachfenster den Wasserturm unter Feuer. Als er den ersten Gurt abschoss, hatte er das Gefühl, er läge wieder vor Verdun oder in Flandern.
Und alle damaligen Empfindungen, die Abneigung gegen den blutigen Kampf und ein wiederkehrendes Verlangen nach endlicher Ruhe, überkamen ihn. Manchmal vergaß er abzudrücken und grübelte über Therese, über sein Kämmerchen, über sein kleines Glück, das er sich schaffen wollte; es sollte schön und gemütlich sein. Er würde fleißig arbeiten gehen und Geld verdienen, und Therese würde in dem kleinen Heim als seine Frau schalten und walten. Wenn das Kleine ankäme, dann würde die Kammer voll der kindlichen Schreie sein und des Geplappers eines neuen kleinen Kreusat. Renteleit musste ihn zuweilen ermahnen, weiterzuschießen oder sich besser zu ducken; denn die Grünen schossen aus dem Turm gegen ihr Dachfenster. Und jeden Augenblick konnte einer von ihnen durch eine Kugel getroffen werden. Franz schoss wieder, er schoss voller Wut. Er erinnerte sich an die vergangenen Nächte, an die Schläge in sein Gesicht und an die Drohung der Polizisten mit Erschießen und mit Totschlagen, und er erinnerte sich an die schreckliche Zelle und an die Ungewissheit, und wie er drinnen auf seinen Tod gewartet hatte. Und drüben in dem flammenden und rauchumwallten Wasserturm saß dieser Tod, saßen die Feinde und zielten nach seinem Kopf. Sie wollten sein kaum wiedergewonnenes Leben auslöschen. Er griff nach einem neuen Gurt, zog diesen in das Maschinengewehr hinein und schoss wieder. Jetzt schoss er ruhiger und sicherer, und die Gedanken an sein kleines Heim kamen nicht wieder. Sie mussten den Tod in dem Wasserturm zum Schweigen bringen, der mit zischenden und kreischenden Sensen auf ihr Leben zielte. Unten in den Straßen gingen die Gruppen der Arbeiter zu einem neuen Sturm vor. Einige der Männer hatten sich unter den Kugeln der Grünen bis in die Nähe der starken Eisentür herangearbeitet und warfen eine neue geballte Ladung. Während der Donner dröhnte, rannten die Männer zurück. Einer stürzte hin und blieb liegen. Aus dem Turm flogen wieder Handgranaten heraus und krepierten dröhnend auf der Straße, und die vorwärtsstürmenden Scharen mussten wieder zurückflüchten.
Abermals stockte der Kampf, und das Feuer der Gewehre tobte hinüber und herüber. Aber die wagemutigen Männer krochen von neuem gegen den Turm, sprangen auf und warfen ihre Handgranaten gegen die schon verbogene Eisentür. Wieder stürzte einer von ihnen hin und stand nicht mehr auf. In den Nebenstraßen wurden immerfort Verwundete weggeschleppt. „Herrgott", schrien die Männer, „sie knallen uns einen nach dem anderen ab, und wir kommen keinen Schritt vorwärts. Man sollte den ganzen Turm in die Luft sprengen."
Renteleit, der finster grübelnd neben Franz Kreusat gelegen hatte, sagte plötzlich entschlossen: „Ich geh' hinunter!"
Franz Kreusat fragte erschrocken: „Was willst du tun?" und wollte ihn zurückhalten. Renteleit aber hatte schon mehrere Handgranaten zusammengebunden, er entwand sich Franzens Hand und rannte hinunter. Einige Minuten später dröhnte eine neue erschütternde Explosion. Der große, schwerfällige Renteleit war fast aufrecht über die Straße gerannt und hatte die Ladung gegen die Tür geschleudert, die jetzt ganz aufgebrochen war. Das Feuer im Turm verstummte für eine Weile, und in den Straßen brauste ein tausendstimmiger Lärm.
Franz Kreusat hörte Schreie: „Sie stecken die weiße Fahne heraus!" Er hörte eiliges Laufen, die Menge ging vor. Da krachten neue Detonationen. Die Grünen hatten in die vorstürmende Menge Handgranaten geworfen.
Franz überließ das Gewehr den anderen und rannte hinunter, um sich nach Renteleit umzusehen. Der taumelte ihm in der Tür entgegen und stöhnte: „Die Hunde, die verfluchten, die Mordbuben! Wie an der Post!" Sie zogen sich in das Haus zurück, denn die Grünen hatten gegen die Straßen und Häusereingänge wieder ein rasendes Feuer eröffnet.
Von neuem tobte der tödliche Feuerkampf. Auf der Straße lagen mehrere Tote, und wieder schleppte man in den Nebenstraßen verwundete Genossen ab. Ergrimmt und voller Hass starrten die Männer gegen den verdammten Bau, der sich in eine Hölle verwandelte. Und wieder ging eine Stunde dahin, ohne dass man einen Schritt vorwärts kam. Einmal trat eine kurze Pause bedrückenden Schweigens ein, und dann folgte wieder das Gebrüll des Todes. Die Straße zeigte schon viele Blutlachen, und überall tropfte Blut aus den vielen Wunden. Wieder krochen einige der Männer vor. Jetzt musste ein Ende gemacht werden. Und wenn sie selber daran zugrunde gingen. Sie standen auf und schleuderten in die Fenster und gegen die Tür ihre Handgranaten. Und wieder taumelten einige blutend zurück.
Da ertönte ein neues Geschrei: „Sie hissen wieder die weiße Fahne!"
„Nicht vorlaufen, abwarten! Sie sollen rauskommen!" warnten andere.
Die Grünen winkten mit der weißen Fahne. Einige der erschöpften Männer entschlossen sich, trotz der warnenden Schreie vorzugehen. Als sie in der Nähe des Turmes waren und hinaufriefen, die Grünen sollten herauskommen, da flogen wieder Handgranaten aus dem Turm heraus. Aber eine Gruppe schleuderte ihre Handgranaten in die Türöffnung und drang durch den Rauch hinein.
Endlich verstummte das Feuer.
Die Grünen kamen. Bleich, wie aus Stein, mit erhobenen Händen. „Gnade, Kameraden!" stammelten sie ängstlich.
Eine Flut von Menschenleibern strömte unter Schreien aus den Straßen, Fäuste und Gewehre erhoben sich und schlugen nieder: „Für die Toten! Wir geben euch Gnade!"
Franz Kreusat zog mit seiner Schar nach Stoppenberg zurück. Das Urteil der erregten Menge hatte ihn erschüttert. Sein Hass richtete sich gegen jenes Schloss „Villa Hügel", das da in den Ruhrbergen wohlgepflegt stand und machtstrotzend in das Tal hinein starrte. Die Burg des Herrn Krupp. Die Burg der Mörder. Die Söldner, die diese Macht stur verteidigt hatten, waren nur die blinden Werkzeuge dieser verfluchten Gesellschaft. Aber er überwand gleich wieder diese Mitleidsregung.
Er erinnerte sich an die eisigen, wilden Gesichter der Polizisten im Rathaus, von denen kein Mitleid zu erwarten war, und er erinnerte sich an die Worte seines Vaters, der am Morgen, nachdem er den schweren Kampf miterlebt hatte, sagte: „Wer dem Armen nach der Kehle greift, der soll sich nicht wundern, wenn sich der Arme auflehnt und seine Peiniger erwürgt, um nicht selbst erwürgt zu werden!"
Franz stieß auf viele heimkehrende, erschöpfte Männer, die noch aufgeregt über den Kampf sprachen. Renteleit, der durch einen Splitter am Kopf verwundet war, taumelte mit blutendem Gesicht neben ihm her. Seine Augen fielen zu, und er fistelte nur noch vor Müdigkeit. Auch diese gewaltige Kraft schien jetzt verbraucht zu sein. Renteleit röchelte: „Schlafen möchte ich jetzt, schlafen, schlafen, schlafen."
Aber sie konnten noch nicht zur Ruhe kommen. Auf der Wache erwartete sie schon wieder Zermack mit neuen Aufträgen. Die Arbeitertruppen hatten Mühlheim genommen und das Korps Schulz auf dem Kaiserberg nach einem schweren Kampf geschlagen. Die Reichswehr und die Reste der Grünen flüchteten in Richtung nach Dinslaken und Wesel.
„Wir müssen sofort Verstärkung nachschicken", empfing Zermack Franz und die anderen, die vom Wasserturm zurückkamen.
„Macht euch sofort dran und holt die Leute zusammen!" Er entsann sich seines Vorsatzes, Franz nach Möglichkeit aus dem Schlimmsten herauszuhalten, und sagte entschuldigend: „Wird es dir nicht zuviel? Ich denke grade daran: Kaum haben wir dich wieder raus, und schon setzt man dich neuer Gefahr aus?"
Franz schüttelte nur den Kopf. „Ich kann mich doch jetzt nicht ins Bett legen, wo jeder einzelne sein Leben einsetzen muss!"
Zermack drückte ihm stumm die Hand. In Stoppenberg war langsam wieder etwas Ruhe eingekehrt. Zermack und Raup hatten eine Ortswehr zusammengestellt, und auf den Straßen gingen jetzt die Patrouillen mit den Gewehren und den roten Binden. Von Zeit zu Zeit dröhnten schwere Lastwagen mit neuen und besser geordneten Abteilungen bewaffneter Arbeiter nach Essen, wo sie im Rathaus ihre Befehle entgegennahmen und dann weiter nach Mühlheim und Hamborn rollten.
Therese konnte jetzt einige Male nach Hause gehen. Sie traf einmal den Parteisekretär in der Küche. Sie ahnte sofort, dass Schigalski dem Vater zusetzte, sich aus der Geschichte wieder herauszuziehen, denn Tauten saß mit mürrischem und rotem Gesicht da. Auch die Mutter ging eingeschüchtert und still umher und sah die Tochter nur groß und ängstlich an.
Therese hörte der Auseinandersetzung des Parteisekretärs mit dem Vater abgewandt zu.
Schigalski drängte: „Überlege es dir, Jakob, und hol unsere Leute ja heraus. Die Regierung will Frieden. Sie hat schon die Verhandlungen mit Watter eingeleitet. Watter steht zu unserer Regierung und wird sicherlich auf unsere Vorschläge eingehen. Geh zu den Leuten hin und rede mit ihnen und sage ihnen, dass sie mit dem sinnlosen Kampf aufhören sollen."
Tauten zuckte mit den Schultern und antwortete nach einer Weile in demselben aufgeregten Ton: „Das stellst du dir so leicht vor. Du bist ja nicht dabei gewesen und kennst nicht den Willen dieser Menschen! Sie werden jetzt den Kampf nicht abbrechen, das weiß ich, nachdem sie so viele ihrer Leute geopfert haben. Jetzt bestimmt nicht mehr."
„Ich sag' ja", erwiderte ihm Schigalski, an seiner Wut kauend, „du hast dich auch anstecken lassen. Ein alter Kerl, der wissen müsste, was er zu tun hat, lässt sich betören und macht diese faule Geschichte mit." -
„Es ist keine faule Geschichte, red nicht so unsinnig!" erregte sich Tauten. „Auch ich habe zuerst so geredet, dann sah ich aber ein, dass die Menschen im Recht sind, wenn sie sich wehren. Und schließlich", sagte er, „bin ich selber Sozialist und kann mich nicht davon fernhalten, wenn alle Augen auf mich schauen. Ich habe später mit diesen Menschen zu tun und kann sie mir nicht zu Feinden machen. Wir haben schon genug Feindseligkeiten unter uns, Gott sei's geklagt, und man soll nicht die Zwietracht noch mehr schüren!"
Schigalski lachte. „Ich sag' ja, du hast alles vergessen, was du der Partei schuldig bist. Du hast Verpflichtungen als Genosse, oder du erkennst die Verpflichtungen nicht an und schließt dich von uns aus." Und er hob seine Stimme: „Die Partei fordert von uns, sag' ich dir noch einmal, und dies ist mein letztes Wort, dass der unsinnige Kampf abgebrochen werden muss. Und du hast den Auftrag, die Leute zur Wiederaufnahme der Arbeit aufzufordern. Für uns ist der Generalstreik zu Ende. Rufe eine Versammlung ein und sprich mit deinen Leuten!" befahl er ihm noch einmal im bestimmten Ton.
Tauten schüttelte den Kopf. Er wiederholte in einem Widerstreit mit sich: „Das kann ich nicht. Dann haben wir sie alle gleich gegen uns. Wenn du durchaus darauf bestehst, dann ruf du die Versammlung ein und rede selber, aber ich werde meine Finger nicht hineinstecken."
Sie standen sich gegenüber. Schigalski war rot vor Zorn. Er sagte: „Ich hab' dir den Auftrag übermittelt, und du weißt jetzt, was du zu tun hast. Und wenn du gegen den Willen der Partei handelst, dann kann ich dir nur sagen, dass du dich in Widerspruch gegen alle unsere Grundsätze stellst, und dann kann ich nicht dafür garantieren, dass du noch unser Mitglied bleiben kannst."
Tauten starrte ihn vergrämt an. Man sah, wie er zitterte. Wieder diese Drohung.
Therese konnte sich nicht mehr halten, sie trat vor Schigalski hin und schrie zornig: „Lasst ihn doch endlich in Ruh, was wollt ihr denn von ihm? Er muss doch einmal ein selbständiger Mensch werden und handeln, wie es ihm sein Verstand eingibt."
Tauten sagte erstickt: „Sei still, Kind, ich weiß schon, was ich zu tun habe. Und wenn man mich ausschließt, dann müssen sie es wissen, dass sie mich nicht für eine Schuld ausgeschlossen haben. Ich werde nach meinem Willen handeln." Er sah Schigalski mit allem seinem Groll an: „Ja, über meinen Willen verfüge ich noch selber. Ich lasse mir keine Maßnahmen aufreden, die sich mit meinem Gewissen nicht vertragen. Ich werde nicht für einen Abbruch des Kampfes reden. Und auch ihr würdet nichts abbrechen, wenn ihr mit der Masse einmal mitgehen würdet. Und sie bluten noch! Nein, ich bin nicht für einen Frieden, der uns nur zu einem neuen Strick wird."
Schigalski lächelte ingrimmig. Er sagte, nach seinem breitrandigen Hut greifend: „Ich sage dir, wir werden den Kampf abbrechen, und wenn wir ihn mit Gewalt abbrechen müssen. Und du, du wirst deine Unschlüssigkeit noch bereuen!" Er stülpte den Hut auf, nahm seinen Stock, schritt schwer und zornschnaubend hinaus.
Tauten sah ihm lange nach und setzte sich dann kopfschüttelnd wieder hin. „Wie die Alpdrücke hängen sie an einem, wirklich, wie Alpdrücke..."
Frau Tauten seufzte. Sie sagte ängstlich: „Der wird dir das nachtragen. Du weißt doch, wie der Mensch ist."
Da erhob sich Tauten und schrie mit hochrotem Gesicht: „Lass auch du dieses Gerede! Verdreht mich nicht alle. Ich weiß schon sowieso nicht, wo mir der Kopf steht. Der eine reißt mich hin und der andere her, und schließlich ist man gezweiteilt und weiß nicht, wem recht tun. Seid mir jetzt alle still", grollte er und suchte seine Pfeife, die er zitternd anzündete. Er ließ sich wieder auf den Stuhl nieder und redete für sich: „Und ich werde die Versammlung nicht einberufen. Wenn er das will, dann soll er das selbst tun..."
Die Frau schlich besorgt umher und wagte kaum zu atmen. Dem Willen des Mannes sich immer unterordnend, wiederholte sie mit seiner Miene: „Natürlich machst du die Geschichte nicht. Wenn er es haben will, dann soll er es selbst tun..."
Therese wusch sich und zog sich um. Sie spürte erst jetzt ihre ganze Erschöpfung und die zwei schlaflosen Nächte, in denen sie nur bei wenigen Gelegenheiten einige Minuten einnicken konnte. Sie wandte sich an den grübelnden Vater: „Mach dich von diesem Menschen frei", sagte sie, „er ist schuld, dass du nie einen eigenen Schritt wagst. Du hast dich zum ersten Mal anders entschieden, und bleibe jetzt auch dabei. Zermack und Raup und auch der Stamm sind dir bessere Genossen, und alle, die hier vorbeigezogen sind, sind deine Genossen. Denk an sie und lass dich nicht wieder zu einem falschen Schritt verleiten."
Tauten nickte. Er lauschte hinaus, draußen erscholl Gesang. Eine Abteilung fuhr vorbei, und er hörte: „Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht..." Er bewegte die Lippen und horchte weiter hinaus, bis das Lied wieder verklungen war. Er sagte: „Und ich werde die Versammlung nicht einberufen. Und wenn sie den Kampf mit Gewalt abbrechen wollen, dann sollen sie es versuchen, aber dann werde auch ich mich dagegen zur Wehr setzen."
Er stand auf, zog seinen Rock an, nahm seinen Hut und das in eine Ecke angelehnte Gewehr; er hing es um und ging hinaus.
Auch Therese begab sich gleich wieder in den Ort. Sie wusste, dass Franz eine Abteilung zusammenstellte, und wollte ihn dieses Mal nicht allein ziehen lassen. Sie wollte mitkommen. Sie hatte hier im Ort nicht mehr viel zu tun, und draußen würde man ihre Hilfe brauchen. Ja, sie wollte mitfahren. Sie suchte Franz und traf ihn auf der Straße, knapp vor seinem Haus. Er kam aus Essen, wohin er einen Kurierdienst gemacht hatte; er sah ihr gleich den ihm schon bekannten Eigensinn am Gesicht ab. Sie sagte ihm ohne Umschweife: „Ich werde mitfahren." Er blieb stehen und starrte sie an. „Da draußen geht es auf Leben und Tod. Es ist nicht leicht, Therese", warnte er sie.
Sie sagte: „Ich weiß es. Ich hab' es auch schon heut früh mitgemacht und bin davor nicht zurückgeschreckt. Und ich will bei dir bleiben", sagte sie fest entschieden. Er ging grübelnd mit ihr weiter. Fern, fern rückte ihr kleines Glück. Er wollte nicht daran denken. Die Genossen warteten auf ihn. Sie hatten schon zwei neue Abteilungen bewaffnet, und die Leute warteten nur noch auf die Wagen, die sie nach Hamborn weiterbefördern sollten. Im Rathaus in der Stadt saß jetzt ein revolutionärer Vollzugsrat, der die Leitung des Kampfes übernommen hatte. Jede Stunde konnte jetzt der Befehl kommen, dass sie abrücken müssten.
An der Kirche sagte Franz noch einmal: „Überleg's dir gründlich, ich sage dir, es wird dieses Mal noch schwerer sein."
Sie antwortete: „Ich hab's mir überlegt!" Sie trennten sich.
Franz ging voller Gedanken nach der Wache. Dort lagen die Leute seiner Abteilung und warteten.
„Wann geht es denn los?" empfingen sie ihn. Es waren Salkenberger und eine Anzahl Bergleute aus Stoppenberg-Nord, unter denen sich auch der blondlockige Johann Kaluga, ein wilder, hübscher Bursche von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, befand.
Man hatte schon am Morgen beobachtet, dass er furchtlos mit den ersten in den Viehhof vorgedrungen war und dort eine Gruppe der Grünen zur Übergabe gezwungen hatte. Der einige zehn Jahre ältere Sepp Wurzbacher, ein kleiner, schmächtiger Bayer, ließ sich von Johann Kaluga das Laden des Gewehres vormachen, denn er war kein Soldat gewesen. „So, jetzt kann ich's schon", sagte er und schob selber ungeschickt die Patronen hinein.
Franz erblickte unter der wartenden Schar ein Jungengesicht, das ihn nickend anlächelte. „Jaja, ich komm' auch mit!" sagte der Junge und zeigte auf sein Gewehr. Es war Heises achtzehnjähriger Sohn, der Heini. Er sah noch wie ein Knabe aus, und in Franz regten sich Bedenken, ob er den Jungen wirklich mitnehmen und der Gefahr aussetzen sollte. Der Junge bemerkte dieses Schwanken und stand zornig auf: „Glaub nicht, dass du mich zurückhalten kannst", sagte er aufgeregt, „der Vater hat es auch versucht, aber ich bin ihm einfach davongerannt; ich werde mitfahren, und damit basta, ich habe lange genug darauf gewartet. Ich gehe nicht zurück."
Franz gab seine Bedenken auf und sagte: „Sei still, du wirst mitkommen. Aber ich werde draußen über dich wachen, dass ich dich wieder gesund zurückbringe." Der Junge setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung wieder hin.
Miller und Tauten waren in der Versammlung der Bürgermeistereivertretung. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien und Schigalski mit der Mehrzahl seiner Genossen, unter denen auch der graue Heise zu sehen war, führten alle Einwände ins Feld, um sich vor der Forderung der Unabhängigen zu drücken, die verlangten, dass die Familien der Kämpfenden aus Gemeindemitteln unterhalten werden sollten.
Herr Claus sprach von dem völlig ausgeplünderten Gemeindesäckel, und Schigalski trat fast feindselig gegen die Unabhängigen auf. Der behäbige, dicke Mann war dunkelrot vor Zorn.
„Wir von der Sozialdemokratischen Partei haben diesen Kampf keineswegs gewollt, und wir werden auch solchen Anträgen, die nur wieder das Volk belasten, auf keinen Fall zustimmen. Wir sind für den Abbruch des Kampfes und für die sofortige Wiederaufnahme der Arbeit. Kapp und Lüttwitz sind weg, und unsere Regierung sitzt wieder in Berlin, und wir haben keinen Grund mehr, uns weiter gegenseitig die Köpfe einzuschlagen." Er redete noch eine halbe Stunde gegen die Fortsetzung des Kampfes und forderte Rückkehr zu Vernunft und Verstand und sah Miller an, der noch still dasaß und den Kopf nicht erhob. Aber als Schigalski sich mit empörtem Blick wieder hinsetzte, verlangte Zermack das Wort.
Er sagte finster: „Unsere Menschen liegen draußen und setzen ihr Leben ein. Die meisten haben Familie und sind ohne Murren hinausgezogen. Und diese Männer sind nicht mehr die demütigen Menschen von gestern. Ihr habt alle gesehen, was sie dieser Tage zuwege brachten, und sie werden noch mehr zuwege bringen. Wenn Sie mit diesen Menschen nicht mitgehen wollen, dann werden wir diese Menschen hier an Ihre Stelle hinsetzen, und die werden schon wissen, wo sie das Geld herbeschaffen. Unsere Kumpels", wandte er sich an Claus, „wissen, dass ihr Geld, das sie mit ihrer Arbeit verdient haben, für Herrn Stinnes auf den Banken deponiert wird. Bitte, richten Sie dorthin ihr Augenmerk und schauen Sie zu, dass Sie von diesem Geld die notwendige Summe für die Unterstützung unserer Familien herbeischaffen."
Schigalski stieß ein knurrendes Lachen aus. Er machte die Bemerkung: „Ihr wollt wohl wieder sozialisieren? Nun, ihr bringt ja alles fertig!"
Die anderen schwiegen finster und verlegen.
Zermack antwortete Schigalski: „Vielleicht wird das auch noch kommen."
„Aber wenn wir sozialisieren", sagte Raup, „dann werden Hindenburg, Stinnes und Krupp nicht mitsozialisieren."
„Ich habe euch gesagt", fuhr Zermack fort, „wo ihr das Geld herbekommen könnt, und ich denke, dass wir mit dieser Versammlung am Ende sind. Wir haben keine Zeit, hier noch lange nutzlose Debatten zu führen und mit Ihnen zu streiten oder vielleicht von Ihnen Almosen zu erbitten." Er winkte den Genossen und den im Zuhörerraum sitzenden Kumpels, die mit ihren Gewehren erschienen waren, und sie gingen alle hinaus.
Zermack ging mit Miller nach der Wache zurück. „Warum hast du dich nicht gemeldet?" fragte er Miller vorwurfsvoll.
Miller erwiderte: „Es kann einem alles bald zuviel werden. Man muss sich alles jedes Mal erzwingen."
„Du kennst ja diese Gesellschaft", lachte der große Mann, „sie gibt nie etwas gutwillig her. Man muss sie einfach zwingen. Wenn wir nur wieder etwas nachgeben, dann drehen sie gleich wieder den Spieß um."
Miller schwieg.
Es dämmerte schon wieder der Abend, und die Leute lagen noch immer herum. Die Bürgermeisterei hatte den Auftrag, die angeforderten Wagen zu beschaffen, aber auch dieser Auftrag war noch nicht ausgeführt. Die Männer, die schon des Wartens müde waren, fragten Zermack: „Wenn geht es denn los, zum Teufel. Wenn ihr die Wagen nicht beschaffen könnt, dann ziehen wir entweder so los, oder wir gehen nach Hause.“
Miller überlegte. Sein Gesicht zuckte nervös, und seine Augen waren voller Müdigkeit. Er setzte sich einen Augenblick hin und stützte den Kopf in die Hände. Der Schlaf drohte ihn zu übermannen, aber er entriss sich ihm gewaltsam wieder. Er presste die Lippen zusammen, dass sie fast weiß wurden, und zum ersten Mal sagte er: „Ich könnte jetzt eine Stunde schlafen. Leute, zerreißt uns nicht, ihr kommt noch weg. Geht jetzt nach Haus, aber haltet euch bereit, wenn man euch wieder rufen muss."
„Ich geh' nicht heim", sagte der junge Heise, „sonst wird mich der Vater wieder zurückhalten wollen. Ich will dann schon lieber hier die ganze Nacht auf der Wache durchsitzen."
Und auch Johann Kaluga, der zu Hause nur in einem „Fetzenstall" lebte, denn sie waren viele Kinder, und der Alte war ein haltloser Trinker, mit dem er sich schon mehrere Male herumgeschlagen hatte, wollte dableiben. Johann Kaluga war ein leichtlebiger Bursche und viel in den trübe erleuchteten Tanzsälen zu sehen, wo er, wie viele, die im Krieg verlorenen Jahre und deren Freude nachholen wollte. Die Stürme der Nachkriegsjahre hatten auch ihn hin und her geworfen, und man hatte ihn das eine Mal in den Versammlungen der Ulk-abhängigen oder in der Union, das andere Mal bei den Zusammenkünften der „Christlichen" gesehen. Aber in diesen Tagen hatte auch ihn der neue Sturm ergriffen, und er hatte bei dem Kampf um die Stadt mehrere Male sein Leben eingesetzt. Sein wirrer Lockenkopf und sein offenes Gesicht mit dem hellen Blick machten ihn jünger, und er lauschte allem Neuen mit der gleichen Neugierde und putzte gelegentlich wieder an seinem Gewehr. Er bot sich Franz an: „Wenn du einen Mann am Maschinengewehr brauchst, dann spring' ich ein. Ich habe draußen eins geführt. Damals wusste ich nicht, wofür ich schoss, aber heute weiß ich's. Und die Grünen haben gemerkt, wen sie vor sich hatten."
Zermack, der einige Stunden nach Hause gegangen war, weil er einmal ausruhen musste, kam wieder herein. Miller saß, den Kopf in die Hände gestützt, und schwankte in einem Halbschlummer.
„Geh du jetzt mal eine Weile nach Haus", sagte ihm Zermack. „Ich und Raup sind ja hier, und wir werden uns um die Leute kümmern. Geh, streck dich aus und schlaf ein wenig, sonst fällst du uns noch um."
Miller erhob den Kopf und sah ihn verwirrt an. Er stand dieses Mal williger auf und taumelte in den Nebenraum, wo, er sich auf den Fußboden hinwarf und sofort einschlief.
Franz war mit Therese nach Hause gegangen. Sie saßen in der Küche zusammen, sprachen aber nur wenig. Die Eltern lagen in der Kammer, aber an den Seufzern der Mutter und dem Hüsteln des Vaters konnte Franz merken, dass beide nicht schliefen. Sie kamen nie zur Ruhe, bis er wieder heil zu Hause saß. Er schüttelte den Kopf. „Eine Last."
Und doch war es wieder eine Stunde, die er so gern hatte. Er spürte Thereses Atem. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schlief. Er fand noch keinen Schlaf. Er war mit seinen ganzen Gedanken bei dem kommenden Kampf. Er hatte jetzt um viele Leben zu sorgen, die ihm anvertraut worden waren. Er weckte Therese und sagte ihr: „Leg dich auf die Bank, da kannst du besser ruhen." Als sie sich auf die Holzbank gebettet hatte, setzte er sich ans Fenster und sah auf die Stadt, wo das Werk und die Schächte noch immer schwiegen. So saß er, bis der Morgen wieder dämmerte und er endlich für eine Weile, mit dem Kopf auf den verschränkten Armen gegen die Fensterbank gelehnt, einschlief. Aber dann glaubte er wieder das Krachen der Handgranaten und die Schreie draußen zu hören und erwachte verwirrt. Er horchte hinaus. Nein, draußen herrschte die Stille eines friedlichen Tages. Eines friedlichen Tages?
Da kamen schon Schritte die Treppe herauf, und gegen die Tür klopfte Fritz Raup. „Franz, die Wagen sind da, bist du fertig?" Franz griff nach Rock und Mütze. Auch Therese war wach geworden und stand schnell auf.
Als Franz nach dem Gewehr fasste und gehen wollte, erschien die Mutter auf der Schwelle; sie hielt die gefalteten Hände unterm Kinn, und neuer Schrecken stand in dem versorgten Gesicht.
„Sie gehen wieder! Jung', pass mir ja auf", rief sie ihm nach.
Franz kam zurück, er nahm ihren Kopf in seine Hände, streichelte ihn und küsste das zitternde Gesicht. „Ich muss gehn, Mutter; wir müssen es jetzt zu Ende schaffen!"
Sie kämpfte mit ihren Tränen: „Dann geh!" sagte sie, „aber pass auf!"
In der Kammer hüstelte Martin Kreusat. „Er geht wieder, wieder geht er. Aber man kann sie nicht halten, man kann nicht. Wenn sie was angefangen haben, dann sollen sie es zu Ende führen. Wenn ich mitkönnte, würde ich aufstehen und mitziehen, ja, auch ich würde mitziehen."
Als Franz Kreusat auf die Wache kam, waren die anderen schon in eiliger Vorbereitung. Sie steckten noch rasch Munition zu sich und schleppten die Kästen mit den Patronengurten für die zwei Maschinengewehre auf die Wagen und sprangen hinauf. Der junge Heise strahlte glücklich, dass nun endlich auch seine Stunde gekommen war und er dem grämlichen Elend entfliehen konnte. Der Vater hatte ihn nicht aufgespürt; Heini hatte sich die ganze Zeit auf der Wache aufgehalten oder hatte sich dann und wann zum Postenstehen gemeldet, um über die langen Stunden der Ungeduld hinwegzukommen. Nun stand er mit seinem kleinen, vom Eifer geröteten Gesicht und erwartungsvollem Blick unter den anderen auf dem Wagen. Sein Gewehr fest in der Hand und von Zeit zu Zeit nach der Munition in seinen Taschen tastend, überzählte er mit den Blicken die Schar der Männer, die er schon alle kannte. Er hatte sich einen Gurt und ein paar gefundene Patronentaschen umgeschnürt, und ein viel zu großer Männermantel verbarg ihn fast ganz.
Der welke Wurzbacher neben ihm war in seinem Grubenzeug gekommen. Er hatte unter den oberen, größeren Rock noch einen anderen Rock angezogen. Die Ellbogen waren durchgewetzt und seine Mütze von der Grube noch fleckig und grau. Wurzbacher hatte sich, außer den Patronen in seinen Taschen, auch noch einen Maschinengewehrgurt quer um die Brust gebunden und sah mit den vier Handgranaten an seinem Riemen und -mit seinem borstigen Bart recht abenteuerlich aus. In der Nacht war noch der Gaida vom Stoppenberger Zollvereinschacht hinzugekommen. Er trug einen Kanonieranzug und auf seiner Mütze eine rote Kokarde. Er war von Franz Kreusat für das schwere Maschinengewehr bestimmt, das vorn auf dem Verdeck des Wagens aufgebaut stand. Seine Frau war trotz der frühen Stunde mitgekommnn; sie hatte ihm ein Stück Brot mitgebracht, das sie ihm noch schnell hinaufreichte. „Nimm es mit", sagte sie besorgt, „du hast doch nichts gegessen."
Er schob es zurück. „Behalt es für die Kinder, du hast für sie ja nichts!"
Franz hatte sich von Miller und Zermack verabschiedet und kam heraus. Er wollte auf den Wagen steigen, in der Hoffnung, Therese hätte sich's noch anders überlegt; aber als der Motor losdröhnte, da rannte sie um die Ecke mit ihrem Sanitätskasten und einem roten Kopftuch.
Franz schüttelte den Kopf. Die Männer streckten die Hände herunter und halfen Therese auf den Wagen hinauf. Der Motor dröhnte von neuem, und der Wagen fuhr ab. Die anderen rollten hinterher. Im letzten Wagen stand breit und mächtig, in einem Soldatenmantel und seiner groben Mütze über dem Kopfverband, Franz Renteleit. Er sagte zufrieden: „Nun geht es wirklich endlich los."
„Es geht endlich los!" sagte auch der Junge in dem großen Mantel erfreut.
Sie fuhren zum Rathaus. Franz betrat den Bau, der ihm schon von der einen Nacht seiner Verhaftung bekannt war, diesmal mit einem anderen Gefühl. Die Grünen waren verschwunden, und an ihrer Statt liefen Arbeiter mit Gewehren und roten Armbinden, Kuriere, Patrouillen und Führer von Abteilungen, die zur Front fuhren, ein und aus. Jeder grüßte ihn nickend oder mit einem Händedruck, und der Bau war voll neuer Musik. Eine Musik des Lebens und des Mutes und Eifers. Einer der Männer drückte ihm ein Paket Zeitungen in die
Hand. „Die rote Fahne!" sagte er lächelnd. „Wir haben die Redaktion des ,Stinnes-Anzeigers' beschlagnahmt, und der muss jetzt unser Kampforgan drucken!" Und ein anderer gab ihm ein Paket Flugblätter und Zeitungen seiner Partei, und so vollbepackt ging er in den Raum hinein, wo er sich den Ausweis für die Weiterfahrt holen sollte. Auch hier sah er dasselbe Leben und Treiben: Männer über Karten gebeugt, andere, die Anweisungen und Befehle ausschrieben, noch andere, die anscheinend mit der Organisation neuer Reserven beschäftigt waren.
Er bekam einen Fahrtschein und beantwortete dutzendmal dieselbe Frage, wo sie herkämen: „Wir sind Stoppenberger!" Die Stoppenberger hatten sich schon einen guten Ruf erworben, das merkte er aus allen Reden und Blicken. Mit neuem Mut lief er wieder hinaus und kletterte auf den Wagen. Draußen standen neue Abteilungen, die Waffen empfingen, anscheinend Kruppianer und Leute aus anderen Vororten. Sie riefen ihm zu: „Also haltet euch dran. Wir kommen nach." Und wieder Händedrücke und Grüße und Winke. Als sie weiterfuhren, begegneten sie neuen Marschierenden, die mit Gesang ankamen. „Wacht auf, Verdammte dieser Erde." Siegesbewusst winkten alle.
Franz musste sich immer wieder erinnern, dass er noch vor kurzem in diesem Haus ein paar furchtbare Nächte durchlebt hatte.
Franz verteilte auf dem Wagen die Zeitungen und nahm die anderen an die Front mit, denn da würden sie wohl ohne jede neue Nachricht liegen. Sie fuhren durch die Straßen der Stadt und durch den grauen Segeroth, der ihnen wie eine düstere Festung entgegenstarrte, ein von dem Krupp-Werk verstaubtes und verräuchertes Arbeiterviertel. Auch hier sah er überall rote Fahnen, und sie begegneten wieder singenden und winkenden Arbeitern und Frauen mit Gewehren, mit Armbinden und roten Kopftüchern. Sie mussten noch an eine letzte Station hinter dem Segeroth, um dort einige Maschinengewehre für Hamborn mitzunehmen. Die Baracken, in denen früher die Grüne Polizei einquartiert war, glichen einem Heerlager: Autos, Gewehre, schwatzende und lachende Gruppen, und wieder die Fragen: „Wo kommt ihr her?", und wieder, als er antwortete: Wir sind Stoppenberger", flog das Lächeln über die bärtigen und stoppligen Gesichter.
Ein Matrose fragte: „Wer leitet die Abteilung?"
Und als Franz etwas verlegen sich als den Abteilungsführer ausgab, nahm ihn der Matrose mit in eine der Baracken. „Was braucht ihr noch alles?" fragte er. „Wir haben jetzt Knarren und Maschinengewehre reichlich. Die Grünen sind hier Hals über Kopf davongerannt und haben uns allerhand Schätze zurückgelassen."
Franz sagte, auch jetzt noch verlegen: „Die meisten von uns haben noch nichts gegessen..."
Der Matrose befahl ihm: „Hol die Genossen, ihr könnt hier gleich abfuttern. Wir haben hier eine großartige Küche."
Franz Kreusat staunte: „In so einer kurzen Zeit, und solche Organisation." Der Kuli führte sie in einen Holzsaal, wo sich die Küche befand; mehrere große Kessel, von Frauen bedient, dampften drinnen und verbreiteten den lockenden frischen Duft gutgekochter Fleischsuppen.
„Kommandant ans Telephon!" rief ein Posten dem Matrosen zu. Und noch von einer anderen Tür her rief ein jüngerer Arbeiter: „Ans Telefon!"
„Siehst du, so geht es fortwährend", sagte der Matrose. Er lief hinaus.
Franz hörte den Gesprächen der vielen Rotarmisten zu. An einem Tisch erzählte einer: „Ja, wir müssen noch viel von unseren russischen Genossen lernen. Die haben alle Quertreiber davongejagt und schlagen die weißen Generale aus ihrem Land. Die machen eine wirkliche Revolution..."
Franz glaubte, seinen Christian Wolny zu hören. Wo mag Christian wohl stecken? fiel ihm ein. Er hätte ihn jetzt gern bei sich gehabt, mit seinen glücklichen Augen und seinen Erzählungen.
Ein anderer erzählte an einem zweiten Tisch: „Ich habe erst vor vierzehn Tagen Schluss mit dem Schwindel gemacht. Als wir Grenzschutz waren, da ging es bunt zu. Wer gut klauen konnte, der wurde Gefreiter. Besorgtest du deinem Kompanieführer eine Flasche Schnaps oder eine Hure, dann konntest du bis zum Feldwebel chargieren. Wenn wir durch die Städte zogen und eine Zote sangen, dann bewarfen uns die Bürger mit Blumen und wischten sich vor Rührung die Augenwinkel. Die Arbeiter aber spuckten uns vor die Stiefel..."
Der Kommandant erschien wieder. „Genossen, wenn ihr fertig seid, dann geht's nach Dorsten ab. Dort wird eben von uns Verstärkung angefordert." Er machte ein ernstes Gesicht. Er winkte Franz: „Vorn scheint es schwer zuzugehen", sagte er. „Es haben sich allerhand Schweinehunde unter uns geschlichen und verwirren unsere Leute oder schleppen ganze Abteilungen zurück von der Front."
Sie fuhren weiter. Franz dachte über die letzten Worte des Matrosen nach. Der Kanonier an dem Maschinengewehr sah es ihm wohl an: „Du denkst über die Banditen nach, von denen der Matrose erzählt hat? Das kenn' ich schon, ich habe es auch in Russland erlebt. Ich habe mich als Kriegsgefangener der Roten Armee angeschlossen, und wir hatten auch mit allerhand Gesindel zu tun. Es sind auch hier nicht alle mit der Absicht hergekommen, für die Befreiung der Arbeiter zu kämpfen. Aber jede Umwälzung", sagte er stirnrunzelnd, „wirkt wie ein schwerer Stein in einem Schlammteich, da fliegt mancher Dreck empor."
„Wenn wir solche Menschen unterwegs treffen", meldete sich der junge Heise mit hochrotem, erregtem Gesicht, „dann müssen wir sie sofort festnehmen oder an die Wand stellen!"
Der Kanonier sah ihn an und nickte: „Das werden wir wohl tun müssen, Junge. Solche Hindernisse führen oft zu Verwirrung der anderen und zum Unglück." Er wandte sich wieder seinem Maschinengewehr zu und starrte düster grübelnd vor sich hin.
Zu beiden Seiten flogen graue, russverschmutzte Häuserreihen, Schachtanlagen und Steinhalden vorbei. Kinder schrien und winkten dem Wagen nach. Gesichter dauernden Elends lagen furchig, welk und bleich in den Fenstern der Häuser. Manche von ihnen mürrisch und verdrossen wie die Umgebung selbst. Hier und dort winkte eine alte Hand. Die Luft roch nach Kohle und Öl, und die Männer spürten im Munde den immer regnenden feinen Schlackenstaub. Nach und nach überzog dieser Staub auch ihre Gesichter, legte sich auf die Bärte und Brauen. Sie erschienen älter, ernster und härter.
Und wieder tauchte eine Schachtanlage auf, eine Lokomotive rangierte leere Waggons, in die mit Patronentaschen umgürtete Männer kletterten und einander die Gewehre reichten. Zechenplätze mit Eisen, Schrott, Grubenholz auf Stapeln, alten Förderwagen und den ruhenden, schwarzen Förderbrücken, und wieder Eisenhallen, schwarz und schweigend, und stille Kräne. Generalstreik.
Die Sonne sank langsam wieder in die Nacht. Der Himmel flammte im letzten Licht des vergehenden Tages, und Frostwind strich über die Gesichter der Männer.
Ein Wagen mit Verwundeten kam ihnen entgegen. Franz ließ einen Moment halten. Er fragte: „Wie steht's an der Front?"
„Schlecht, Genosse", antwortete ihm einer der Verwundeten. „Zu wenig Reserven. Und auch mit der Versorgung kommen sie nicht immer rechtzeitig an." „Wo liegen Unsere?" fragte der kleine Heise. „Bei Dinslaken, in den Büschen von Wesel und weiß Gott wo sonst noch. Die Verbindungen sind schlecht!" erzählte der Mann. „Und die Noskes knallen mit Kanonen, schweren Brocken und Schrapnells!"
Franz überließ dem Verwundeten einige Brote und etwas von dem Trank, den sie bei sich führten, und stieg mit größeren Sorgen wieder auf seinen Wagen.
Schweigend fuhren sie weiter.
Therese stand neben Franz und hielt sich an seinem Arm fest. Er fühlte ihre Wärme. Er dachte an die Verhaftung und an die Zelle und die Drohung, dass man sie erschießen würde. Er war der einen Hölle entkommen, um sich in die andere zu stürzen.
Merkwürdig, in diesem Augenblick fiel ihm auch die Tochter der grauen Frau Werner ein. Vielleicht hatte sie auch diese Schlacht erschreckt. Diese Bürger hassten die groben Menschen der Arbeit. Ihre wohlbehütete kleine Welt krachte wieder in allen Fugen, und das Kugelgepfeife war eine hässliche Musik.
Der Tod sang. Franz dachte voller Hass: Auch ihr sollt keine Ruhe haben. Nein, keine Ruhe! grübelte er, Hass und Neid im Herzen gegen diese Sattheit.
In dieser Stunde fühlte er das große Geheimnis: Liebe zum Leben! Trotz dem nahen Tode: Liebe zum Leben.
Therese und er wollten leben.
„Kannst du dir das denken, niemals ein bisschen wirkliche Freude", sagte sie. „Niemals ein freundliches Gesicht. Wann werden wir mal zu ein klein wenig Freude kommen? Der Vater hat mich niemals ganz verstanden."
Sie hielten an vielen Meldestationen, auch an einigen Versorgungsstationen. Hier empfingen sie den Ausweis für die Weiterfahrt, dort wieder Brot, an einer dritten Stelle wurden ihnen auf die Wagen Munition und Maschinengewehre geladen, die sie an ihrem Bestimmungsort abgeben sollten.
Sie fuhren weiter nach Hamborn; ein schwerer Wagen, an dem hinten eine Kanone angehängt war, rollte an ihnen vorbei.
Als sie in Hamborn ankamen, stießen sie wieder auf den Wagen mit der Kanone. Die Artilleristen fluchten, andere lachten und spotteten. Die Kanoniere hatten die dazugehörige Munition nicht mitgenommen.
„Steckt eure Köppe hinein, die taugen doch nichts!" rief man ihnen zu.
„Die taugen schon was. Und dir ist wohl auch der Hackenstiel geläufiger als die Knarre!" riefen die Kanoniere zurück. „Bring dich bloß nicht selber damit um."
Späße und Gelächter. Aber die Angst ließ sich nicht fortspaßen.
Als sie weiterfuhren, beschlich auch Franz wieder das Gefühl der Sorge. Sie waren bald da. Es war langsam Abend geworden. Die Aufenthalte an den verschiedenen Stationen nahmen manche Stunde in Anspruch. Sie fuhren auf der Landstraße dahin. In der Dunkelheit zwinkerte hier und da ein Licht aus den niedrigen Bauernhäusern. Im Gebüsch, von hohen Zäunen halb versteckt, lagen sie. Überall herrschte, bis auf das Gebrüll und Geschrei der Tiere, ein drückendes Schweigen.
Endlich wurden sie in einem Dorf angehalten.
Ein Posten rief sie an: „Halt! Wer seid ihr?"
Franz sprang von dem Wagen und zeigte seinen Ausweis. Der Posten sagte: „Ihr seid schon gemeldet. Ihr bleibt über Nacht hier im Dorf. Lass die Leute absteigen und komm mit."
Die Männer kletterten schwerfällig, von dem Stehen auf dem Wagen müde geworden, herunter und streckten sich: „Gott sei Dank, vielleicht kann man noch eine Stunde schlafen!"
Der Posten führte sie zu einem Bauernhaus, wo eine kleine Versammlung tagte. Es war der Vollzugsrat des Dorfes. Franz merkte, dass alles gut organisiert war, und er spürte endlich ein Gefühl der Sicherheit. Er trat mit dem Posten in die Stube. Die Männer, darunter einige ältere, und ihrer Sprache nach nicht alle aus dem Dorf, wandten sich ihm zu. Er meldete ihnen die beiden Abteilungen.
Einer der Männer antwortete ihm: „Ihr bleibt hier liegen, bis wir wissen, wo wir euch hinschicken sollen. Vielleicht brauchen wir euch, um die Haufen der Lungerer zu entwaffnen. Der Teufel hol sie alle. Sie glauben, dass sie hier nur herumstrolchen und herumräubern können. Allerlei Gesindel hat sich angehängt und schreckt die Bauern, und das kommt alles auf unser Konto. Ihr könnt euch hier in eine Scheune legen", sagte er. Er gab dem Posten einen Wink: „Führ sie hin, sie können sich die Nacht über etwas ausruhen." Und zu Franz noch einmal: „Aber haltet eure Gewehre und alles bei euch und stellt Posten vor die Scheune, man kann nicht wissen, ob sich hier nicht noch die Söldner versteckt halten."
Der Posten führte Franz und die Abteilungen eine Strecke weiter, wo eine große Holzscheune stand. Sie war voll Stroh, auf dem anscheinend schon Hunderte anderer gelagert hatten. Die Männer warfen sich in der vollen Kleidung und mit der umgegürteten Munition seufzend hin. „Gott sei Dank, wir haben diesmal noch Glück gehabt!" rief einer. „Wir können noch eine Nacht länger leben!" Eine andere Stimme, es war die des kleinen, welken Wurzbacher, antwortete ärgerlich: „Denkt doch nicht immer gleich das Schlimmste, Herrgott! Ich denke immer, ich komme wieder zurück!"
„Hoffnungsvoller Engel!" brummte wieder der erste, an dessen Stimme man den immer missmutigen Wirrwa erkannte, der sich trotz seiner Angst dem Zug angeschlossen hatte.
So ging das Wortgefecht noch länger hin und her, bis endlich die ersten und die nächsten still wurden. Sie schliefen schnell nacheinander ein.
Franz Kreusat rief Johann Kaluga und den großen Kanonier und hieß sie, die erste Wache zu übernehmen. Er teilte einige andere für die Ablösung ein und ging noch eine Zeitlang auf dem Hof auf und ab. Nein, er konnte noch nicht schlafen. Therese hatte sich draußen vor die Scheune hingesetzt und betrachtete den blauschwarzen Himmel, der voller Sterne war. Was dachte sie wohl in dieser Minute? Dachte sie an das kommende Kind oder an die Gefahr, in die sie in den nächsten Stunden zogen? Sie seufzte mehrere Male. Einmal schon hatte sie um Franz gezittert, hatte nicht gewusst, ob er lebend wiederkäme. Und wieder zog er in diese neue Schlacht, aus der wohl viele der schlafenden Männer nicht wieder zurückkommen würden. Sie wollte jetzt nicht daran denken, dass auch Franz etwas zustoßen könne. Aber sie dachte doch, immer wieder dachte sie daran.
Und auch Franz grübelte Ähnliches: Sie hätte vielleicht doch zu Hause bleiben sollen. Er sah sie schweigsam dasitzen und wollte nicht wieder damit anfangen. Sie würde sich's jetzt nicht mehr ausreden lassen. Was werden wir in den nächsten Stunden wieder erleben? fragte er sich. Es war immer noch der Anfang - der Anfang. Und er hatte auf den verschiedenen Stationen wieder den früheren Zwiespalt beobachten können.
Die Feinde nagten wieder an der Eintracht. Die Debatten waren heftig wie früher und die Meinungen gespalten. Ein Teil redete schon wieder von Frieden und von Preisgabe des Kampfes; dass der Streik abgebrochen sei und dass die Leute zur Arbeit zurückkehren sollten. Die anderen tobten über Verrat und Nachgiebigkeit.
Aber immerzu noch fuhren neue Abteilungen an die Front, die sich jetzt von Dinslaken bis nach Münster hinzog. Vorn in den Wäldern kämpften die Genossen. Unterwegs waren sie immer wieder einzelnen Gruppen Verwundeter und erschöpfter Leute begegnet. Es war noch nichts zu Ende. Und doch phantasierten welche von baldigem Abbruch des Kampfes und vom Frieden.
Therese rief ihn an. „Franz, komm, leg dich ein wenig hin und grüble nicht. Morgen wird sicherlich ein schwerer Tag sein."
Ein schwerer Tag, ja, auch für sie, ein schwerer Tag. Er ging hinter ihr in die Scheune hinein, und sie setzten sich in eine Ecke. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und strich ihm über die Hände.
Draußen hörten sie den schweren Schritt des auf und ab gehenden Kanoniers. Gaida sah Zermack ähnlich und hatte auch dessen Ruhe und Gleichmut. Was dachte er wohl in dieser Stunde? Er hatte Frau und vier halberwachsene Kinder.
Aber Gaida war aus dem revolutionären Russland als Kommunist zurückgekommen, er hatte die gleiche, starke Gläubigkeit an den Sieg ihrer Arbeiterklasse mitgebracht, und er hätte sich weder durch die Klagen der Frau noch durch andere Bedenken zurückhalten lassen. Der Genosse gehörte sich nicht selbst, er musste den anderen, schwächeren vorangehen, und dieses tat Gaida ohne zu murren.
Ganz fern klopften Maschinengewehre. Das war die Schlacht. Morgen würde auch er wieder in einem dieser Löcher liegen und schießen. Und vielleicht schon in wenigen Stunden still daliegen. Er wollte nicht daran denken. Nicht in dieser Nacht, nicht in diesen Minuten, wo man ans Leben denken musste, nur ans Leben. An das verfluchte Leben, das trotzdem ein Leben war. Es musste sich nur ändern. Und sie waren hinausgegangen mit diesen Gewehren, um dieses verfluchte Leben zu ändern.
Gaida kam mehrere Male an die Scheune und horchte hinein. Er hörte das laute Atmen der Genossen. Sie wollten alle leben, die meisten hatten Kinder wie er und dachten sicherlich ans Zurückkommen.
Franz, der nicht schlafen konnte, trat heraus. „Was machst du?" Er fasste nach Gaidas Hand.
Gaida antwortete: „Ich wollte nur hören, ob alles schläft."
„Ja, sie schlafen alle", sagte Franz und wandte sich nach der Scheune. „Oder sie tun nur so, vielleicht denken sie alle nach."
„Ja, auch ich denke nach", antwortete Gaida, „das macht diese ruhige Nacht. Sie bedrückt einen."
Franz zog ihn auf die Straße, und sie gingen beide auf und ab.
Erst gegen Morgen schlief Franz ein wenig. Gegen fünf Uhr kam wieder der Posten vom Vollzugsrat und brachte die Meldung, sie sollten gleich aufsteigen und nach Dorsten weiterfahren. Es war ein älterer Mann. Er drückte Franz Kreusat die Hand und sagte: „Also Glückauf, Kumpels! Seht zu, dass ihr die Söldner heraustreibt!"
Die Wagen rollten aus dem Dorf. Jetzt fuhren sie im offenen Land. Hier und dort war ein Bauernhaus oder eine Strohmiete zu sehen. Einige Bauern pflügten auf dem Feld, und bis auf die zeitweiligen, entfernten, dumpfen Knalle herrschte überall das Schweigen des Friedens, eines trügerischen Friedens. Sie kamen endlich in Dorsten und an dem ihnen bezeichneten Gebäude an.
An den Straßengrabenrändern und überall auf dem Feld und an den Häusern lagerten Scharen abgekämpfter Rotarmisten mit ihren Gewehren und schliefen oder dösten. In einer Schar trieben mehrere jüngere, anscheinend betrunkene Männer ihre rohen Späße mit Frauen, die unter ihnen saßen. Diese Szene gefiel Franz Kreusat nicht, und er machte den Kommandanten, einen Matrosen mit übernächtigtem und stoppligem Gesicht und völlig heiser geschriener Stimme, darauf aufmerksam. „Warum liegen diese Leute hier? Kannst du sie nicht aus den Augen der anderen schaffen?"
„Ich gebe mir ja schon alle Mühe, aber die Meute geht weder nach vorn, noch nach Hause", antwortete ihm der Matrose voller Zorn: „Unsereiner kann hier schreien und vor Müdigkeit umfallen, aber diese Vagabunden regen sich nicht und lachen noch. Gut, dass ihr gekommen seid", sagte er. „Ihr müsst mir helfen, dass wir diese faule Gesellschaft wieder nach vorn bringen, oder der Teufel soll sie holen!"
Franz trat auf eine der liegenden Gruppen zu und fragte die Männer, die noch immer brüllten und mit den Frauen spaßten: „Warum liegt ihr hier herum. Wozu seid ihr hierher gekommen, wenn ihr nicht nach vorne geht?"
„Bist du auch schon wieder ein Kommandant?" rief einer der betrunkenen Burschen spottend. „Scher dich nur, sonst geben wir dir Kommandant, wir kommandieren uns selber." Ein anderer spottete: „Schaff mal Schnaps her, dann gehen wir nach vorn!"
Ein dritter rief: „Da vorn liegt niemand mehr, da sitzt schon überall die Reichswehr. Geht nur hin, wenn euch das Fell juckt, da sitzt ihr gleich in der Falle."
Der Matrose sagte empört: „Du hörst es. Und so treiben sie es die ganze Zeit. Sie halten mir die anderen zurück. Herrgott, ich lass sie alle niederschießen. Da vorn kämpfen die wenigen um ihr Leben und warten auf Hilfe, und diese verfluchte, faule Gesellschaft treibt hier ihren Unfug. Ruf deine Leute, wir nehmen der Rotte die Gewehre ab. Wir treiben sie wie die Hunde zurück, denn mehr sind sie nicht wert."
Franz rief Gaida und Renteleit. Sie halfen dem Matrosen, die randalierende Schar zu entwaffnen, die sich erst wütend wehrte. Aber Renteleit zottelte einige der Widerspenstigen kräftig, und sie wurden gleich ruhig. Der Matrose ging zu den Lagernden und sagte: „Steht auf und ordnet euch nach den verschiedenen Ortschaften. Wo seid ihr her?" fragte er die eine Gruppe, bei der er einige ruhigere Männer sah.
„Aus Bottrop!" antwortete ihm einer der älteren Leute zögernd.
„Warum liegt ihr hier?" fragte sie Franz.
Da schrie einer empört: „Wenn die Banditen hier faul rumlungern, dann werden wir doch nicht so verrückt sein und allein nach vorn ziehen. Schafft die erst mal hin, dann gehen auch wir."
Franz sagte: „Kommt, seid vernünftig. Ihr geht mit uns nach vorn."
Einige erhoben sich willig. Die andern folgten, noch zögernd. Sie fluchten auf die „Diebe" und „Wegelagerer" und blickten finster nach der einen Gruppe, die alle anderen zurückgehalten hatte.
„Die werden wir bald los sein", versprach der heisere Matrose und sagte zu einem der älteren Leute, die aufgestanden waren: „Genossen, ihr sorgt dafür, dass die Kumpels wieder nach vorn gehen!"
Ein Hauer, man erkannte ihn an seinen blauen Narben, ordnete die Willigen zu Gruppen. Der Matrose sagte ihm: „Kommt ins Haus, ihr kriegt Brot, und dann geht ihr mit den Stoppenberger Genossen!"
Es erhoben sich noch andere und traten jetzt ruhig auf der Landstraße an. Es waren Kohlenhauer und Schlepper von Karnap; auch sie fügten sich jetzt den Anordnungen des Matrosen, der erlöst aufatmete.
Einige der vorher entwaffneten Männer traten vor und sagten jetzt friedlicher: „Gib das Gewehr wieder her, wir gehen mit nach vorn." Einer sagte: „Ihr solltet sie nicht so laufen lassen", und zeigte auf einige der randalierenden Burschen, „am besten ist, ihr sperrt sie ein. Sie gehen doch wieder unterwegs in die Häuser und verhetzen die Leute gegen uns!"
Der Matrose blickte die entwaffnete Gruppe an, er überlegte finster und winkte einige seiner Posten herbei: „Bringt sie hinten in die Scheune und stellt eine Wache davor. Wir schicken sie nach Hamborn zurück, man wird dort schon wissen, was man mit ihnen tun soll."
Erschöpft wandte er sich ab und taumelte in das Haus. Franz folgte ihm. Er wollte hören, wo er mit seinen Leuten hinkäme.
Auf der Straße ordneten sich die anderen unter den Anweisungen der Gruppenführer zu Abteilungen. Franz hörte, wie einige jetzt wieder vernünftig redeten: „Endlich ist man die randalierende Gesellschaft los. Sie sind aus allen Schlupfwinkeln herausgekrochen und kommen her, um den anderen eine Last zu werden." Einige riefen noch empört: „Ja, es ist eine Schande! Vorn werden die Kumpels abgeknallt, hier liegt alles und faulenzt."
„Ihr seht", wandte sich ein graubärtiger Mann an Renteleit, „jetzt folgt wieder alles willig. Wir sind doch nicht hergekommen, um einander im Weg zu sein. Aber der Genosse Kommandant bricht ja fast selber zusammen. Er schläft schon Tag und Nacht nicht mehr. Man muss ihm helfen. Gut, dass ihr gekommen seid." Er drückte Renteleit dankbar die Hand. „Wir gehen mit euch nach vorn!"
Franz kam wieder aus dem Haus zurück. Er hatte den Auftrag, gegen die Lippe und bis zu dem im Wald liegenden Schloss vorzudringen. Der Kommandant hatte ihm ans Herz gelegt, ja vorsichtig zu sein, denn er hatte schon seit Stunden von den dort liegenden Genossen keine Meldung mehr bekommen.
Die Reichswehr hatte an dieser Stelle mehrere Male angegriffen, und der Matrose glaubte, dass die Genossen dort nicht mehr lebten oder dass sie gefangen genommen worden wären.
Franz ging schweigsam und gedankenvoll. Die Wagen sollten zurückbleiben. Er ließ seine Leute antreten und sagte zu Therese: „Es wäre besser, du bliebst hier. Vorn muss es schlimm aussehen!"
„Ich geh' mit euch!" widerstand sie und sah ihn vorwurfsvoll an. „Sorg dich nicht um mich. Ich will in deiner Nähe bleiben."
Franz sagte nichts mehr. Er winkte der Abteilung, und sie gingen.
Sie gingen wohl schon eine Viertelstunde. Vor ihnen lag der Wald, und sie hörten die Knalle einzelner Schüsse. In Abständen rauschte durch die Luft eine Granate herüber und schlug irgendwo hinten im Wald ein. Die Reichswehr beschoss die Bahnlinie.
Die Männer zuckten bei diesem heulenden Geräusch zusammen und duckten sich. Sie waren in der Schlacht. Von den Grünen und von der Reichswehr war noch nichts zu sehen, doch pfiffen immer wieder einzelne Geschosse über sie hinweg, und Franz zwang oftmals Therese, die aufrecht ohne Angst vorwärtsschritt, auf die Erde. Sie überquerten nach etwa einer halben Stunde das Geleise, immer einer hinter dem anderen, und gingen in den Wald hinein. Sie waren noch auf keinen einzigen ihrer Leute gestoßen, obwohl sie überall frisch aufgeworfene Löcher fanden.
Franz ließ zwischen den Bäumen ausschwärmen und langsam vorgehen. Plötzlich schoss ein Maschinengewehr eine ganze Salve über sie hinweg. Es war so überraschend gekommen, dass einige, auch Sepp Wurzbacher, umkehren und flüchten wollten. „Wir stecken in einer Falle!"
Franz befahl den Leuten, sich hinzulegen und Deckung zu suchen. Er ließ die Genossen mit den zwei Maschinen vorkommen und kroch mit ihnen eine Erhöhung hinauf. Er sah links den Lippe-Fluss und vor ihnen die Türmchen eines Schlosses aus einer Talsenke herausragen. Dort mussten die Grünen oder die Reichswehr sitzen.
Aber auch von der rechten Seite aus einem Waldstück knatterte jetzt ein Maschinengewehr. Renteleit, der dort mit einigen Leuten lag, kam eilig an. „Das ganze Gelände rechts von uns ist frei", erzählte er Franz, „nicht eine Menschenseele von uns sieht man da. Wir stecken tatsächlich in einer Falle."
„Baut euch da mit einem Maschinengewehr ein", befahl Franz, „damit wir nicht umgangen werden. Ich schicke noch schnell einen Boten um Verstärkung. Vielleicht sind inzwischen wieder neue Abteilungen angekommen."
Renteleit lief voller Sorgen zurück.
Franz Kreusat schickte Johann Kaluga zu dem Kommandanten und befahl: „Bringe, was du an Leuten zusammenkriegen kannst, eil dich!"
Johann Kaluga eilte zurück.
Therese lag in einem der aufgeworfenen Löcher und bereitete ihre Verbandpäckchen vor, denn bald musste sie wohl wieder ihre schwere Pflicht aufnehmen. Mehrere Maschinengewehre, von der Lippe, aus dem Schloss und von dem Waldstück rechter Hand, schossen jetzt immerfort Salven herüber. Man hatte sie wohl beim Anrücken gesehen und wollte ihr weiteres Vordringen verhindern.
Franz, der eine Strecke geduckt lief, eine andere, die zu übersehen war, kroch, kam zu Gaida. Der beschoss aus seinem Maschinengewehr das Waldstück an der Lippe, wo einige uniformierte Gestalten zeitweilig zu sehen waren. Nach und nach krachten immer mehr Gewehre; der Kampf hatte begonnen.
Franz wollte um keinen Preis zurückgehen. Er bereitete sich darauf vor, hier so lange liegenzubleiben, bis die Verstärkung herangekommen war. Es war nur eine Hoffnung, aber er klammerte sich an diese Hoffnung und beruhigte auch die ängstlichen Leute, Kaluga müsse bald mit der Verstärkung kommen. Er war Renteleits sicher, dass er seinen Platz nicht verlassen würde, wenn von der Reichswehr und den Grünen ein plötzlicher Angriff erfolgen sollte.
Er schickte noch mehrere Kästen mit Munition zu ihm hin und ließ Renteleit bestellen, den Bahndamm, der einige hundert Meter weiter lag, gut zu beobachten und unter Feuer zu halten.
Nachdem er alle diese Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, ging er mit dem jungen Heise zurück, wo er an einer kleinen Lichtung ein einzelnes Bauernhaus gesehen hatte. Er klopfte. Erst nach einer Weile kam der Bauer mit erschrockenem Gesicht heraus. „Lieber Gott", stöhnte der Mann und starrte Franz an, als wollte er sagen, „was wollt ihr denn schon wieder! Lasst mich bloß in Ruhe."
Franz beruhigte ihn: „Habt keine Sorge, wir verlangen nichts. Wir wollen nur wissen, wer hier zuletzt gewesen ist, unsere Leute oder die Reichswehr."
„Beide", sagte der Bauer plötzlich in Groll: „Einmal diese und einmal die anderen. Man kommt ja gar nicht mehr zur Ruhe. Kann man denn nicht endlich Frieden geben?"
Hinter dem Bauer war die Frau aufgetaucht. Auch sie begann zu jammern: „Man kommt ja nicht mehr aus der Angst heraus. Die einen kommen ins Haus und drohen und verlangen immerfort Essen, dann kommen die anderen und drohen wieder und fragen, ob man welche verborgen hat. Das Pferd haben sie uns schon gestohlen", klagte sie.
„Ja, das Pferd haben sie uns weggeholt", sagte auch der Bauer. „Das Stroh schleppen sie weg, und alles, was man sich für den eigenen Mund abgespart hat, haben sie geplündert. Einer ist nicht mehr wert wie der andere. Man soll doch endlich Ruhe geben, man hat ja immer Angst, dass einem das Dach über dem Kopf angesteckt wird." Franz fragte: „Wer hat euch das Pferd weggeholt?"
„Einer von euren Leuten", antwortete der Bauer zögernd. „Ich sagte ihm, wir haben nur das eine, aber der Kerl drohte mit dem Gewehr und nahm einfach das Pferd. Schafft mir es ja wieder her, sonst kann ich nicht arbeiten", grollte er.
Franz presste den Mund zusammen und sah zu Boden. Er erinnerte sich an die randalierende Schar und an die Diebesgesichter. Es konnte nur einer von denen gewesen sein. Ja, man hätte sie auf der Stelle erschießen sollen. Er war mit der Absicht gekommen, die Bauersleute zu fragen, ob sie nicht eine ihrer Kammern oder die Scheune für seine Leute hergeben wollten. Diese bitteren Gesichter erschreckten ihn aber, und er war nahe daran, zurückzugehen und die Vagabunden, die der Matrose festhielt, herzuschleppen.
Der Bauer sagte noch einmal: „Ja, der eine ist nicht besser als der andere. Alle kommen her und verlangen das Unmögliche, und wenn man es nicht hergeben will, wenn man sagt, dass man nichts mehr hat, dann bedrohen sie einen noch." Er wollte wieder ins Haus hineingehen. Franz rief ihn zurück und fragte den Mann, ob er nicht eine Ecke in der Scheune für seine Leute frei machen wolle, wenn es notwendig sei. Es geschehe nichts, das versichere er ihm, er brauche nur einen Winkel und eine Schütte Stroh.
Der Bauer sah ihn noch voller Argwohn an: „So kamen auch die anderen immer", brummte er. „Ich hab' nichts dagegen", fügte er nach einigem Schweigen und Kopfschütteln hinzu. „Aber holt mir nicht das Letzte fort, sonst weiß ich nicht mehr, was ich auf das Feld setzen soll."
Franz ging zurück. Die Unterhaltung mit dem Bauer hatte Bitterkeit und eine unheimliche Wut in ihm zurückgelassen. Der Junge neben ihm ging ebenso schweigsam. Es war sein erstes großes und niederdrückendes Erlebnis, und das kleine Gesicht war hochrot vor Aufregung. „Man soll doch so was nicht tun", stammelte der Junge noch bedrückt und sah Franz an.
Franz sagte: „Wir können nicht jedem Menschen gleich in die Seele schauen. Natürlich haben die Bauern recht, wenn sie uns als Feinde ansehen. Wir haben ja vorher erlebt, als wir angekommen waren, was mit hergekommen ist. Aber lass dich nicht schrecken", sagte er, „es ist nun einmal unser schwerer Kampf gegen alle Feindseligkeiten."
Als er wieder nach vorn eilte, kam ihm Wirrwa entgegen. „Der Sepp Wurzbacher ist verwundet!" erzählte Wirrwa, noch erschrocken. Franz lief schneller und traf Therese beim Verbinden des verwundeten Wurzbacher an. Der Schuss war Wurzbacher durch die Brust gegangen, und er lag bleich und stöhnend in der Grube.
Therese blickte nicht auf, obwohl sie Franz hörte. Ihre Hände zitterten wie bei dem ersten Verwundeten, den sie in der Mittelstraße verbunden hatte, und sie versuchte es zu verbergen.
Franz fühlte einen Schmerz. „Der erste", murmelte er, „wie viel werden noch folgen?"
Franz Kreusat ließ den schwerverwundeten Wurzbacher von einigen Leuten nach dem Bauernhof schaffen. Heini Heise ging mit, aber er ging mit abgewandtem Gesicht, denn das Blut war für ihn der erste große Schrecken. Er war ganz bleich geworden und tastete an seinen Taschen, ob da noch seine Patronen steckten.
Als sie Wurzbacher in der Scheune gebettet hatten - Therese und zwei der älteren Leute waren bei ihm geblieben -, lief der Junge wieder zurück, denn er wollte den beginnenden Kampf, „die Rache" für den verwundeten Wurzbacher, nicht verpassen. Als er wieder oben ankam, wütete schon ein starker Feuerkampf. Hinter der Lippe, wo sich Gruppen, anscheinend ihrer Leute, bewegten, wurde ein heftiges Feuer gegen das Schloss gerichtet. Auch Franz Kreusat befahl, aus allen Gewehren den Hof und die Mauern des Gebäudes, wo sich mehrere Male die Grünen und die grau-uniformierten Reichswehrleute sehen ließen, unter Feuer zu nehmen.
Nach einer halben Stunde etwa sahen sie die Uniformen aus einem hinteren Tor einzeln in einen gegenüberliegenden Wald flüchten.
Jetzt fielen keine Schüsse mehr aus dem Hof. Franz wartete noch eine Weile; er traute dem Frieden nicht, und er hielt auch Johann Kaluga, der mit einigen anderen hinübereilen wollte, besorgt zurück. Es konnte eine Falle sein. Vielleicht waren auch die hier früher liegenden Genossen in eine solche Falle gelockt und totgeschlagen worden. Er befahl, nach einiger Überlegung, Johann Kaluga und ein paar jüngeren Kumpels, zu versuchen, mit den hinter der Lippe liegenden Genossen eine Verbindung herzustellen.
Heini Heise bat, Franz solle ihn mitgehen lassen. Der Junge war wieder aufgeregt, dass ihn Franz nicht mitgehen ließe, und Franz gab nach einigen neuen Bedenken nach. „Dann geh mit, aber pass mir gut auf, es kann dein Tod sein. Und ich würde mir schwere Vorwürfe machen."
Der Junge dankte ihm mit einem glücklichen Blick und kroch eilig hinter Johann Kaluga den Abhang hinunter. Die Rache für den verwundeten Wurzbacher!
Franz Kreusat beobachtete noch immer das jetzt schweigende Schlossgebäude und den gegenüberliegenden Wald, aber es rührte sich nichts, und er entschloss sich nach einigem Schwanken, mit einer Gruppe hinzugehen und den Hof zu untersuchen, ob da noch Feinde steckten. Er war jetzt ruhiger, nachdem er Therese etwas sicherer untergebracht wusste. Sie liefen und krochen von Baum zu Baum, bis sie das Tor des Schlosses erreicht hatten. Es war noch kein Schuss gefallen, und er beschritt erst allein den Hof und sah sich um. Es meldete sich niemand, und er winkte den anderen, nachzukommen. Sie verteilten sich gleich so, dass sie nicht von den Fenstern oder aus irgendeinem Schlupfwinkel beschossen werden konnten, und warteten noch eine Weile.
Es waren Minuten höchster Anspannung und auch an Franz hingen diese Minuten wie Berge.
Gaida erhob sich plötzlich und lief mit einer Handgranate gegen die Tür. Aber diese ging schon auf und ein hagerer Mann, anscheinend der Verwalter, kam ihnen entgegen.
Er hatte wohl die Gruppe beobachtet und sagte, als er den Kanonier mit der Handgranate vor sich stehen sah, scheu: Im Schloss ist niemand mehr. Die Soldaten haben den Hof geräumt, meine Herren."
Gaida drang trotzdem in das Haus hinein, während noch andere aufsprangen und ihm folgten.
Der Verwalter unterhielt sich indessen mit Franz, der ihm immer noch nicht ganz traute, denn es war eines jener Gesichter, die sich gut verhüllen konnten. „Ich bin froh, dass die Soldaten hier wieder raus sind. Sie können mir glauben, es ist nicht angenehm, wenn man hier alle paar Stunden Todesangst ausstehen muss. Die Frauen sind schon ganz aufgeregt, und man hat uns auch schon allerhand Dinge weggeschleppt."
Gaida kam mit den anderen wieder aus dem Haus und bestätigte, dass sich drinnen niemand mehr befände. „Wir bleiben hier", sagte er zu Franz. „Von oben aus einem Fenster kann man sich mit unseren Leuten drüben verständigen", sagte er. „Sie halten den Wald vor uns unter Feuer. Wir können ruhig vorrücken."
Franz Kreusat befahl einem der Leute, die anderen zu holen, und der Kanonier baute sein schweres Maschinengewehr hinter der Mauer im Hof auf.
Indessen kam auch Johann Kaluga mit dem jungen Heise und den anderen zurück. Er erzählte, sie hätten die Verbindung mit den Genossen hinter der Lippe hergestellt. Es lägen Hamborner und Duisburger dort.
Es war schon wieder später Nachmittag geworden. Die Sonne war untergegangen, und der Wald hüllte sich in Nebel. Franz überließ Gaida die Aufsicht über das Schloss und diesen Teil des Waldes und begab sich eilig zu Renteleit, den er in der gleichen Besorgnis antraf. Renteleit hatte den Feuerkampf an der Lippe gehört. Er hatte aber sein Waldstück nicht verlassen können, musste selbst seinen Mann stehen, weil sich auch in dem ihm gegenüberliegenden Wald die Grünen geregt und geschossen hatten.
„Mensch", empfing er Franz Kreusat, „es wird ein bisschen unheimlich. Wenn der Nebel noch stärker kommt, dann sitzen wir hier wirklich in einer Rattenfalle." Renteleit hatte noch einmal selber die Umgebung untersucht und war dabei auf einige Tote gestoßen, die anscheinend von der Reichswehr und den Grünen mit den Kolben totgeschlagen worden waren. Dieser Anblick hatte auch den starken Menschen erschüttert und scheu gemacht. Immer mehrere Handgranaten wurfbereit, stand er da und starrte ängstlich auf jeden sich bewegenden Fleck. Er brummte: „Tatsächlich, man fängt schon selber an, Gespenster zu sehen. Dieses unsichere Liegen hier und Herumlauern macht mir die Leute verrückt. Sie wollen zurück, oder Verstärkung, damit wir dieses verfluchte Loch schließen können.
Auch Franz Kreusat kam langsam etwas wie Verzagtheit an. Diese Klage hatte er jetzt schon öfters gehört, und er sorgte sich, dass sich die Leute über die Nacht hier kaum halten würden. Er lauschte, ob nicht bald etwas von der heranrückenden Verstärkung zu hören wäre, aber außer dem zeitweiligen Knallen der Gewehre und den hoch oben vorbeiziehenden Granaten und dem erstickten Hüsteln der in dem Gebüsch liegenden Männer, war nichts anderes zu hören, was auf das Kommen der erwarteten Hilfe hingedeutet hätte.
Der kleine Heise, der mitgekommen war, beobachtete Franz' Gesicht und erkannte anscheinend seine Sorgen. Er sagte: „Lass mich hingehen. Ich bringe sie schon her. Ich finde den Weg zurück und werde auch aufpassen, dass mir nichts passiert."
Franz Kreusat zögerte; aber als er wieder die eifrigen Augen des Jungen sah, nickte er. „Also lauf hin, sage den Genossen, dass sie schnell Hilfe schicken sollen. Wir warten sehr darauf!"
Der Junge rannte.
„Steig jetzt nicht mehr herum", wandte sich Franz Kreusat an Renteleit, „sondern bleib bei den Kumpels, und pass mir gut auf. Ich schicke dir noch einige Leute mit einem Maschinengewehr her, damit ihr euch besser wehren könnt!"
Im Gebüsch hörte er wieder das Hüsteln der Männer. Es war, da einige Minuten kein Schuss fiel, ein quälendes Warten.
Franz Kreusat lief wieder nach dem Schloss, um zu hören, ob sich da noch etwas Neues ereignet hatte. Johann Kaluga war noch einmal an der Lippe gewesen, und die Hamborner hatten versprochen, auf verschiedenen Fahrzeugen, die sie sich zurechtgezimmert hatten, wenn es notwendig war, ihnen Hilfe zu schicken.
Vorn im Walde hatte sich nichts mehr geregt, und Gaida erbot sich, mit einigen anderen den Wald abzusuchen. Franz ließ ihn nicht gern gehen, weil ihm Gaida eine große Hilfe geworden war.
Er sah aber das ruhige und kluge Gesicht des Genossen und erklärte sich einverstanden. Gaida nahm ein Gewehr und ein paar Handgranaten, suchte sich zwei der jungen Leute aus und machte sich mit ihnen auf den gefahrvollen Weg.
Franz Kreusat wartete voller Sorgen. Jeder Schuss, der irgendwo im Walde fiel, erschreckte ihn diesmal. Er ließ alle Gewehre bereithalten und stand voller Unruhe an Gaidas Maschinengewehr. Die Dunkelheit brach allmählich herein, und der Nebel verhüllte immer mehr den Wald, und sie waren nur noch auf ihr Gehör angewiesen. Es verging fast eine Stunde, als er endlich Schritte hörte und die Stimme des zurückkehrenden Gaida, der nach ihm fragte.
„Gott sei Dank, ihr seid wieder zurück!"
Gaida hatte einen großen Teil des Waldes abgestreift, aber keinen Uniformierten vorgefunden. Er stockte eine Weile in seinem Bericht. Dann sagte er gepresst: „Aber einige Leute von uns, wahrscheinlich, die hier vor uns gelegen haben, liegen da im Wald, totgeschlagen."
Franz Kreusat wandte sich stumm ab. Der Gedanke kam ihm: Vielleicht erwartete sie alle dasselbe Los! Er wehrte diese Gedanken gewaltsam ab und begab sich wieder zu Renteleit. Die Strecke schien jetzt länger geworden zu sein in dem Nebelmeer, und er konnte sich nur durch die Anrufe der immer ziemliche Strecken auseinander liegenden Genossen und durch ihre Antworten zurechtfinden. Er traf Renteleit diesmal in einer Wutstimmung an. „Wenn sie nicht bald Hilfe schicken", grollte er, „dann geh' ich selber zurück und werde mir die Hilfe mit der Knarre erzwingen. Ich hole die ganze faule Gesellschaft hierher, und sie soll hier mit uns die ganze Nacht durchwachen."
Die Männer in dem Gebüsch, die nicht mehr zu sehen waren, hüstelten erstickt. Einige gruben sich ein, und Franz Kreusat dachte an die am Nachmittag leer angetroffenen Löcher und an die erschlagenen Genossen im Wald. Er sagte nichts. Er blieb jetzt länger bei Renteleit stehen, und beide horchten immer wieder zurück, ob nicht die ersehnten Schritte zu hören waren. Es war schon völlig dunkel geworden.
Sie konnten in dem Nebel, in dem sie wie in einem leeren Raum standen, nichts mehr sehen; und jedes scharrende Geräusch schreckte, und jedes Husten war Angst.
Renteleit, der Franz neben sich spürte, hatte sich wieder etwas beruhigt und sagte: „Diese Ungewissheit ist tatsächlich schlimmer, als die ganzen Schrecken am Viehhof. Aber, ich bin noch der Renteleit und werde diese Nacht hier aushalten. Mag kommen was will!" „Ein Zurückgehen gibt's nicht!" sagte auch Franz.
Plötzlich horchten beide. Sie hörten ein Geräusch, als käme fern eine Herde.
„Die Grünen!" rief einer ängstlich aus dem Gebüsch. „Lasst euch doch nicht gleich von eurer Angst umbringen!" beschwichtigte Renteleit die aufgeregten Leute, und hielt einige, die wegrennen wollten, zurück. „Legt euch wieder hin und haltet eure Handgranaten und Gewehre bereit. Sollten sie kommen, dann werden wir ihnen unser Leben nicht billig überlassen."
Die vielen Schritte kamen näher. Man hörte auch das Geklapper von Waffen und Werkzeugen. Trotzdem befahl Franz Kreusat, noch abzuwarten. „Wartet, bleibt ruhig!" ermahnte er die aufgeregten Leute. Er hoffte, es könnte die Verstärkung sein.
Er ging dem Geräusch entgegen und hörte nun auch verworrenes Sprechen. Es waren die schwersten Minuten, aber Renteleit fügte sich und schoss nicht. Endlich hörte Franz Kreusat jemand allein eilig rankommen. Und einige Sekunden später hörte er die Stimme des kleinen Heise. Franz rief laut: „Komm, Junge!" und fiel ihm gleich um den Hals.
Der Junge erzählte erschöpft, aber in wichtigem Ton: „Ich habe gleich vier Kompanien mitgebracht, mit denen bekommen wir ganz Wesel!"
Und da kamen sie auch schon, mit Maschinengewehren und Kästen und Schaufeln beladen, starke, ältere und junge Gestalten, und Franz wünschte sich in diesem Augenblick Dutzende Hände, um all diese Hände, die sich ihm entgegenstreckten, drücken zu können. Er fiel dem einen und dem anderen um den Hals und sagte glücklich: „Es war höchste Zeit, Genossen. Höchste Zeit!"
Auch Renteleit war rasch hinzugeeilt und fiel heulend und stammelnd einigen um den Hals: „Verflucht, Gott sei Dank, ihr seid da. Ach, Genossen, verdammt!"
Die Verstärkung wurde in Eile auf den Wald und bis zur Lippe verteilt; und während sich die Neuangekommenen hinter den Bäumen einrichteten, schickte Franz Kreusat Renteleit mit einer größeren Gruppe als Patrouille hinaus, um eine Verbindung mit den wahrscheinlich hinter dem Bahndamm liegenden anderen Arbeiterabteilungen herzustellen.
Renteleit kam nach einer halben Stunde zurück. Er hatte die Verbindung nicht gefunden, obwohl er fast einen halben Kilometer des Geländes abgesucht hatte. Auch hinter dem Bahndamm war noch eine große Lücke unbesetzt. Franz beriet sich mit den Kompanieführern, und sie beschlossen, die Strecke bis zum Bahndamm mit zwei der Kompanien zu besetzen. Die weit ausgedehnte Schwarmlinie setzte sich schwerfällig in Bewegung.
Jetzt erst dachte Franz Kreusat an Therese, die in dem Bauernhaus saß. Es waren noch einige Frauen mitgekommen, und er nahm sie nach dem Hause mit, wo auch die vier Kompanieführer zu einer Beratung hinkommen sollten.
Franz fand Therese in der Scheune. Sie hatte Wurzbacher besser verbunden, und der Verwundete lag in dem Stroh, mit einer Decke, die Therese von dem Bauern ausgeborgt hatte, zugedeckt und mit groß geöffneten Augen. Die Angst war jetzt von ihm gewichen. Der Schuss schien nicht tödlich zu sein, aber es war an der Zeit, dass man ihn weiter zurückbrachte, und Franz hieß einem der Leute, die vor dem Bauernhaus standen, nach vorn zu gehen und einige starke Männer zu holen. Die Leute kamen und trugen Wurzbacher auf einer schnell zurechtgebundenen Bahre weg. Es war ein bewegter Augenblick, als sich Wurzbacher von Franz und Therese verabschiedete.
„Ich habe mich lange hin und her ziehen lassen, aber jetzt glaube ich einen Teil meiner Schuld abgetragen zu haben", sagte er lächelnd mit schwacher Stimme.
Da jetzt ein größerer Kampf zu erwarten war, richtete sich Therese mit den zwei hinzugekommenen Frauen, die einige Kästchen mit Verbandzeug mitgebracht hatten, darauf ein. Sie hatte sichtlich aufgeatmet, als sie Franz mit ankommen sah. Sie sagte: „Nimm dich auch weiterhin in acht, denk daran, dass du zurückkommen musst!"
Franz antwortete ihr nicht. Er drückte ihr nur die Hand und ging in das Bauernhaus.
Der Bauer empfing ihn schweigsam. Er ging mit ihm in eine Kammer und sagte, noch mürrisch: „Ihr könnt euch hier einrichten, wenn ihr wollt. Aber sagt euren Leuten, dass sie uns nicht das Letzte wegholen, sonst sind wir geschlagene Menschen." Im Stall brummte eine Kuh, und er hatte vielleicht Angst, dass man sie ihm herausholen könnte.
Franz sagte: „Es wird euch hier nichts weggeholt. Unsere Kumpels sind Menschen, die wissen, dass euch auch nichts umsonst auf den Tisch fliegt. Wir kommen nicht her, um zu stehlen, sondern um die Söldner loszuwerden, die man uns immer herschickt, damit wir nicht mehr aus unserem Elend herauskommen sollen. Vorn im Wald liegen unsere Toten, die die Reichswehr erschlagen hat."
Der Bauer zuckte mit den Schultern und schlug den Blick nieder. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: „Ich hab' bislang weder zu den einen noch zu den anderen gehalten, aber seit ich gesehen habe, wie sie hier rumhausen, da sage ich mir: Mit diesem wilden Soldatenvolk will ich erst recht nichts zu tun haben!" Er wandte sich, von seinen Sorgen gebeugt, in der Tür noch einmal um und sagte: „Die Leute, die ihr hier zurückgelassen habt, sind anständige Menschen. Sie haben hier manches über ihre schwere Arbeit und Not erzählt, wenn man so was hört, dann versteht man, wenn die Menschen empört sind und sich nicht mehr alles gefallen lassen. Und oft ist es mit unsereinem auch so, dass man den Knüppel nehmen und das ganze Pack, das einem nur das Blut auspresst, zum Haus hinausjagen möchte!" Er ging schweren Schrittes und seufzend hinaus.
Franz trat vor das Haus; denn er hörte, dass die anderen Männer gekommen waren. Der eine, von der ersten Kompanie, war ein großer, schmaler Mann; er hatte einen Uniformrock an, eine graue Sportmütze auf dem Kopfe und trug eine Brille. Die zweite Kompanie führte ein vielleicht fünfunddreißigjähriger Matrose, die dritte ein älterer Arbeiter mit einem strengen Gesicht wie Miller. Der vierte war noch ein ganz junger Mensch und, wie Franz Kreusat alsbald erfuhr, ein Lehrer. Sie gingen in die Kammer, und der große Genosse mit der Brille und in dem Uniformrock zog eine Karte heraus, die er auf dem Tisch ausbreitete. Nach der Karte und dem Fingerzeigen des Kompanieführers konnten sie erst ihre Lage genau feststellen und die unbesetzte Lücke abschätzen, die noch zu einer Gefahr werden konnte. Der große, schmale Genosse - er hieß Schotte - schlug vor, dort abwechselnd Patrouillen hinauszuschicken, damit sie von dieser Seite besser gedeckt wurden, bis sich die Möglichkeit bot, noch mehr Verstärkung heranzuziehen. „Wir werden uns wohl in dieser Nacht auf einen Vorstoß vorbereiten müssen, um die Brücke über die Lippe und den Eisenbahndamm, auf dem sich die Reichswehr stärker gruppieren kann, in unsere Hände zu bekommen", erklärte Schotte, nachdem sich alle die Karte angesehen hatten. „Haben wir den Bahndamm und die Brücke", fuhr er fort, „dann sind wir besser geschützt und näher an Wesel heran, das wir dann später mit stärkeren Kräften angreifen können." Schotte sprach überlegt und anscheinend solcher Maßnahmen kundig, und alle billigten seine Ratschläge schweigend. „Achtet darauf, Genossen", bemerkte Schotte, als sie die Beratung beendet hatten, „dass sich keine faulen Elemente unter eure Leute schleichen. Die Verräter sind schön wieder am Werk, unsere Mühe unmöglich zu machen." Seine Augen verrieten einen geheimen Schmerz und Verachtung.
Die Bauersleute saßen in der gegenüberliegenden Kammer und schliefen nicht. Sie waren anscheinend noch nicht beruhigt, und der Bauer kam wieder hervor, als die Gruppen, die Schotte als Reserven bestimmt hatte, ankamen. Sie sollten teils in der Scheune, teils in anderen Unterkünften untergebracht werden, damit man sie jederzeit in der Nähe hatte.
Der Bauer sah düster zu, wie der Schwarm in die Scheune zog, schüttelte den Kopf und ging wieder in seine Stube.
Die Beratung der fünf Männer in der anderen Stube dauerte lange. Sie hatten Kuriere in Bewegung gesetzt, die mit Meldungen hin und her liefen, und es wurden auch wieder neue Patrouillen ausgeschickt, die das Gelände und den vorn liegenden Wald abstreiften. Die Grünen und die Reichswehr hatten sich anscheinend aus den Wäldern hinter den Bahndamm zurückgezogen. Und es schien, als zögen auch sie Verstärkungen heran; denn man hörte eine lebhafte Geschäftigkeit hinter dem weitgestreckten Bahndamm.
Die Hamborner und Duisburger jenseits der Lippe beabsichtigten, am frühen Morgen die Brücke anzugreifen, hinter der mehrere Maschinengewehrnester der Reichswehr eingebaut waren. Die diesseits liegenden Kompanien sollten den Angriff unterstützen. Man verständigte sich untereinander, dass der Angriff um die sechste Stunde beginnen sollte, und man teilte es auch den vorn liegenden Abteilungen mit, dass sie sich darauf vorbereiten sollten.
Schotte, den man ohne eine besondere Wahl als den leitenden Mann des bevorstehenden Kampfes anerkannte, schickte noch einige Boten nach der Kommandantur, um noch Verstärkung heranzuholen, und mit dem Bericht über die noch schwach oder gar nicht besetzten Strecken hinter dem Bahndamm, von wo aus man einen vielleicht geplanten Angriff der Reichswehr durch ein Flankenfeuer behindern oder ganz verhindern konnte. Die Verwirrung und Erschöpfung des vergangenen Tages hatten sich auch im Ort anscheinend wieder gelegt. Die Kommandantur war durch einige energische Männer verstärkt worden, die jetzt eiliger arbeiteten. In der Nacht waren neue Transporte bewaffneter Arbeiter angekommen, und man konnte an der ganzen Front die Geräusche einer lebhaften Bewegung hören.
Die Nacht ging wieder zu Ende, aber der Nebel wallte noch immer, und die Männer, die sich überall im Wald und hinter den Bodenerhebungen eingegraben hatten, froren. Sie wurden schon ungeduldig und riefen jedes Mal, wenn Franz oder ein anderer der leitenden Leute herankamen: „Macht doch, dass wir vorwärts kommen!"
Auch Renteleit empfing Franz Kreusat unzufrieden: „Was habt ihr denn so viel zu beraten. Ihr macht's ja bald wie die anderen. Wir sind ja stark genug und können vorgehen."
Franz Kreusat dachte an die Umsicht Schottes und beruhigte Renteleit: „Wir haben vor uns einen gut organisierten Feind und werden noch schwer zu kämpfen haben. Seid nicht ungeduldig."
Renteleit brummte: „Langweilige Gesellschaft."
Der Angriff war auf sechs Uhr festgesetzt. Franz sollte vom Schloss aus mit seiner ausgeschwärmten Abteilung gegen den davorliegenden Wald vorgehen. Die letzten Minuten rückten heran, und eine ungeheure Spannung lag über allen. Vorn im Wald, den sie gleich beschreiten mussten, knallten vereinzelte Schüsse und schoss zuweilen ein Maschinengewehr der Reichswehr, die allem Anschein nach wieder einige größere Posten vorgeschoben hatte. Als sie noch lagen, dröhnten drüben mehrere schwere Abschüsse, und die Granaten strichen heulend und knapp über den Wald und entluden sich krachend in der Richtung des Bauernhauses. Einige Schrapnells platzten gerade über dem Wald, und die schweren Bleistücke schlugen um die Deckungen der Abteilung herum ein. Die Männer lauschten ängstlich den neuen Abschüssen und duckten sich, wenn die Granaten wieder heranheulten.
Ein Radfahrer kam den Waldweg herauf. Er warf das Rad hin und fragte: „Wo ist denn euer Abteilungsführer?"
Franz meldete sich.
Der Kurier sagte: „Stell deine Uhr, in drei Minuten geht es vorwärts."
„In drei Minuten!"------
Zwei Minuten!------
Eine Minute!------
Sie standen auf und gingen in mehreren Schwarmlinien vorwärts.
Auch die Hamborner und Duisburger jenseits der Lippe waren aufgestanden und liefen eilig gegen die Brücke. Die bislang fast atemlose Stille löste plötzlich der Donnerlärm der Granaten und das Geknatter der Maschinengewehre ab. Die Reichswehr beschoss die stürmenden Hamborner mit ganzen Salven und Schrapnells.
Franz, der gelegentlich zwischen den Bäumen hinschaute, konnte sehen, wie dort mehrere der Stürmenden hinstürzten, um sich nicht wieder zu erheben. Der Wald stand noch wenig unter Feuer, und Franz rückte mit seiner Abteilung eilig vor, um den Waldrand zu erreichen.
Die Reichswehr und die Grünen hatten den Sturm jenseits der Lippe abgeschlagen, und der Angriff drohte zu stocken.
Zur rechten Seite, soweit es Franz überschauen konnte, rückten ihre Kompanien weiter vor, und die ersten hatten schon das gegenüberliegende Waldstück erreicht. Die Reichswehr hatte wohl alle ihre Kräfte eingesetzt, denn jetzt wurde auch der Wald mit einem Kugelregen überschüttet. Franz Kreusat wandte von Zeit zu Zeit den Kopf, um nach dem Jungen zu sehen, der hinter ihm herlief, und riss ihn zuweilen, wenn die Kugeln zu nahe und dicht einschlugen, zu Boden. „Duck dich, Jung, rühr dich nicht."
Endlich war er nach einigen weiteren Sprüngen an dem Waldrand angekommen und zog den Jungen wieder neben sich hin. „Bleib liegen und beweg dich nicht, bis die anderen alle herangekommen sind!" Er sah sich um. Gaida sprang mit seinem Maschinengewehr und mit einigen anderen Leuten heran und warf sich in seine Nähe. „Der Kaluga ist liegengeblieben", sagte er, noch schwer atmend.
„Der Kaluga -". Franz starrte zurück, als müsste Kaluga doch noch nachkommen, aber der blondlockige Kumpel stand nicht mehr auf. Eine Kugel hatte seinen Kopf getroffen. Noch einige andere fehlten, wie er mit einem Umblick mit Entsetzen feststellen musste. Vielleicht waren sie mit anderen Gruppen mitgerannt. Vielleicht...?
Er wollte nicht daran denken. Vom Bahndamm her flammten die Schüsse, und die Kugeln schlugen rund umher und in die Bäume ein. Aus einem Bahnwärterhaus schossen mehrere Maschinengewehre herüber. Gaida richtete sein schweres Maschinengewehr dorthin und schoss auf den kleinen Bau. Zu ihrer Rechten gingen die Kumpels immer noch weiter vor; sie hatten eine größere Strecke zu überqueren, und ein heftiges Feuer hatte sie empfangen, als sie über das freie Gelände liefen. Auch dort lagen einige und bewegten sich nicht mehr.
Therese und die beiden anderen Frauen hatten ihre schwere Pflicht aufgenommen. Man brachte die ersten Verwundeten und auch den toten Johann Kaluga. Während sie die ersten verbanden, kamen andere Verwundete an, die sich stumm verbinden ließen.
Therese fragte den Wirrwa, der mit einem Armschuss gekommen war, nach Franz.
„Er lebt noch, ich hab' ihn vorn am Waldrand gesehen", sagte Wirrwa.
Therese fuhr sich heimlich mit der Hand über ihre Augen und verband den nächsten Verwundeten. Es war einer der Neuangekommenen, ein schmächtiger Mensch. Er trug schon die Zeichen der Grube, einige blaue Narben, in seinem jungen Gesicht.
Der Bauer war mehrere Male verstört herausgekommen. Er ging in die Scheune, blickte auf die blutenden Verwundeten, schüttelte den Kopf und ging wieder zurück ins Haus. „Ein Unglück, ein Unglück!"
Die Bäuerin saß in ihrer Stube und betete.
Die Hamborner hatten wieder die Brücke gestürmt, und auch dieser zweite Angriff war in dem heftigen Schrapnellfeuer der Reichswehr zusammengebrochen. Die Reichswehr schoss jetzt aus Minenwerfern gegen den Wald. Mehrere der Minen schlugen in der Nähe des schweren Maschinengewehrs ein. Die nächste Mine konnte es treffen und die ganze Mannschaft töten.
Gaida wechselte den Platz; er kroch mit seinen vier Leuten und mit dem Maschinengewehr einige dreißig Meter vorwärts, wo eine Grube war und eine kleine Bodenerhöhung, hinter der er besser geschützt war. Franz Kreusat bewunderte im stillen Gaidas Ruhe und Mut; er dachte an die Frau, die dem Mann morgens das letzte Stück Brot reichte, und wie er aus Sorge um die Kinder dieses letzte Brot zurückwies. Die Frau erwartete ihn sicherlich lebend wieder. Er kroch zu ihm hin und sagte: „Überlass mir das Gewehr und geh' du etwas zurück, du musst dich deinen Kindern erhalten."
Gaida sah ihn unwillig an: „Die anderen haben auch Kinder, willst du sie alle zurückschicken? Ich will nicht eine Ausnahme sein."
Franz Kreusat kroch wieder zurück. Der Junge schoss, das Gesicht fiebrig rot und fast ungedeckt, aus seinem Gewehr gegen den Bahndamm. Franz zog ihn in eine Vertiefung, die besseren Schutz bot.
„Da vorn konnte ich sie besser sehen, die Hunde", protestierte der Junge voller Hass.
Der Angriff stockte. Immerfort entluden sich die Schrapnells krachend über dem Wald. Und die Maschinengewehre hinter dem Bahndamm hämmerten gegen die umkämpfte Brücke. Einige schwere Kanonen dröhnten, anscheinend von Wesel her, und die Granaten fuhren wieder heulend über den Wald und hinter die Lippe.
Schotte kam an und warf sich neben Franz hin. „Ein elender Kram. Wir haben schon eine Menge Verwundeter, und einige unserer Jungens sind gefallen. Wir müssten Kanonen haben, um diesen verfluchten Bahndamm auszuräuchern. Es stehen zwar einige hinten auf der Straße, aber es fehlt die Munition. Grabt euch etwas ein", befahl er, „man hat uns noch Hilfe versprochen, und wir können vielleicht bald weiter vorgehen."
Es ging schon wieder gegen Mittag, und sie lagen immer noch im Wald. Das Feuer wurde auf beiden Seiten gelegentlich schwächer und stieg wieder an, und oft zu voller Heftigkeit, wenn sich die Hamborner jenseits der Lippe zu einem neuen Vorstoß anschickten. Die Reichswehr suchte mit ihren Minen Gaidas Maschinengewehr, das sie anscheinend noch am Waldrand stehen glaubte, und die Gruppen mussten oftmals ihre Deckungen wechseln, weil die Minen häufig den Waldrand trafen.
Gaida schoss immer wieder gegen das Bahnwärterhäuschen, wo die Reichswehr saß, und auch die Hamborner schossen mit mehreren Maschinengewehren hin. Endlich sah Gaida, dass einige Uniformierte aus dem Häuschen herausliefen und hinter dem Bahndamm verschwanden. Diese Maschinengewehre waren jetzt still. Aber vom Bahndamm her erhob sich wieder fast eine ganze Stunde lang das rasende Feuer. Mehrere Minen schlugen jetzt in bedenklicher Nähe vor Gaidas Gruppe ein. Die Reichswehr hatte ihn endlich bemerkt. Und nun folgte Mine auf Mine. Gaida fluchte und kroch mit dem Maschinengewehr in den Wald zurück.
Die Hamborner hatten schon vier, fünf Angriffe gegen die Brücke unternommen, und alle waren gescheitert. Schotte zögerte, mit den wenigen Kompanien über das offene Land gegen den Bahndamm vorzugehen, und so lagen sie schon wieder mehrere Stunden und warteten. Es ging wieder langsam gegen Nachmittag und zum Abend. Der Nebel stieg wie gestern auf, er verhüllte das Feld und den Wald und brachte den abgehetzten Männern etwas Ruhe.
Therese hatte schon viele Verwundete verbunden. Die noch gehen konnten, waren allein zurückgegangen; die anderen lagen still oder stöhnend auf dem Stroh in der Scheune. Mehrere Sanitätsleute, die den Frauen zu Hilfe gekommen waren, schaufelten mit anderen im Wald Gräber für die Toten. Auch Johann Kaluga wurde in eines dieser Gräber gebettet.
Einmal kam Franz Kreusat. Therese fiel ihm aufschreiend um den Hals: „Franz, ich kann nicht mehr, es ist so schrecklich."
Er strich ihr über das erschöpfte Gesicht und setzte sich nieder. Auch er war zu Tode erschöpft. „Der Kampf stockt!" sagte er verzweifelt.
In der Nacht kamen noch mehrere Abteilungen an. Schotte, der den ganzen Tag von Abteilung zu Abteilung gelaufen war, saß übermüdet in der Kammer vor der Karte. Der Angriff auf die Stadt konnte nur gelingen, wenn sie von jenseits des Bahndamms eine stärkere Unterstützung bekämen. Aber dort rührte sich nichts, und sie opferten sich hier umsonst. „Kanonen fehlen uns, Kanonen!" sagte er wieder zu Franz Kreusat. „Die Söldner fühlen sich auch durch die belgischen Besatzungstruppen in Wesel geschützt, aber wir würden sie da herausholen, wenn wir einige Dutzend Kanonen hätten und wenn sich unsere Menschen etwas mehr aufraffen würden. Aber es scheint schon wieder alles zu stocken. Hör dir mal die Reden der Neuangekommenen an: Hinten streiten sie sich wieder, ob man den Kampf fortsetzen oder aufgeben soll. Und Severing hat sich nach Bielefeld aufgemacht, um zu vermitteln."
Viele der Neuen waren tatsächlich schon mit zwiespältigen Meinungen gekommen. Man rede von Waffenstillstand und Waffenruhe und von Verhandlungen. Man hätte schon einige Transporte unterwegs aufgehalten: der Kampf sei abgebrochen, und die verschiedensten Gerüchte gingen in den Städten umher. „Wir wollen uns trotzdem durch das ganze Gerede nicht beirren lassen", sagte Schotte, „wir bleiben hier. Hoffentlich setzen sich unsere Genossen durch. Wir dürfen diesen opfervollen Kampf nicht in letzter Minute abbrechen und alles wieder den Söldnern und Watter überlassen. Geh du wieder zu deinen Leuten und sorge dafür, dass sich auch unter ihnen nicht diese verfluchte Krankheit breit macht."
Franz verabschiedete sich von Therese und ging wieder nach vorn. Der Nebel wallte gespenstisch, und jeder Schrei eines aufgescheuchten Vogels erschreckte ihn diesmal. Er suchte Renteleit auf und legte sich neben ihn hin. „Nu, was gibt es", fragte Renteleit.
Franz konnte ihm die Verstimmung anmerken. „Wir müssen warten!" sagte er. „Vielleicht wird sich morgen alles wieder ändern, und wir können gegen die Stadt vorgehn."
Renteleit sagte ergrimmt: „Deine Hoffnungen. Aber hör dir mal die neuen Leute an, was sie reden. Verflucht, man könnte ihnen die Gewehre aus den Klauen reißen und sie wieder zum Teufel jagen. Sie schwätzen ja unsere Leute verrückt. Was treiben die denn hinten? Mich wird hier keiner von der Stelle bewegen. Dann rase ich schon lieber in das Feuer, ehe ich jetzt das Gewehr abgebe."
Franz begab sich nach einem kurzen Ausruhen an ihren linken Flügel. Auch da fragten ihn einige empört: „Was reden die Leute denn für einen Unsinn; man will verhandeln?"
Gaida, der sich schon die ganze Zeit mit den widerstreitenden Männern auseinandersetzte, antwortete zornig: „Lasst euch doch nicht scheumachen. Hört nicht auf das Gerede. Wir wussten, als wir hergingen, dass wir mit allen Feindseligkeiten zu tun haben. Die Schächte und Werke liegen noch still, und sie werden still bleiben, solange wir noch die Gewehre in unseren Händen haben. Wenn euch noch jemand mit so einem Gerede kommt, dann schlagt ihm aufs Maul. Da vorn liegen die Söldner, und mit diesen gibt es kein Verhandeln."
Der Junge neben Franz seufzte: „Gott sei Dank!"
Dunkel und neblig lag die Nacht über der Erde. Man schoss nicht mehr, man hörte nur Scharren und Hüsteln.
Im Wald brachen die von den Granaten getroffenen Bäume. In der Ferne ertönte ein Horn: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde..."
Franz Kreusat fühlte neue Hoffnung. Neue Hoffnung.
In Stoppenberg fand seit Stunden eine Beratung statt. Schigalski war gekommen und bestürmte Miller und Zermack, der Aufforderung der Regierung und der Gewerkschaften zu folgen. „Ihr seht doch", redete er sicherer, „die Leute sind alle müde, auch die Frauen kommen nicht mehr aus den Schrecken heraus. Wir können auch die Wirtschaft nicht so lange lahm legen, die Alliierten werden nur daraus ihre Vorteile ziehen und unter Umständen das Ruhrgebiet besetzen. Dann müsst ihr sowieso den Kampf abbrechen, und wer weiß, was dann noch folgt. Lasst euch also vernünftig zureden und sagt den Kumpels, dass sie wieder die Arbeit aufnehmen sollen." Er warf einen Seitenblick auf den unter der Fraktion der Zentrumspartei sitzenden Kranzmann. „Die Regierung und die Gewerkschaften stehen schon in Verhandlungen mit Watter, und wir hoffen, dass wir bald einen annehmbaren Frieden herstellen können."
Der Kranzmann nickte. Er hatte schon tags zuvor die Zechenboten in die Häuser geschickt, mit der Aufforderung an die Bergleute, die Arbeit wieder aufzunehmen. Er hatte in der Sitzung seine Maßnahme zu rechtfertigen versucht, dass zumindest die Notstandsarbeiten verrichtet werden müssten. Jetzt fühlte er Schigalskis Hilfe, doch war er klug genug, diesem das Ausfechten der peinlichen Debatte zu überlassen; er unterstützte ihn nur mit seinen verständnisvollen Blicken. Schigalski drängte: „Nun erklärt euch!"
Tauten saß verwirrt da. Stamm starrte unruhig darein, und Miller schwieg.
„Kann ich also die Nachricht mitnehmen, dass hier die Geschichte beigelegt wird?" nahm Schigalski wieder das Wort. „Mit den anderen Belegschaften wird auch schon verhandelt, und ich denke, dass sie morgen an die Arbeit zurückkehren werden." Er blickte sich um, sah Tauten an, der die Augen senkte, und sah Stamm an, der den Kopf schüttelte: „Nu, Genossen, redet!" erhob er seine Stimme. „Wir können es nicht bis zum Äußersten treiben."
„Na, redet doch!" rief auch Steiger Schulte und sah auf den Kranzmann.
Miller, der die ganze Zeit geschwankt hatte, sagte endlich: „Wir können hier nicht ohne die anderen, die noch kämpfen, eine Wiederaufnahme der Arbeit beschließen." Zermack regte sich jetzt ebenfalls aus der Erstarrung. „Solange noch einer dieser Söldner ein Gewehr in der Hand trägt, wehre ich mich entschieden gegen solche Beschlüsse. Wenn wir jetzt nachgeben", sagte er erzürnt, „dann kommen sie wieder, und dann werden wir noch mehr opfern müssen. Die Schächte sollen lieber versaufen, als dass ich die Kumpels auffordern werde, wieder unter den alten Bedingungen hineinzukriechen!"
Schigalski fragte Tauten: „Und was sagst du?" Tauten erhob den Kopf und tastete mit den Händen auf dem Tisch umher. „Ich weiß nicht, wozu ich mich entschließen soll..." Er breitete die Arme hilflos aus und ließ sie wieder auf den Tisch fallen. Nach einer Weile erst, während ihn Schigalski voller Ingrimm anstarrte, sagte Tauten wieder: „Dem einen Vorschlag will ich schon zustimmen, dass die alte Polizei wieder den Innendienst verrichtet und dass man hier eine andere Ordnung schafft, aber ich kann mich noch nicht für das andere entscheiden."
„Und du?" wandte sich Schigalski an Stamm.
Stamm, der auch geschwankt hatte, richtete sich auf. Er antwortete: „Ich bin derselben Meinung wie Zermack, wir können jetzt nicht abbrechen, wenn unsere Menschen draußen dem Tode ausgesetzt sind. Ich traue diesen neuen Verhandlungen nicht mehr, und mögen die Regierung und die Gewerkschaften auf einen guten Ausgang schwören. Man hat uns schon zu oft betrogen."
„So schließt du dich selber von der Partei aus", bemerkte der Parteisekretär, der seine Wut nicht mehr unterdrücken konnte. Stamm antwortete ihm mit einem offenen Blick: „Die Partei geht falsche Wege, und ich kann diese Wege nicht mehr mitgehen. Wenn du glaubst, dass ich mich mit meiner Meinung aus der Partei ausschließe, dann setzt sie das Unrecht fort." Er zog sein Buch heraus und sagte: „Zwanzig Jahre habe ich geglaubt, dass die Partei einmal diesen Kampf führen wird und ein Ende mit dem ganzen Betrug macht. Aber heute bin ich belehrt, dass sie immer mehr auf Abwege gerät. Ich zähle mich nicht mehr als Mitglied dieser Partei." Er nahm seine Mütze, strich mit der Hand über die müde Stirn und ging. Auch Zermack und Raup erhoben sich und gingen mit. Miller folgte ihnen, indem er noch einmal zu Schigalski sagte: „Ich bin dafür, dass wir alle fragen."
Schigalski rief sie noch einmal in der Tür an: „Also, ihr wollt euren Kopf durchsetzen?"
Zermack drehte sich um: „Du kennst unsere Meinung. Wir geben nichts auf, bis wir den Beweis haben, dass alle Söldner entwaffnet sind und kein Watter mehr hier etwas zu bestimmen hat."
Tauten war geblieben.
Schigalski überschüttete ihn mit Vorwürfen. „Du bist ein Narr geworden. Du hast die Meinung der Partei aufgegeben und hast all diesen Widerspruch mit verschuldet. Wir hätten uns jetzt besser durchsetzen können, wenn du nicht wahnsinnig geworden wärst."
Auch Schulte, der sich mit dem Betriebsführer erhoben hatte, sagte vorwurfsvoll: „Wie können Sie nur so unvernünftig sein. Es kann sich in wenigen Stunden alles wenden, und dann wird auch Ihnen jede Verantwortung angehängt!"
Der Kranzmann lächelte eisig und nickte.
Tauten schüttelte den roten Kopf. Er stand auf und ging stumm hinaus. In neuem Zwiespalt ging er nach Hause. Er wollte an diesem Abend nicht nach der Wache zurückgehen, weil er befürchtete, dass er auch dort mit Vorwürfen empfangen würde.
Ein schwerer Wagen mit einer Abteilung bewaffneter Kumpels rollte in der Mittelstraße an ihm vorbei. Er hörte den Gesang: „Dem Karl Liebknecht haben wir geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand...", aber er erhob diesmal den Kopf nicht. Er ging mit sich zerrissen weiter und dachte nur: Wem soll man recht tun. Wem?
In den Wohnungen war noch hier und da ein Lichtschein zu sehen. Die Frauen wachten noch und warteten auf ihre Männer, die vor Dinslaken lagen.
Auch seine Frau wachte und wartete auf die Tochter. So wachte sie schon seit mehreren Nächten. Sie streichelte den Stuhl, auf dem das Mädel einmal gesessen hatte, sie ging in die Kammer und fuhr mit der Hand über das Kissen, auf dem das Kind immer gelegen hatte. Sie hatte viele schwere Tage durchgemacht, Streiks und Krieg und alle Sorgen, aber diese furchtbare Seite des Lebens hatte sie noch nicht gekannt. Die Sklavin dieses ihres Lebens, und immer untergeordnet dem eigensinnigen Mann, war sie in den letzten Tagen völlig eingeschüchtert. Sie kannte sich in ihrem Mann nicht mehr aus, sie kannte sich in sich selbst nicht mehr aus. Sie hatte gespart und gescharrt und allen gedient und alle umsorgt. Da war die hübsche Küche, da hatte sie ihm das gute Zimmerchen eingerichtet und das Ledersofa beschafft und gesorgt und gesorgt. Und nun trieb sie der Mann und das Kind in diesen Widerspruch, in dieses Durcheinander, in dem sie sich nicht mehr zurechtfinden konnte.
Der Mann kam herauf, gebeugt und vergrämt. Er zog sich gleich aus und legte sich ins Bett. „Was ist mit dir?" fragte sie.
Er sagte: „Es geht zu Ende." „Aber das Kind ist doch noch nicht hier", klagte sie.
Er gab keine Antwort.
Draußen auf der Straße schritten Henke und Stamm mit den umgehängten Gewehren. Sie kamen an Werners Schenke vorüber, in der wieder Abendgäste waren.
„Sie kriechen wieder aus ihren Löchern", bemerkte Stamm, der auf diese Beamten- und Krämergesellschaft, die drinnen verkehrte, nicht gut zu sprechen war. Er horchte einen Augenblick an einem der hochangebrachten Fenster.
„Die werden uns schon wieder das Urteil sprechen, diese Bande", lachte er böse und wandte sich von dem Fenster ab. „Sie scheinen alle mitbeteiligt gewesen zu sein", sagte er, als er mit Henke weiterging. „Jetzt tauchen sie alle nacheinander wieder auf! Sie wagen sich aus den Verstecken heraus."
Stamm hatte recht: Sie tauchten einer nach dem anderen wieder auf und versammelten sich wie früher in der Kneipe.
Der Schwerlich war einen Tag später als Kleinemann und der Stübel einige Tage später als Schwerlich nach Hause gekommen.
Willi Werner und Heumisch wagten anscheinend noch nicht, sich sehen zu lassen, und hielten sich wohl in der Stadt in irgendwelchen Schlupfwinkeln auf.
Herr Kleinemann hatte bereits wieder einige Gänge in den Ort unternommen, um etwas über den Verbleib der anderen zu erfahren.
Auf einem dieser Gänge hatte er den Schwerlich getroffen, der ihm aber offensichtlich ausgewichen und, als ob er ihn nicht gesehen hätte, mit einigen eiligen Schritten in seinem Haus verschwunden war.
Herr Kleinemann hatte erst die Absicht, dem Bäcker in das Haus nachzugehen, weil ihn Schwerlichs Benehmen etwas beunruhigte - sein Bengel hatte den Vorwurf „Feigling" noch einige Male gebraucht -; vielleicht dachte auch der Bäcker so über ihn; das war der Grund seiner Unruhe. Er beschloss, noch ein wenig zu warten, denn auch Schwerlich konnte plötzlich seine Fahne umgesteckt haben.
An diesem Abend aber - es hatte ihn in die Wernersche Kneipe mit Macht gezogen - traf er drinnen beide, Schwerlich und Stübel. Sie erzählten anscheinend Frau Werner von ihren Heldentaten, die sie selbstverständlich zusammenlogen, aber als sie ihn hereintreten sahen, waren alle sofort still geworden. Sie umlauerten darauf einander wie misstrauische Hunde, und keiner wollte zuerst, weder Schwerlich und Stübel noch Herr Kleinemann, mit einer offenen Frage herausrücken. Schließlich seufzte die Wirtin: „Jaja, es sind schon schlimme Zeiten."
Ja", brummte Stübel mit einem schiefen Blick auf den Krämer, „es sind wirklich schlimme Zeiten." Auch der Bäcker wiederholte: „Böse Zeiten!" Herr Kleinemann dachte sich: Wollen die aus mir vielleicht was herauslocken? Ich werde mich hüten, darauf zu antworten. Bin schon einmal schwer hineingeritten worden. Aber etwas musste er doch antworten, und er ließ nur sein absolut unverfängliches „Jajaja" hören. „Jaja", seufzte auch die Wirtin. Endlich forschte Stübel vorsichtig: „Na, Krämer, wo hast du dich so lange rumgetrieben?"
Herr Kleinemann schielte den Gemüsehändler über den Rand des Bierglases an, aus dem er gerade einen Schluck nehmen wollte. Er trank den Schluck und wandte sich Stübel zu: „Wo soll ich mich rumgetrieben haben? Wo habt ihr denn euch die ganze Zeit rumgetrieben?"
Die beiden anderen antworteten nicht gleich. Schließlich seufzte wieder die Wirtin: „Schlimme Zeiten, ja!"
Schwerlich wagte endlich eine neue Frage: „Sind Sie noch gut abgekommen an dem Morgen, Herr Kleinemann? Sie waren plötzlich verschwunden, und man hat sich allerlei gedacht. Ich dachte mir, der hat eins abgekriegt, und hab' Sie tatsächlich schon aufgegeben!"
„Das haben Sie gedacht?" sagte Herr Kleinemann erleichtert. Nach und nach wich die Mauer der Misstrauens, und eine halbe Stunde später wusste Frau Werner die ungeheuerlichsten und mutigsten Geschichten über des Krämers Rettung, der sich allein durch die ganzen Haufen der rasenden Roten durchgeschlagen hatte.
Erst als Herr Kleinemann draußen die Schritte der beiden Wehrleute hörte, ging er verstummt wieder an die Theke, wo er mit einem ängstlichen Hinaushorchen sein Bier austrank.
„Vielleicht hab' ich der hinterhältigen Gesellschaft zuviel erzählt!" fragte er sich. „Vielleicht sind die beiden auch umgeschwenkt und verschwatzen mich den Roten!"
Auch der Bäcker und der Gemüsehändler waren still geworden. Und wieder folgte das gegenseitige Belauern, wie vorher beim Eintreten des Krämers.
Schwerlich brach mit einem: „Jaja, schlimme Zeit!" auf. Auch Stübel sagte doppelsinnig: „Es ist besser, man hält den Schnabel heut!" und ging auch.
Herr Kleinemann zahlte ebenfalls und ging unter einem neuen Alpdruck nach Hause.
Diese Nacht verbrachte er fast schlaflos. Jeden Augenblick glaubte er Stübels oder Schwerlichs böse lachende Stimmen zu hören: „Ja, das hat er uns alles erzählt!"
Kalt, eisig ist die Erde, der Nebel hüllt sie alle wie in ein Leichentuch ein. Leben wir morgen noch? Sind wir tot? Egal! Egal?
Nein, sie wollten leben.
Auch Franz wollte leben. Auch der kleine Heise und auch der an seiner linken Seite liegende bittere Matucha. Er hatte Franz erzählt, dass er sich mit seiner Frau nicht mehr verstehe. Sechs Kinder, ewige Armut und Streit. Die Armut hatte sie zu Feinden gemacht; Menschen, die sich einst gern hatten, zu ergrimmten, einander quälenden Menschen. Nächte voller Flüche, Tage voller Streit. Aber er war nicht deshalb hier, der Matucha. Er sah, dass die vielen mit dem Gewehr losgingen, und hatte auch eins genommen.
Franz Kreusat vermisste Thereses Stimme. Er merkte erst jetzt, dass er sie sehr gern hatte.
Die Nacht wich. Im Wald klirrten Spaten und Gewehre. Der Nebel hing noch dicht und grau vor ihnen, aber es fielen schon die ersten Schüsse. Das Getöse der neuen Schlacht schwoll an, und der Wald kreischte und schrie unter den prasselnden Geschossen.
Die Hamborner griffen wieder die Brücke an. Da und dort ächzte auch wieder einer von Franzens Leuten auf. „Matucha, komm hierher!"
Matucha kroch näher. Er seufzte: „Das elende Weib. Immer muss sie mit dem Streit anfangen; man hat sich noch nicht einmal im Guten verabschiedet." Vielleicht graute ihm doch jetzt vor dem tödlichen Feuer. Er war ein schwacher Mensch, aufgefressen von der Grube. Der Steinstaub hatte seine Brust verschlackt, seine Augen quollen hervor, als er Franz erreichte, der einige fünfzig Meter vorwärts ins Land gerannt war. Sie griffen an.
„Meine Alte verflucht mich!" lächelte Matucha aus dem mageren, faltigen Gesicht. „Aber sie soll nicht mich verfluchen. Sie soll das Elend verfluchen und die Canaillen, die es uns bereitet haben." Er schob sein Gewehr vor, unsicher, er war ja kein Soldat gewesen, und man hatte es ihm erst unterwegs beigebracht, wie man schießen sollte. Er zauderte erst, als überlegte er. Aber dann schoss er; die drüben schossen ja auch auf sie. Sie hatten Handgranaten geworfen in der Stadt und ihre Hungerleider damit zerfetzt. Matucha schoss und drückte, als erschrecke er vor seiner Handlung, den Kopf gegen die Erde. Doch gleich schob er wieder das Gewehr vor und schoss. Ein bleiches, böses Gesicht.
Diese Tage hatten sie alle zu Hassgespenstern verwandelt. Watters Garde lag vor ihnen und zielte auf ihre Köpfe. Sie scharrten sich ein, denn sie kamen wieder keinen Schritt weiter, so schwer lag das Feuer auf dem Feld.
Franz Kreusat hörte sich ihre wütende Unterhaltung an.
„Die Söldner bekommen sechs Mark für den Tag. Dafür müssen sie aber ein Dutzend von uns totschießen." „Sie bekommen auch noch Kampfzulage." „Auch Speckzulage. Sie werden besser gefüttert als wir. Man konnte sie in Essen sehen, sie hatten dicke, fette Gesichter, diese Feldwebel!"
„Und dicke Schenkel, und einen strammen Schritt. Kasernenbullen von früher!"
Ja, diese Söldner drüben waren leere Seelen, tote Seelen; Henker, ums Geld.
Franz Kreusat schoss, und auch Matucha schoss. „Ziele genau, denn wir wollen keine Munition verschwenden."
Die Kanonen bumsten wieder in der Stadt Wesel. Die Herren Offiziere der Watter-Garde und diese belgischen Offiziere verstanden sich anscheinend gut. Die belgischen Generale und der deutsche General.
„Vorwärts, Unsere stürmen!"
Aus dem rechten Waldteil brachen die Arbeiter hervor. Ein Feuersturm empfing sie. Sie kehrten um. Eine Anzahl blieb liegen. Einige wanden sich, versuchten fortzukriechen, blieben wieder liegen.
„Vorwärts!" Auch die im linken Waldstück drangen hervor, und drüben hinter der Lippe stürmten die Harnborner. Sie sprangen über die Brücke. Auch dieser Angriff zerflatterte in dem Getöse und Krach der Schrapnells und der wahnsinnigen Geschoßsalven. Auch da lagen einzelne und wanden sich.
„Wir sterben hier alle", hörte Franz die Leute murren.
„Warum schicken die Herren vom Vollzugsrat nicht mehr Verstärkung her?"
Einer schrie: „Die Herren sitzen in Sicherheit und vergessen uns hier. Sie sitzen warm und sicher und denken nicht daran, dass wir hier verbluten müssen!"
„Halt dein Dreckmaul !"schrie ein anderer. „Ihr hättet daheim maulen und darauf drängen sollen, dass sie aus ihren Buden rauskriechen und hier mithelfen." Es war ein schwarzes, stoppliges, wildes Gesicht mit Augen wie glühende Kohlen.
Hass! Groll! Bitterkeit!
„Vorwärts, wir stürmen!"
Sie erhoben sich und liefen wieder einige fünfzig Meter weiter. Der Tod griff auch nach Franz mit tausend Krallen.
„Matucha, Josef, wirf dich hin!"
Matucha kroch seufzend zu ihm. Von seinem Kopf strömte Blut. Er drückte den Kopf gegen die Erde und atmete schwer.
Franz rüttelte ihn voller Angst, und Matucha öffnete wieder die Augen.
Ein Melder kroch heran und befahl ihnen: „Ihr müsst zurück in den Wald!" Sie krochen zurück, mühsam. Franz Kreusat half Matucha, der halb ohnmächtig war. Der Wald stöhnte und schrie in der schauerlichen Melodie der Schlacht. Die Kanonen der Reichswehr dröhnten, und die Geschosse fuhren heulend über sie hinweg und warfen, aufbrüllend, Äste und Baumwipfel gegen den hellstrahlenden Himmel.
„Verflucht, warum schicken die Hunde keine Verstärkung."
„Sie wollen verhandeln! Als wir herkamen, da hörte man sie überall davon reden, dass sie wieder verhandeln wollen; deshalb lassen sie uns wenige hier krepieren!"
„Wenn sie verhandeln, dann werden wir ihnen das Verhandeln noch unterbinden. Wir werden hier mit den Knarren hinziehen und knallen die ganze Saubande über den Haufen, denn mehr sind sie nicht wert!"
„Es wird vielleicht günstige Bedingungen geben: Zurückziehung der Reichswehrtruppen und der Grünen. Aber dann müssen auch wir etwas nachgeben", redete einer, der schon am vergangenen Abend von Verhandlungen und von wahrscheinlichem Abbruch des Kampfes geredet hatte. Er hatte ein Gesicht wie der Schigalski, das immer und überall wie eine lebendige Ermahnung und Warnung auftauchte.
„Schwatz keinen Dreck!" grollte ihn das schwarze, stopplige Gesicht an. Es war ein noch junger, vielleicht dreißigjähriger Bergmann aus Hamm. Er trug eine zerfetzte Matrosenbluse, an der noch die verschlissene rote Kokarde steckte. Überall glaubte Franz Kreusat seinen Kahlstem und Kramm und den kleinen Christian Wolny zu sehen, von dem er seit Tagen nichts mehr gehört hatte. Überall lag und ging und marschierte ihr Kiel mit.
„Wo mag Christian geblieben sein?" fragte sich Franz, während sie wieder in dem zerwühlten und stöhnenden Wald lagen. Er wusste nicht, dass Christian drüben bei den Hambornern wie rasend noch immer mit seinem Maschinengewehr schoss, Martin Kaminski an seiner Seite, der ihm seit Essen gefolgt war. Christian Wolny lebte. Und er wollte nicht eher zurückgehen, bis die rote Fahne, wie er sich geschworen hatte, wie auf seinem Kasten, auch über Wesel und über dem Kohlenpott wehte.
Matucha hatte sich ein Stück seines Hemdes um den blutenden Kopf gewickelt.
„Mensch, geh doch zurück und lass dich von den Frauen verbinden", bedrängte ihn Franz schon mehrere Male. „Und du", ächzte Matucha. „Du bleibst hier liegen?" „Los, nehmt ihn unter den Arm", befahl Franz zwei anderen Leuten, „und führt ihn zu der Verbandstelle." Der Mann mit dem Schigalski-Gesicht und noch ein anderer führten Matucha weg.
Matucha protestierte: „Und ihr? Ich kann doch nicht weg."
„Die werden auch bald zurückmüssen", beruhigte ihn der Mann mit dem Schigalski-Gesicht. Er schien sehr gern wegzugehen.
Franz sah sich nach Gaida und Heini Heise um, die während des Stürmens ihm aus den Augen gekommen waren. Er kroch die Strecke seiner Abteilung ab und fand bei einer Gruppe den Gaida. Sie drückten sich die Hand. Jeder sagte: „Gott sei Dank, du lebst!"
Franz Kreusat fragte nach dem Jungen. Der Kanonier antwortete: „Er ist mit einem Schulterschuss zurückgegangen."
Franz Kreusat fragte erschrocken: „Schlimm?"
Der Kanonier beruhigte: „Nein, ich glaube nicht, er lief ja noch. Er lief, blass, aber ganz glücklich, hinweg."
Heini Heise lief glücklich hinweg, weil auch er sein Opfer gebracht hatte; ja, er war stolz auf seine Wunde. Und er würde bald wiederkommen, versprach er sich. Auch er saß jetzt vor dem Bauernhaus und erzählte den anderen von dem ungeheuren Kampf vorn und dass sie bald in der Stadt sein würden.
Therese und die beiden Frauen hatten viel zu verbinden. Überall hockten Verwundete mit Schüssen in den Beinen und Brüsten und blutenden Köpfen. Therese verband sie bleich und erschöpft und gab ihnen Näpfe mit Kohlsuppe, die in der Küche des Bauern gekocht wurde.
Die Granaten schlugen in der Nähe des Hauses ein, aber Therese unterbrach ihre schwere Beschäftigung nicht. Sie ging wie versteint umher und holte die draußen wartenden Verwundeten herein und nickte nur, wenn man sie warnte, sie solle sich in acht nehmen.
Es ging in die zehnte Stunde. Die Schlacht ebbte ab. Die Männer lagen schweigsam und müde auf der Walderde. Der eine schlief, der andere grübelte über seine Familie nach, der dritte über den Wahnsinn, dass sie oben wieder verhandeln wollten.
Ob der General auf einen Waffenstillstand einging? Aber Severing nannte sich doch Sozialist. Auch Noske nannte sich Sozialist. Sozialisten, die nicht zu ihnen hielten. Sie waren für die III. Gardeschützendivision gewesen, sie waren für die Niederschlagung des Spartakusaufstandes, für den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gewesen. Was hatte man von deren Verhandlungen zu erhoffen? Der General würde lächeln oder kurz sagen: „Die Bedingungen bestimme ich." Ja, so wird er reden. Und wenn er das nicht sagt, dann wird er doch nach seinem Willen handeln. Sie müssen weg, weg, die Bluthunde. Diese Generale! Die Krupps! Die Stinnes! Alle!
Der Kaiser riss aus, aber die anderen Wölfe blieben.
Es fiel kein Schuss mehr. Diese Stille bedrückte sie und schreckte sie mehr, als der vorherige Sturm. Jeder schien für sich zu liegen, ganz allein auf diesem toten Feld vor Wesel.
Im Wald kreischten die Vögel, die von dem Kampflärm erschreckt noch immer verwirrt im Astwerk umherflatterten.
Franz sah vor sich die kleinen Märzblumen. Er hörte die Lerchen aufsteigen. Es war Frühling.
Plötzlich dröhnten wieder Salven, und ein neuer Feuerkampf begann. Alle waren wieder da, bleich, stopplig, verdreckt, hohlgesichtig.
Um zehn Uhr kam ein Bote. Er sagte zu Franz Kreusat: „Es ist der Befehl gekommen, dass wir den Kampf abbrechen sollen. Man redet von einem Waffenstillstand."
„Waffenstillstand! Gott sei Dank!" schrien mehrere. „Gott sei Dank!"
Einige erhoben sich und wollten gleich zurückrennen. Franz Kreusat schrie, und auch der Kanonier schrie drohend: „Bleibt hier und rückt nicht gleich aus. Es ist sicherlich ein Betrug!"
Zwei, drei der Leute kamen wieder zurück, mürrisch und fluchend.
„Ihr hört doch: Waffenstillstand. Der Kampf soll aufhören."
„Wir bleiben hier, lasst euch nicht zu Narren machen", grollte der Kanonier. „Wir haben mit dem Waffenstillstand dieser Verhändler nichts zu tun." Auch Franz Kreusat sagte: „Wir bleiben hier. Wartet, bis sich Schotte meldet. Wir denken gar nicht daran, jetzt, wo die Grünen und die Reichswehr drüben noch liegen und noch immer unsere Leute abknallen, wegzugehen."
Die Unruhe war trotzdem geblieben. Die Kumpels sahen, dass sich überall einzelne erhoben und abzogen. Sie zogen ab, obwohl die Grünen wieder schossen.
„Die Hunde knallen uns noch in der letzten Minute ab. Die geben doch nichts auf den Waffenstillstand." Einer ächzte wieder. Eine Kugel der Grünen.
„Das ist der Waffenstillstand!" grollte Gaida. Er war nicht mehr der ruhige Mensch mit dem stillen, klaren Blick, er war eine einzige Wut und nur Hass. Er schoss mehrere Patronengurte gegen den verfluchten Bahndamm ab, gegen die Mörder.
Ein neuer Bote kam: „Es ist der Befehl gekommen, das Schießen zu beenden; es soll nicht mehr weitergekämpft werden."
„Die drüben schießen doch weiter", schrien mehrere.
„Die werden auch bald aufhören müssen. Auf beiden Seiten sollen die Kampfhandlungen eingestellt werden, und alles soll sich zurückziehen."
Die Lücken wurden offenbar größer. Jetzt liefen sie schon in Gruppen weg.
Gaida fühlte sich versucht, sein Maschinengewehr gegen die Zurückgehenden zu richten. „Die Narren, sie wissen nicht, was sie tun. Ich schieß sie alle über den Haufen! So ein Ende! Gottverflucht! Es muss jemand zur Kommandantur und dort sagen, was sie für einen Unsinn angerichtet haben."
Auch Franz hatte den Zurückkehrenden entsetzt nachgestarrt, aber er entschied nach einem schweren Kampf mit sich, zu bleiben.
Einige murrten: „Es ist unser Tod. Sie erschlagen uns hier. Wenn sie sehen, dass wir hier nur noch mit wenigen liegen, dann rücken sie vor und schlagen uns tot."
„Lasst uns lieber abziehen!"
Franz Kreusat erhob, sich aus dem furchtbaren Druck aufraffend, mit einer fremden Härte seine Stimme: „Genossen, ich befehle euch zu bleiben. Wir müssen hier ausharren, und wenn wir hier alle nicht mehr wegkommen. Es kann nicht möglich sein, dass alle mit diesem Waffenstillstand einverstanden sind. Bleibt und haltet auch die anderen zurück."
Er suchte eiligst Schotte auf, den er im Lippeschloss traf. Schotte setzte sich auch da mit den anderen heftig auseinander, die den Kampf abbrechen wollten. „Geht wieder nach vorn, keiner rennt weg, hört nicht auf den Schwindel. Wir glauben nicht eher daran, bis wir's schwarz auf weiß haben, dass die Grünen und die Söldner aus dem Ruhrgebiet raus sind."
Franz atmete erleichtert auf. „Also du meinst, wir sollen bleiben. Auch bei mir ist schon fast die Hälfte aufgebrochen."
Schotte schrie zum ersten Mal außer sich: „Holt sie wieder alle zurück und knallt die Querulanten ab, die uns die Menschen verrückt machen."
Franz lief zurück zu seinen Leuten. „Wir bleiben!"
Mehrere, die sich schon erhoben hatten, legten sich verdrossen wieder hin. „Es ist doch Unsinn, hier noch zu liegen, wenn die anderen alle abziehen. Es ist unser Verderben."
Und wieder gingen einige weg.
Die Abziehenden stießen unterwegs auf neue Abteilungen, die nach vorn gingen.
Ein Abteilungsführer trat ihnen entgegen und schrie empört: „Was ist denn los? Warum macht ihr Schluss?" „Man sagt doch, es ist Waffenstillstand!" „Es ist ein Schwindel, den die Herren da oben ausgeheckt haben", sagte der Genosse wütend. Er befahl: „Ihr geht alle wieder nach vorn, es wird weitergekämpft !" Er trieb die eine Schar zurück. Aber sie stießen auf neue Flüchtende. Diese riefen aufgeregt: „Die Grünen gehen gegen den Wald vor. Es ist nichts mehr zu halten."
„Verflucht", schrie der kleine, breite Mann wütend, „rennt doch nicht alle fort, es wird weitergekämpft. Wer zurückrennt, den schieß' ich eigenhändig nieder." Aber die Flüchtenden stießen ihn beiseite und zogen zurück. Franz Kreusat sah voller Bitterkeit, dass sich trotz seiner Ermahnungen auch von seinen Leuten einige und dann mehrere erhoben und davonliefen. Er sagte zu Gaida: „Es ist unser Ende. Aber wir bleiben." Er fühlte, bald würden nur sie beide hier allein liegen. „Schieß, da kommen die Grünen!" bemerkte er plötzlich.
Die Grünen und die Reichswehr kamen über den Bahndamm, einzeln und in Trupps, mit den Gewehren unter dem Arm, wie zu einer Jagd. Gaida legte sich hinter sein Maschinengewehr und schoss. Franz führte ihm den Patronengurt zu. Er hörte die anderen ängstlich fluchen und schreien: „Lasst uns doch weggehen, wir werden jetzt nichts mehr ausrichten können. Sie sind bald hier und schlagen uns tot."
Gaida, der das Vorrücken der Grünen eine Zeitlang aufgehalten hatte, rief heiser: „Munition!" Sie hatten keine Munition mehr.
Franz sah sich um und rief einigen der Kumpels, die noch dalagen, zu: „Sucht schnell noch Maschinengewehrmunition."
Aber diese hörten es nicht mehr, denn die Grünen waren wieder aufgestanden und gingen von neuem vor, wie die Jäger.
Gaida, der den letzten Patronengurt abgeschossen hatte, starrte entsetzt auf die Grünen. Auch Franz fühlte seine Kehle zugeschnürt. Gaida sagte heiser: „Es hat keinen Sinn mehr, wir müssen weg."
Gaida nahm eine Handgranate, zog die Schnur ab, legte sie auf das Maschinengewehr, das er den Grünen nicht überlassen wollte, und auch sie liefen zurück. Hinter ihnen krachte die Handgranate. Überall gingen sie zurück. Eine völlige Auflösung.
Franz Kreusat und Gaida gingen bitter und schweigsam. Jetzt besann sich Franz wieder auf Therese: Hoffentlich war sie schon zurückgegangen! Er rannte nach dem Bauernhaus, wo ihn der Bauer mit einem verstörten Gesicht empfing. „Was ist jetzt wieder los? Jetzt kommen wieder die anderen, und das Elend fängt von neuem an!"
Franz fragte nach den Frauen. Der Bauer zeigte mit der Hand, dass sie alle zurückgegangen waren. Franz atmete auf. Sie gingen schneller. Sie trafen noch einige Verwundete und sahen da und dort einen Toten. Wesel! Sie taumelten als letzte zurück. Im Wald und auf den Wegen und gegen die Landstraße knallten die Schüsse der Grünen. Aus dem rechten Waldstück ritt Kavallerie hervor.
Franz und Gaida und noch einige andere warfen sich hin und schossen aus ihren Gewehren gegen die Husaren, „Unser Ende?" stöhnte einer neben Franz,
„Noch nicht!" antwortete Franz voller Hass. Er schoss und schoss wieder: „Noch nicht - noch nicht!"
Franz Renteleit, der während der letzten Angriffe unter eine andere Abteilung geraten und bei dieser geblieben war, hatte ebenfalls bis zur letzten Minute geschossen. Auch er war fast einer der letzten, die zurückgingen. Er taumelte erschöpft und voller Ingrimm zurück, blieb von Zeit zu Zeit noch einmal stehen und schoss auf die vorrückenden Grünen, die schon den Wald erreicht hatten. Er holte eine flüchtende Gruppe ein und sagte: „Lasst uns noch bleiben, Kumpels. Vielleicht sitzen noch welche von uns in der Falle, und wir müssen ihnen helfen." Er bewegte die Leute nach vieler Überredung, den Wald noch eine Weile unter Feuer zu halten; aber lange konnten sie nicht mehr bleiben, denn die Schwarmlinie der grünen Uniformen rückte immer weiter vorwärts. Aber diese halbe Stunde war Thereses und der Verwundeten Rettung gewesen; die Frauen konnten noch auf einem Umweg weggeschafft werden. Man musste Therese, die auf Franz warten wollte, mit Gewalt mitziehen. „Gebt mir ein Gewehr, ich gehe zurück und suche ihn!" bat sie. Voller Zorn auf die niedergeschlagenen Männer, dass sie plötzlich so willenlos alles aufgegeben hatten, forderte sie mehrere Male, dass sie sich besinnen und wieder zurückgehen sollten, um die anderen zu retten, die noch im Wald saßen.
„Es hat keinen Zweck mehr, es hat keinen Zweck, Kind", sagten die Männer, noch voller Schrecken. „Mit uns wenigen werden wir nichts mehr aufhalten können. Man hätte die anderen alle festhalten sollen, aber du siehst, dass uns die Betrüger auch dieses schlimme Ende wieder bereitet haben."
„Komm, Mädel!" ermahnte ein älterer Mann. „Vielleicht hält man die Davongelaufenen da weiter rückwärts wieder fest und bringt sie zurück."
Ein schwacher Trost für sie, aber Therese folgte, bereit, gleich wieder mit vorzugehen und Franz zu suchen.
Sie erreichten den Ort, aber auch hier sahen sie nur alles in Auflösung; alles zog zurück, und auch die Kommandantur packte eilig. „Wir müssen zurück. Vielleicht hält man die Flüchtenden weiter hinten auf und führt sie wieder her. Der Kampf kann noch nicht zu Ende sein!" antwortete ihr einer der Männer, der auch vor Ermüdung taumelte. Er schrie die eilig vorbeiziehenden Rückzügler an: „Rast doch nicht so weg! Es sind doch noch Leute von uns im Wald zurückgeblieben. Bleibt doch wenigstens hier und verteilt euch, damit sie uns nicht überrumpeln!"
„Sagt es der verfluchten Verrätergesellschaft, die uns dieses Unglück bereitet hat!" antwortete man ihm verdrossen, und die Flüchtenden zogen weiter.
Der Mann von der Kommandantur sagte zu Therese: „Geh mit, du kannst hier nicht allein bleiben. Du siehst doch, es ist tatsächlich das Ende!"
Therese weinte. Sie trocknete ihre Tränen und sah sich um. Aber die Männer gingen zurück. Sie sah einen schwerfälligen, taumelnden Mann, der mit einigen anderen herankam, und erkannte in ihm Renteleit: „Wo ist Franz?" schrie sie.
Renteleit, der nicht wusste, wo Franz geblieben war, sagte trotzdem mit einer letzten Hoffnung: „Sei ruhig, Franz wird wohl mit den anderen zurückgegangen sein." Er hielt einige Scharen an: „Bleibt hier, wir müssen die vorrückende Reichswehr aufhalten."
„Du bist wahnsinnig", antworteten sie ihm, „was willst du denn jetzt noch aufhalten; sie rücken von allen Seiten heran. Sie haben schon Kavallerie eingesetzt, und die wird bald hier sein."
Renteleit blickte sich verzweifelt um. Er konnte nicht verstehen, dass die Tausende so sinnlos zurückliefen. Er ging mit der Pistole auf eine Schar los, die mit einem Maschinengewehr ankam: „Ihr bleibt hier. Wir werden die Straße absperren." Er sah unter den vier, fünf Leuten ein junges, mit Blut überkrustetes Gesicht.
Beide schrien zu gleicher Zeit: „Christian!" - „Renteleit !" Und sie fielen einander um den Hals. Beide heulten. „So ein Ende!" grollte Christian Wolny.
Renteleit sagte: „Wir bleiben, Christian. Stell das Maschinengewehr hier auf die Straße, und wenn sie kommen, knallen wir hinein." Er wandte sich zu Therese um: „Geh du zurück. Hier kannst du nicht bleiben. Geh, wir sehen uns vielleicht im nächsten Ort wieder."
Er rief einigen der älteren Leute zu: „Nehmt sie mit euch", und zu Therese noch einmal streng und befehlend: „Geh! Du kannst uns hier nicht helfen. Und ich will nicht, dass dir was geschieht."
Sie folgte nur widerstrebend. Franz war noch nicht da. Die älteren Männer zogen sie mit fort: „Komm, Kind, vielleicht triffst du ihn wo. Vielleicht im nächsten Ort!"
Sie glaubte es nicht. Sie ging mit schwerem Herzen zurück. Er wird nicht wiederkommen!
„Mein Martin Kaminski ist verwundet worden", sagte Christian, „Hoffentlich haben sie ihn noch weit genug weggeschafft!"
Die kleine Gruppe schoss aus dem Maschinengewehr gegen das letzte Waldstück, aus dem die Grünen nun hervorkamen. Christian schoss, und Renteleit führte die Gurte ein. Er ließ die anderen noch einige Kästen aus dem Haus holen, und sie hielten die Grünen wieder eine Weile auf. Es hatten sich noch einige von den Flüchtenden wieder besonnen und rechts und links von der Straße hingeworfen und schossen mit.
Einer der Männer rief entsetzt: „Kavallerie! Wir sind umzingelt!"
Christian Wolny und Renteleit warfen das Maschinengewehr herum und schossen gegen die in ihrem Rücken auftauchende und über das Feld galoppierende Kavalleriepatrouille. Sie drehte um und verschwand im Wald. Aber die Grünen gingen jetzt wieder in größeren Schwärmen im Wald vor, und es bestand die Gefahr, dass sie die kleine kämpfende Gruppe abschnitten. Zähneknirschend befahl Renteleit, weiter zurückzugehen. Die Grünen sprangen schon wieder über das Feld. Hier und dort fielen noch Schüsse, anscheinend von einzelnen oder von kleinen Gruppen, die sich im Wald oder irgendwo im Gelände verzweifelt verteidigten. Renteleit hoffte, dass sich die Zurückgehenden hinter Dorsten wieder versammeln würden. Er raffte unterwegs einige zurückgelassene Patronenkästen auf und schleppte sie keuchend mit. Von Zeit zu Zeit befahl er wieder, mit dem Maschinengewehr in eine Grube zu springen, und sie schossen auf die immer wieder auftauchenden Grünen, unter denen auch Gruppen der Reichswehr zu sehen waren. Sie schossen immer wieder und schlugen sich bis nach Dorsten durch.
In der Ortschaft hatten sich einige Hundert der Flüchtenden aufgerafft. Der heisere Matrose aus der Kommandantur hatte sie aufgehalten und verteilte sie rechts und links der Ortschaft und versprach, umherschwankend:
„Wir werden bald Hilfe kriegen. Bleibt und lasst euch nicht schrecken. Wir werden sie alle wieder zurückholen. Legt euch hinter die Mauern und Büsche und lasst sie nicht rankommen."
Christan Wolny und Renteleit legten sich mit ihrem Maschinengewehr vor den Eingang des Ortes, um die Straße unter Feuer zu halten. Auch weiter in den zurückliegenden Ortschaften hatten energische Genossen eingegriffen und die flüchtenden Scharen aufgehalten. Als es schon wieder dunkel wurde, hörten Christian Wolny und Renteleit mehrere dieser neugesammelten Abteilungen heranrücken.
„Vielleicht", hoffte Christian Wolny, „können wir das Vordringen der Reichswehr noch einmal aufhalten. Ich hätte mir am liebsten selber eine Kugel in den Kopf geschossen, als ich sah, dass sie vorn die Front verließen. Es ist doch eine Schande für uns; es darf nicht wieder zu einem neuen Januar kommen."
Die Reichswehr rückte vorläufig nicht weiter vor. Sie schien noch Verstärkungen abzuwarten. So traten wieder einige Stunden einer quälenden Ruhe ein. Man brachte ihnen aus der Ortschaft etwas Brot, und die Männer, die schon den ganzen Tag keinen Proviant bekommen hatten, griffen hastig danach und verschlangen es gierig.
Die Grünen kamen nicht, und Renteleit ging einige der Gruppen ab, um ihnen Mut zuzusprechen. Er hatte wieder Hoffnung, dass sich alles ändern müsse. Die Verwirrung schien sich etwas gelegt zu haben, denn es waren noch einige Gruppen zu Hilfe gekommen und legten sich willig ins Feld. Er ging in den Ort, um noch Munition zu holen, und traf in der neuen und eilig eingerichteten Kommandantur unter den Männern auch Therese an.
Sie wollte nicht zurückgehen, solange sie noch dalagen. Sie hatte überall nach Franz gefragt, aber diejenigen, die ihn kannten, wussten ihr auch nichts anderes zu sagen, als dass sie ihn noch zuletzt mit dem Kanonier im Wald gesehen hätten. Therese hatte wieder einige Leute verbunden, die auf dem Rückzug, wo sie sich noch zur Wehr gesetzt hatten, verwundet worden waren. Sie ging mit bleichem und hartem Gesicht umher. Sie bereitete sich darauf vor, dass Franz nicht wiederkam. Sie wollte aber noch diese ihre Pflicht erfüllen. Renteleit drückte ihr die Hand. „Mädchen, denk an die anderen, die haben auch viel verloren. Und es wird noch eine Zeit kommen, wo wir alles heimzahlen werden, auch diesen elenden Verrat zahlen wir ihnen heim!" Er bangte um sie, er musste sie zurückbringen. Er hatte ihrem Gesicht angesehen, wie es um sie stand. Und sie musste zurück, damit Tauten nicht wieder abglitt, der vielleicht jetzt schon wieder schwankte, der immer schwankende, zerrissene Tauten.
Als Renteleit wieder seine Gruppe aufsuchte, war die Nacht vollends hereingebrochen: eine jener Nächte, die sie schon kannten. Sie hatten es mit einem erbarmungslosen Feind zu tun, und sie durften nicht nachgeben. Nicht nachgeben.
Die Menschen in den kleinen Bauernhäusern schliefen nicht. Sie saßen und wachten voller Schrecken, zitternd und betend. In einem Hause schrie ein Kind, und Renteleit hörte das Holpern einer Wiege und das beruhigende Stammeln der Mutter. Angst und Sorge überall, und es übertrug sich schon auf die Kleinen.
Christian Wolny war mit den Hambornern mitgegangen und hatte die Stürme auf die Brücke mitgemacht. Es war ihnen gelungen, auf einem alten Kahn über die Lippe zu kommen. Er wollte die Brücke aus dem Wald unter Feuer nehmen. Von einigen Kumpels, die er kannte, erfuhr er, dass die Stoppenberger in diesem Wald lagen. Aber als er nach Franz suchte, kamen schon die Grünen, und er musste zurück. Er warf sich mehrere Male mit dem Maschinengewehr hin und schoss rasend gegen die auftauchenden Uniformen, bis auch ihm, wie Gaida, die Munition ausgegangen war. Er hatte aber sein Maschinengewehr, das er so lange behütet hatte, nicht zurücklassen wollen; er war mit den Schindern noch nicht zu Ende, und er schwor sich, es so lange zu behalten und zu behüten, bis er sein Versprechen, das er im stillen Lenin gegeben, erfüllt hatte. Lenin! Er lag unter seiner Gruppe und erzählte wieder von der Revolution in Russland und erzählte von Lenin. Die Nacht hüllte sie schweigend und dunkel ein. Mehrere Hunderte Meter vor ihnen lag der Feind, der jeden Augenblick wieder vorgehen konnte. Sie hörten die Vorbereitungen der Reichswehr, hörten Wagen knarren und das Geklapper der Waffen. Christian Wolny erzählte von der ungeheuren Kraft der Roten Armee und von ihrem unerschütterlichen Mut, und die Männer, die um ihn herumlagen, hörten düster und stumm mit dem Kopf nickend zu.
In Essen hatte am 25. März eine Konferenz der Vollzugsräte für Rheinland-Westfalen stattgefunden. Aus vielen Betrieben und Hunderten von Orten waren die revolutionären Räte herbeigeeilt, um an der Beratung teilzunehmen. Gegenstand dieser Beratung war das Bielefelder Abkommen, das die Preisgabe des Kampfes bedeutete. Da das Ruhrgebiet jedoch vergebens auf das Eingreifen der übrigen Arbeiterschaft im ganzen Lande wartete, wurde der Beschluss gefasst, einen Zentralrat zu wählen und diesen zu beauftragen, in neue Verhandlungen mit der Regierung zu treten.
Man wusste, dass der Waffenstillstand unter den Kämpfenden eine Verwirrung hervorgerufen hatte. Es wehrten sich noch viele verzweifelt, aber die Front war an verschiedenen Abschnitten zurückgedrängt worden. Watter hatte die Vereinbarungen nicht eingehalten und ließ die Reichswehr vorrücken.
Der Zentralrat hatte die Verhandlungen eingeleitet. Aber die Regierung forderte ultimativ: Uneingeschränkte Anerkennung der verfassungsmäßigen Staatsautorität; Wiedereinsetzung der staatlichen Verwaltungs- und Sicherheitsorgane, soweit sie nicht durch ein offenes Eintreten für die Kapp-Lüttwitz-Regierung belastet waren; sofortige Auflösung der Roten Armee; völlige Entwaffnung der Bevölkerung einschließlich der Einwohnerwehren, unter Aufsicht der rechtmäßigen, staatlichen Organe; sofortige Freigabe der Gefangenen.
Falls die Bedingungen erfüllt werden, wird von einem Angriff abgesehen, anderenfalls erhält der Inhaber der vollziehenden Gewalt Freiheit des Handelns zur Wiederherstellung gesetzmäßiger Zustände.
Gezeichnet hatten dieses neue Ultimatum: die Reichsregierung, Reichskanzler Müller; Reichswehrminister Dr. Geßler.
Der Zentralrat protestierte und berief sich auf das Bielefelder Abkommen. Auf diesen Einspruch antwortete der Chef der Reichswehrtruppen im Rhein-Ruhr-Gebiet, General Watter, mit einem noch schärferen Ultimatum.
General Watter, der sich vor dem Aufstand der Ruhrarbeiter fast offen für Kapp-Lüttwitz eingesetzt hatte,war nun Vollzieher der verfassungsmäßigen Staatsgewalt.
General Watter forderte, bis zum 30. März müssen abgegeben werden: 4 schwere, 10 leichte Geschütze; 200 Maschinengewehre; 16 Minenwerfer; 20000 Infanteriegewehre; 400 Schuss Artilleriemunition; 600 Schuss Minenwerfermunition und 100000 Schuss Infanteriemunition. Stehen am 30. März noch Teile der Roten Armee unter Waffen, so gelten die Bedingungen als nicht erfüllt.
In den Städten waren Plakate mit diesen Bedingungen ausgehängt worden.
In den Versammlungen der Streikenden tobten die Debatten. Müdigkeit, Angst, Hass und Wut. Vernunftsredner und über die schweren Bedingungen rasende Menschen. Man hörte Schreie: „Waffen! Die Waffen wiederholen!"
Die Arbeiter, die gegen die Verwirrung kämpften, rissen die Plakate von den Säulen und Mauern. Sie standen auf den Straßen in Gruppen und erzählten von den schweren Kämpfen an der Front. Sie forderten, sich wieder zu bewaffnen und den bedrohten Kumpels zu Hilfe zu eilen.
Am Koppstadtplatz stand ein Matrose auf dem Denkmalsockel und sprach mit heiserer und erschöpfter Stimme: „Wofür haben wir uns erhoben, Kameraden? Wofür haben wir die Gewehre ergriffen? Nicht um dieser Regierung willen, die uns jetzt, nachdem wir ihr durch den Generalstreik wieder in die Regierungssessel verholfen haben, einem Bluthund Watter preisgibt. Wir haben die Gewehre genommen, um uns von allen unseren Bedrückern zu befreien, Genossen! Das Watter-Ultimatum ist der Tod unseres Aufstandes! Wenn wir die Gewehre abgeben, dann fallen Tausende der Besten den Söldnern in die Klauen. Wenn wir zu Kreuze kriechen, dann sind wir auf Jahrzehnte wieder Knechte der Kapitalisten. Im Auftrage der kämpfenden Genossen, die jeden Schritt unserer Ruhrerde mit ihrem Leben bezahlen, fordern wir euch auf: Greift wieder zu den Gewehren, erhebt euch von neuem. Das Ruhrgebiet hat Arbeiterblut getrunken. Das Ruhrgebiet gehört der revolutionären Arbeiterschaft!"
Der Matrose wurde auf die Schultern genommen und von der Menge durch die Straßen getragen. Ein Demonstrationszug strömte zum Rathaus. Vorn erhob einer der Männer die rote Fahne. „Es lebe die Revolution. Nieder mit dem Bluthund Watter! Nieder mit der verräterischen Regierung!" schrien die Demonstranten. Am Rathaus verlangten Hunderte der Männer Gewehre. Sie wollten an die Front.
Eine Stunde darauffuhren neue Transporte ab. Neue Hoffnungen belebten die Zurückbleibenden. Neue Hoffnung trugen sie zu den abgekämpften Genossen.
Auch der Zentralrat erklärte die Forderung des Generals Watter als unannehmbar. Er forderte die Mobilisierung neuer Reserven und rief am 29. März einen neuen Generalstreik aus.
Die Werk- und Bergleute, die schon seit einigen Tagen zum Teil die Arbeit aufgenommen hatten, wurden wieder aus den Gruben und Werken herausgeholt. Die Klöppel in den Schächten und die Sirenen schwiegen wieder.
Jupp Zermack hatte mit Miller der. Vollzugs- und Betriebsrätekonferenz beigewohnt. Er hatte gesehen, dass ein Teil der Unabhängigen während der Debatten und bei den Entschließungen geschwankt hatte. Dieses Schwanken und die immer stärker auftauchenden Widersprüche zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei waren seit Beginn des offenen Kampfes immer stärker hervorgetreten. Nach der Konferenz begannen neue Debatten in den Parteiversammlungen. Der Parteisekretär Teichmann, der den rechten Flügel vertrat, war für die Annahme der Bedingungen des Generals. Aber auch Miller saß schweigsamer und düsterer in den Versammlungen, und wenn er sich zu Wort meldete, dann konnte man auch aus ihm nicht klug werden, wo er hinauswollte. Einmal gab er auf Zermacks Fragen keine Antworten, ein anderes Mal konnte er wieder aufbrausen: „Was wollt ihr? Wir werden den Kampf nicht aufgeben!"
„Dann müssen wir die Leute wieder bewaffnen und rasch hinausschicken, ehe die Reichswehr hier in Essen sitzt", sagte Zermack. Aber Miller zögerte wieder und starrte finster drein.
„Du siehst doch", antwortete er, von neuem in Zweifeln, „die Zustände in der Partei, das Hin und Her ist keine Gewähr, dass wir noch etwas aufhalten können. Ich weiß nicht, ob wir recht handeln, wenn wir die Leute noch einmal hinausschicken. Vielleicht werden dann die Bedingungen noch härter ausfallen."
Zermack schwankte dadurch selber einige Tage, und alles lag brach und drohte, sich aufzulösen. Er entschloss sich, ohne Miller zu handeln. Er zog Fritz Raup und Stamm zu Rate. Auch die beiden waren dafür, dass man die herumliegenden Leute wieder bewaffnen müsste. Fritz Raup schlug eine Belegschaftsversammlung ihres Schachtes vor, um dort für die Wiederaufnahme des Kampfes zu sprechen und die Kumpels zu bewegen, den noch draußen liegenden Genossen Hilfe zu bringen. Stamm, der auf dem Stoppenberger Zollvereinschacht arbeitete, war bereit, auch zu seiner Belegschaft zu sprechen. Sie setzten sofort eine Anzahl Boten in Bewegung, die ihre Belegschaften zusammenholen sollten.
Miller zögerte auch dieses Mal.
Teichmann war bei ihm gewesen und hatte vor einer Spaltung der Partei gewarnt. „Ich weiß nicht, ob man das machen soll", widerstrebte Miller. „Wir können es doch nicht so weit treiben, dass durch diese verschiedenen Meinungen die Partei auseinander gerissen wird; wir würden damit den Herren nur noch entgegenkommen."
Zermack sagte schließlich ungeduldig: „Warum schwankst du denn wieder? Hast du denn die zwei Nächte in Essen vergessen? Du warst doch anderen Sinnes zurückgekommen, und man glaubte, dass du deinen früheren Zwiespalt aufgegeben hast."
Miller schwieg eine Minute düster. Er widerstrebte weiter. „Wenn der Kampf schlecht ausgeht, dann werden wohl noch andere und unter schwierigeren Aussichten wieder hineinwandern. Wir können doch nicht die ganze Partei in den Gefängnissen begraben lassen, und uns wird es wohl wieder zuerst treffen."
„Also, du bist gegen die Versammlungen?" fragte ihn Zermack in Auflehnung.
Miller blickte düster vor sich hin. „Nein, ich bin nicht dagegen, aber wir können nicht vor der Menge als Partei mit einer zwiespältigen Meinung auftreten. Das sind meine Bedenken."
Sie gingen fast verfeindet auseinander.
Zermack bestand auf der Einberufung der Belegschaftsversammlungen und wollte sie, wenn es sein musste, allein durchführen. „Wir können doch jetzt die Genossen draußen nicht im Stich lassen. Ich würde mir das zeitlebens nicht vergeben", beharrte er auf seinem Entschluss, und auch die anderen Genossen waren seiner Meinung, die Belegschaftsversammlungen müssten abgehalten werden.
Zermack ließ alle verstreut untergebrachten Gewehre zusammenholen, um sie in den Versammlungen an die Kumpels wieder auszugeben. Er ließ auch alle Kumpels, die in der ersten Verwirrung ihre Gewehre auf der Wache abgegeben hatten und nach Hause gegangen waren, wieder zurückholen. Nicht alle kamen wieder; die Angst, später für ihre Teilnahme zur Verantwortung gezogen zu werden, hatte sie eingeschüchtert, und sie weigerten sich, noch einmal das Gewehr zu nehmen. Es waren dies meistens die älteren Leute, die der Sozialdemokratischen Partei oder der Christlichen Gewerkschaft angehörten, denen die eigenen Parteileute jetzt zusetzten, sich noch frühzeitig aus allem herauszuziehn. Auch Tauten, zu dem Stamm hingegangen war, hatte sich wieder ganz Schigalskis Willen untergeordnet. Er wollte nicht, nach seiner langen Partei- und Verbandszugehörigkeit, wegen dieses einen voreiligen Schrittes beides verlieren. Es war nichts mehr von dem gestrigen, noch dem Kampf zustimmenden Tauten in ihm übrig geblieben. Er antwortete dem Genossen auf alle Einwände: „Ich bin für die Vernunft. Wir müssen einen vernünftigen und menschlichen Abschluss herbeiführen, und das beste wäre, wenn man die Gewehre abgeben und wieder an die Arbeit zurückkehren würde. Und dir", sagte er zu Stamm, „würde ich auch anraten, ebenso vernünftig zu denken und unseren Leuten ins Gewissen zu reden, dass sie den Hass nicht weiterschüren sollen. Ich glaube, wir sind diesmal zu weit gegangen. Und auch ich hatte mich mitreißen lassen, was mir heute von der Partei vorgehalten wird."
Stamm versuchte, Tauten den verhängnisvollen Rückfall klarzumachen und ihn zu einer Hilfe zu bewegen, aber Tauten antwortete das gleiche: „Ich bleibe dabei, dass wir die Gewehre abgeben und an die Arbeit zurückkehren. Das ist der vernünftigste Ausweg. Überleg es dir auch du!"
Stamm verließ ihn mit derselben Erbitterung, mit der Zermack Miller verlassen hatte. Sie hofften noch immer, dass sich Miller wenigstens auf sich selber besinnen würde, sonst standen sie mit immer weniger da, und die Kumpels würden fragen, was mit Miller und was mit Tauten sei und warum sie nicht mehr mitmachten. Am nächsten Morgen fanden die Belegschaftsversammlungen statt. Den Hoffrone-Saal füllten wohl an die tausend Menschen. Die Kumpels waren alle gekommen, aber vielen merkte man den Zwiespalt und die Besorgnis an, die sie jetzt seit Watters Bedingungen beherrschten.
Miller war gekommen. Auch Teichmann sah man vorn im Saal.
Zermacks Rede, der für die Fortsetzung des Kampfes und die Mobilisierung neuer Hilfeabteilungen gesprochen hatte, folgte erst ein bedrückendes Schweigen. Zermack sah ratsuchend nach Miller hin, der unten im Saal saß und den Kopf gesenkt hielt.
Teichmann meldete sich und ging, ein großer, dicker Mensch, auf die Bühne. „Genossen", sagte er, „wir verstehen, dass es ein schwerer Entschluss ist, sich für das eine oder für das andere zu entscheiden. Auch ich wäre für die Fortsetzung des Kampfes, und das haben wir uns hundertmal überlegt, wenn auch nur eine Aussicht auf einen Sieg bestehen würde. Ich muss aber selbst meinen eigenen Genossen sagen: diese Aussicht besteht kaum noch. Wir wissen, dass die Front vor Wesel nicht mehr existiert, dass unsere Leute, völlig aufgelöst, zurück- strömen und nicht mehr imstande sind, weiterzukämpfen. Alle Mühe, das Unglück aufzuhalten, wäre also völlig umsonst, und ich würde anraten - und dies ist nicht nur meine Meinung allein, auch alle Verantwortlichen der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei sind derselben Meinung -, dass wir uns in das Unabänderliche vorläufig schicken müssen. Wir werden noch alles unternehmen", sagte er, „um durch neue Verhandlungen die harten Bedingungen zu mildern, aber dieses wird uns nur möglich sein, wenn wir den verzweifelten Kampf aufgeben und an die Arbeit zurückgehen."
Auch ihm antwortete nur ein Schweigen.
Endlich schrie einer der jüngeren Bergleute in die Stille: „Warum spricht denn Miller nicht, der war doch bisher immer für den Kampf gewesen. Er soll sich äußern, was wir jetzt tun sollen!"
Die Kumpels husteten und murmelten und riefen: „Er hat recht, Miller soll sich melden. Er wird doch besser wissen, was zu tun ist."
„Wenn er für den Abbruch des Kampfes ist", rief der alte Koschewa, „dann sind wir auch für den Abbruch und für die Rückkehr zur Arbeit. Aber er soll was sagen."
Miller stand auf: „Ich bin für die Beendigung des Kampfes", sagte er. Er überlegte einige Sekunden finster : „Ich bin für die Beendigung des Kampfes, aber nur, wenn man uns garantiert, dass allen, die daran teilgenommen haben, keine Strafe droht."
Teichmann rief von der Bühne: „Genosse Miller, wir glauben nicht, dass man Zehntausende zugleich bestrafen kann. Und es ist schon Strafe genug, das wissen auch die Herren, dass wir gezwungen sind, diesen schwer begonnenen und anfangs so erfolgreichen Kampf aufgeben zu müssen. Ich bin trotzdem dafür, dass wir hier nicht neue Aufregung schaffen, die keinen Wert hat und die uns noch mehr Schaden einbringen kann."
Einige der Versammelten riefen: „Es stimmt!"
Andere schrien wütend: „Du scheinst auch schon unter die Pfaffen gegangen zu sein!" - „Du hast wohl schon dein Schaflein im trockenen!" - „Der ist wohl auch schon bestochen worden!"
Teichmann wollte weitersprechen, aber die letzten Zurufe hatten den größeren Teil der Belegschaft geweckt, und jetzt schrien viele: „Er soll aufhören! Wenn er uns nichts anderes zu sagen hat, als dass wir wieder demütig in die Löcher kriechen sollen, dann soll er sich zum Teufel scheren!"
Einer schrie: „Wir wollen hören, was Zermack und Raup dazu sagen."
Raup ging auf die Bühne, während Teichmann mit rotem Gesicht herunterstieg.
„Kumpels", sagte Fritz Raup, „ihr kennt mich und ihr wisst, dass ich meine Meinung nicht ändern werde. Wir haben Hunderte Genossen geopfert, und es wäre jetzt ein Verrat, wenn wir die anderen durch unseren Zwiespalt allein lassen würden. Ich bin dafür, dass wir die Gewehre halten und dass wir den Kumpels vorn schnell zu Hilfe kommen."
Der furchtbare Druck, der auf den meisten der Männer gelastet hatte, war gewichen. Die Jungen schrien nach Gewehren, und auch einige der Alten bewegten sich wieder und sagten: „Nein, man darf es nicht aufgeben. Wenn unsere Leute noch vorn liegen und Hilfe brauchen, müssen wir ihnen Hilfe bringen."
Zermack rief in den Saal: „Genossen, wer bereit ist, den draußen Liegenden zu helfen, der komme mit und hole sich ein Gewehr."
Die Männer drängten lärmend aus dem Saal, und sie stritten noch im Hinausgehen: der eine unbefriedigt, dass man Teichmann nicht zu Ende hatte reden lassen, die anderen, dass Miller sie im Stich gelassen habe, dem jetzt viele zornige Blicke zugewandt wurden. Der alte Koschewa redete unter einer Schar: „Mein Junge ist auch noch draußen: ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Ich bin alt, aber auch ich hole mir noch ein Gewehr und ziehe mit."
Auch Miller ging mit sich im Widerstreit hinter Zermack und Raup nach der Wache. Er nahm ein Gewehr. Zermack blickte ihn an. Miller sagte: „Man soll mir nicht nachreden, dass ich daheim liege, wenn ihr hinausgeht." Auch Zermack war entschlossen, diesmal nicht zurückzubleiben; auch er wollte mitgehen. Fritz Raup sagte dankbar: „Dann gehen wir alle" - und auch er nahm ein Gewehr. Noch einige fünfzig Kumpels, ältere und junge, ließen sich Gewehr und Munition geben und gingen nach Hause, um sich von ihren Familien zu verabschieden.
An diesem Nachmittag sah Stoppenberg fast wieder so aus wie an dem ersten Tage vor dem Sturm auf die Stadt; denn auch die Kumpels von den Zollvereinschächten bewaffneten sich wieder und stellten Abteilungen zusammen. In den Straßenbahnen fuhren bewaffnete Scharen nach Essen, und es rollten wieder vollbepackte Wagen mit Arbeitern aus Gelsenkirchen und Rotthausen und Katernberg an die Front. Man wusste nicht, wo diese Front war; einer erzählte, sie sei noch hinter Dorsten, andere berichteten, sie kämpften hinter Hamborn, andere wieder, die Kämpfenden seien schon bis Bottrop zurückgedrängt worden. Und noch andere erzählten sogar, es gäbe überhaupt keine Front mehr, die Reichswehr rücke, ohne auf Widerstand zu stoßen, eilig vor.
Zermack, Miller und Raup fuhren mit den Stoppenberger Abteilungen. Die Kumpels waren wieder voller Hoffnung, dass der Kampf noch nicht zu Ende sei und dass sie Watter doch noch zwingen würden, das Ruhrgebiet zu verlassen. Auch in der Stadt schien die Verwirrung wieder aufgehört zu haben, denn auch hier liefen viele Arbeiter mit Gewehren umher und warteten auf ihren Abtransport.
„Sie kommen wieder alle zur Besinnung", sagte Fritz Raup erleichtert.
Aber als sie weiter nach Hamborn fuhren, kamen ihnen Gruppen völlig erschöpfter Leute entgegen. Einige lachten böse und riefen: „Wo wollt ihr denn hin, wollt ihr euch da vorn gleich gefangen nehmen lassen? Ihr seid doch nicht wahnsinnig. Kehrt gleich um. Die Reichswehr rückt vor."
Fritz Raup fragte einige der Zurückkehrenden: „Wo ist die Front?"
„Front? Es gibt keine Front mehr. Die müsst ihr euch suchen", antwortete ihm ein älterer missmutiger Mann. „Aber wenn ihr wollt, könnt ihr euch ja in Mülheim melden, dort ist noch so etwas wie Front und Kommandantur."
Auch Zermack hatte auf seine Fragen ähnliche Antworten bekommen. „Trotzdem", sagte er zu den Kumpels, „lasst euch nicht schrecken. Wir fahren hin."
Sie fuhren nach Mülheim. Die Stadt war voll bewaffneter Leute, die von vorn zurückgekommen waren. Einige Männer, anscheinend vom Vollzugsrat der Stadt, versuchten, die verzagten Leute wieder zu Abteilungen zu ordnen. Sie stießen auf Widerstände und zornige Schreie: „Geht doch selber hin und sitzt hier nicht immer in eurer Kaserne. Wir haben unseren Teil getan, lasst jetzt die anderen hinziehen und ihr Leben aufs Spiel setzen!"
Die Vollzugsräte ließen einige der Schreier entwaffnen und gaben die Gewehre an andere, die williger dastanden und auf ihre Bewaffnung warteten.
Zermack und Raup traten an einen der Genossen heran und fragten, wo die Front sei.
Der Kumpel, ein graubärtiger Mann und allem Eindruck nach ein Metallarbeiter, zuckte die Schultern. Er zeigte nach Dinslaken hin: „Da irgendwo müssen sie liegen. Wir wissen es auch nicht. Jede halbe Stunde kommt eine andere Meldung: einmal, dass sie's noch halten, ein anderes Mal, dass sie es wieder aufgegeben haben und zurückgehen."
Hier in der Nähe der Front schien alles noch durcheinander zu sein. Zermack und Raup mussten mit ihren Leuten einige Stunden warten, bis sie Bescheid bekamen, dass sie nach Hamborn fahren sollten, da man dort dringend Hilfe brauchte.
Sie fuhren wieder in der Richtung nach Hamborn, und die Dunkelheit brach schon herein, als sie die Stadt erreichten. Auch hier trafen sie dasselbe an wie in Mülheim: Verwirrung und Auflösung.
„Wir lassen uns nicht mehr aufhalten!" sagte Zermack ergrimmt, den die Aufregung auch schon zu zermürben begann. Sie hatten erfahren, dass einige Kilometer hinter der Stadt die letzten Abteilungen der Arbeiter gegen die Reichswehr kämpften, und er beschloss, die Wagen zurückzulassen und dort zu Hilfe zu eilen.
Als sie eine Strecke aus der Stadt heraus waren, hörten sie schon in der Ferne das Geknatter der Schüsse. Zermack schickte Bruno Freising und noch einige Leute vorauf, die erkunden sollten, wo die Kämpfenden lagen, damit sie nicht blind in eine Falle rannten.
Schweigsam zogen sie auf der dunklen Landstraße dahin. Bald lagen sie selber vorn; und dieses „vorn" sahen sie an den an ihnen immer wieder vorbeiziehenden, humpelnden und stöhnenden Verwundeten, die sich nach der Stadt zurückschleppten. Zermack fragte einen dieser Männer, der einen blutigen Verband um den Kopf trug und sich auf sein Gewehr stützte: „Wie weit liegen Unsere?"
Der Verwundete sagte: Sie ziehen sich zurück. Die Reichswehr ist zu stark, sie kommt mit Minenwerfern. Vielleicht stoßt ihr gleich auf die Zurückgehenden."
Bruno Freising kam eilig. Er berichtete aufgeregt: „Sie gehen zurück. Wir müssen hier liegen bleiben, damit wir die Flüchtenden aufhalten!"
Zermack befahl den wartenden Leuten: „Legt euch hin und haltet euch bereit, wenn die Reichswehr auftauchen sollte!" Ein Verwundeter rief: „Die kann gleich hier sein, sie hat Kavalleriepatrouillen rausgeschickt !"
Zermack und Raup ließen ihre Leute die Straße besetzen und in die Felder ausschwärmen. Einige Minuten später hörten sie das Traben der zurückweichenden Scharen. Zermack hielt die ersten auf. „Bleibt hier!" rief er. „Es kommt gleich noch mehr Hilfe. Ihr könnt nicht zurückrennen, wenn die anderen vielleicht noch liegen geblieben sind. Geht ins Feld und legt euch da hin und schießt, wenn sich die Reichswehr zeigt." Er hielt noch mehrere andere Gruppen auf und trieb sie ins Feld. Die meisten folgten willig und gruben sich ein. Miller, der sich die ganze Zeit mit seinen Gedanken herumgeschlagen hatte, ging mit in das Feld und legte sich zu den anderen.
Zermack fragte einen jüngeren Gruppenführer, der fast allein gekommen war, ob noch welche vorn lägen. Der Mann antwortete ihm, von Heiserkeit erstickt: „Ich weiß nicht, vielleicht sind noch welche liegen geblieben, vielleicht sind sie schon gefangen. Es ist ein Verbrechen", klagte er, sich auf einen Stein hinhockend, „dass man uns keine Hilfe mehr schickt. Man soll die Verräter, die den Waffenstillstandsvertrag abgeschlossen haben, nacheinander totschlagen!"
Der Mann heulte. Zermack sagte: „Wir sind hergekommen, um euch zu helfen. Raff dich wieder auf und such deine Leute zusammen, und legt euch zu den anderen!"
Es kamen noch einige vereinzelte Männer erschöpft und humpelnd an, dann folgte eine Weile bedrückende Stille. Zermack und Raup warteten hinter einem Maschinengewehr auf der dunklen Straße. Die Nacht ließ nicht erkennen, ob noch ihre Leute oder schon der Feind herankäme. Aber plötzlich schrie einer im Feld: „Kavallerie kommt! Die Reichswehr!"Und die Gewehre begannen zu krachen. Auch von drüben, einige hundert Meter entfernt, blitzten die Schüsse. |
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