SONNTAG, DER 9. DEZEMBER 1945
1
Während die Nacht noch säumte, erwachte Max Goldstein, der nur stoßweise geschlafen hatte, mit jener klaren und quälenden Endgültigkeit, die das Ende des Schlafs anzeigt, bewegte seinen gewaltigen Leib und versuchte, in der grauenden Dunkelheit die Zeiger seiner Uhr zu erkennen. Schließlich musste er ein Streichholz anstecken, das er mit der gewölbten Hand schützte, und er sah, dass die Zeiger auf ein oder zwei Minuten nach sechs standen, eine Zeit, die ihn eine einsame, unheilige und kummervolle Stunde dünkte. Im selben kurzen Schein des Streichholzes erhaschte er einen Schimmer des Gesichts seiner Frau, von Haar umrahmt, das noch immer blond war; es war in diesem Augenblick das Gesicht eines Kindes, und ihr Schlaf war so friedlich und gelöst, dass er jeden Gedanken, sie zu wecken, sogleich verwarf. Deshalb kämpfte er mit seinem Elefantenkörper und schob ihn so leise und sanft aus dem Bett, wie er nur konnte. Einen langen Augenblick saß er mit Magenschmerzen da, die von spätem Schlafengehen und frühem Aufstehen kommen, hätschelte sie, kraxelte dann auf die Füße und watschelte ins Badezimmer.
Er besah sich im Spiegel mit der gleichen ziemlich eklen Neugier, die zum Vorspiel des Rasierens gehörte, so lange er sich erinnern konnte, und frönte jenem kurzen Augenblick der Kontemplation, wo ein Mann sich von außen betrachtet. Das große, fleischige, ziemlich grobe, bartbeschattete Gesicht brach in ein Lächeln aus, teils zynisch, teils hilflos; dann tuschte Schaum es zu einem Clowngesicht, die knollige Nase stach aus kleinen Seifenbergen hervor, von denen sich Stücke in den zottigen Augenbrauen verfingen, und die blassblauen Augen runzelten sich in wortloser Frage. Als er sich zu rasieren begann, fiel Max Goldstein ein, dass viele der Übel dieser Welt nicht so sehr aus einem Mangel an Einsicht als aus einem Mangel an Humor herrührten, und er fragte sich, ob nicht sogar jener mürrische Mann Elliott Abbott die lächerliche Seite einer solchen Situation wie dieser sehen würde, dass der wohlbeleibte und altfränkische Rechtsanwalt Goldstein vor Tagesanbruch aufstand, um mit einem Haufen Streikposten den Concordweg hinauf zum Werk zu marschieren. In den sieben Jahren, seit er der Kommunistischen Partei beigetreten war, war dies tatsächlich der erste Schritt des physischen Mitkämpfens, den er sich erlaubte, und er war sich auch jetzt nicht ganz klar, warum er eigentlich zu diesem Entschluss gekommen war. Während seiner langsamen Toilette grübelte er darüber nach, warum ein Mensch die Dinge tut, die er tut, mögen sie groß oder klein sein, und er überdachte sein eignes Verhältnis zu einer Organisation, die für sich allein mehr Schmähungen als jede andere seit Menschenbeginn geerntet hatte — ausgenommen vielleicht das Christentum.
Sein Heroismus gehörte der tiefen Vergangenheit an. Vor achtundzwanzig Jahren war er ein großer Kriegsheld gewesen, aber er erinnerte sich kaum an etwas, ausgenommen die Musikkapelle, die ihn vom Bahnhof abholte, als er heimkam, und der harte, jugendliche Kern war seit langer Zeit in hundert Pfund Fett verschwunden. Die Vernunft blieb; in jenen alten, vergangenen Tagen hatte er unter Männern gelernt, die im höchsten Grade vernünftig und schon damals Bannerträger waren, geschnitzt aus dem zähen Holz der Republik. Das Prinzip „Ihr sollt das Rechte erkennen und es tun, und allen Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen", war etwas, an das er sich klammerte, wie ein Kind sich an seine Mutter klammert, und es hatte ihn Schritt für Schritt zu einer Gruppe von Menschen geführt, denen er manchmal sehr kritisch, manchmal nachsichtig und manchmal bitterlich bewundernd gegenüberstand. In sich selbst entdeckte er nichts von dem Stoff, aus dem Märtyrer gemacht werden, und Gewalttätigkeit hasste er mit einem tiefen, philosophischen und uralten Hass. Doch gleicherweise verabscheute er die endlosen Schlagzeilen, die ihn aufklärten, dass er ein russischer Agent, ein umstürzlerisches Element, eine bärtige Ratte, ein bösartiges Geschwür am Körper der Gesellschaft wäre, die ihm den Lebensunterhalt gegeben hatte. Er wusste, was er war; er war ein fetter Rechtsanwalt gegen Ende seines mittleren Alters; ein fauler Bursche, der von zu wenigen seiner Klienten Rechnungen einzog, ein unersättlicher Leser Spinozas, Voltaires und A.Conan Doyles; der Sohn eines eingewanderten Juden, der mehr Yankee geworden war als die meisten Produkte von zehn Generationen neuenglischer Vorfahren; ein Klatschmaul, ein kleinstädtischer, etwas eingerosteter Weiser und ein psychopathischer Damespieler. Alles das war er, und nichts davon, wie er sich vor Augen hielt, gehörte zu den Dingen, die vorbehaltlose Bewunderung beanspruchen.
2
Als er die Haustür hinter sich schloss, dachte Max Goldstein daran, wie lange es her war, dass er das Haus zu solcher Stunde verlassen hatte, und er dachte um so mehr in der sonnenlosen, schneidenden Kälte eines Dezembermorgens daran; an sich nur eine kleine Abweichung vom normalen Lauf der Dinge, bedeutete sie ihm beinahe ein Abenteuer. In den leeren, verlassenen Sonntagsstraßen sah er bloß den Wagen des Milchmannes, der von seiner Runde nach Hause fuhr, und vernahm als einzigen Laut das Klick-Klack der Pferdehufe. Es geht kein Wind in dem Augenblick, da die Nacht geendet und der Tag noch nicht begonnen hat — die Legende behauptet es jedenfalls -, und die Luft ist kalt und schwer und müde von kalter Finsternis.
Goldstein hatte sich in einen alpakagefütterten langen Mantel gehüllt; er trug ein Tuch um den Hals und eine Jagdmütze auf dem Kopf, deren Ohrenklappen fest geschlossen waren. Wenn ihn jemand gesehen hätte, würde er an einen intelligenten, wohldressierten Bären gedacht haben, und wie ein Bär stampfte er auch langsam bis an die Ecke und dann die drei Häuserblöcke zum Hause Elliott Abbotts hinunter. Es brannte Licht in dem alten Schindelhaus, trotzdem drückte er einfältig auf die Klingel und machte ein entschuldigendes Gesicht, als Frances Colby ihm öffnete. „Es ist früh", sagte er albern, „es ist sehr früh, nicht wahr?"
„Sechs Uhr fünfundvierzig."
„Ich glaubte, es wäre ein bisschen später."
„Es ist genau sechs Uhr fünfundvierzig", sagte sie nachdrücklich. Sie hatte einen Morgenrock an und war in keiner guten Stimmung.
„Ich dachte, ich käme zum Kaffeetrinken herum. Liz schläft noch."
„Schön, kommen Sie herein", sagte sie. „Stehen Sie nicht den ganzen Morgen da. Kommen Sie herein." Sie führte ihn in die Küche, wo Abbott, seine Frau und Mike Sawyer saßen, Kaffee tranken und Waffeln mit Sirup aßen. Abbott grinste, als er Goldstein sah, und sagte: „Guten Morgen, Max", und Goldstein lächelte dümmlich zurück. Auch die anderen sagten guten Morgen, und Ruth stand auf und setzte Goldstein ein Gedeck hin, während Frances Colby Teig ins Eisen goss.
„Möchtest du Orangensaft?" fragte Ruth.
„Nur Kaffee. Morgens habe ich meist keinen Appetit. Ich glaube, ich könnte wohl ein oder zwei Waffeln essen. Es ist gut, wenn man etwas im Magen hat, was, Doktor?"
„Manche behaupten es", lächelte Abbott. „Wie du halte ich es für bloß akademisch. Hast du der Legalität den Rücken gekehrt?"
„Ich konnte nicht schlafen", antwortete Goldstein unbehaglich.
„Das wundert mich nicht. Wahrscheinlich hast du Blähungen gehabt."
„Nein - ich war nur ins Nachdenken geraten. Ich musste daran denken, dass ich über eine Sache nie hinwegkommen werde, meine Sehnsucht nach dem Richteramt. Und sei es etwas wie Oberfriedensrichter. Ich war einmal ein guter Jurist."
„Du gehst mit, Max?"
„Ich denke", nickte Goldstein kläglich und begoss sorgfältig die Waffeln, die France vor ihn hinstellte, dick mit Sirup. „Du weißt, Helden werden gemacht, nicht geboren. Es ist wohl fünf Jahre her, dass ich morgens so früh aufgestanden bin; für mich ist das ein Unternehmen von einigem Ausmaß, und ich komme mir in diesem Augenblick albern vor. Ich glaube nicht, dass es viel Sinn hat. Aber Elliott verzeiht niemals einem, der nicht tut, was nach seiner Auffassung sich zu tun gehört. Die Waffeln sind sehr gut", sagte er zu Frances Colby. „Elliott hat kühles und altes puritanisches Blut in seinen Adern. Er ist auch ein Asket, was ihn... "
„Du redest wieder verdammten Unsinn", unterbrach ihn Ruth. „Max, Elliott war gar nicht böse auf dich."
„Ich selbst bin böse auf mich", murmelte Goldstein durch einen Mund voll Pfannkuchen. „Ich bin zu alt und zu fett für Kriege, Märsche und Gegenmärsche. Es war mein eigner verehrter Vorfahr Bar Kochba, der gesagt hat ,Schart die jungen Männer um mich, jene von kühner Miene und tapferer Haltung, und ich werde sie zu einem gewaltigen Schwert der Freiheit schmieden.' Ob Jude oder nicht, ich hätte während dieser vergangenen fünfzehn Jahre die Geschäfte des alten Lowell haben können, und vor zehn Jahren noch wäre es nicht so phantastisch wie heute gewesen, einen jüdischen Gouverneur für Massachusetts in Erwägung zu ziehen. Ich beklage mich nicht, ich stelle nur Betrachtungen an. Für den jungen Sawyer hier ist es alltäglich, den Concordweg hinaufzustapfen; für mich ist es ein Abenteuer, an dem Cervantes seine Freude gehabt hätte."
„Warum hörst du nicht auf, so viel zu reden, und frühstückst lieber zu Ende?" sagte Ruth.
3
Es tat Joe Santana gut, die Leute zu beobachten, obgleich sie anfangs nur langsam herankamen. Viele von ihnen besuchten die Frühmesse, und diese begannen erst lange nach acht Uhr sich an den Suppenküchen zu versammeln. Andere gingen zum Gewerkschaftshaus anstatt zu ihrer Suppenküche, so dass gegen halb neun wenigstens sieben- oder achthundert Leute an der Ecke Eichenstraße und Vierte Avenue wartend herumstanden. Joe selbst war schon sehr früh zu Sam Saropoles hinübergegangen und half Sam, Kaffee zu kochen und Toast zu machen, wofür es viele Abnehmer gab, als die Messe zu Ende war. Die Küche wurde gerammelt voll, und es war ein ständiges Kommen und Gehen; das Brot ging ihnen aus, sie brachen ihre Pfannkuchen und Kuchen an, die ebenfalls alle wurden, und rückten dann eine Kiste Zwieback heraus, die ein Kaufmann aus Taunton gestiftet hatte. „Bei Gott", beklagte sich Saropoles bitter, „eins ist an diesem O'Malley dran, er macht den Leuten todsicher Appetit. Hat man die Kirche nicht auf die eine Art am Halse, dann eben auf eine andre Art." „Es ist die Nervosität, die ihnen Appetit macht", sagte Joe. „Damit muss man rechnen." „Hast du damit gerechnet, dass sie uns die Rationen einer ganzen Woche auffressen, wenn sie einmal Massenstreikposten aufstellen?"
Die Sonne ging in einem eisigen, metallischen Glanz auf, und die Glocken der protestantischen Episkopalkirche, die ganz weit im Osten auf der andern Seite der Stadt lag, begannen die liebliche Melodie der Glocken von St. Marien zu spielen. Es war ein seltsamer und ungewöhnlicher Sonntagmorgen für Clarkton, mit so vielen Menschen auf der Straße, so vielen Ansammlungen hier und da, mehr Menschen, als die Stadt überhaupt fassen zu können schien; und durch sie hindurch und unter ihnen bewegten sich jene Einwohner, die nicht im Werk arbeiteten, und dazu einige, die dort arbeiteten, aber in ihren Sonntagskleidern zur Kirche gingen; und nicht ein Polizist war zu sehen, außer dem einen Funkwagen, den Jack Curzon langsam hin und zurück durch die Straßen kreuzen ließ. Hunderte von Kindern waren da, die aus den Federn gekrochen waren, um das Schauspiel zu sehen, und machten einen großen Festtag daraus. Ein ganzer Trupp junger Arbeiter, die Kriegsteilnehmer waren, war in Uniform gekommen, sie trugen ihre eigene Fahne und ein großes Transparent, das lautete: Wir sind da — und wenn es schlimmer kommt als Anzio, Tarawa und die Normandiel
Um viertel vor neun hielt Danny Ryan, der Renoirs alte 1931er Fordlimousine fuhr, vor der Küche von Saropoles, drängte sich hinein und sagte zu dem Griechen: „Die ganze Geschichte ist fix und fertig, so dass wir losgehen können. An der Ecke Eichen und Vierte haben wir mehr als tausend Leute. Warum also schickst du nicht deine Abteilung hinauf? Dann ziehen wir von da los und geben Curzon eine geringere Chance, uns auseinanderzuhauen."
„Ich hab' nicht einen einzigen Bullen gesehen", sagte Saropoles. „Ich denke, dass sie uns verdammt kein bisschen Scherereien machen werden, Danny."
„Schön, denk nicht zu scharf, Sam. Verteufelt sicher ist ein Haufen von ihnen oben am Werk."
Währenddessen beschäftigte sich Noska im Gewerkschaftsbüro mit der Presse. Der junge Jimmy Campbell vom Clarktoner Minuteman war da, ebenso zwei Berichterstatter aus Worcester, die beide mit dem Frühzug gekommen waren, der eine von den Times und der andere, der AP-Mann (Anm.: Associated Press — große Nachrichtenagentur), um die Gelegenheit auf ein Telefongespräch hin wahrzunehmen, das Betty Sullivan, die Propagandistin der Gewerkschaft, mit ihnen geführt hatte. David Broom, ein Buchhalter aus Clarkton, der für zwei Radiogesellschaften auf Zeilenhonorar arbeitete, war gleichfalls da. Das kleine Büro war gestopft voll, und die Reporter feuerten unaufhörlich auf Noska ihre Fragen ab - ein Verfahren, das sie nach dem Vorbild in Film und Buch für erforderlich hielten. Bill Noska sagte
immer wieder:
„Es wird nichts geschehen. Es ist ein Eingriff in unser einfaches gesetzliches Recht, Streikposten zu stehen. Wir haben vor, Streikposten zu stehen, weiter nichts."
„Aber was ist mit der Menge draußen los?"
„Wir haben das Recht, uns in Massen zu versammeln", sagte Noska langsam und halsstarrig und kaute jedes Wort.
„Was halten Sie von Tom Wilsons Bezichtigung, dass die ganze Geschichte von den Kommunisten angedreht sei?"
Noska kaute immer noch die Worte, als er sagte: „Wenn Tom Wilson glaubt, ich sei nicht der Vorsitzende der Gewerkschaft oder ich leite sie verkehrt oder ich lasse mich von einem Haufen Roter umherstupsen, und wenn er das sagt, dann ist er ein dreckiger Lügner."
4
Bei den Lowells herrschte an diesem Sonntagmorgen eine Stimmung ruhiger Förmlichkeit. Als sich Lowell rasiert und geduscht und angezogen hatte, fühlte er sich besser und sauberer und wenigstens einigermaßen in der Verfassung, den Problemen die Stirn zu bieten, denen er sich stellen musste, und er brachte es sogar fertig, die kühle Reserviertheit in Ferns Benehmen hinzunehmen. Bis zu einem gewissen Grade fühlte er sich seit einer Reihe von Tagen besser, etwas müde zwar, aber doch besser. Seine Frau und Tochter saßen bereits da, als er in das Gewehrzimmer herunterkam, und er vermochte zu sagen:
„Guten Morgen, Fern. Guten Morgen, Lois."
Fern antwortete nicht, aber Lois sagte: „Hallo, George", ganz wie immer, und er war erlöst, als er merkte, dass Lois vernünftig war, dass ihm keine Szene bevorstand und sie sich wieder wie zivilisierte menschliche Wesen benehmen konnten. Er hatte noch leichte Kopfschmerzen, aber er hatte etwas Aspirin dagegen genommen, und nun würden sie wohl bald weggehen. Er trank seinen Orangensaft, goss sich Kaffee ein und sagte etwas über das Wetter.
„Ich weiß, wie du über die Kirche denkst", sagte Lois, „aber es ist Gedächtnisgottesdienst für Pearl Harbor, und ich habe die Patenschaft dafür ... "
„Wenn du wünschst, dass ich mitgehe, tue ich's", nickte er. „Es sollen ein paar Gedächtnistafeln enthüllt werden, und eine davon ist für Clark."
„Ich gehe nicht mit", sagte Fern.
Lowell fühlte sich erhaben und weise und leicht bekümmert wegen der beiden, und er sagte sich, dass er nicht gewillt wäre, Lois je wieder verletzt zu sehen. Er begann wirklich zu akzeptieren, dass sich eine Lösung der Affäre ohne Scheidung und Trennung ergeben würde; im Abstand eines Tages war ihm klar, dass sie sich von anderen Zwischenfällen, die sich ereignet hatten, nicht so sehr unterschied, dass es immer eine Lösung gab, und dass es auch jetzt eine geben würde. „Du musst mitkommen, Fern", sagte er freundlich zu ihr. „Ich weiß, wie schwer es dir fällt."
„Das weißt du nicht." Aber darüber hinaus ging sie nicht. Ein gewisser Ernst befiel alle, und sie beendeten ihr Frühstück, ohne mehr als knapp einige Worte zu sprechen. Nach dem Frühstück ging Lois ins Wohnzimmer, und als Lowell ihr dahin folgte, sah er, dass sie ein wenig geweint hatte. Sie tupfte sich die Augen, als er sie um die Hüfte nahm; und als er sie küsste - mit dem Gefühl, dass jede Bewegung seines Körpers, seiner Arme und Lippen überlegt und sorgfältig gelenkt werden müsste -, flüsterte sie: „Was für schlimme Dinge du doch tun kannst, George." „Ich weiß", sagte er, „Ich will nicht daran denken, George." „Ich weiß", sagte er. Fern wartete schließlich auf sie; sie stiegen in den Wagen, Lois steuerte, und Lowell sah sie mit dem betäubten und hoffnungslosen Gefühl an, zurückgekehrt zu sein, wieder bei sich selbst zu sein, und wusste zugleich, dass es gar nicht anders sein konnte. Lois vermied die Stadt und schwang in einem Bogen die alte Chaussee entlang. Als sie zur Kirche kamen, war der Parkplatz bereits voll, und drinnen hatte Hochwürden Ellis Whitford eben seine Predigt begonnen. Verlegen glitten sie in ihren Sitz, und fast augenblicklich nahm Lowells Gesicht den steifen, leeren und etwas einfältigen Ausdruck an, den er für die nicht allzu häufigen Gelegenheiten, wo er im Hause des Herrn saß, reservierte. Er hatte einen Hass auf die Kirche, den er sich nie völlig eingestand, den er nie ganz in die oberen, bewussten Sphären seines Geistes einließ. Er war ein Komplex aus Kindheit, Geburt und Tod, aus gestaltlosen Ängsten und dumpfen Gerüchen, aus der Form des blumenflankierten Sarges bei Begräbnisfeiern, aus dem weiten Raum des gemalten Glasfensters über der Kanzel, aus den mächtigen Damenhüten, die ihm in den Tagen seiner Kindheit alle Sicht versperrten, und aus der Vorstellung Gottes, des majestätischen, bärtigen, maskulinen und schwer mit Muskeln bepackten Gottes, den in solch prächtigen Farben die Laterna magica in der Sonntagsschule seiner Knabenzeit schilderte. In der Seelenruhe des gesunden Menschenverstandes vermochte er dieses Bild zu verdrängen und es durch einen formlosen und zaghaften Begriff der Huld zu ersetzen, die Unsterblichkeit erzeugte, eine geschlechtslose, schwebende, gestaltlose Unsterblichkeit, die der Auslöschung ihre Unerbittlichkeit und weiter nichts nahm. Aber hier in der Kirche — ganz gleich, wieviele Jahre auch vergingen — kehrte ihm der Gott Israels, der Gott Mosis, Michelangelos, Oliver Cromwells, Gouverneur Winthrops, der Gott der Gerechtigkeit und des strengen Eifers zurück, um ihn zu quälen und zu peinigen. Sein Gegenmittel war, in eine erhabene und ehrwürdige Betäubung zu verfallen, in eine Starre, die beinahe völlig leer von Gedanken war, darin er Worte vernahm, ohne ihren Sinn zu begreifen. Damen, die ihn so sahen, straff aufgerichtet, so gespannt und hübsch und mager, beneideten Lois und bedauerten ihn wegen des Verlustes Clarks und der Abtrünnigkeit Ferns. Hochwürden Whitford, ein kleiner, quabbeliger Herr von ernsthaftem Wesen und tiefer Stimme, der den Eintritt der Lowells bemerkt hatte — die Kirche war klein —, empfand sehr stark ebenso und verweilte bei der Frage des Opfers.
„Der Große Befreier", sagte er, „war ein einmaliges Beispiel, und eine göttliche Manifestation des Menschen im Bilde Gottes, ein Gesicht, das von den Sorgen aller Menschheit gefurcht, eine Seele, die süß von allen Inbegriffen unsterblichen Lebens war.
Wir sollten uns um die volle Bedeutung seiner Worte bemühen, als er von jenen ehrwürdigen Toten sprach, die nicht vergebens sterben. Wird es nicht von so vielen - von jenen, die in New York die Übergescheiten genannt werden — als abgedroschene Phrase, als erbauliche Predigt betrachtet, wenn wir uns erinnern, dass nicht der kleinste Sperling auf die Erde fällt und im Fallen dem gesegneten Blick unseres Gottes und seines gütigen Sohnes Jesus Christus, unseres Erlösers, entgeht? Das ist Tatsache, aber ich für mein Teil habe keine Angst vor Klischees und Moralsprüchen, vor den guten Worten, die meine Großmutter und meine Urgroßmutter auf dieser geheiligten alten Erde Neu-Englands gesprochen haben. Ich bin nicht übergescheit, und ich sage Gott sei Dank dazu. Ich habe den Glauben an meinen Gott, an Seine Allgegenwart und an Seine Allmacht noch nicht verloren. Das sind gewaltige Worte für einen gewaltigen Gedanken. In den alten Zeiten, als die Menschen noch Heiden und unerlöst waren, wurden auf Götzenaltären blutige Opfer dargebracht, aber ein Opfer kann süß wie Honig vor den Augen des Herrn unseres Gottes sein. Wie steht es mit jenen ehrwürdigen Toten, die das Äußerste gaben, was Menschen geben können? Sollen sie unbelohnt bleiben? Müssen wir den kalten, so genannten wissenschaftlichen Erkenntnissen von heute Glauben schenken?" Hochwürden Whitford hielt inne und sah ernst und forschend von Gesicht zu Gesicht; er begegnete den Augen George Lowells, verweilte einen Augenblick bei ihnen, erforschte sie und glitt dann weiter; er erinnerte sich dabei der Altweibergeschichte, wie George Washington bald nach seiner Amtseinführung in die Kirche ging und von dem Pastor so gründlich abgekanzelt wurde, dass er nie wieder hinging. So gab Hochwürden Whitford nur einen Augenblick für die Wirkung seiner Worte zu und fuhr fort, während ein starker Ton der Verachtung in seine Stimme kam: „Indes, ich erinnere mich an einen aus meiner Herde, der zu mir kam - nein, ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen, indem ich seinen Namen nenne, das muss er zwischen sich und seinem Gott abmachen -, der also zu mir kam und von einem, der dahingeschieden war, sagte: ,Wie wird er auferstehen, Hochwürden? Als Kind, als Jüngling, als Mann, ausgemergelt und mager vor Krankheit, nackt oder bekleidet?' Nein, das war keine aufrichtige Frage, aber sie verdient eine Antwort. Wie billig und wie kindisch ist solcher Zynismus, und wie typisch für die schlechtesten Elemente unseres heutigen Zeitalters! Ein naives Kind würde die Tatsache begreifen und anerkennen, dass ER, der uns aus Staub und Wasser geschaffen hat, diejenigen, die den Glauben haben, auch wieder aus dem Staub erheben kann. Es ist der Glaube, der Opfer erzeugt, und es ist der Glaube, der Opfer belohnt. Als die Flugzeuge der gelben Horden über Pearl Harbor kamen, war es der Glaube, der die Menschheit rettete. Und es war der Glaube... " Lowell hatte es aufgegeben, zuzuhören. Wenn man ihn plötzlich gefragt hätte, würde er in der Lage gewesen sein, die letzten zehn Wörter zu wiederholen, aber es würde ihn längere Zeit gekostet haben, ihren Sinn zusammenzuklauben. Er saß am Ende des Kirchenstuhls, die Augen niedergeschlagen, und beobachtete das hübsche Spiel und Gegenspiel seiner Finger, während er sie bewegte, und stellte fest, wie die gespannten Sehnen die Adern hervortreten ließen.
5
Er erwachte zur Wirklichkeit und zur Welt, in der er lebte, als er merkte, dass sich Tom Wilson in den Sitz neben ihm drängte, ein aufgeregter, atemloser Wilson, der heiser flüsterte:
„George, es hat Krawall gegeben. Wir hatten einen Zusammenstoß am Werk."
„Werk?"
„Ich muss draußen mit Ihnen sprechen, George."
„Wenn es vorbei ist", sagte Lowell. „Seien Sie doch kein blöder Narr!"
Man zischte um Ruhe, es raschelte in der Reihe vor und in der Reihe hinter ihm. „George", ermahnte ihn Lois.
„Ich muss Sie sprechen", flüsterte Wilson.
„Das kann warten."
„Es kann nicht warten. Ich sage Ihnen, der Teufel ist los,
George."
„Ich kann jetzt nicht weg. Seien Sie doch kein solch blöder Narr, Wilson. Begreifen Sie denn nicht, dass ich jetzt nicht einfach aufstehen und hier hinausgehen kann?"
„George, ich sage Ihnen, es ist eine Sache auf Leben und Tod. Würde ich sonst so in die Kirche kommen?" verteidigte sich Wilson. „Ich bin selbst Kirchgänger. Würde ich mich sonst so in der Kirche benehmen?" Wilson nahm ein Taschentuch heraus und wischte sich das rote, schwitzende Gesicht. Er hatte den Mantel anbehalten und knetete dauernd an seinem Hut herum, drückte ihn nach und nach aus der Form, attackierte ihn mit all der grimmigen, nervösen Energie, die er in Worten nicht ausdrücken konnte. Und währenddessen ging die Predigt weiter, der tiefe, sich hebende und senkende Töneschwall. Lowell sah hilflos auf seine Frau; dann stand er unvermittelt auf, schob Wilson vor sich her, folgte seinem Werkdirektor das Schiff hinunter durch die schwere Eichentür und weiter eine Reihe von Stufen hinab zur Herrentoilette. Dort, in der unbefleckten weißgekachelten Sauberkeit, die Lowell selbst durch eine fürstliche Stiftung von zehntausend Dollar für Einrichtung, Reparatur und Verbesserung installiert hatte, brach sein Zorn los:
„Von allen blödsinnigen Dummheiten, Tom, ist dies die Höhe!" „Bitte — bitte, George. Bitte, hören Sie mich an, George." „Ich höre. Legen Sie los." „Wir hatten einen Krawall oben am Werk. Zwei Leute sind tot."
„Was?"
„Jawohl, George", nickte Wilson jämmerlich und lehnte seinen schweren Leib gegen ein Becken. „Jawohl, George", wiederholte er.
„Wieso? Was ist passiert? Wer ist tot - können Sie denn nicht
sprechen?"
Wilson schüttelte wehleidig den Kopf. „Ich habe nicht eingegriffen, George. Ich bin die halbe Nacht aufgewesen, und ich habe eben nicht eingegriffen."
„Wer ist tot?"
„Ein Bursche namens Jack Lamar - arbeitet im Werk, und der Rechtsanwalt, Max Goldstein."
„Und das passierte am Werk? Wie, in Gottes Namen... "
„Jawohl. Es passierte am Werk, George. George, ich muss Wasser lassen. Sie müssen entschuldigen, George, ich muss Wasser lassen. Ich kann nichts dafür, George... " Er torkelte zum Pissbecken hinüber und stand da, während Lowells Welt um und um purzelte.
„Was passierte?" fragte Lowell. „Erzählen Sie mir einfach, was passierte."
„Man konnte nichts dagegen tun, George, es passierte eben. Sie hatten an die zweitausend Arbeiter und Leute aus der Stadt zusammengebracht, und sie marschierten zu der Wiese hinauf. Wir wussten, dass sie das tun würden, und Gelb ließ unsere Leute und Curzons Männer sie dort erwarten. Gelb sagte ihnen, dass sie vor den Verbotsschildern haltzumachen hätten, aber sie marschierten drauflos und drückten unsere Leute zurück, und als sie dann ungefähr halbwegs über die Wiese sind, schießt irgendein verdammter Idiot seine Pistole ab, und der Teufel ist los, und die Polizisten wurden, glaub' ich, verrückt. Zwei von Curzons Leuten wurden ziemlich schlimm verprügelt, und von der Menge wurden etwa zwanzig zerschlagen und angeschossen, und - na, zwei von ihnen sind tot."
„Was hatte denn Goldstein da zu tun?"
„Er war einer von den Commies", sagte Wilson, und seine Stimme klang lauter, als er sich umdrehte und seine Hose zuknöpfte. „Er hatte verdammt nichts dort zu suchen, George. Dieser feiste Hanswurst hatte verdammt überhaupt nichts dort zu suchen, George."
Lowell fühlte sich übel, schwach und müde und außerhalb des sicheren Geheges der Logik. Er setzte sich auf einen weißen Emailleschemel, hielt seinen Kopf in den Händen und versuchte zu begreifen, was ihm, seiner Frau, seiner Familie, seinem Besitz, seinen Hoffnungen, seiner Vergangenheit und Zukunft und seinen Träumen geschehen würde, wenn so etwas vorkam. Kläglich fragte er Wilson:
„Haben Sie mit Burton gesprochen? Was hält er davon? Wie steht es mit der rechtlichen Seite der Angelegenheit?"
„Das war das erste, was ich tat, Burton anzurufen", nickte Wilson und gewann aus Lowells Zusammenbruch neue Sicherheit. „Ich habe selbst mit Burton telefoniert. Er sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen. Er sagt, es gibt im ganzen Land kein Gericht, das gegen uns entscheiden würde. Ich wusste, dass Sie sich darüber Sorgen machen würden, und setzte ihm zu. Er sagte, er verpfände sein Renommee dafür, und er sagte, er wolle sofort den Gouverneur anrufen und ihm die Tatsachen aus erster Hand mitteilen."
„Ich begreife das mit Goldstein nicht... " „So etwas kommt vor", sagte Wilson. „Sie müssen sich zusammenreißen, George. Entweder ergreifen wir die Offensive und stehen die Geschichte durch, oder sie haut auf uns zurück". „Der andere Mann?"
„Lamar ist ein Kanadier, arbeitete auf der Verladebühne. Ein Dreckmaul und Stänkerer... " „Sind welche von den andern... schlimm... ?" „Nein, nein, keineswegs", beruhigte Wilson ihn. „War es Gelb, der... ?"
„Gelb kann man keinen Vorwurf machen", sagte Wilson. „So wahr mir Gott helfe, George, ich habe die ganze Geschichte gesehen. Gelb wollte sie sauber und anständig durchführen, aber diese verrückten Bankerte, die sich Curzon engagiert hat, nun, sie wurden einfach verrückt."
„Und was tun wir jetzt?" fragte Lowell trübe.
„Die Geschichte in die Hand nehmen. Gelb meint, jetzt wäre es an der Zeit, sie in die Hand zu nehmen und die losen Enden zusammenzubinden. Das ist etwas, was man bei solchen Dingen nicht gebrauchen kann - lose Enden."
„Ich kann nicht mit den Berichterstattern sprechen", sagte Lowell hoffnungslos. „Tom, ich möchte, dass Sie sich darum kümmern. Ich habe nicht einmal die Geschichte gesehen. Ich habe nichts gewusst. Mein Gott, Tom, wie zum Teufel konnten Sie und Gelb zulassen, dass eine solche Geschichte passiert? Wie bloß, in Gottes Namen?"
6
Elliott Abbott hatte vergessen, was Gewalttätigkeit war; Gewalttätigkeit ist, wie Schmerz, vergänglich von Natur, der menschliche Organismus verbannt sie aus dem Gedächtnis. Er hatte vergessen, wie es ist, wenn man jemand operiert und ein andrer und noch ein dritter bestimmen ungeduldig und haarscharf das Tempo und treiben einem die Finger an. Er hatte vergessen, wie tüchtig und rasch und vorwegnehmend seine Frau Ruth sein konnte, stets seiner Anweisung einen Schritt vorauf, so dass, wenn er ,Zange' denken musste, sie schon in seiner Hand sein würde, ehe das Wort noch ganz heraus war, oder wenn er ,Schwamm' murmeln musste, er es erst tat, wenn er ihn schon in seiner Hand und in der Wunde hatte. Sein ganzes Leben lang hatte er nie ohne Angst operiert, ohne die Notwendigkeit, Angst zu überwinden, aber nie hatte er festgestellt, dass seine Frau dieses Gefühl teilte.
Diesmal war es wie das erste Mal 1937 in Spanien. Damals hatte er eine besondere Sache ausgetüftelt, nämlich die Idee eines Lastautos, eines großen Möbelwagens vom Typ White, der mit Operationstisch, Batterien, Lampen, Sterilisierapparat und dem ganzen Rest ausgerüstet war, eine phantastische rollende Anhäufung von Material. Er fuhr ihn selbst an die Front, Ruth saß neben ihm und verglich eine Inventarliste; beide waren besessen von dem Gedanken, irgend etwas von ausschlaggebender Wichtigkeit vergessen zu haben, aber er selbst war sich einer wachsenden Furcht bewusst, einer Furcht, die ihren Höhepunkt erreichte, als er zu operieren begann und die Granaten rings um den Wagen krepierten. Nachher fühlte er stets, dass ihn nur eine leidliche Selbstachtung hinsichtlich dessen, was seine Frau von ihm denken würde, über diesen Tag hinweggebracht hatte, ein Gefühl, das er auch jetzt empfand. Aber er konnte wenigstens arbeiten und brauchte nicht zu denken und nicht um Max Goldstein zu trauern, den er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, genau wie er Lowell sein ganzes Leben lang in diesen ruhigen, friedlichen Hügeln gekannt hatte, die sie erzeugt und ihnen Unterhalt gegeben hatten. Die am schwersten Verletzten hatten sie ins Gewerkschaftsheim gebracht, wo Abbott sie versorgte, bis Noska seinen Kampf um den Krankenwagen, der zusammen mit Curzons Wagen in der Polizeigarage stand, gewonnen hatte und sie ins Krankenhaus von Clarkton geschafft werden konnten. Brady, einer der andern Ärzte in der Stadt, tauchte schließlich ebenfalls auf, aber er kam erst, als die dringlichsten Fälle schon behandelt waren. Das Gewerkschaftsheim war das reine Tollhaus, gepackt voll von Arbeitern, Neugierigen, Journalisten, hysterischen Angehörigen der Verletzten, und nur Ryan und Renoir und der dicke Sam Saropoles mit einer Handvoll andrer kämpften für Ordnung und eine gewisse Organisation. Ryan, Tony Antonini und ein gewaltiger Schwede namens Jorgensson sperrten den großen Versammlungssaal ab und machten Betten aus den Platten der Esstische. Mike Sawyer war in Ryans kleinem Ford zurückgefahren, um Verbandmaterial zu besorgen, und irgendwie hatte er Bitterman, den Apotheker, aufgetrieben, so dass an Verbänden und Medizin kein Mangel war. So hatte zu der Zeit, als Brady ankam, fast eine volle Stunde, nachdem die Geschichte passiert war, Abbott die schlimmsten Wunden verbunden und den von Schmerzen Geplagten Linderung verschafft, und eine kleine Weile später drängte sich auch Noska herein, gefolgt von den Krankenträgern der Ambulanz, und sie brachten Lance Fragetti fort, der einen Schuss in die Weiche bekommen, und Martha Bruckman, die einen schlimmen komplizierten Armbruch davongetragen hatte.
7
Ryan nahm Bill Noska beiseite und sagte: „So schlimm die Dinge auch stehen, wir sollten zu Lamars hinübergehen. Sie haben ihn nach Haus gebracht."
„Ich kann hier nicht weg. Ich würde gern mitgehen, aber ich kann nicht weg."
„Was gedenkst du zu tun, Bill?"
„Ich wünsche, bei Gott, wir hätten einen Anwalt", sagte Noska unglücklich. „Von all den Leuten musste es gerade Max Goldstein sein. Warum zum Teufel blieb er nicht zu Haus?"
„Wir brauchen keinen Anwalt. Um Himmels willen, Bill, hier gibt es nur eins zu tun, sie von neuem sammeln und sie ans Tor zurückbefördern. Ich für meine Person sage, in den nächsten zwei Stunden werden wir den Streik gewinnen oder verlieren."
Noska schüttelte den Kopf. Es war schwierig für sie, miteinander zu sprechen, und schwierig für ihn zuzuhören. Jeder wollte an ihn herankommen. Sie saßen in seinem Büro, aber sie konnten die Leute nicht heraushalten.
„Bill, du musst es tun", sagte Ryan sanft und obenhin. „Du musst es tun. Es gibt keinen anderen Weg. Wenn einer Schläge kriegt und haut nicht zurück, ist er unten durch."
„Sie werden nicht wollen."
„Warum versuchst du es nicht? Warum nimmst du dir nicht Jorgensson und den Griechen und gehst dort hinaus und redest mit ihnen?"
„Was zum Teufel kann ich denn sagen?"
„Einfach Leute für eine Streikpostenkette verlangen — weiter nichts."
Sie drängten sich nach außen und nahmen unterwegs noch andere mit. Noska kletterte auf das Geländer am Eingang, wartete auf Ruhe und gab dann in sehr wenigen Worten bekannt, dass er an das Osttor zurückginge und dass jeder, der Lust hätte, sich ihm anzuschließen, willkommen sein würde. Mit Ryan und Sam Saropoles marschierte er los. Etwa hundert von den Kriegsteilnehmern in Uniform schlossen sich ihm an und mehr als doppelt so viele Mädchen. Die Mädchen schafften es. Die Kriegsteilnehmer schämten sich und waren zornig, aber die Mädchen waren von einer Wut erfüllt, die nichts ähnelte, was sie je zuvor erlebt hatten. Die Mädchen schafften es, weil da die andern nicht beiseite stehen und Angst haben durften, und Noska, Ryan und Saropoles führten sie langsam die Eichenstraße entlang, am Polizeiamt vorbei und dann auf die Wiese. Dort waren noch immer einige von Curzons Leuten, gleichfalls einige von Gelbs Leuten, und der Plunder all der Schilder und Transparente lag noch herum, aber niemand hielt sie auf oder machte irgendeine Anstalt, sie aufzuhalten, und sie überschritten die Wiese, bis die unregelmäßige lange Kette unmittelbar vor dem Tor stand.
Niemand sprach sehr viel oder hatte Lust zu sprechen, und niemand lachte oder sang. Ryan blieb eine Weile, dann gingen er und der Grieche dahin zurück, wo Renoirs Ford abgestellt war, und fuhren zu Lamars Haus hinüber.
Lamars Familie wohnte in einer Mietetage in der langen Zeile roter Ziegelsteinhäuser, die dem Werk gehörten und die sich über dem Bach in der Vierten Avenue erhoben. Die Wohnung hatte eine Küche, ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer, aber Lamar hatte vier Kinder, und das ergab nicht gerade Behaglichkeit, und dazu war das Haus jetzt voller Menschen und Tränen. Sie hatten Lamar auf eines der Betten gelegt, und seine Frau und seine Schwester und seine alte Mutter saßen weinend daneben, und Pater O'Malley war da und wurde eben mit den letzten Zeremonien fertig, und andere Leute, Freunde und Verwandte, füllten die übrigen Räume, versuchten die Kinder herauszuhalten und sie zu trösten, und einige von ihnen redeten und einige schwiegen einfach. Ryan und Saropoles nickten verschiedenen Leuten zu, die sie kannten, sagten ein paar Worte und standen dann in der Küche, bis Pater O'Malley herauskam. Der Grieche nahm eins der kleinen Mädchen auf, ein schwarzhaariges, drei Jahre altes Kind, das wie ein Engel aussah, wiegte es in seinen Armen und brachte es fertig, seine Tränen zu stillen.
„Hallo, Ryan", sagte der Pfarrer, „das ist nicht der Tag des Herrn, den wir wollten, was?"
„Ein schwarzer Tag", sagte Ryan bitter.
„Ihr habt Sturm gewollt und habt Sturm geerntet, nicht wahr, Ryan?"
„Kein Mensch will Sturm, der nicht krank oder gemein ist", sagte der Grieche ruhig.
Der Pfarrer sah ihn an, schüttelte den Kopf und ging aus dem Zimmer hinaus. Ryan und Saropoles gingen zu der trauernden Familie.
8
In Frank Norman waren jetzt Furcht und Schrecken stärker als der flüchtige Triumph, der ihn verführt hatte, zusammen mit Curzons Leuten zu brüllen, bis er von der wilden Flucht, dem johlenden Haufen und dem Blut auf der Erde halb verrückt war. Als er zwei Stunden später in Tom Wilsons Büro saß, stellte er ein Bild der Niedergeschlagenheit dar, einer solch völligen Niedergeschlagenheit, dass er Gelb zum Lächeln brachte. Gelb war gerade hereingekommen, untadelhaft wie immer, gleich adrett gekleidet, den Schnurrbart aufs Haar genau geschnitten, die langen, männlichen Falten in den Wangen in klarer, kraftvoller Entschlossenheit um das viereckige Kinn gesammelt. Er verkörperte jene Verbindung von gutmütigem Selbstvertrauen und ruhiger Offenheit, die in fast jeder Situation so ungeheuer beruhigend sein kann, und als er sich eine Zigarre anzündete, schien er die tiefsten Abgründe der Seele Frank Normans zu erforschen. Einen langen
Augenblick sah er Norman abschätzend an, dann strich er das Zündholz für seine Zigarre an, tat mehrere tiefe Züge und ging hinüber ans Fenster. Mit dem Rücken zu Norman sagte er: „Na, da sind sie wieder am Tor."
Norman trat zu ihm, und beide beobachteten die sieben- oder achthundert Arbeiter, wie sie vor dem Osttor im Kreise herummarschierten.
„Was werden wir dagegen tun?" fragte Norman unsicher. „Im Augenblick nichts. Wir werden ihnen wieder eins versetzen - aber erst, wenn sie ihren Schwung verloren haben. Wenn sie glauben, sie hätten gewonnen. Was Sie tun müssen, Sohn, ist, Ihr Mädchen zu treffen und den Sonntag zu verbringen, wie er verbracht werden muss. Schütteln Sie dieses Nest aus Ihren Knochen. Wie ich höre, haben Lowells ein Haus oben in den Bergen. Bringen Sie sie dazu, dass sie Sie hinauffährt. Atmen Sie frische Luft. Und überlassen Sie mir die Plackerei."
„Ich habe einfach das Gefühl, dass wir die Geschichte verpatzt haben. Herr Leopold hat Vertrauen zu mir. Ich denke daran, wie er mir sagte, dass er von seinen Angestellten keine Fehler erwartete und dass die Firma keine Fehler entschuldigte."
„Nur Gott ist so vollkommen", sagte Gelb nachdenklich, „keineswegs aber Leopold und James." Dann fügte er hinzu: „Und manchmal zweifle ich auch an Gott." Er winkte mit seiner Zigarre nach der Streikpostenkette. „Mir ist nicht bewusst, dass wir einen Fehler gemacht haben, Frank. Die Commies nennen diese Sache Klassenkampf. Das muss man im Gedächtnis bewahren. Dies hier ist nur ein kleiner Teil eines Geplänkels — denken Sie an den ,Sitzkrieg', den man neununddreißig und vierzig in Frankreich führte. Ein Kanadier und ein Jude sind tot - nun, Juden sind schon früher gestorben, und Kanadier auch; sie werden es auch künftig tun, nehme ich an. Mit diesem Dezember geht ein ruhiges Jahr zu Ende, und da erscheint ein kleines Geplänkel wie dies hier als eine große Sache. Es ist keine große Sache, Frank. Es liegt eine Menge Vernunft in dem, was die Roten sagen, vorausgesetzt, man hat seinen eigenen Standpunkt. Ich habe das früher gesagt, und ich werde es wieder sagen. Die Zeit wird kommen, wo wir sie werden zerquetschen müssen" — er zerdrückte die Zigarre in seinen kräftigen Fingern -, „so, und wenn diese Zeit kommt, nun, Leopold und James sind Realisten. Wenn irgend etwas gesprochen werden muss, lassen Sie mich es tun. Einstweilen gebe ich noch die Befehle und Sie empfangen sie — verstanden?"
Norman nickte, und Gelb sagte: „Gehen Sie los und suchen Sie das Mädchen. Wie steht es mit Ihren Ausgaben?"
„Nicht schlimm", antwortete Norman, unfähig, der strotzenden Energie des älteren Mannes zu widerstehen. „Ich habe noch etwa zwanzig Dollar."
„Gut, wenden Sie sich nur an mich, wenn Sie knapp sind. Einstweilen will Lowell, dass wir noch hier bleiben. Das enttäuscht Sie doch nicht?"
„Nein, Herr. Ich habe diese Stadt gern."
„Was halten Sie davon, wenn wir heute abend zusammen essen? Es besteht keine Ursache, sich wegen heute zu zerreißen. Es wird heute nichts weiter passieren."
„Ja, Herr. Würde sieben Uhr im Hotel passend sein?"
„Sagen wir halb sieben. Und viel Glück und Hals- und Beinbruch."
9
Es war beinahe Mittag, bevor Abbott mit Ruth und Mike Sawyer in seinen Wagen steigen und vom Gewerkschaftsheim wegfahren konnte, und als Ruth ihn nach Frau Craigs Baby fragte, antwortete er, entweder hätte sie es allein gekriegt oder irgend jemand anders hätte es in die Welt befördert, und es gäbe nicht bloß Frau Craigs Baby, sondern auch noch die Patienten.
„Sie können warten, denke ich", sagte Ruth. „Ich möchte Liz Goldstein besuchen."
„Wohin hat man ihn gebracht?"
„Joe und ich brachten ihn runter zum Friseurladen", sagte Mike langsam. „Uns fiel keine andere Stelle ein. Wir wollten ihn nicht nach Hause bringen und seine Frau aufwecken und es ihr sagen."
„Jemand hat es ihr doch gesagt?"
„Hannah hat es getan."
„Dann fahr hinüber zum Friseurladen", sagte Ruth.
„Es musste also Max sein", sagte Abbott. „Wir stichelten und stachelten ihn, bis er mitgekommen ist. Er musste es sein."
„Es hätte auch irgend jemand anders sein können; jemand musste es sein", sagte Ruth.
„Wahrscheinlich. Aber es war nichts für Max. Es war keine Sache, die ihm lag. Er war nicht dafür geschaffen."
„Wer denn?" sagte Sawyer kurz.
„Keiner, glaube ich. Nur vermutet man es bei manchen Menschen, aber nicht bei Max Goldstein."
„Man vermutet es bei keinem", erinnerte ihn Ruth. „Man vermutet es nicht, Elliott, das ist das Ganze. Man kommt aus der Gewohnheit, es zu vermuten. Wenn wir es vermutet hätten, würde es bei Max keine Frage ,Willst du kommen oder willst du nicht kommen' gegeben haben. Max war ein sehr tapferer Mensch. Er war fett und träge und alt — ich meine nicht alt an Jahren, sondern alt, weil er sich den Kampf ausredete -, aber Angst hatte er vor nichts."
Sie kamen zum Friseurladen. Abbott und Ruth waren nicht verletzt worden, aber Mike Sawyer hatte von einem Polizeiknüppel eine Wucht über die Stirn bekommen, und jetzt war eine dicke Beule dort, und der ganze Kopf tat ihm weh. „Erinnere mich daran, dass ich dir drinnen etwas Anacin gebe", sagte Abbott. Ein kleiner Auflauf war vor dem Laden. Sie drängten sich hindurch, mussten aber erst an die Tür klopfen und warten, bis Joe Santana durch die heruntergelassene Jalousie geguckt hatte. Dann öffnete er ihnen die Tür und schloss sie hinter ihnen wieder ab.
Etwa ein Dutzend Menschen waren in dem Laden. Mit einem Frisiermantel bedeckt, lag Max Goldsteins Leichnam auf der langen Bank, auf der sonst Santanas Kunden saßen und auf ihre Rasuren und Haarschnitte warteten. Die Männer und Frauen im Laden hatten traurige Mienen und sahen gequält drein; aus dem Hinterzimmer drang das unaufhörliche und unbeherrschte Wehklagen einer Frau.
„Das ist Liz- Hannah ist bei ihr", erklärte Santana. „Ich habe sie da hinten reingesteckt und die Kinder zu ihrer Großmutter geschickt. Dann habe ich die Tür abgeschlossen, damit der Raum nicht wie ein Wagen der New Yorker Untergrund aussieht. Das hätte doch nichts genutzt, was? Jedenfalls kommt der ILD-Mann (Anm.: International Labor Defence - Internationale Rote Hilfe) herüber, und bis er hier ist, wollte ich alles so lassen. Er bringt Fotografen und noch eine ganze Kolonne mit, um die Zeugen zu vernehmen. Deshalb habe ich auch noch nicht den Leichenbestatter angerufen, und wenn Curzon den Leichnam will, wird er einen Kampf zu bestehen haben. Über Lamar weiß ich nicht Bescheid, aber ich stelle mir vor, Max würde von uns verlangen, dass wir seinen Leichnam Zoll für Zoll verteidigten." „Was für ein ILD-Mann?" fragte Abbott. „Dettinger aus Boston", sagte Sawyer. „Ich rief ihn etwa eine halbe Stunde, nachdem es passiert war, an, und er hat sich mit dem CIO-Vorstand in Verbindung gesetzt. Er hat ein Flugzeug gemietet und dürfte bald hier sein."
„Ihr würdet besser einmal hineingehen und nach Liz sehen", sagte Santana zum Doktor. „Sie ist völlig von Sinnen. Ich habe nie gedacht, dass sie ihn so nötig hätte. Es ist, als hätte man ihr jedes bisschen Boden glatt unter den Füßen weggeschossen." Joey Raye, der dabeistand, fügte hinzu: „Es ist furchtbar traurig, Doktor. Ich hab' noch nie eine Frau sich so anstellen sehen."
„Ich werde ihr etwas zur Beruhigung geben", stimmte Abbott zu.
„Das ist eine komische Sache mit Max", sagte Joe Santana.
„Hatte nie eine Familie und trieb sich immer umher und schlug seine Zeit hier und dort tot. Der reine Wanderphilosoph, wie man zu sagen pflegte, mit andern Worten, ein Bursche, den es juckte, wenn er zu Hause blieb. Aber diese Frau grämt sich zu Tode, wahrhaftigen Gotts."
„Red nicht so albern", sagte Ruth, als sie hineinging und Abbott ihr folgte. „Er ist ein Narr", sagte sie zu ihrem Mann. „Man kann mit Joe Santana die meiste Zeit auskommen, aber in einer Zeit wie dieser ist er unmöglich."
„Reg dich nicht auf", sagte Abbott weich. „Das ist nicht das Schlimmste, was wir gesehen haben oder sehen werden, nicht wahr, Ruth? Du lässt es dir zu nahe gehen. Nimm es leicht. Joe ist ein sehr feiner Bursche. Er ist ein prächtiger Bursche."
„Er ist ein Narr", sagte Ruth.
Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen. Abbott öffnete sie und trat ein, Ruth mit ihm. Die kleine blonde Frau auf dem Bett erkannte sie, unterbrach ihr klagendes Weinen und brachte die Worte heraus:
„Elliott, hast du ihn gesehen und ist ihm nichts passiert?"
Hannah Santana sah den Arzt an, der seinen großen Kopf schüttelte.
„Aber man weiß doch nicht, ob er tot ist. Nur ein Doktor weiß das."
„Er ist tot, Lizzie, Liebling", sagte Abbott sanft. „Er hat keine Schmerzen - er hat überhaupt keine Schmerzen gehabt. Er starb sofort, genau so, als ob er einschliefe."
Hannah hielt die Frau in ihren Armen und wiegte sie hin und her, als ob sie in der Tat das zartgesichtige Kind wäre, dem sie glich, unterdes Ruth die Spritze fertigmachte. Elizabeth Goldstein protestierte nicht, als Abbott ihr die Nadel in den Schenkel stach.
„In ein paar Minuten wird sie ruhig sein", sagte er. „Du bleibst bei ihr, Ruth." Er versuchte, nichts zu denken, nichts zu fühlen, nicht mit sich selbst zu rechten, als er aus dem Schlafzimmer in den Laden zurückging. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie Max Goldstein heute morgen gekommen war und mit ihnen Kaffee getrunken hatte. Er versuchte, sich nicht zu erinnern, wie er und die andern, die an der Haupt- und Staatsaktion des ersten großen Krieges zur Abschaffung aller Kriege nicht beteiligt waren, auf dem Bahnhof gestanden und zugesehen hatten, wie Max Goldstein, der kämpfende Jude, wie sie ihn damals nannten, zum alle umarmenden Ruhme einer neu-englischen Fabrikstadt zurückkehrte. Man nahm Thoreau und Emerson und Oliver Wendell Holmes und man nahm die Bürde der zweitausendjährigen verruchten Schande des Menschen, und man mischte sie in den Vorbergen der Berkshires, und man siebte sie in eine Damepartie und einen durchschnittlichen schläfrigen Yankeetyp, der sich der Wahrheit und des Ruhmes erinnerte, die eine schlechte Melodie mit Worten von Francis Scott Key zur Hymne der Verfolgten und Unterdrückten aller Nationen der Erde gemacht hatten. Er versuchte, nicht daran oder an die endlosen Diskussionen zu denken, die er mit Max Goldstein geführt hatte - schon so lange her jetzt -, um ihn zu überzeugen, dass niemand ein Menschenfreund wäre, der richtig und klar dachte und doch hinter dem warmen Ofen blieb.
„Nun, das ist jetzt vergangener Schnee", überlegte er und versuchte nüchtern das Faktum anzuerkennen, dass ein phantastisch fetter Mensch mit einem kranken Herzen ohnehin nicht sehr lange gelebt haben würde.
„Er hat keine Verwandten, nicht wahr?" fragte er Joe Santana.
„Keine, von denen ich wüsste, Elliott. Sein Vater und seine Mutter sind tot, und er hat nie von sonst jemand gesprochen."
Abbott ging zur Bank hinüber und hob das Laken auf. Das Stahlmantelgeschoß des Revolvers hatte in Goldsteins Kopf nur ein kleines Loch gemacht. Seine Züge zeigten die gelassene Ruhe der Toten, die Augen waren geschlossen. Ein, zwei Minuten stand Elliott da, sah auf seinen alten Freund und Genossen hinab und dachte, dass alle die prächtigen und großen Worte, die die Literatur für solche Gelegenheiten bestimmt hat, völlig zwecklos sind, und nur ein ,Fahrwohl' und ein ,Gute Reise' übrig bleibt.
10
Um vier Uhr an diesem Nachmittag war Mike Sawyer zur Abreise fertig; er saß in Abbotts Wartezimmer, seine Handtasche neben sich, rauchte eine Zigarette und erledigte noch ein paar Dinge, wie sie immer im letzten Augenblick auftauchen, bevor es Zeit wird, zum Zuge zu gehen. Die drei Tage, die er in Clarkton verbracht hatte, kamen ihm sehr viel länger vor, und wenn er Ruth Abbott, ihren Mann und Danny Ryan ansah, hatte er das Gefühl, sie seit einer Zeit gekannt zu haben, die sich nach Minuten oder Stunden oder Tagen oder Jahren nicht messen ließ; denn das waren Maßstäbe, die nicht anwendbar waren. Wo in Menschen eine Stetigkeit vorhanden ist, so sagte er sich, da ist die Zeit nicht leicht zu messen; man traf gute Genossen, lernte sie kennen und verließ sie dann, sei es in Spanien, in Nordafrika, in Italien oder in Frankreich oder auf der gesegneten Erde dieser Staaten, wo es seit dreihundert Jahren Sawyers gegeben hatte. Mit einigen sprach man ein Wort, mit einigen lebte und kämpfte man eine Reihe von Jahren, und einige sah man niemals wieder, und einige doch. Und einige, wie Ryan, stachen einem das Herz mit Groll und Verachtung aus, und andere, wie diese Arztfrau mit ihrer Mädchenfigur und ihrem sommersprossigen Gesicht, sahen einen nur an, und in diesem einen Blick steckte mehr als in Ryans Worten.
Die Tatsache, dass er innerhalb der nächsten vierzehn Tage nach Clarkton zurückkehren würde - sicher binnen dieser Zeit, wenn der Streik bis dahin nicht gewonnen war -, veränderte nicht die Abschiedsstimmung. Hier kämpfte und wuchs und baute sich etwas auf, und er musste weg an einen anderen Ort gehen. Jetzt gestattete er sich, an Ruth Abbott zu denken; jetzt gestattete er sich, die Zügel zu lockern und sich zu gestehen, diese Arztfrau ist alles und mehr, als ich je in einer Frau begehrte; sie ist es für mich und für keinen andern, nicht für ihn oder für Ryan oder sonst jemand, sondern für mich, und es wird nicht sein. Es wird nicht beginnen; es wird nicht enden. Es wird nicht sein.
Er bemühte sich, an etwas zu denken, das er Ryan sagen konnte und das es möglich machen würde, bei seiner Rückkehr sauber von neuem anzufangen, aber seine Worte klangen ungewöhnlich banal - Phrasen, wie froh er wäre, bei dieser Arbeit und hier zu sein. „Ich hatte mir einen Ort wie Chicago oder Cleveland oder Pittsburgh gewünscht, aber jetzt möchte ich lieber bleiben, wo ich bin."
„Wenn man es richtig betrachtet", sagte Ryan, „macht es verdammt keine Menge Unterschied, wo man ist - bis man eine Familie kriegt und sich niederlässt. Und selbst wenn man eine Familie hat, ändert das die Sache nicht wesentlich."
„Wahrscheinlich nicht."
„Wir werden es schon schaffen", sagte Ruth. „Das ist die erste Geschichte, die uns wirklich getroffen hat; wir waren nicht vorbereitet oder hatten an so etwas nicht gedacht, aber jetzt wissen wir Bescheid. Wir werden schon standhalten."
„Das werden wir", stimmte Danny Ryan bei.
Sie gaben ihm die Schuld. Er war nur für ein paar Stunden nach Clarkton gekommen, ein neuer, gehetzter, teilweise verwirrter Distriktsleiter der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten, und er war drei Tage geblieben, hatte anderwärts mehr Arbeit sich anhäufen lassen, als er zu bewältigen wusste, vier andere Streiks, Versammlungen, unklare Situationen dieser oder jener Art, Lebensmittelsammlungen aus knappen und überbeanspruchten Quellen, Führung in dieser Krise oder jener - eine wüste, unordentliche Art von Programm, das er für fünfunddreißig Dollar die Woche und fünf Dollar extra für Spesen entwirren, zu Vernunft und Ordnung bringen sollte; und zu gleicher Zeit sollte er das sein, was die Presse der ganzen Nation so ausführlich und bestimmt als das Meisterhirn einer straffgeknüpften und verhängnisvoll disziplinierten Organisation beschrieb, das Werkzeug Moskaus, geschaffen zu dem Zweck, die Einrichtungen zu vernichten, an die freie Menschen glauben. Und hier, gleich zu Beginn, als er noch keine andere Absicht hatte, als sich vorzutasten und sich mit den Problemen und Nöten der paar hundert Menschen seines Distrikts bekannt zu machen, da fiel ihm eine solche Situation in den Schoß. Er hätte ein Führer sein sollen, aber er hatte keineswegs geführt, er hatte keine Entscheidungen von irgendwelcher Bedeutung getroffen. Er war erst seit wenigen Wochen vom Militär entlassen, wo jeder außer ihm Entscheidungen getroffen hatte, und nun lag dies in seinem Schoß, ein Streik von fünftausend Arbeitern, der Tod von zweien; ein Massaker, wie es sich seit den neunzehnhundertdreißiger Jahren nicht mehr ereignet hatte; die reale Möglichkeit eines langen, verzweifelten, qualvollen Streiks, eines Streiks, der aus Gewalttätigkeit geboren war und in Gewalttätigkeit sich fortsetzte - und er musste heraustreten, ihn sich selbst überlassen, weil es noch andere Orte, andere Städte und andere Werke gab. Er hatte jetzt keinen Sinn für die Organisation; jetzt saß er in diesem warmen, wohlerleuchteten Raum, aber bald würde er allein sein, und er allein würde die Verantwortung tragen. Was er tat, weil es irgendwo in seinem tiefsten Innern für ihn die eingeprägte Notwendigkeit gab, es zu tun, war diese Sache, die gleich einem schreienden, schmerzenden Gewissen in Amerika geworden war; die kleine Gruppe von Männern und Frauen, verflucht und gesegnet, wie anderen Gruppen einst geschah, wenn man so weit zurückblickt, wie Menschengedächtnis reicht: er als einzelner musste diese Organisation sein, ihre Probleme und die Probleme der Welt dazu kennen und sie lösen. Aber er hatte nichts gelöst, und sie gaben ihm die Schuld.
Er versuchte es ihnen zu erklären und zu sagen, aber es hatte keinen Zweck, und er saß da und sah sie stumm an.
„Mach dir nichts draus", sagte Ryan. „Bist du je irgendwohin gekommen, wo sich alles von selbst ergab?"
„Aber ich hinterlasse es in schlechter Verfassung", sagte er. „Es steht verdammt schlecht, und ich gehe einfach davon."
„Du hast eine verwickelte Arbeit", erklärte ihm Ryan. „Ich tue, was ich zu tun habe, weil es schön schwarz und weiß ist, aber für deine Art Arbeit wird es nichts so Leichtes geben. Lass ihr Zeit."
„Es fängt erst an", sagte Ruth Abbott mit einem unbedingten und strengen Klang in ihrer Stimme. „Wir werden alt, und weil wir schon ein paar Jahre davon mitbekamen und weil wir lieber ohne Aufregung als mit Aufregung leben möchten, deshalb vergessen wir, dass es erst der Anfang ist. Data fata secutus — das ist etwas, was Goldstein gern sagte, man wählt sein Schicksal und vollendet es. Das ist eine furchtbare Entscheidung, Mike. Die meisten Menschen, die wir sehen, tun es nie, und einige tun es halb, und einige tun es. Werde Arzt oder etwas Ähnliches, wenn du einen bequemen Beruf willst, aber wenn du eine neue Welt bauen willst, kommt es härter. Es ist nichts Romantisches daran, es bedeutet Tag für Tag ohne Rast oder Frieden oder Sicherheit leben, und wenn du zu der Sorte Menschen gehörst, die eine Belohnung erwarten, dann kommen wir verdammt besser ohne dich aus. Natürlich kamst du nicht hierher wie ein dem Teufel verfallenes Genie, das auf alles eine Antwort weiß; niemand weiß auf alles eine Antwort. Das übrige wirst du lernen, und du wirst es rasch lernen, weil wir nicht ewig Zeit haben. Ryan ist schon lange dabei; es ist keine Schande, von Ryan zu lernen."
„Ich schäme mich nicht", sagte Sawyer langsam. „Es ist schlimmer als das. Ich habe Angst."
„Die Angst wirst du verlieren", sagte Abbott. „Das ist das Gute daran."
Sie fuhren ihn zum Bahnhof und setzten ihn in den Zug. Hernach sagte Ryan: „Du warst hart zu ihm, Ruth."
„Er brauchte jemand, der hart zu ihm war - Mitleid hatte er nicht nötig."
Als sie Ryan am Gewerkschaftshaus abgesetzt hatten, sagte Ruth Abbott zu ihrem Mann: „Wie geht es dir - in Ordnung?"
„Vollkommen", sagte Abbott.
„Du würdest nicht anhalten und mir einen Kuss geben?" Er hielt an und nahm sie in die Arme, und sie lehnte sich an ihn und zitterte ein bisschen. Sie weinte eine Weile, und dann hatte sie es überwunden, und sie fuhren weiter nach Hause.
11
Es überraschte Abbott nicht, dass er Lowell auf ihn warten fand. Im Grunde seines Herzens hatte er gewusst, dass Lowell zu ihm kommen würde, wenn aus keinem andern Grunde, dann einfach deshalb, weil es niemand anders gab, zu dem Lowell hätte gehen können. Das war die nette und verfluchte Logik dieser Geschichte, dass der hochgewachsene, feine und wohlerzogene Neu-England-Edelmann in seinem schäbigen Wartezimmer saß, ihm nicht in die Augen sehen konnte, aber sich bemühte zu erklären, weshalb er gekommen war.
„Du brauchst nichts zu erklären", sagte Abbott. „Wenn du Lust hattest zu kommen, konntest du's natürlich tun." Der Arzt setzte sich in einen Sessel, wartete ab und sah, dass Ruth an der Tür stand, eine kleine, feste, sommersprossige und durchschnittlich hübsche Frau, die sie mit ruhiger, unbewegter Neugier beobachtete. Er fragte sich, ob sie zornig, erbittert, von Hass erfüllt oder, wie er selbst, völlig gleichgültig und jenseits aller Erregung wäre.
„Ich weiß, was du denkst", sagte Lowell.
„Das stimmt nicht", sagte Abbott scharf. „Du weißt nicht, was ich denke, George. Es ist Unfug, wenn du das behauptest. Es ist Unfug, Gefühle auszukramen."
„Willst du, dass ich mich wegschere?" fragte Lowell.
„Es ist egal, George. Wenn du mir etwas sagen möchtest, werde ich zuhören."
„Jesus, verschone mich mit diesem feinen Ton der Rechtschaffenheit!" schrie Lowell. „Das ist wohl die Art eines Kommunisten, die ganze Welt in Schwarz und Weiß zu sehen, in Recht und Unrecht? Für dich gibt es kein Grau, was, Elliott? Es gibt keine Zweifel, keine Unentschiedenheiten, keine Irrtümer, keine Qualen, keine Ängste? Alles ist gemäß einem Plan angelegt, und ich bin ein hundsgemeiner Mörder. Ist es nicht so?"
„Du sagst das. Ich habe es nicht gesagt, George."
„Aber du denkst es."
„Was suchst du eigentlich hier?" fragte Abbott. „Mitgefühl?"
Lowell schüttelte stumm den Kopf.
„Es gibt einige Dinge, die du weißt, nehme ich an", sagte Abbott ruhig. „Du weißt, dass zwei Menschen heute getötet wurden und dass ein dritter gerade eine Chance hat, durchzukommen. Du weißt, dass einer dieser Männer, Max Goldstein, ein Freund von mir war. Hast du mir nicht einmal gesagt, George, dass ein Mann, der vom Glück begünstigt ist, seine Freunde an den Fingern einer Hand zählen kann, dass er aber überhaupt keine Rechnung aufzumachen braucht, wenn er zum Durchschnitt gehört? Ich glaube, du bist es gewesen. Ich kannte diesen Mann Goldstein, seit ich mich erinnern kann, irgend jemand gekannt zu haben. Ich habe von ihm gelernt. Er besaß eine tiefe Weisheit, und ich wusste das, und weil seine Bescheidenheit größer als seine Weisheit war, pflegte ich ihn einen Narren zu heißen, so oft ich zornig wurde und die Geduld verlor... "
„Elliott, ich sagte dir... "
„Lass mich ausreden", sagte der Arzt. „Ich wollte sagen, dass er mit mir nie die Geduld verlor. Das ist nicht ganz wahr. Er hat einmal die Geduld verloren, ein einziges Mal, das war vor neun Jahren. Er war schon ein dickes Fass von einem Menschen, er hat sich in den letzten Jahren nicht viel verändert. Damals pflegten wir über Politik und andere Dinge zu streiten. Er war damals noch kein Roter, aber ich war es, und der Krieg in Spanien war eben ausgebrochen, und ich ärgerte mich über das, was ich seinen monumentalen Stumpfsinn nannte. Ich hatte mich schon entschlossen, nach Spanien zu gehen, aber ich wollte nicht mit leeren
Händen kommen. Ruth und ich hatten einen Plan entworfen, ein Lastauto als Notoperationsraum auszustatten, um ihn an der Front verwenden zu können, aber wir hatten nicht das Geld dafür, und von dem Geld, das in den Städten aufgebracht wurde, konnte nichts für einen Kleinstadtarzt mit einem albernen Plan entbehrt werden. Ich ging zu Max Goldstein mit diesem Problem, und er schrieb mir einen Scheck aus. Er hatte genau achttausendzweihundertsiebenundsechzig Dollar auf der Bank - und über diesen Betrag schrieb er den Scheck aus. Als ich ihn nicht annehmen wollte, verlor er die Geduld, und am Ende nahm ich das Geld und kaufte den Wagen.
„Einen Augenblick noch", sagte Abbott, hob die Stimme und streckte eine seiner großen Hände gegen Lowell aus. „Du hörst mich bis zum Ende an, George! Du bist hergekommen, und jetzt, bei Gott, hörst du mich an! Wenn ich fertig bin, kannst du deine Meinung sagen, aber du hörst erst den Rest der Geschichte. Mit diesem Manne ging ich gestern aufs Gericht. Wir sprachen bei John Curtis wegen Stellung einer Kaution für Danny Ryan und Joey Raye vor. Du kennst Curtis. Du weißt so gut wie ich, was für ein dreckiger, schäbiger, drittklassiger Spitzel eines Politikers er ist, trotz des feinen Überzugs von Beacon-Hill-Politur, den er sich in Boston zugelegt hat. Du weißt auch, dass er dir gehört, mit Leib und Seele, genau wie Jimmy Burton dir gehört, der eines Tages Gouverneur des Staates sein wird, weil er die Interessen der Lowells vertritt. Nun, ich musste dabeistehen und anhören, wie Max von diesem kleinen Hanswurst, der nicht wert ist, ihm die Schuhe zu putzen, beleidigt und erniedrigt wurde, und ich konnte nur an eins denken - dass alles, was ich über Amerika wusste und gelernt hatte, das alte Amerika, das die Abbotts und Lowells vor langer, langer Zeit schufen, als sehr viele von ihnen noch Berufsrevolutionäre waren - alles, was das Wort Yankee mir bedeutete, als ich noch Kind war -, dass all das in diesem dicken, bequemen Juden steckte, dessen Vater ein Bauernjunge in Litauen gewesen war.
Und heute wurde er erschossen, und ich sage, dass du ihn erschossen hast, George. Von mir erwartest du Mitgefühl?"
Eine Weile lang, die ein endloser Zeitraum schien, oder wie ein Loch in der Zeit, das klaffte und nach Inhalt schnappte, oder wie eine Wunde der Zeit war, stand Lowell da, sagte nichts, tat nichts, sah nur gerade vor sich hin und sagte dann schließlich:
„Ich habe es nicht getan, Elliott. Ich schwöre bei Gott, ich wusste nicht, dass es geschah. Ich wusste es nicht."
„Es geschah eben."
„Alles, was ich wollte, war ein anständiger, sauberer Weg aus dieser Geschichte heraus."
„Ich weiß", sagte Abbott überdrüssig. „Ich kenne dich besser, George, als du denkst. Ich kenne dich als einen humanen und einen kultivierten Menschen. Ich habe Schach mit dir gespielt, George. Ich habe Brot mit dir gebrochen. Du hast mir deine Heimlichkeiten anvertraut. Du tatest nichts, George, gar nichts, und du leidest und du verlangst Mitgefühl und Erbarmen."
„Geh zum Teufel", sagte Lowell, nahm Hut und Mantel und ging hinaus. Aber als er durch das kalte Zwielicht Neu-Englands nach Hause fuhr, wusste er, dass es nicht in Elliott Abbotts Macht gestanden hätte, Frieden zu gewähren. Es gab keinen Frieden mehr. Der Tod war ein finsteres Wesen, das in seinem Bewusstsein saß, und selbst wenn er Nacht für Nacht stinkbesoffen wäre, würde das nicht das wartende Ungeheuer vertreiben. Eines starb und ein anderes wurde geboren, aber sein eigner Gefährte war der Tod, und als er den Concordweg entlangfuhr, am Werk vorbei, und die Betonstraße hinauf zu seinem Hause, leistete der Tod ihm ungebeten frostige Gesellschaft. |
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