Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Hans Marchwitza - Sturm auf Essen (1930)
http://nemesis.marxists.org

Viertes Kapitel

Es war wieder Winter.
Äußerlich hatte sich an der Ruhrwelt nichts geändert. Die Feuer brannten, die Schächte dröhnten in Förderung und die Rauchkarawanen schleppten sich unter dem grauen Himmel.
Die Kumpels zogen morgens und mittags in dem gewohnten Trott zu ihrer Schicht. Am Sonntag hockten sie trotz der Kälte auf den Häusertreppen und führten ihre Debatten. Diese drehten sich immer noch um die fehlende Nahrung und Kleidung. Die Steiger wurden verflucht, bei dem Wort „Regierung" spuckte man aus: „Die? Die soll sich begraben lassen!" Dann zankten die Altverbändler mit den Unionisten und die Sozialdemokraten mit den Unabhängigen. Dann verfluchten alle wieder das reiche Gesindel, dem die Not der Schlepper keine Sorgen verursachte. Und dann stand der eine, von dem Widerstreit ermüdet, auf: „Eck goh op den Strohsack, utschlopen für morgen!" Und der andere und der dritte dröselten auf der Treppe ein. Äußerlich schien es, als hätten diese schläfrigen, wracken Menschen nie einen November, nie tobende Kämpfe erlebt, als hätten diese müde verstummten Münder niemals den mächtigen Donnerschrei: „Revolution! Freiheit!" mit Hunderttausenden geschrien.
„Gehn wir schlafen!" sagte der breite, spitzbärtige Stamm und schwankte wie ein leckes Schiff in das Dunkel seiner Sorgenkammer. -
Aber es sah nur so aus. Unten in der Grube schwelte die Glut weiter! In den Schlägen der Hauen und Hämmer tobte der alte Hass gegen die Antreibergesellschaft. In dem Knirschen, in den Flüchen und Schreien, die den Rutschenlärm übertönten: „Verfluchte Antreiber, die Hölle soll sie alle fressen. Man sollte die Hackenstiele nehmen und das ganze Herrenpack zum Lande hinausjagen!"
Es ging zum Ende Februar.
Franz Kreusat, der jetzt öfters mit Zermack in die Stadt zu einer Versammlung der Union oder mit Raup in eine Parteiversammlung ging, fand inmitten der Hunderte von Genossen seine Festigkeit wieder. Nein, es war noch nichts zu Ende, nichts tot. In diesen Versammlungen erfuhr er von dem gewaltigen Aderwerk der Partei, durch welches das pulsierende Feuerblut des revolutionären Widerstandes weiterströmte. In dreihundert Schächten und den kochenden Eisenwerken organisierten die Partei und die Union die neuen Kämpfe, denn diese Kämpfe würden kommen: Die aus dem Baltikum zurückgekehrten Söldnerbrigaden wurden nicht entwaffnet, sie waren um Berlin herum gelagert worden, und die Regierung unternahm nichts, um diese abenteuernden Truppen aufzulösen und nach Hause zu schicken. Eine andere Ursache zu den häufigen Versammlungen der Partei und der Union waren die „Grünen", die schon den Patrouillendienst in den Städten übernommen hatten. Es waren ausgesuchte Leute, meistens Offiziere und Unteroffiziere der alten Armee, in schmissigen, grünen Uniformen und Jägertschakos und mit Karabinern bewaffnet. Welch eine Veränderung in einem Jahr! Die Soldaten und Arbeiter mit den roten Armbinden und Tuchkokarden waren von den Straßen verschwunden. Und diese neue Polizeigarde hielt jetzt die Ordnung aufrecht. Welche Ordnung? Die Ruhe und die Ordnung, auf die auch der verblendete Tauten stolz war.
Franz Kreusat litt unter dem Anblick dieser stumpfen, herausfordernden Gesichter. Er hörte Kramm neben sich knirschen. „So weit sind wir gekommen!" Manchmal blieb der breitschultrige Kuli, der noch immer seine Matrosenbluse und -mütze trug, stehen und starrte die eisigen Polizeigesichter an. Franz zog ihn nur mit Mühe weiter: „Komm, mach keinen Unsinn!"
Zermack sagte: „Genossen, wir müssen die Masse organisieren. Wenn wir nur allein die Faust ballen, werden wir diese Gendarmen nie wieder los. Redet unten darüber. Sagt den Kumpels, dass sich das neue Unglück wieder zusammenbraut. Wir werden bald etwas Neues erleben!"
Dieses „Neue" kroch gespenstisch und fühlbar heran. Berlin oder hier? Oder wo? Niemand konnte voraussagen, was sich in den nächsten Tagen ereignen würde. Aber dieses Neue, dieses Gespenstische rückte näher. Waren diese Jäger mit den Karabinern schon ein Anzeichen, schon ein Teil davon? Sie waren es, trotz ihrem Eid auf die Verfassung. Auch die Reichswehr war auf die Verfassung vereidigt, aber General Lüttwitz war der Mörder der Berliner roten Matrosen. Auch General Lüttwitz schwor auf die Verfassung.
Franz war es jetzt oft eine Pein, Therese aufzusuchen. Die schon immer gespannte Stimmung zwischen ihm und Tauten war eine nahezu feindliche geworden. Sie sprachen fast nicht mehr miteinander. Und wenn sie ein paar Worte wechselten, dann war es kaum verhaltener Hass. „Geh in die Stadt, da stehn sie schon, eure neuen Ordnungshüter!" sagte eines Abends Franz.
„Lass sie stehen!" antwortete Tauten. „Dir schaden sie doch nichts!"
„Nein, aber gelegentlich kriegst du zum Dank für deine Zustimmung auch noch eine Kugel aus diesen Karabinern ab!"
„Ich stell' mich nicht vor die Karabiner hin!" brummte Tauten. „Wenn ihr die Leute aber reizt, dann werden sie sich das natürlich nicht gefallen lassen!"
„Wofür sind sie überhaupt da! Wer hat sie denn hergeholt", fragte Franz. „Wir brauchen ihre Bewachung nicht, wir können uns selbst bewachen!"
„Das habt ihr nach dem November bewiesen", sagte Tauten, „Mord und Totschlag hat es gegeben!"
Franz lachte bitter. „Mord und Totschlag. Und wir sind nach deiner Meinung daran schuld."
„Zum Teil, ja", sagte Tauten. „Hättet ihr mehr Vernunft gezeigt, dann wäre alles dies nicht gekommen."
„Lasst doch den ewigen Zank!" mischte sich Therese ein. „Mein Gott, geht es denn nie ohne Streit ab! Ich denke, du kommst, um unsere Sachen zu besprechen, und da fängst du gleich wieder an zu streiten."
Frau Tauten sagte, mit einem scheuen Blick auf ihren Mann, zu Franz: „Ich sag' auch, du solltest lieber an euch beide denken. Ich möchte es nicht haben, dass diese unangenehme Zwietracht auch in eure Ehe hineingetragen wird!"
Franz Kreusat saß empört und grübelnd da. Alle waren gegen ihn. Auch Therese. Er hoffte, vielleicht änderte sich Therese, wenn er heiraten und sie zu seinen Eltern nehmen würde. Vielleicht, aber sie war noch zu sehr Tautens Tochter.
Als Tauten schlafengegangen war, entschloss er sich, mit Therese, die noch verstimmt schwieg, darüber zu sprechen. Ihr Zorn verlor sich, und es wurde wieder ein guter, ein friedlicher Abend. Ja, sie war mit einer baldigen Heirat einverstanden.
„Ist es dir wirklich Ernst?" fragte er sie noch einmal. „Natürlich Ernst", sagte sie, fast unter Tränen. „Wir müssen doch."
„Wir müssen...?" Er sah sie an.
„Ja!" sagte sie. „Ich konnte es dir nur nicht sagen. Ihr streitet euch ja immer, und ich komme gar nicht dazu, mit dir darüber zu reden."
Als er nach Hause zurückkehrte, ging er eine längere Zeit in der Küche unruhig hin und her. Die Mütter, die auf ihn gewartet hatte - sie konnte nie früher einschlafen, bis sie ihn sicher im Haus wusste -, forschte ängstlich in seinem Gesicht. Schließlich sagte sie: Du kommst nie mehr zur Ruhe. Ist denn wieder etwas passiert?"
„Ich muss heiraten!" sagte er zögernd und wandte den Blick von ihr ab.
Sie sagte: „Ich rate dir doch schon längst dazu! Tu es doch. Die Kammer kannst du nehmen."
Er nickte nur. Er wagte nicht, ihr alles zu sagen. Als er im Bett lag, überlegte er diese neue, unerwartete Schwierigkeit. Sicher freute er sich; aber wenn andere Geschehnisse dazwischenkamen? Man konnte sich in dieser Zeit nicht zur Ruhe setzen und nur um sich besorgt sein. Er war nicht mehr das spielende „Fränzchen", er war der Genosse Franz Kreusat, von dem mehr verlangt wurde. Vielleicht klopften in den nächsten Stunden schon Kahlstein oder Fritz Raup an die Tür: „Zieh dich rasch an und komm, es ist eilig!" Und er würde nicht liegen bleiben, auch wenn Therese neben ihm läge, er würde ohne Zögern aufstehen und sich anziehen und mit den Genossen gehen. Und was würde Therese sagen? Bleibe! Geh nicht! Der Alte würde es ihr gewiss einprägen: Lass ihn nicht mehr herumrennen, halt ihn zu Hause! Und er quälte sich immerfort mit diesen Gedanken: Soll ich heiraten, oder soll ich es noch eine Zeitlang hinausschieben, bis sich die Zeit etwas geändert hat, oder was soll ich tun?
Aber die neuen Ereignisse warteten schon vor der Tür.
Franz verkehrte nur wenig mit den Leuten in seinem Haus. Das Haus glich einem Pferch, es war mit Familien bis unters Dach vollgestopft, aber die meisten der Männer und Frauen waren teilnahmslos und gehetzt, und es war nicht leicht, mit ihnen über die politischen Ereignisse zu sprechen. Nur die Naumannsche, die eine Treppe tiefer wohnte und das „Ruhrecho" austrug, erschien gelegentlich in der Tür und schimpfte mit ihrer lauten Stimme: „Das Volk verfault lieber in seinem Dreckhaufen von Not und Elend, als dass es etwas dagegen unternimmt. Man kann sich wegen einer Zeitungsbestellung das Maul wundreden. Kein Geld, kein Geld! Aber den ,Kleinen Anzeiger' und die ,Allgemeine', die feindlichen Blätter, findet man auch da, wo man nach Brot schreit, auf jedem Tisch. - Und mein fauler Kerl ist auch nicht besser", schalt die zornige Frau. „Auch er möchte sich am liebsten immer hinter den Ofen verkriechen und mir alles allein überlassen. Wenn ich nur nicht das halbe Dutzend elender Krabben hätte, ich würde tatsächlich keine Stunde in der stickigen Bude verbringen..."
Hoch unter dem Dach wohnten die Kaminskis. Franz hatte sich schon einige Male mit dem Martin, der die Zeitung bestellt hatte, unterhalten. Einundzwanzig Jahre war Martin; er war ein stiller, in sich verschlossener Junge, der meistens für sich allein saß und in der Zeitung oder in einem Buch las. Martin saß barfuss und mit offenem Hemd in der einen Kammer, wo sie allem Anschein nach mit einem halben Dutzend schliefen, als Franz ihn wieder einmal aufsuchte.
„Na, was bringst du?" fragte er mit einem knappen Blick in Franz' Gesicht.
„Eigentlich nichts. Ich wollte nur gucken, was du machst."
„Was mach' ich?" lächelte der Junge, „in der Bude sitzen. Man hat ja keine ganzen Schuhe mehr, um rauszugehen. Und man ist nach der Schicht wie gerädert. Ich lese hier ein Buch, es ist aber lauter Unsinn. Indianer. Wir sind ja selber solche armseligen Indianer, die jeder Hund jagen kann!"
Er sprach vernünftig, und Franz musste zu seiner Beschämung eingestehen, dass Martin manches mehr wusste.
Martin sah nach der Stadt: „Dieses Kanonenwerk, weißt du, dürfte der Kerl von Krupp eigentlich nicht mehr haben", sagte er, „das haben sie ihm wieder zugeschustert. Die Banditen erschleichen sich alles wieder. Wir hätten es damals besetzen und nicht mehr aus den Händen geben sollen. Was haben unsere Dummköpfe vom Soldatenrat gemacht? Die Gewehre haben sie abgegeben. Das Werk hätten wir besetzen sollen. Und die Gruben auch. Es wird immer geredet und geredet. Ich sag' mir so in meinem dummen Verstand: Wir haben uns selber wieder hereingeritten. Wenn ich sprechen könnte, ich würde das mal in einer Versammlung sagen..."
Franz sagte: „Du solltest dich für die Partei entschließen."
„Partei. Daran hab' ich noch nicht gedacht, in eine Partei zu gehn!" antwortete Martin nachdenklich. „Es ist auch noch keiner hergekommen. In unsere Feckeln (Anm.: Dachkammer) verläuft sich nur alles, was Geld haben will, aber niemand, mit dem man sich aussprechen kann."
„Natürlich", sagte er, „du hast recht, man döst einsam umher. Mensch, man ist einundzwanzig Jahre, vier davon hat man in der Grube hinter den Förderwagen verbracht, zwei draußen im Schlamm. Und wie es mit den früheren Jahren ausgesehen hat, das weißt du selber. Da soll der Mensch an Freude denken. Ja, du hast recht, man müsste etwas anderes tun und nicht immer hier hocken."
„Ich bringe morgen einen Schein und nehm' dich in die Partei auf", meinte Franz Kreusat. „Ich bin auch lange wie ein verlorenes Schaf rumgependelt, bis mich dann der eine Kuli beim Kragen packte!"
Franz Kreusat erzählte Martin seine Geschichte mit dem Kuli, der ihm am 9. November das Büchlein für die Mehrheitspartei ausgeschrieben hatte, und dass er es lange in der Kommode liegen ließ, bis er es dann im Januar wieder hervorkramte, als er Kramm heulen sah, weil die Noske-Offiziere seine Heiligen, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, ermordet hatten.
In der Küche klapperte Frau Kaminski mit dem Geschirr. Ein kleines, verschmutztes und schreiendes Kind kroch über die Schwelle in die Kammer. Martin nahm es auf sein Knie und wischte ihm die Tränen weg und putzte ihm die Nase. Es war sein jüngster Bruder.
„Ich komme mal mit dem Schein", sagte Franz.
„Meinetwegen!" sagte Martin.
Sie saßen seither oft zusammen und gingen auch ab und zu mit Hermann Kahlstein nach dem Salkenberg zu Christian, der ihnen - auch er fasste gleich zu dem ernsten Martin Vertrauen - von seinem immer sauber gehaltenen Schatz" erzählte. Auch Edy Koschewa und Bruno Freising kamen gelegentlich mit, und bisweilen wurde die Kammer wieder zu einer lebhaften Versammlungsstätte; das waren für Franz immer schöne Stunden. „Stunden der Erbauung!" nannte Christian sie scherzend.
Kramm führte die kleine Gruppe der Kommunisten im Ort, der auch Christian und Kahlstein als Mitglieder angehörten und der Miller irgendwie abgeneigt war. Miller schien, trotz seinem strengen, ja oftmals herrschsüchtigen Charakter, niemals ganz ausgeglichen. In manchen Versammlungen neigte Miller mit seinen Einwänden und Ratschlägen mehr nach Tauten und Heise hin, als zu seinen Genossen Zermack und Raup; aber dies schien ein Widerspruch in der gesamten Unabhängigen Partei zu sein, den Franz aus den heftigen Diskussionen während der Parteiversammlungen in der Stadt herausfühlen konnte.
Auf alle Fälle waren ihm Kramm und Christian näher als Miller, der sich auch zur Stunde wieder in einer Krise befand und sich in den Belegschaftsversammlungen nur wenig oder gar nicht meldete. Zermack und Raup dagegen blieben immer die gleichen beharrlichen und die Übelstände in der Grube angreifenden Redner, und den beiden war zu verdanken, dass die Kumpels wieder lebendiger wurden und unten andere Reden führten. Sie stiegen langsam wieder aus der Niederlagenstimmung heraus, die ihn selber lange Zeit gelähmt hatte.
Es war ein Märzmorgen. Martin Kaminski, der Franz in den letzten Monaten ein neuer, unerwarteter Freund geworden war, hatte ihn früher als sonst aus dem Schlaf geklopft.
„Zieh dich schnell an", rief er hinter der Tür. Als ihn Franz hereinließ, erzählte Martin: „In Berlin sind die Baltikumer eingerückt! Es kann sein, dass sie auch hier einrücken. Komm, eil dich, wir müssen schnell nach der Zeche!"
Franz zog sich in aller Eile an, während die Mutter ihm entsetzt zusah. „Mein Gott, was ist denn jetzt wieder?" stammelte sie, „man kommt ja nicht mehr aus den Schrecken heraus!"
Martin erzählte, dass die Regierung ausgerückt sei und dass ein Landschaftsdirektor Kapp und ein General Lüttwitz in Berlin säßen. Franz schämte sich, dass Martin ihm jetzt mit vielen Dingen immer mehr voraus war. Er beruhigte die Mutter: „Sorg dich nicht, es wird halb so schlimm sein!" und lief hinaus.
„Vergiss doch nicht den Kaffee und dein Brot!" rief die alte Frau ihm jammernd auf der Treppe nach. Er nahm das Brot und die Pulle um die Schulter und rannte.
Martin sagte unterwegs: „Wir haben so lange gezögert und geträumt, bis wir sie endlich in Berlin sitzen haben. Das gibt jetzt ein Blutvergießen."
Franz hatte über diese neue Gefahr schon öfters reden gehört, und die Genossen waren darauf vorbereitet, aber es kroch ihn wieder das würgende Angstgefühl an, das er schon überwunden zu haben glaubte. Er kämpfte mit Gewalt die Angst hinunter und gab sich Mühe, ruhig und mutiger zu erscheinen. Martin war merkwürdigerweise ruhig, ja, er schien heute sogar der Überlegenere zu sein. „Wenn wir jetzt nicht gleich wieder durcheinander geraten", sagte er nachdenklich, „dann ist noch nichts verloren."
„Nein!"
Sie stießen auf andere Kumpels, die auch schon von der Geschichte in Berlin erfahren hatten. Man redete voller Wut und verfluchte den Zwiespalt und die Dummheit. „Das gibt wieder Blutvergießen", orakelten die Ängstlichen.
„Wenn so ein Herr General oben sitzt, dann hat für uns die Glocke ausgeschlagen. Da ist kaum noch was zu machen!"
„Halt doch deinen verfluchten Rachen", schrie den Schwarzseher ein anderer an. „Natürlich muss man was dagegen tun."
„Die Schachträder dürfen sich nicht mehr drehn", hörte man Hermann Kahlstein reden. „Ich sagte ja immer", fuhr der Kuli aufgeregt fort, „die Regierung wackelte schon die ganze Zeit, aber keiner wollte es wissen. Nun haben wir die neue Gesellschaft und gleich mit einem Haufen Büttel und Kanonen. Kein Gott hilft uns jetzt, wenn wir uns nicht selbst helfen. Ich sag': die Räder dürfen sich nicht eine Minute mehr bewegen, oder der Teufel hol' uns."
„Natürlich. Wir müssen den Pütt absaufen lassen!"
„Knarren brauchen wir", schrie ein anderer. „Warum haben wir damals die Knarren überhaupt abgegeben. Jetzt braucht man sie vielleicht und man hat sie nicht mehr!"
„Knarren, wir haben sie!" erinnerte sich Franz. Wie gut war es, dass sie die Gewehre aufgehoben hatten. Er sah jetzt ein, wie klug Kramin und die anderen Genossen damals gehandelt hatten. Ja, sie standen jetzt nicht so ganz schutzlos da.
Die Schachthämmer schlugen, und ein Schrecken durchfuhr ihn. Auch die anderen wurden einen Moment still und horchten. „Sie fahren an!"
„Ja, die fahren an, verflucht!" Miller kam von der Kolonie. Mehrere riefen ihn an.
„Miller, was tun wir?"
„Verliert nicht gleich den Kopf", sagte er heiser und zornig. „Da sind sie schon wieder kopflos!" Er sah finster und unnahbar darein, und keiner wagte weiter zu fragen. Miller lief anscheinend nach der Stadt. Er war Vorsitzender der Parteigruppe der Unabhängigen. Franz fand sich in Miller nie zurecht, man konnte niemals erraten, was Miller dachte, was er in solchen Stunden vorhatte. „Verliert nicht gleich den Kopf!" Das war alles, was er ihnen zu sagen hatte. Die Herren wollten fördern. Die Schachthämmer schlugen wieder.
„Herrgott, die verfluchten Hunde fahren an!"
„Ruhig", rief Kahlstein, „wenn sie angefahren sind, die Dummköppe, dann werden sie wieder rausmüssen!"
„Das glaubst du?"
„Das werde ich selber tun, oder sie können drinnen absaufen!" drohte Kahlstein, zu allem entschlossen.
Vor dem Zechentor reckte eine Menge die Hälse. Die Männer lasen einen Aushang. Von weitem sah Franz Christian darunter.
„Christian!"
„Komm", rief Christian, „wir haben heut Arbeit! Da hängt schon unser Todesurteil!" zeigte er wütend auf das Dekret.
„Wo sind die Betriebsräte?" fragte Kahlstein.
„Sie beraten anscheinend erst wieder!"
„Was beraten sie denn wieder? Immer beraten sie, wenn uns das Messer an der Kehle sitzt!" schrien welche aus der Menge. „Sitzung... Sitzungen..." , „Auch Miller lässt sich heute wieder beschwatzen!" „Miller ist nach der Stadt gerannt!" sagte Franz.
Die Scharen zogen streitend und über die „Sitzenden" lästernd nach der Waschkaue. „Sind wohl auch schon gekauft, der Zermack und der Miller." -
In der Kaue traf Franz den Renteleit. „Wo sind Raup und Zermack?" fragte ihn Franz. Noch andere fragten nach Zermack und Raup.
Renteleit antwortete: „Die werden sich heut wohl nicht drücken! Sie sind mit Tauten zu einer Besprechung." Kramm trat zu Franz. Der Kuli lachte aufgeregt. „Hast du dir das durchgelesen, was da draußen ausgehängt ist?" fragte er. „Todesstrafe kündigen sie uns an, wenn wir uns hier rühren."
Er ging nach einigem Brüten wieder hinaus und riss mit einem Fluch das Dekret ab. „Und wenn sie mich auf der Stelle erschießen, aber dieser Dreck soll hier nicht wieder hängen."
Auch Jupp Zermack war von Fritz Raup früher geweckt worden. Sie waren beide unter den erschreckten Augen der Frau weggegangen, und Frau Zermack bereitete sich aus Gewohnheit auf schwere Tage vor. „Mein Gott, wann nimmt dieses Rennen ein Ende!" sagte sie dieses Mal verzagter. Sie dachte nicht ans Weiterschlafen, sie stand auf und begann zu ganz früher Stunde mit ihrem Tagewerk. Sie war eine starke, eine standhafte Frau.
Nie hatte sie ihm dazwischengeredet, wenn er seiner Sache nachging. „Es muss sein!" so hatte sie sich jedes Mal abgefunden. Er tat ja nichts Unrechtes. Aber diese ständige Gefahr, in die er rannte, die ständige Angst um ihn! Selten eine Stunde ruhiger, menschlicher Freude erlebte man. „Diese schreckliche Zeit, nichts bringt sie einem ein als graue Haare, nichts als Angst und wieder Angst!"
„Mutter!" meldete sich der zwölfjährige Josef. Der
Junge war auch schon wach geworden. „Wenn der
Raup so früh kommt, dann werden sie wieder streiken!"
„Schlaf doch weiter, Kind", ermahnte Frau Zermack.
„Fang du nicht auch schon an wie der Vater!"
„Gestern wurde erzählt", sagte der Junge, „dass in Berlin etwas im Gange ist. Vielleicht ist da etwas passiert."
Sie schwieg und ging, ohne etwas zu tun, zum Herd, sie ging zum Fenster und schob die Gardine zurück. Die Schachtsirene heulte.
Frau Zermack schrak zusammen, obwohl es der täglich gehörte gleiche Ruf der Sirene war. Heute fuhr sie unter diesem Ruf zusammen. „Sie werden wohl anfahren!" sagte sie.
„Ich glaub' es nicht", antwortete der Junge. „Wenn Onkel Raup so früh kommt, dann ist was passiert!" —
Zermack ging mit Raup eilig nach der Zeche. Beide schwiegen. Raup beobachtete besorgt den Kumpel. Die elende Zeit mürbt uns alle an, dachte er. Man ist immer wieder am Anfang, sagte er sich unter einem Angstdruck. Immer am Anfang.
Zermack erwachte aus seinem Grübeln. „Immer hängt alles an einem! Immer steckt nur unsereiner seine Hände ins Feuer!"
„Ja, immer steckt man allein die Hände ins Feuer", ging Raup voller Zorn darauf ein. „Immer heißt es: macht alles allein und schaut, wie ihr fertig werdet!"
„Aber, was willst du; wer macht es sonst?" -
„Tauten und Heise werden es nicht tun. Und die Kumpels werden auch heut wieder auf dein Wort warten." Zermack ging still geworden und düster weiter. Sie liefen dieses Mal die Viertelstundenstrecke in wenigen Minuten. Die Menge stand noch am Tor und sprach über das Dekret. Als sie näher kamen, spürten sie die Gedrücktheit, die über allen lag, wie einen kalten, auch sie anschleichenden Alp.
„Was wollt ihr tun?" fragten mehrere Zermack und Raup. Zermack antwortete ausweichend: „Wir wollen Miller hören, was er zu tun gedenkt."
„Wir können uns jetzt nicht auf Miller verlassen", erwiderte Raup. Er hatte Sorge, auch Zermack schrecke vor der angedrohten Strafe zurück. „Und auf Tauten ist schon gar nicht zu bauen. Wir müssen es allein wagen."
Zermack zauderte. Die Ungewissheit lähmte auch ihn, was folgen würde, wenn sie hier den Anfang machten und die anderen nicht nachkämen. Dieses Zagen dauerte aber kaum eine Minute. Er sammelte sich wieder und sagte zu den wartenden Leuten: „Lasst euch durch das Blatt nicht schrecken!"
Heise kam. Der Obmann war vollends durcheinander. „Eine elende Geschichte", sagte er verstört, „aber wir müssen, denke ich, der vernünftigere Teil bleiben!" Er sah Zermack an, der mit sich kämpfte. „Wir können nicht vorgreifen, hörst du! Die Gewerkschaften haben auch noch ihr Wort dazu zu sagen!"
Zermack antwortete mit einem bösen Lachen: „Das hätten sie sich früher überlegen sollen. Aber sie werden auch jetzt kaum was unternehmen."
„Zermack, gottverflucht!" schrie Kramm, der aus der Kaue zurückkam, „alles wartet. Was wollen wir tun?"
„Vorläufig gar nichts!" wies ihn Tauten, der hinzugekommen war, erzürnt ab. „Wir wollen doch nicht wie Wahnsinnige in unser Verderben rennen!" Er zog Zermack weiter. „Komm, wir wollen hier keinen Auflauf machen. Die Leute sollen anfahren. Die Gewerkschaften, denk' ich, werden sich bald melden. Komm, wir wollen in unserer Bude sprechen."
„Sitzung!" grollte Kramm und spuckte aus. „Sie bremsen wieder. Der Teufel hole alles !" fluchte er und sah sich um. „Die oben werden sitzen, hier werden sie wieder sitzen, und indessen setzt man uns das Messer an die Kehle, gottverflucht!"
Die Menge stand still und gedrückt umher. Hier und dort spie einer aus und murrte: „Es gibt wieder nichts, die verfaulen lieber, aber sie unternehmen nichts."
Die Klöppel schlugen oben am Schacht.
„Zermack!" ermahnte Raup. „Wir müssen den Leuten was sagen!"
„Zerreißt mich doch nicht!" erwiderte der große Mann. „Soll ich denn allein für alle den Kopf hinhalten?" Raup wurde rot, er starrte den Kumpel an. „Mensch", stammelte er, „bist du denn heut ganz aus dem Rahmen?"
Zermack ging düster und unentschlossen neben Tauten und Heise nach der Betriebsratsbude. Tauten redete noch immer auf ihn ein. „Wir müssen alles mit vernünftigen Augen sehn. Wir können doch nicht aus der Reihe tanzen und die Gefahr noch größer werden lassen."
„Ich weiß nicht", antwortete Zermack erregt, „ob wir richtig handeln, wenn wir warten."
„Die Kumpels verfluchen uns!" zürnte Raup. „Wir enttäuschen sie. Und wir handeln nicht richtig."
Zermack sah sich um: Die Kumpels zogen missmutig nach der Umkleidekaue. Er kämpfte einen Moment wieder mit sich und sagte schließlich: „Du hast recht, das ganze Reden ist unsinnig, wir müssen gleich etwas tun!" Gott sei Dank!" sagte Raup erlöst.
In der Kaue tobte Lärm.
„Alle verraten und verkaufen uns!" - „Alles Lumpen und Verräter!" - Man grollte: „Allen ist der Hintern an die Sessel festgewachsen - dick und faul werden alle vom Nichtstun." -
Kahlstein hatte mit Franz, Christian und einigen anderen Genossen die Kumpels von der Anfahrt zurückgehalten. „Bleibt doch", schrie er, „Zermack wird gleich kommen und reden!"
Die Kumpels warteten in Angst und Unruhe. „Greifen wir nicht zu früh vor?" „Haltet doch die verfluchten Mäuler! Zu früh! Morgen können sie schon hier stehen!"
„Was wollen wir denn gegen ihre Kanonen ausrichten?"
„Die schießen uns einfach zusammen, wenn wir einen Muck sagen! Euer ewiges Streiken!"
„Wollt ihr denn wieder wie die Hunde in den Pütt kriechen?" schrie Kahlstein. „Wartet noch!"
Da erschien Zermack in der Kaue. „Zermack kommt!" schrien einige der Jungen an der Tür und liefen vor dem Hauer her, „es gibt Streik!"
Tauten, der mit Zermack kam, protestierte: „Du siehst, dass wir in einer unseligen Lage stecken, und willst die Leute festhalten. Ich will das nicht verantworten!"
„Das verantworte ich!" entgegnete ihm Zermack voller Eigenwillen.
Tauten protestierte warnend: „Ich halt' es für wahnsinnig. Wir sollen warten, bis sich die Regierung und die Verbände melden!"
Zermack war auf die Bank gestiegen. Es wurde gleich ruhig. „Kumpels, wir werden nicht anfahren!" sagte er. „Wir lassen uns nicht von einem General drohen. Geht und holt die anderen, die schon angefahren sind, wieder heraus!" befahl er.
„Gott sei Dank!" stöhnte Kahlstein.
Christian schrie erfreut: „Kommt! Wir holen sie aus dem Schacht!"
Franz rannte hinter Christian und Kramm. „Ich sage", stammelte Tauten, „es ist doch sinnloses Beginnen. Du hättest das nicht tun sollen. Jetzt geht das Unglück erst recht los."
„Jetzt!" lachte Zermack ergrimmt. „Erst jetzt? Du wirst warten, bis sie dir den Strick um den Hals legen. Man hätte früher vorbeugen sollen." Er zog Raup hinaus. „Gott sei Dank, endlich!" atmete Raup, von einer Last befreit, auf. „Endlich hast du dich besonnen." Die Kumpels kamen von der Hängebank zurück. Steiger Schulte kam Zermack und Raup aufgeregt entgegen. „Es hat doch keinen Sinn, ein Lahmlegen der Arbeit ist nur unser eigener Schaden. Auch muss sich erst unsere Regierung melden!" protestierte er. „Ein Vorgreifen halte ich für Unverstand!"
„Wir wollen nicht warten, bis nichts mehr zu retten ist!" antwortete ihm Zermack.
In der Kaue kreischten die Rollen und die Kleiderbündel tanzten herunter. Die Leute zogen sich wieder um.
Der Kranzmann kam aus dem Büro. Er blickte eine Weile auf das zerfetzte Todesdekret.
Ein Gesicht, hart und grau und höhnisch verzogen. „Sie wissen wohl nicht", sagte er zu Zermack, „was Sie sich mit Ihrer Eile einbrocken! Alles kommt auf Ihr Konto. Ich halte alles für voreilig. Sie hätten warten sollen, bis sich die Regierung meldet!"
Zermack antwortete ihm, wie er Schulte geantwortet hatte: „Wir können nicht warten, bis sich die davongelaufene Regierung zu etwas entschließt!"
Der Betriebsinspektor warf ihm einen feindlichen Blick zu. „Sie werden sich festfahren, Sie werden's sehen!"
Zermack zuckte die Schultern.
Der Klöppelschlag im Schacht schwieg. Sie zogen nach Hause. Weit aus dem Werk erhob sich lang und laut das Geheul der Sirenen.
„Die kommen auch!" sagte Christian froh zu Kramm. „Die kommen auch!" rief Franz Kreusat in einer anderen Schar, die mit Zermack und Raup ging. „Es sind zehntausend!" meinte Raup. „Zehntausend! Die kommen auch!"
Die Sonne stieg höher. Die graue Erde erschien jünger. Die schwarzen Sorgenberge waren gewichen. Die Sonne freute Franz, das Trillern der steigenden Lerchen freute ihn, das junge Grün, die kleinen, gelben Märzblumen an den Grabenrändern, alles war Hoffnung und freute ihn.
Tauten ging mit Zermack. Er war noch immer gekränkt, dass man seine Vernunftsgründe nicht beachtet hatte.
„Jemand musste den Anfang machen", sagte Zermack.
„Ihr habt die Geschichte angezettelt, und ihr müsst auch die Folgen verantworten!" protestierte Tauten. „Ich halt' es nach wie vor für Wahnsinn!"
„Einer musste den Anfang machen", sagte auch Raup. „Und wir haben ihn nicht allein gemacht, du siehst ja, auch die aus dem Werk kommen."
Eine Sirene erhob ihre heisere Stimme von einem der Nachbarschächte.
„Es ist Zollverein!" sagte Franz.
„Auch die anderen Kumpels kommen!" sagte jemand.
„Auch sie kommen", sagte Franz Kreusat und lauschte, ob nicht noch mehr dieser Schreie ertönten, denn sie gehörten zu diesem Tag wie das Brot zum Leben.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur