DONNERSTAG, DER 6.DEZEMBER 1945
1
Die Träume George Clark Lowells waren stets wohlgeordnet, natürlich und bar jener seltsamen und unmenschlichen Note, die den Träumen so vieler anhaftet; und das war, wie sein guter Freund Dr. Elliott Abbott einmal bemerkte, ein tröstliches Zeichen von Normalität. Man durfte sagen, dass seine Träume höchst selten verbotene Wege gingen. So träumte er zum Beispiel diese Nacht oder vielleicht sehr früh in der Dämmerung, dass er mit einem Mädchen Hand in Hand durch einen leichten Sommerregen wanderte. Wer sie war, wusste er nicht, auch war er sich keiner besonderen Neugier hinsichtlich ihrer Persönlichkeit bewusst. Sie war viel jünger als er, natürlich — er selbst war vierundvierzig -, und sie offenbarte ihre Jugend in ihrem geschmeidigen Schritt und im Schwung ihres Leibes. Wie es so häufig in Träumen der Fall ist, konnte er zu gleicher Zeit sich selbst und das Mädchen aus gewissem Abstand beobachten und Hand in Hand an ihrer Seite gehen. Aber trotz des Vorteils dieses doppelten Standpunktes vermochte er ihr Gesicht nicht zu erkennen; es mag auch sein, dass es ihn gar nicht besonders interessierte, ihr Gesicht deutlich zu sehen.
Sowohl er wie auch das Mädchen trugen jene langen grünen Regenmäntel aus Ölhaut, die vor einer Generation üblich und damals als „Glitscher" bekannt waren. Sie waren barhäuptig, und der feine, dunstige warme Regen legte sich auf ihr Haar, brachte Glanz auf ihre Wangen und wehte wie Dampf in ihre lachenden Münder. Sie gingen auf einem Feldweg, und es war gegen Abend.
So angenehm war dieser Traum und so glaubwürdig, dass er beim Aufwachen verzweifelt einen Weg in ihn zurück suchte. Aber es gab diesen Weg nicht, der Traum umwölkte und ver-
flüchtigte sich, und so nahm er die Tatsache hin, dass er wach war. Er sah nach seiner Uhr auf dem Nachttisch neben sich und stellte fest, dass es früh 6 Uhr 45 war.
Um diese Stunde hing eben der erste graue Schimmer des Tageslichts am Himmel, ein kränkliches Grau, das ihm erlaubte, nach der Uhr zu sehen, seine langen, wohlgeformten Finger zu betrachten und die Einzelheiten des Schlafzimmers zu erkennen, die kremfarbenen Wände, die roten Vorhänge am Fenster, die beiden Landschaften an der Wand gegenüber - im ganzen Hotel Bradly dieselben - und den Spiegel des Toilettentisches aus Ahornholz, der genau jenseits des Fußendes seines Bettes stand. Wenn er den Kopf ein wenig nach rechts gedreht hätte, würde er auf dem Kopfkissen neben dem seinen auch noch einen Schopf schwarzen Haares entdeckt haben, aber das vermied er sorgfältig, hielt sich vielmehr ganz steif und horchte auf das regelmäßige, tiefe Atmen seiner Gefährtin.
Als er so dalag, schoss ihm durch den Kopf, was er einmal über den tiefen und sanften Schlaf der Unschuld gehört oder gelesen hatte, und es kam ihm vor, dass entweder ebenso wenig Wahres daran wäre wie an den meisten Moralpredigten - oder dass das Mädchen, das im zwölften Stock des Hotels Bradly, Ecke 66. Straße und Broadway, die Nacht mit ihm verbracht hatte, eine so fleckenlos reine Seele haben müsste wie ein weißes Bettlaken frisch aus der Wäscherei. Die Abneigung, ein jäher Ekel beinahe, die er zu dieser frühen Morgenstunde gegen sie empfand, war ihm keine unvertraute Zutat; er kroch aus dem Bett, voll tödlicher Angst, sie zu wecken.
Er stand nackt in dem ausgekühlten Zimmer, ein großer, breitschultriger, gutgebauter Mann von vierundvierzig. Für seine Jahre hatte er weniger Fleisch am Leibe als die meisten dieses Alters; er hatte keinen Bauch, vielmehr die einigermaßen wohlerhaltenen Muskeln eines ehemaligen College-Athleten. Seinem Körper nach konnte er für jünger gelten als er war, und sein gutgeformter Kopf mit den braunen Haaren begann auch erst an den Schläfen ein bisschen grau zu werden. Der sorgfältig gepflegte kleine Schnurrbart verlieh ihm einen Hauch von Vornehmheit, und die langen glatten Brauen, die tiefliegenden Augen, die leicht gekrümmte schmale Nase, der breite volle Mund und das fast viereckige Kinn vervollständigten das Bild eines schönen Mannes. Gutes Aussehen hatte er von jeher gekannt und zu schätzen gewusst, und nicht der geringste seiner Vorzüge war, dass er es mit großem Anstand zu tragen verstand.
Jetzt ging er leise um das Bett herum, fischte sein Unterzeug und begab sich ins Badezimmer. Die Furcht, das Mädchen aufzuwecken, ließ ihn auf die Dusche verzichten. Er rasierte sich rasch und geübt, verwandte nur einen Augenblick aufs Haar, das er straff nach hinten kämmte, packte seinen Toilettenkram in ein Etui aus Krokodilleder und ging wieder ins Schlafzimmer zurück, um sich fertig anzuziehen. Als einziges nahm er sich die Zeit, aus einem offenen Koffer ein frisches weißes Hemd herauszusuchen, den grünen Schlips und den braunen Noppenanzug hatte er schon den vergangenen Abend getragen. Das Packen dauerte nur einen Augenblick; er hatte eine Reisetasche aus Kalbsleder und einen Kupeekoffer aus Korduan, die er beide geräuschlos und sorgfältig schloss. Er stellte sie zusammen mit einer Aktentasche dicht neben die Tür, und dann gestattete er sich zum ersten Male einen Blick auf das Mädchen im Bett.
Während er sich angezogen hatte, hatte sie sich vom Bauch auf den Rücken gedreht, und ihr linker Arm war weit über den Teil des Bettes geschwungen, wo er gelegen hatte. Der Schlaf verlieh ihren brüchigen wissenden Zügen eine gewisse Lieblichkeit; er gab ihr das Aussehen der dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre wieder, die ihr Dasein bisher zählte.
George Clark Lowell gestattete sich nur einen flüchtigen Blick. Er verspürte weder Sympathie noch Verlangen in diesem Augenblick; seine Vorstellung von ihr hatte keine bestimmte Form, sie erschien ihm weder als eine Schlampe noch als ein menschliches Wesen überhaupt, noch war sie jemand mit einem
Namen, einem Charakter, einer Vergangenheit oder einer Zukunft.
Er zog seine Geldmappe aus der Brusttasche und legte einen Zwanzigdollarschein auf den Toilettentisch; nach einem Augenblick des Zögerns fügte er noch einen zweiten hinzu. Dann öffnete er behutsam die Tür, nahm sein Gepäck heraus und zog ebenso behutsam die Tür hinter sich zu. Er brachte die Sachen selbst zum Fahrstuhl, und die Fahrstuhlführerin war gleich verschlafen wie uninteressiert. In der Tat, niemand im Bradly kümmerte sich groß um die leichteren oder schwereren Sündenfälle derer, die dort Zimmer mieteten. Die Lage des Hotels, sieben Häuserblöcke jenseits der Grenze des hier im Stadtwesten Begehrenswerten, hatte die modernen fünfzehn Etagen aus rotem Backstein schon längst dem besonderen Gewerbe ausgeliefert, dem es sich widmete.
In der trostlosen Halle hörte sich der Nachtportier an, was George Clark Lowell sagte:
„Ich fahre mit dem Frühzug. Ich gehe jetzt gleich, bezahle aber für den ganzen Tag. Meine Frau wird das Zimmer noch bis heute nachmittag benutzen."
Selbst wenn der Portier seinen richtigen Namen gewusst hätte, würde er ihm nichts bedeutet haben, und zwei Menschen in einem Zimmer waren immer Mann und Frau.
2
Als Lowell auf dem Grand Central seine Koffer aufgegeben und an der Bar eine Tasse Kaffee getrunken hatte, fühlte er sich einen guten Teil wohler. Sein Schuldbewusstsein, das mit Ekel vor sich selbst gemischt war - stets hinterher und fast nie vorher -, wurde wie gewöhnlich durch die Überzeugung gemildert, dass er wieder frei war, dass eigentlich nichts Besonderes geschehen war, und dass das Ganze, gleichfalls wie gewöhnlich, allmählich in ein Gefühl vollbrachter Leistung übergehen würde.
Der kalte Hauch des unfreundlichen Wintertages erfrischte ihn, und da er bis zur Abfahrt des Zuges noch etwas mehr als drei Stunden vor sich hatte, entschloss er sich, zum Universitätsklub im Zentrum zu gehen, sich durch den Weg Appetit zu machen, vor dem Essen gerade nur einen Whisky mit Zitrone zu trinken und hinterher Lois ein Geschenk zu kaufen. Wenn er an ein Geschenk dachte — wie er unausweichlich zu tun pflegte —, so störte es ihn nicht, dass er auf einen durchaus gewöhnlichen Fehltritt auf durchaus gewöhnliche Weise reagierte. Es war schon lange her, dass er über das Bedürfnis nach bewusster Motivierung hinaus war. Er war ein entwaffnend ruhiger Mensch, und wenn er je darüber nachdachte, so vermochte er sich leichtlich zu überzeugen, dass er keineswegs ein schlechter Mensch war. Diese periodischen Unterbrechungen eines verhältnismäßig geruhigen Lebens waren von geringer Bedeutung.
Er kam mit dem frühesten Strom der täglich zur Arbeit Fahrenden aus dem Grand Central heraus, ging westwärts bis zur 5. Avenue und weiter ins Zentrum hinein. Er liebte solche simplen Dinge wie das Gehen an sich, und als er im Klub anlangte, war die letzte Nacht mehr oder weniger vergessen, um so rascher, da er auf dem Wege noch einmal die Angelegenheit überdacht hatte, die ihn aus der Stadt in Massachusetts, wo er wohnte, nach New York geführt hatte.
3
Leopold und James waren Industrieberater mit Büros im 32. Stock des Empire State Hochhauses. Als Lowell ihr Vorzimmer betreten hatte — um dreiviertel drei vergangenen Nachmittag - hatte er sich ziemlich unbehaglich gefühlt, ein Gemütszustand, der dadurch nicht gebessert wurde, dass die Büros gerade in dem Stil eingerichtet waren, den er am allerwenigsten leiden mochte: eine Art Modernismus des Maschinenzeitalters aus Glasziegeln, schlecht angewandtem gezogenen Chrom, geschmacklosem getriebenen Kupfer und Stahlsesseln mit Sperrholzsitzen. Der mattblaue Teppich auf dem Fußboden war mindestens einen Zoll dick, und auf einem ungeheuren, niedrigen Glastisch lagen Exemplare der Fortune, der United States News und des Wall Street Journal. Er steckte sich eine Zigarette an und hatte sie zur Hälfte aufgeraucht, bevor eine stämmige Frau mittleren Alters in Schuhen mit niedrigen Absätzen ihn in das Zimmer von James geleitete. Hier war das Mattblau auf die Vorhänge ausgedehnt worden und auf die Tapete: ein fotografisches Panorama des Yellowstone-Parks oder eines anderen Teils des Felsengebirges - weiße Berggipfel und Tannenwälder und glitzernde Seen, in blauen Farbtönen gedruckt. James saß an einem grauen Schreibtisch vor einem riesigen Fenster; das Licht der Wintersonne rahmte ihn in eine Aussicht von grenzenloser, wunderbarer Weite, von Himmel und Wolken. Er war ein sehr kleiner, zierlicher Mann und wie ein Vogel in seinen Bewegungen. Er hüpfte um den Schreibtisch herum, schüttelte Lowell die Hand, drückte ihn in einen Sessel und stürzte sich sogleich, im Widerspruch zur Gesamtsumme der bisherigen Eindrücke, geradezu heftig in die Angelegenheit, die sie zusammengeführt hatte. Seine Aussprache verriet einen leichten, kaum bemerkbaren ausländischen Akzent - einen Akzent, den Lowell nicht unterbringen konnte, der sich ihm mit keinem Land, keinem Gebiet verband.
„Ich freue mich, dass Sie selbst hergekommen sind, um mit mir zu sprechen, Herr Lowell", sagte er. „Es sind heikle Dinge, die man heikel behandeln muss. Man muss sie wirksam, aber heikel betreiben. Sie sind notwendig, aber heikel." Jedes Mal, wenn er „heikel" sagte, kratzte seine Stimme wie eine Feile. Lowell, der moralisch so prompt reagierte, fühlte weder Zu- noch Abneigung, sondern eher eine Art von Bestürzung. Späterhin fiel ihm ein, dass er in genau der gleichen Weise reagiert haben würde, wenn ein prächtiger irischer Vorstehhund, der ihm einmal gehört hatte, die Schnauze geöffnet und ihn angeredet hätte. Der Widerwille kam erst hinterdrein; jetzt jedenfalls war er froh, dass während der ganzen Zeit ihres Gesprächs das Gesicht des Mannes im Schatten blieb.
„Sie sind mir sehr empfohlen worden", sagte Lowell.
Der kleine Mann lächelte und nickte; es war das einzige Mal, dass er lächelte.
„Für mich ist es eine neue Situation", sagte Lowell. „Sie erscheint mir ungeheuer kompliziert. Ich nehme an, dass sie für Sie nicht kompliziert ist."
„Ich halte niemals etwas für einfach."
„Ich weiß nicht, wieviel Sie von mir wissen", sagte Lowell. „Ich nehme an, Sie haben sich über mich erkundigt. Sie haben den Ruf, sehr gründlich zu sein."
„Bei unserer Tätigkeit muss man sehr gründlich sein. Wenn man es genau nimmt, ist das unser einziges Aktivum. Es ist keine Kunst, es ist eine Methode."
„Wahrscheinlich", sagte Lowell.
„Methode ist die Grundlage von allem. Sie haben die Fabrik jetzt fünf Jahre?"
„Ungefähr", antwortete Lowell. „Mein Vater starb 1940. Er war ein altmodischer Mensch, er erledigte seine Angelegenheiten selbst. Ich behaupte nicht, ihn durch und durch zu kennen, aber ich glaube nicht, dass er Ihre Hilfe gesucht hätte."
„Sie kamen nicht gut mit ihm aus?" fragte James.
„Ich kam sehr gut mit ihm aus!" antwortete Lowell entschieden. „Aber ich hatte keine Lust an dem Geschäft. Auch jetzt habe ich noch keine. Es war gar nicht nötig, dass ich mich damit abgab. Ich hatte sowieso genug. Meine Frau auch."
„Aber jetzt fühlen Sie sich verpflichtet, ernsthaft verpflichtet Ihrem verstorbenen Vater gegenüber, sagen wir?" Es klang keinerlei Sentimentalität aus der Stimme des kleinen Mannes, er wählte seine Worte, reihte sie mit Sorgfalt aneinander, und die Stimme kratzte wie eine rostige Feile.
„Sagen wir nicht!“ fuhr Lowell auf. „Der Krieg kam, die Sachen wurden gebraucht." Er sagte nicht, dass er selbst nicht gebraucht worden war, dass ihn seine laschen Bemühungen, ins Heer einzutreten, doch bloß an einen Schreibtisch im Kriegsministerium geführt hätten, wie es vielen seiner Freunde mit ihren Bemühungen ergangen war. „Ich trage ein sehr bedeutendes Unternehmen auf meinen Schultern", erklärte Lowell eindringlich, „und ich befinde mich in einer ungewohnten Lage. Ich glaubte, all das hätte man Ihnen schon erklärt. Mein Vater hätte in solch einer Situation ganz genau gewusst, was zu tun wäre, er war so ein Mensch. Ich suchte den Rat anderer, und man verwies mich an Sie."
Der kleine Mann nickte ernsthaft.
„Genau gesagt, ich wünsche, dass meinem Eigentum nichts passiert", fuhr Lowell fort. „Ich will nicht, dass der Streik abgewürgt wird, verstehen Sie ... ?" Er sah James verstohlen an, entdeckte mit Erstaunen, dass er vor ihm Angst hatte, und zwang sich zu einem wohlbedachten, beinahe unverschämten Vorgehen. „Machen Sie bitte das Licht an!" sagte er, indem er zu der Lampe auf James' Schreibtisch nickte. Nach einem reichlich langen Augenblick des Schweigens erhellte der kleine Mann mit einem Knips des Schalters sein Gesicht und wurde ein alltäglicher Mensch mit scharf geschnittenen, gerissenen Zügen. „In den dreißiger Jahren haben Sie Streiks abgewürgt, soweit ich unterrichtet bin", fuhr Lowell sanft fort. „Heute aber sind nicht mehr die Dreißiger."
„Das ist mir bewusst."
Sie mochten einander nicht, das war nun offenbar, und keiner von ihnen würde es vergessen.
„Ich werde Ihnen zwei Leute schicken - zwei sehr tüchtige Leute", sagte James. „Die Polizei wird mit ihnen zusammenarbeiten." Dann fügte er einen wohlüberlegten Nachsatz hinzu: „Ihr Vater ließ aus Anaconda drei Mann kommen, um sie an die Spitze der Polizei zu stellen." Er wusste, dass Lowell dies nicht bekannt war, und vermochte nicht dem Verlangen zu widerstehen, den kleinen Triumph herauszuquetschen. „Das war zweiunddreißig." Sollte Lowell doch herumrätseln, ob sein Vater und dieser Mensch je miteinander zu tun gehabt hatten. „Jack Curzon - er ist doch noch immer Polizeichef?"
„Jawohl", sagte Lowell.
Bald darauf war er mit den restlichen Einzelheiten fertig und verließ das Büro. Er ging in die Astorbar, ein Lokal, das er hasste, trank drei Martinis und wurde davon betrunken. Dort las er auch das schwarzhaarige Mädchen auf. Er ging mit ihr Abendessen, und hernach zog er aus dem St. Regis aus und quartierte sich mit ihr im Bradly ein.
4
Es war viertel vor neun, als er beim Universitätsklub anlangte. Im Fahrstuhl, der zum Speisesaal hinauffuhr, erkannte er Francis Simpson wieder, dem er seit Paris 1934 nicht wieder begegnet war. Es war ein langsames Wiedererkennen, von einem Stock zum andern, da sie niemals besonders gute Freunde gewesen waren, sich nur vom College her kannten und sich später einmal im Ausland getroffen hatten. Simpson sah alt aus und hatte eine tiefe Falte im Fleisch unter dem Kinn -ein Mondgesicht mit Brille. Lowells Reaktion darauf, eine Art Mischung von Mitleid und Verachtung, entsprach der ziemlich starken Reaktion, die er auf dem einen und einzigen Treffen ehemaliger Schüler, dem er vor etwa vier Jahren beigewohnt, empfunden hatte.
Simpson hatte einen großen mageren Mann bei sich, den er Lowell als Herrn Bernstien vorstellte, und darauf luden beide Lowell ein, mit ihnen zu frühstücken. Ihre Aufforderung war nicht ernst gemeint, und Lowell hätte abgelehnt, wenn es ihm nicht so unsympathisch gewesen wäre, allein zu essen. Er setzte sich mit ihnen zu Tisch, bestellte Kaffee und Toast, und in der nächsten Viertelstunde hörte er fast ausschließlich ihrem Gespräche zu. Er ertappte sich dabei, dass er ganz unvernünftigerweise Simpson beneidete, der mit dem OWI (Anm.: Office of War Information — Kriegsinformationsbüro) zwei Jahre lang in Übersee gewesen war und jetzt eine Stellung beim Columbia-Rundfunk hatte. Bernstien, so entnahm Lowell dem Gespräch, war ein ehemaliger Hollywoodliterat, der jetzt für den Rundfunk arbeitete — irgendwelche Radioschriftstellerei, was es genau war, konnte er nicht herausbekommen —; nach ein oder zwei Bemerkungen aber, die nebenbei fielen, war er noch vor einem Jahr Oberst bei der Nachrichtentruppe gewesen. Sie unterhielten sich über ein spezielles Programm, und Lowell, der außer den Nachrichten und gelegentlich etwas Musik fast niemals Radio hörte, fand sich in eine ihm mehr oder weniger fremde Welt versetzt. Er erinnerte sich an ein Buch, das Lois gerade in der vergangenen Woche gelesen und ihm zur gelegentlichen flüchtigen Lektüre gegeben hatte. Er hatte es gelesen, wie er die meisten modernen Romane las: oberflächlich, uninteressiert, mit dem Endergebnis, dass schließlich kaum ein Eindruck haften blieb. Jetzt aber trat ihm einiges daraus wieder ins Gedächtnis, und als Simpson sein Gespräch plötzlich unterbrach und ihn fragte, was er denn täte, sagte er naiv: „Wie? Ich habe nicht zugehört, Francis."
„George ist Rentier", erklärte Simpson seinem Freund. „Er ist Millionär, einer der wenigen wirklichen Millionäre, die ich je gekannt habe."
Bernstien lächelte verlegen, und Lowell spürte ein überwältigendes Verlangen, sich über den Tisch zu lehnen und eine von Simpsons feisten Backen zu ohrfeigen. Er überwand den Impuls, grinste statt dessen Simpson schwächlich an und trauerte dabei dem Whisky sauer nach, den er bestellen wollte, aber ganz vergessen hatte. Er murmelte etwas über die Roten und das OWI und was sonst seiner Meinung nach Simpson erlebt haben musste, und Simpson grinste zurück und sagte zu Bernstien:
„Ich sagte dir ja. Er ist ein in der Wolle gefärbter Reaktionär, ist es immer gewesen."
„Francis ist kein Roter", sagte Bernstien. „Keineswegs. Er ist ein guter Liberaler, mit sehr entschiedenen Ansichten über eine Menge Dinge."
Lowell blieb gerade so lange wie schicklich, unterschrieb dann die Rechnung und ging. Als er auf die Straße kam, zitterte er vor Wut - etwas, das ihm seit langer, langer Zeit nicht passiert war.
5
Zur Abfahrtszeit, als er sich mit einem Buch, Zeitungen, einer Extrapackung Zigaretten und dem Geschenk für Lois im Salonwagen eingerichtet, als er dies alles und sich selbst dazu mit der Aussicht auf die bevorstehende einigermaßen langweilige Fahrt verschmolzen hatte, war sein Zorn verflogen, und er war bereit sich einzugestehen, dass es überall unsympathische Menschen gab und man ihnen unschwer begegnen konnte. Und später noch, wenn er genauer darüber nachdächte -was er bestimmt tun würde -, würde er sogar feststellen, dass diese beiden nicht unsympathischer waren als seine sonstigen Bekannten, und er würde sich fragen, wie er es bereits früher getan, ob er nicht etwa gegenüber allen Menschen seines Bekanntenkreises Abneigung entwickelte. Dieser Zeitpunkt trat ein, während der Zug noch auf seiner Hochbahnkonstruktion durch Harlem rasselte. Er betrachtete die Häuser mit der leeren Neugier der Tausenden, die täglich an ihnen vorüberfuhren; er stellte sich die Frage und beantwortete sie mit der mehr oder weniger objektiven Feststellung, dass Bernstien ein ganz angenehmer, ziemlich harmloser Mensch zu sein schiene und dass Simpson zu jener Sorte Menschen gehörte, die mit den Jahren sichtlich herunterkommen, trotz aller Mühe nichts erreichen und stets von Leuten wie George Clark Lowell umgeben sind — umgeben, doch ohne ein engeres' Verhältnis zu ihnen als das des Neides. Wenn es statt dieser beiden zwei andere gewesen wären, würde er wohl auf ziemlich die gleiche Weise reagiert haben, und er verfiel auf den flüchtigen Trost, dass er über Dinge solcher Art anders denken würde, wenn sein Sohn noch lebte.
Aber er wollte nicht an den Jungen denken; seitdem Elliott Abbott, übrigens mehr in Bezug auf Lois als auf ihn selbst, einmal bemerkt hatte, dass das Grübeln darüber zu einem schlimmeren Laster werden könnte als ein Rauschgift, seitdem versuchte er seine Gedanken sorgsam zu beherrschen. Lois würde sich über das Geschenk freuen, dachte er; es war ein schlangenartiger Schal für den Hals, aus schmiegsamem Goldgewebe, ein sehr schlichtes Stück und nicht zu teuer. Er würde ihn ihr im Auto geben, sie würde ihn heute zum Abendessen tragen und dann wahrscheinlich für mindestens ein halbes Jahr nicht wieder. Und trotzdem würde sie sich darüber freuen.
Der Wagen war fast leer, ein Halbdutzend Leute außer ihm - das Reisen auf der Eisenbahn hatte sich so rasch verändert, seit der Krieg zu Ende war! Als er sich ein- oder zweimal umgesehen hatte und überall dem sonderbar leeren Starren begegnet war, das die Amerikaner in der Eisenbahn und in öffentlichen Fahrstühlen anzunehmen pflegen, verlor er das Interesse ebenso, wie er das Interesse an den Mietshäusern entlang der Bahn verloren hatte. Er öffnete das Buch, das er gekauft hatte: die Kurzgeschichten von Ernest Hemingway in der Ausgabe der Modern Library. Er durchblätterte es und versuchte sich des Titels einer Geschichte zu erinnern, die er vor langer Zeit einmal gelesen hatte: von einem Ehepaar, das nach Afrika auf Löwenjagd gefahren war, und wie die Frau, ein Biest von Weib, ihren eigenen Gatten auf eine besonders scheußliche Weise ums Leben gebracht hatte. Auf welche Weise eigentlich, darauf konnte er sich nicht besinnen, aber er erinnerte sich an einen Satz des Inhalts etwa, dass die amerikanischen Männer im Jünglingsstadium verbleiben, bis sie plötzlich mitten in ihr reifes Alter geraten. Er fand die Geschichte nicht, die er suchte, aber jene Zeile blieb ihm im Kopf, und als er eine der Erzählungen zu lesen begann, waren seine Gedanken anderswo, und drei Seiten Wörter zogen an ihm vorbei, ohne dass er ihren Sinn im geringsten erfasst hätte.
Statt dessen dachte er daran, wie er seinen Sohn zum letzten Male gesehen hatte und wie so durchaus angenehm das Verhältnis zwischen ihnen gewesen war. Nach dem Urlaub zu Hause waren sie zusammen nach New York geflogen, und er hatte dem Jungen gesagt: „Wenn du mit einem Mädchen verabredet bist oder dich mit einem Mädchen verabreden musst oder möchtest, oder wenn du eins besuchen willst oder im Central Park herumlaufen möchtest, bist du eins triffst, das dir gefällt - dann sag es ruhig, ich finde dann schon meinen Weg allein nach Hause... "
Nein, der Junge war wirklich froh gewesen, mit ihm zusammen zu sein, darüber war damals gar kein Irrtum möglich. Sie waren von einer Größe und Figur und sahen mehr wie älterer und jüngerer Bruder aus denn wie Vater und Sohn. Zusammen traten sie aus dem Flughafengebäude heraus, gingen in dem warmen Sommernachmittag die 5. Avenue hinauf und verbrachten vor dem Mittagessen zwei müßige Stunden im Zoo. Und die ganze Zeit über war Lowell so stolz gewesen, an der Seite dieses hübschen jungen Burschen in Uniform zu sein, dass er glühte, als ob er verliebt und mit seinem Mädchen im Sonnenschein unterwegs wäre.
An jenem Nachmittag war sein Stolz ganz offenbar Besitzerstolz gewesen, und er hatte darin geschwelgt. Wenn sich die Leute nach seinem Sohn, nach Clark umdrehten, spürte er, wie es ihm um die Mundwinkel zuckte. Beim Essen bemerkte er ein Mädchen, das sie übers ganze Restaurant hinweg ungeniert anstarrte, und als Clark zu ihm aufsah, trafen sich ihre Blicke im Bewusstsein gemeinsamer Schuld.
Aber da seine Gedanken nun auf diesen Nachmittag geraten waren, versank er in ihnen wie ein erschrockener Flüchtling, der vor seinen Verfolgern ohne Überlegung in einem Sumpfe Zuflucht sucht und sich dort in der Falle sieht. Der Schaffner half ihm auszubrechen, und als seine Fahrkarte gelocht war, fragte Lowell, wo der Speisewagen wäre.
„Drei Wagen weiter vorn", sagte der Schaffner.
Er ließ den Schaffner nicht los: „Ich erinnere mich, dass es vor einem Jahr in den Zügen noch anders aussah."
„Heute ist das Reisen bequem", stimmte ihm der Schaffner bei. „Warten Sie ab, um die Feiertage wird es wieder voller."
Dann war Lowell so weit, dass er aufstehen konnte. Er ging nach vorn in den Speisewagen, fand einen leeren Stuhl und bestellte einen Whisky-Soda; dabei überlegte er, dass diese Speisewagen wenigstens ein unveränderlicher Faktor des Lebens wären, das er kannte, der Gesellschaft, der er angehörte. Sie veränderten sich niemals, die Gesichter darin waren stets dieselben. Er zwang sich dazu, in den inhaltsleeren mittelältlichen Mienen von Geschäftsreisenden, kleinen Angestellten, Rechtsanwälten und Agenten - grauer Noppen und braunes Kammgarn, schlecht oder gar nicht geschminkte Frauen - nach Sicherheit zu suchen. Er zog Beruhigung daraus, und als sein Trunk kam, war er imstande, ein Heft des Life in dem schwarzen Einband der New York, New Haven und Hartford-Eisenbahn zu öffnen, sich die Bilder anzusehen und an seinem Glase zu nippen, genau so normal wie jeder andere im Wagen.
6
In Northampton erwartete ihn Lois mit dem Auto, und Lowell war ehrlich erfreut, sie zu sehen, war sogar begierig auf die fünfundvierzig Meilen Fahrt, die vor ihnen lagen. Der erste Blick auf seine Frau, die neben dem Wagen stand, gab ihm Sicherheit. Sie war nur zwei Jahre jünger als er, hatte aber ihre Figur bewahrt; das Fleisch hatte gehalten, ohne Büstenhalter und Hüftgürtel; und wenn er sie sah - immer beim ersten Anblick, selbst wenn er sie, wie jetzt, erst vor anderthalb Tag zuletzt gesehen hatte -, erschien sie ihm jugendlich, überraschend jugendlich. Sie war eine langgliedrige Frau mit grauen Augen, lichtbraunem Haar und einem sehr guten Teint. Ihr ungewöhnlich breites Gesicht, die lange, gerade Linie ihrer Brauen störten zunächst ein wenig; sie war nicht hübsch im üblichen Sinne, und manchmal erschien sie als geradezu reizlos, aber die Männer sahen sie doch wieder und wieder an - und wenn das ruhevolle, beinahe kuhhafte Gesicht aufleuchtete, sich belebte, dann war sie im vollsten Sinne eine anziehende Frau. An diese zeitweilig erscheinende königliche Eigenart erinnerte sich Lowell von dem ersten Male an, da er sie überhaupt gesehen hatte, und es war diese selbe Eigenart, die nun ein so dringendes Bedürfnis in ihm stillte.
Sie waren schon unterwegs, bevor noch der eine oder andere mehr als ein Wort oder zwei gesprochen hatte. Sie liebte es, den Wagen zu lenken, fuhr schnell ohne zu hetzen und war, nach stillschweigendem Einverständnis beider, ein besserer Fahrer als er. „Fern brauchte den Zweisitzer", sagte sie, um den großen viertürigen Buick zu entschuldigen, aber er war froh darüber, über seine Geräumigkeit und Wärme. „Ich glaubte, es würde schneien", sagte sie. „Es sah dauernd nach Schnee aus. Hat es in New York geschneit?"
„Nein... nein", sagte er, dachte sogleich an das Geschenk und fügte hinzu, dass er ihr etwas mitgebracht hätte. „Willst du es hier oder zu Hause?"
„Hier natürlich." Sie legte ihm abwehrend die Hand auf den Arm und fügte hinzu: „Warte, ich möchte raten."
„Es wird dir nicht gelingen, ich glaube nicht. Ich sah es zufällig und kaufte es sofort. Als ich es sah, dachte ich gleich, dass es dir gefallen müsste."
„Du hast es in der Tasche, also ist es ziemlich klein. Ein Buch ist es nicht. Warum hast du dir die Geschichten Hemingways als Lektüre gekauft, wenn du sie so wenig magst?"
Er holte den Schal hervor und legte ihn ihr übers Knie. Mit raschen, methodischen Blicken sah sie ihn sich an, schätzte seinen Wert ab und protestierte nicht, wie es eine andere wohl getan hätte, weder gegen das Geschenk noch gegen den Preis. „Leg ihn mir um den Hals", sagte sie; er tat es und bemühte sich dabei, sie nicht aus dem Fahrttempo zu bringen.
„Er ist reizend", sagte sie. „Ich danke dir. War die Reise ein Erfolg?"
„Wenn du so etwas Erfolg nennst. Ich traf den Mann, den ich treffen wollte, und habe mit ihm gesprochen."
Mit einem Blick zur Seite sah sie seinen herabgebeugten Kopf, das Aufflammen eines Streichholzes, und der Rang seiner Persönlichkeit wurde ihr bewusst, der Gedanke, dass sie glücklich war, in ihrem Alter noch zu lieben. Der Abend fiel auf die buschige Landschaft von Neu-England. Sie knipste die Scheinwerfer an, schluckte und sagte bedächtig:
„Ich mag das Wort nicht, George, es ist ein abscheuliches, ein schmieriges Wort — und man nennt uns so und zieht damit über uns her; aber waren die Leute, wegen derer du in die Stadt gefahren bist, Streikabwürger?"
„Warum?"
„Warum ich dich frage, George, oder warum mir so etwas einfällt?"
„Ich möchte bloß wissen... "
„Ich denke über mancherlei nach", sagte sie ungeduldig. „Elliott war es nicht, George. Aber seitdem diese Geschichte im Gange ist, frisst sie dich auf. Es ist nichts für uns. So etwas passt nicht zu uns."
„Ich glaube auch, dass es nicht zu mir passt." Er zog mit dem Finger Linien auf der Schutzscheibe. „Zu meinem Vater hätte es gepasst — meinst du das etwa? Aber nicht zu mir!"
„George!"
„Sie sind keine Streikabwürger", sagte er, und ein Klang von Müdigkeit kam in seine Stimme. „Wie kommst du auf solche Gedanken, Lois? Früher hat es so etwas gegeben, glaube ich, aber heutzutage kommen diese Dinge nicht mehr vor. Ich war etwas aus dem Geleise geraten, ganz wie du sagst. Wir sind keine Morgans oder Du Ponts oder Tom Girdlers, und ich habe auch keine besondere Lust, ihnen nachzueifern. Ich fühlte mich unsicher, weiter nichts; im Werk sprach ich mit Tom Wilson darüber, und er meinte, dass ich mich einmal an diese Leute wenden sollte, wenn auch nur der Vorsicht halber - um einige notwendige Schritte im voraus zu tun und späteren Unannehmlichkeiten vorzubeugen."
„Aber was sind das für Leute, mit denen du gesprochen hast?"
Es bedrückte ihn, dass er es selbst nicht genau wusste, dass er als Antwort eine Ausflucht gebrauchen musste. „Industrieberater, was, wie ich glaube, alles umfassen kann. Ich glaube, es umfasst auch alles. Diese Leute sind Spezialisten in Arbeitsfragen. Sie fassen die Probleme, die ein Streik stellt, unter der Kategorie des Schutzes auf, Schutz der Streikenden sowohl wie Schutz des Betriebs. Beides gehört zusammen, musst du wissen. Ich würde sie nicht Streikabwürger nennen, Lois. Sie schicken zwei Mann herauf... "
„Nur zwei Mann?"
„Ja, mehr nicht, keine ganze Armee." Er wandte sich ihr zu, zornig im Moment, wobei ihm bewusst ward, dass er sich schon den ganzen Tag über gewünscht hatte, mit Anstand auf jemand zornig zu sein. „Wofür hältst du mich denn? Du weißt doch genau, wie ich über diese verdammte Fabrik denke! Du weißt, was ich stets davon gehalten habe."
„Ich weiß, George."
„Was immer mein Vater tat, damals war eine andere Zeit, ein anderes Jahrhundert. Als sie das Land hier aufbauten, waren sie nicht wählerisch."
„Ich weiß, George", sagte sie; „es tut mir leid, dass ich überhaupt davon angefangen habe."
Er steckte sich noch eine Zigarette an und sank ins Schweigen zurück. Er konnte bei einem Zwischenfall wie diesem kindisch genug sein sich vorzunehmen, dass er nichts mehr sagen wollte, bis sie zuerst spräche, und die Einsicht, dass sie das durchschaute, erbitterte ihn noch mehr. Es war jetzt ganz dunkel geworden; das Gewoge der Vorberge, die Steinmauern und spärlichen Felder verschwammen in den Abend von Massachusetts; über dem scharfen Lichtkegel der Scheinwerfer zeigte sich ein kläglicher Streifen Rosa, den die sinkende Sonne hinterlassen hatte. In regelmäßiger Folge durchfuhren sie die kleinen Städte, Perlen auf einem Halsband von Beton, folgten der Straße, die sich in die Vorberge hinaufwand, und waren fast zu Hause, bevor Lois sagte:
„George, hatte Clark ein Mädchen?"
Er hatte ein wenig geschlummert; er wurde wach, ohne seinen Kummer noch zu spüren, und versuchte, in dieser neuen Richtung zu denken.
„Ein Mädchen? Ich glaube wohl - ich glaube sogar, eine ganze Menge."
„Ich meine, hatte er eine besonders intime Freundin? Ein Mädchen, von dem wir nichts wussten?" Sie kamen an die Kreuzung, wo sie entweder geradeaus in die Stadt und am Werk vorbei oder rechts einbiegen und ohne Umweg nach Hause fahren konnten. „Du hast nichts dagegen, wenn ich gleich nach Hause fahre?"
„Ich möchte sogar, dass du es tätest", sagte er. „Was ist mit heute abend?"
„Ich habe Elliott und Ruth zum Essen gebeten."
„Wird Fern auch da sein?"
„Sie hatte die Absicht. Ich meinte, ein Mädchen aus der Stadt, George."
„Ich weiß es nicht. Und was könnte sich auch dadurch ändern?"
„Nichts Besonderes, nehme ich an, aber mir selbst würde es doch etwas bedeuten. Ich möchte gern Bescheid darüber wissen. Ich möchte wissen, wer sie war und wie sie aussah. Möchtest du es nicht wissen?"
„Nicht besonders dringend", sagte Lowell.
„Wir hatten Frau Delara bei uns, sie näht ein Kleid für Fern, und sie begann von einem italienischen Mädchen zu erzählen, hier in der Stadt, das mit Clark herumgelaufen sein soll. Es scheint, dass ein Haufen Leute in der Stadt Bescheid darüber wissen, und ich meinte, dass ich das Mädchen einmal sehen und mit ihr sprechen müsste... "
Sie sah ihn immer wieder von der Seite an, und Lowell konnte merken, dass sie sich unsicher fühlte, in Gefühl und Erinnerung schwelgte und in der Vergangenheit nach Dingen suchte, die es in Wirklichkeit gar nicht gegeben hatte.
„Warum nicht, wenn du es möchtest", sagte er.
„Ich habe Frau Delara gebeten, sie für morgen zum Tee zu uns zu bitten."
Sie bogen in die Umfriedung des Hauses ein. Das Licht der Scheinwerfer hob den basaltnen Fahrweg heraus, den Strauchgarten und dann den einen Flügel des großen, weiträumigen Hauses im Kolonialstil, in dem die Lowells schon weit länger als ein halbes Jahrhundert wohnten.
7
Fern, die etwa eine Stunde früher nach Hause gekommen war, begrüßte Lowell, als er ins Haus trat, warf ihm die Arme um den Hals und küsste ihn ab. In der Tat, es war vier Tage her, dass er sie zuletzt gesehen hatte; zu manchen Zeiten kreuzten sich ihre Wege einfach nicht, und dies war eine jener Zeiten, was Lowell daran merkte, wie sorgfältig seine Frau jede Erwähnung der Tochter vermied. Seit dem letzten Frühjahr schon, da die Leute, die das Bennington College leiteten, Lowell zu verstehen gegeben hatten — höchst diplomatisch, doch sehr entschieden —, dass es für alle Beteiligten besser wäre, wenn seine Tochter woanders hinginge, hatte er sich geweigert, die Wirklichkeit des neunzehnjährigen hübschen, schlanken Mädchens anzuerkennen. Er brauchte Fern, und dabei ließ er es bewenden; seit Clarks Tod brauchte er sie mehr denn je, und Lois wusste das ebenso gut wie er selbst. Wenn tatsächlich etwas an ihr auszusetzen war, dann vermochte er es unter Berufung auf die persönliche Beobachtung beiseitezuschieben, dass er nur für das einstehen konnte, was er selbst sah - und er sah nur, was er sehen wollte. Fern war mittelgroß, schlank, hatte eine sehr gute Büste, einen Schopf sehr schwarzen Haares, das sie kurz geschnitten trug, und gute Beine; sie hatte einen Zweisitzer mit Verdeck, den er ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, blaue Augen, die Mitgliedskarte des Revere-Landklubs, eine sanfte Stimme; sie besaß Aktien, Obligationen und verfügbare Mittel im Werte von anderthalb Millionen Dollar, die ihr zufielen, sobald sie einundzwanzig Jahre alt war. Außerdem war sie jemand, an dem George Clark Lowell mit inniger Liebe hing.
Arm in Arm gingen sie die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. „Ich war heute skilaufen", sagte sie, „ob du es glaubst oder nicht. Fünfzig Meilen weiter weg liegt Schnee. Warum bist du nicht mitgekommen, anstatt nach New York zu fahren?"
„Weil ich nicht eingeladen wurde", lächelte er. „Bist du allein gefahren?"
„Ich hatte mir Dave aus dem Klub mitgenommen - und die ganzen hundert Meilen hat er mich begrabbelt, während ich gefahren habe. Scharf, was? So ist die heutige Generation eures Geschlechts."
Er wusste nicht, wer Dave war. Wenn sie so etwas sagte, fand er weder eine Zurechtweisung noch eine Antwort noch überhaupt eine Verbindung mit ihr, und so sagte er bloß: „Zieh dich jetzt an, Fern; Elliotts kommen gleich zum Essen."
„Ich bin hernach noch verabredet", sagte sie. „Warum habt ihr nicht gesagt, dass Elliott kommt?"
8
Genau sieben Minuten nach sechs - vorausgesetzt, dass nicht das Wetter oder eine unvorhergesehene Änderung des Flugplans dazwischenkam - war auf der Hauptstraße von Clarkton das Flugzeug von Boston nach dem Westen zu hören. Zwölf Minuten vor sechs lief der Abendzug von Worcester ein, und vierzehn Minuten nach sechs gewöhnlich klang vom Turm der katholischen Kirche ein kurzes Glockengeläute herab - letzteres die einzige individuelle und besondere Lokalsitte, und dazu noch eine, die auf den Krieg zwischen den Staaten zurückging. Irgendwann innerhalb dieses annähernd gekennzeichneten Zeitraums - volle anderthalb Stunden, bevor die Familie Lowell der gleichen Gewohnheit huldigte — setzten sich die meisten der zweiundzwanzigtausendundsoundsoviel Einwohner Clarktons an ihre Abendmahlzeit, die von den meisten Abendbrot, von einer Minderheit Mittagessen genannt, aber, wie auch immer bezeichnet, von fast allen um dieselbe Zeit eingenommen wurde. An diesem Abend des sechsten Dezembers 1945 waren um diese Zeit die Straßen fast leer: die Hauptstraße, die in das Tal tauchte und es von dem alten Mühlteich an dem einen bis zur großen Eisenbrücke am andern Ende in zwei Teile zerschnitt; die Querstraßen, die der Hauptstraße das waren, was die Gräten dem Rückgrat eines Fisches sind, und die vier weiteren Straßen - oder Avenuen, wie sie genannt wurden -, die parallel zur Hauptstraße verliefen. In einem anfänglichen Versuch, historische Erinnerungen zu pflegen, war die Hauptstraße Concordweg getauft worden, aber mit der großen Fabrik kam der Sinn fürs Praktische auf, und die parallelen Avenuen wurden einfach als Erste, Zweite, Dritte, Vierte Avenue bezeichnet, während die Querstraßen ganz farblos nach Bäumen benannt wurden: Linde, Kastanie, Ahorn und so weiter.
Ein scharfer, kalter Wind von den Berkshires her hatte den drohenden Schnee fortgeblasen, statt dessen aber Kälte herangeführt, die beißende Winterkälte, die die Sterne wie in einen Bühnenhimmel einzufrieren scheint. Die meisten Kaufleute hatten an diesem Abend ihre Läden früh geschlossen, sie wussten, dass es kein Abend zum Einkaufen war noch einer werden würde, und als sie ihre Beleuchtung abstellten, wurde an jenem Ende des Concordweges, wo das Haupttor des Werks war, der Schein der rotglühenden Salamander stärker sichtbar, als lagerten irgendwelche Truppen dort unten im Tal den Mühlteich entlang - in dem prächtigen Rahmen von Sternen und stürzenden Bergen verlieh er der phantasievollen Deutung größere Wirklichkeit.
Joe Santana, dessen Friseurladen an der Ecke Concordweg und Lindenstraße wohl der beste in der ganzen Stadt war - wenn man bedenkt, dass er nur rasierte und Haare schnitt -, hatte bereits die Jalousien vor dem Schaufenster heruntergelassen und die Ladentür abgeschlossen. Ein schmächtiger Bursche mit etwas groben Gesichtszügen saß im Frisierstuhl, und Joe, mit dem Ausrasieren fertig, war gerade bei jenen scheinbar absichtslosen letzten Handgriffen, die das Geheimnis des guten Haarschnitts sind und gewissermaßen die eigentliche Kunst des Friseurs ausmachen. Der Bursche in dem Stuhl trug Uniform mit aufgenähtem Entlassungsabzeichen und genug Übersee-Dienstspangen daran, dass drei Jahre Dienstzeit herauskamen. Es war warm in dem Laden, und aus dem Hinterzimmer, wo die Familie Santana wohnte, drang der angenehme Duft von Kalbsbraten und brutzelnder Tomatensoße herein. Joe sagte etwas — mit manchen Kunden unterhielt er sich stets, mit andern überhaupt nicht —, als ihn der junge Mann unterbrach, vom Essen sprach, den Duft lobte und feststellte, was für eine verflucht kalte Nacht es geben würde.
„Bleib doch zum Essen", sagte Joe. „Nein, ich bin drüben im Midland verabredet." „Johnny", sagte Joe ernst, „du hast Ameisen, du hast Nadeln in den Bauch gekriegt; du hast dich wer weiß wohin verstiegen und kannst nicht wieder herunter."
Der junge Mann zuckte die Achseln.
„Du weißt, was das Wesen dieser Sache ist, der Kern deines Problems", fuhr Joe fort. „Ich habe versucht, es dir zu erklären. Ich habe vielleicht fünfzig Fälle wie den deinen kennen gelernt, direkt hier in der Stadt. Wenn es ein einziger wäre, würde es ein Rätsel sein; bei fünfzig aber lege ich eins zum andern und kann verallgemeinern."
„Und worauf bist du dabei gekommen?"
Joe nahm das Handtuch ab und schüttelte den weiten Umhang aus. „Fertig. Auf Ziellosigkeit bin ich gekommen, auf Apathie und Gleichgültigkeit. Ihr wisst nicht, wo ihr hin sollt, was an sich ganz recht ist - nein, nicht ganz recht, doch eben verständlich. Aber was schlimmer ist, ihr wisst auch nicht, wo ihr gewesen seid. Ihr wart mitten in der größten Prüfung, die die Menschheit je durchgemacht hat; aber was bedeutet sie für euch?"
„Schlechte Träume", grinste der junge Mann.
„Eben... " Es klopfte jemand an die Tür, und Joe sagte: „Eben... einen Augenblick, ich bin gleich fertig. Man sagt so etwas dahin, und dann kann es von großer Bedeutung werden." Er öffnete die Tür. Ein riesenhafter Mann in schwarzem Mantel trat ein. Joe schloss die Tür ab und sagte in einem Atemzuge: „Hallo, Doktor. Hier braucht einer einen Arzt, nicht gerade von deiner Sorte, einen für den Kopf, sagen wir mal. Er hat schlechte Träume und Nadeln im Bauch, aber was er braucht, ist weniger ein Arzt als ein bisschen Verständnis. Habe ich recht?"
„Ich weiß, dass du schon oftmals recht hattest", sagte der Mann. Er maß mindestens sechs Fuß vier Zoll und war entsprechend gebaut, hatte einen großen Kopf, eine vorspringende Nase und eine Mähne eisengrauen Haars. Die Leute sagten von Dr. Elliott Abbott, dass er aussähe wie Winant, der Botschafter am Hofe von St. James, aber das war bloß eine oberflächliche Ähnlichkeit, und seine Frau verglich ihn ein bisschen romantischer mit Ernest aus Hawthornes Erzählung vom alten Mann im Gebirge. Wie es auch sein mochte, er war ein großer und imponierend aussehender Mann, groß in Zügen und Gestalt, mit dunklen Augen, borstigen Brauen, bärenhaft in seinem Gang, aber überraschend sanft von Stimme. Er legte Hut und Tasche ab, hängte Mantel und Rock auf, lockerte den Schlips, kletterte mit einem Seufzer der Erleichterung in den Stuhl, schnüffelte tief und gähnte dann weit.
„Wohin ich auch kommen mag, ganz egal wo, ich kriege nirgends so ein Essen, wie ich es hier rieche. Ich habe es erlebt, dass du recht hattest, Joe."
„Also! Kann ich mir noch einen besseren Zeugen wünschen? Du bleibst zum Essen, Doktor. Johnny, hast du die Literatur gelesen, die ich dir gegeben habe?"
„Ich kann nichts lesen außer dem humoristischen Teil einer Zeitung. Joe, wenn Pater O'Malley mich nicht bekehren kann, wie weit glaubst du denn, dass du kommen wirst?"
„Wir haben verschiedene Standpunkte. Lies nur das Zeug. Das ist alles, Johnny, mehr verlange ich nicht." Er ließ ihn aus dem Laden, schloss die Tür hinter ihm ab und wandte sich an den Arzt.
„Bleibst du zum Essen?"
„Heute abend nicht", sagte Abbott. „Dieser Junge braucht mehr, als du ihm geben kannst, Joe. Er ist krank, körperlich . krank."
„Allerdings. Aber er braucht auch was, woran er sich halten kann, irgendwas." Er legte dem Doktor den Umhang um. „Rasieren?"
„Rasieren, ja. Ich habe fünfzehn Minuten Zeit, bis Ruth mich hier abholt. Was hast du gehört?"
„Andeutungen - nichts als Andeutungen. Es ist ein merkwürdiger Streik, aber nach dem, was ich gelesen habe, sind im ganzen Lande merkwürdige Streiks. Es sieht seltsam aus, als ob es ihnen angenehm wäre, dass die Leute streiken. Sechs Tage Streik, und nichts passiert. Alle sind die Milde selbst. Sogar Lowell ist mild wie ein Hustenbonbon, nach dem, was ich höre."
„Glaubst du, Lowell ist ein Scharfmacher, Joe?"
„Ich weiß es nicht. Ich habe nur eine Einstellung zu einem Unternehmer, Doktor, nur eine einzige. Ich verallgemeinere von einer ganzen Menge. Neulich abends saß ich mit Hannah zusammen, und da haben wir ausgerechnet, dass ich in dreiundvierzig Stellungen gearbeitet habe - in einundzwanzig Staaten. Das macht mich doch zu einer Schatzkammer von Erfahrung, was?"
„Ich beneide dich", sagte der Arzt.
„Klar, aber nimm einmal diesen Fall... " Ein Mädchen von sieben Jahren kam von der Stube herein und wollte wissen:
„Mama fragt, wie lange noch?"
„Zehn Minuten. Sag ihr, der Doktor ist hier." Der Schaum war aufgetragen, er tat die ersten Striche. „Ich weiß nicht, die Füße tun ihr weh. Ich erzähle ihr, sie sollte nicht soviel auf den Füßen sein, aber sie sagt, ich sollte meinen Kopf gebrauchen, dafür seien die Füße doch da. Was ich vorhin meinte, war, dass dies hier eine neue Situation ist. Beispiellos, obgleich ich das Wort nicht leiden kann, es ist ein gefährliches Wort. Aber alles ist anders, und wir irren uns, wenn wir erwarten, dass etwas genau so wäre wie früher."
„Sag ihr, sie soll morgen in die Sprechstunde kommen."
„Ja. Aber beispiellos heißt nicht außerhalb der Regel. Alles ändert sich. Ich begreife es nicht, aber ich werde dahinter kommen. Manchmal glaube ich, schon meinen Finger drauflegen zu können. Doch die Situation ist apathisch. Fünfhundert Streikposten sollten sie an jedem Tor haben, stattdessen haben sie zehn. Es sieht aus wie die reinste Liebe, aber mein Instinkt sagt mir, dass es nach Mord und Totschlag riecht. Liebe und Hass sind Zwillingsgeschwister - hat Dante das nicht gesagt? Ich habe Dante nie gelesen; ich werde es eines Tages tun, und inzwischen zitiere ich ihn - es schmeichelt meinem Stolz auf die nationale Abstammung."
„Wieso zitierst du ihn, wenn du ihn nicht liest?" wollte Abbott wissen.
„Keiner liest ihn, deshalb zitiere ich ihn. Ich gebe ihm gleichviel dichterische Vision und gesunde ökonomische Einsicht. Ich versuche, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn der Volksdichter einer großen Nation etwas nicht gesagt hat, das er hätte sagen sollen — ist es etwa mein Amt, ihn zu verkleinern?"
Seine Frau kam heraus, eine dralle Person von etwa dreißig Jahren mit rundem Gesicht. „Ich konnte euch drinnen hören", sagte sie, „aber nicht des Doktors Standpunkt. Du erlaubst ihm, ja und nein zu sagen, Joe. Das ist ein Zugeständnis. Doktor, Joes Überlegungen stimmen, bis es sich um etwas Praktisches handelt. Er möchte, dass ich meine Füße nicht mehr gebrauche. Er sagt: ,Geh auf deinen Händen, und alle Probleme sind gelöst'."
Das heiße Handtuch lag auf seinem Gesicht, deshalb hörte Abbott nur verschwommenes Gesumme. Grinsend kam er aus dem Stuhl und sagte Hannah Santana, dass ihm ein Uhr, während der Sprechstunde, passen würde, außerordentlich passen würde. Sie hielten große Stücke auf ihn, man sah es an der Art und Weise, wie sie ihm in Rock und Mantel halfen, als die Hupe draußen ertönte.
Als er sich neben seine Frau in den Wagen setzte, stellte er fest, dass ihn das, was im alten Neu-England eine „fertig gekaufte Rasur" genannt wurde, mehr belebte als ein anregender Trunk. Er drängte sich mit seiner gewaltigen Masse an sie, eine sehr zierliche Frau mit hellen Augen, Stupsnase und sommersprossigem Gesicht, bis sie sagte:
„Zerquetsch mich bloß und mach auch noch den Wagen kaputt." „Ich versuche doch, meine Liebe zu zeigen... " „Ich danke dafür, Elliott", sagte sie. „Du wirst dich heute abend in acht nehmen bei dem, was du sagst? Es ist für George ebenso schlimm wie für dich."
9
Indes, sie waren alte Freunde, und dieser Abend spiegelte es wider.
Vor langem, im College - es war Amherst und zu einer Zeit gewesen, die schon wie ein Traum war, eine andere Epoche und eine andere Welt -, hatte einer der Professoren, welcher, konnte Lowell sich nicht erinnern, über Freunde etwa gesagt, dass man sie nicht sammeln könnte. Das war verwirrend für einen jungen Studenten, der mehr Freunde hatte als die meisten andern, und weil es so verwirrend war, blieb ihm der epigrammatische Schluss eines nach seiner damaligen Auffassung alten Mannes lange Zeit im Gedächtnis. Später kam Lowell aus eigener Erfahrung zu der Erkenntnis, dass manche Männer zwei, manche einen, die meisten aber gar keinen Freund haben. Er brauchte viele Jahre, bis er bewusst erfasste, dass seine eigene tiefinnerliche Einsamkeit von fast allen Männern, die er kannte, geteilt wurde, und da er eines absichtlichen Zynismus unfähig war, zog er sich noch weiter in sich zurück. Seine Frau, Lois, wusste das und vermutete auch, dass es aus gewissen Ängsten herrührte, obgleich sie nicht zu sagen vermochte, welcher Art diese Ängste waren. Jedenfalls erkannte sie Elliott Abbott als das an, was er George bedeutete - und ihr auch.
Ihre Freundschaft war in den letzten fünf Jahren zu voller Reife gediehen. Sie waren Kinder in Clarkton gewesen, waren zusammen aufgewachsen und im College gewesen und waren dann getrennte Wege gegangen. Aber vor fünf Jahren, als Lowells Vater gestorben war und er seine Familie nach Clarkton gebracht hatte - zunächst nur für kurze und unbestimmte Zeit -, da war Elliott Abbott dort mit der soliden, anstrengenden Praxis eines Kleinstadtarztes, ein ungeheuer großer grauhaariger Mann, der mild und sarkastisch zugleich das Leben hinnahm, wie es kam. Es war ganz natürlich, dass sie sich häufig trafen. Dadurch wurden sie, ohne dass einer von beiden getrieben hätte, sehr nahe und gute Freunde.
Zum Teil war sie eine Frucht von Lois' Bedürfnis, in Clarkton eine Art Gesellschaftsleben zu führen. Ihr Snobismus stand unter grimmiger Selbstkontrolle, wurde von ihr bekämpft, war aber doch vorhanden und wurde noch genährt durch die Atmosphäre einer Fabrikstadt, deren ganzes Leben um ein einziges Werk kreiste. Die Stadt lebte in verschiedenen Schichten - und hielt sie um so strenger ein, als ihre Bewohner diese Schichtung niemals zugaben. Grob gesehen gab es drei Klassen: die Arbeiter, die die große Mehrheit der Bevölkerung bildeten - geborene Neu-Engländer, Italiener, Polen, Portugiesen, Neger und Juden, schwach durchsetzt von französischen Kanadiern; den Mittelstand -Ladeninhaber, Garagenbesitzer, Versicherungsagenten, Grundstücksmakler, der Sägewerkbesitzer, ein Teil der Werkmeister, Abteilungsleiter, der Ziegeleibesitzer, zwei der fünf Anwälte, alle sechs Ärzte, einschließlich Elliott Abbott, und ein großer Teil der zweiunddreißig Leute, die in der einen oder anderen Eigenschaft im Dienste der neunzehn Kirchen standen; diese und die anderen nicht weiter aufgeführten waren ähnlicher nationaler Herkunft wie die Arbeiter. Und schließlich gab es das, was sich selbst für die Oberklasse Clarktons hielt: die beiden Werkdirektoren, die Bankiers des Ortes - fünf, einschließlich der Vizepräsidenten - , drei der fünf Anwälte, darunter ein Richter, der Präsident der Sparkling-Light, einer kleinen Sodawasserfabrik für diesen Teil von Massachusetts, und dazu ein halbes Dutzend anderer Leute, die aber nicht alle fest eingeordnet, nicht alle für ständig aufgenommen waren.
Das Entzücken dieser Menschen, die jüngeren Lowells wieder in ihrer Mitte zu haben, war allzu deutlich; sie zogen sie an ihr Herz, aber Lois hatte nicht den Wunsch, gezogen zu werden, und Lowell selbst war peinlich berührt und fühlte sich unbehaglich. Er war noch niemals in einer Situation gewesen, wo er gesellschaftliches Entgegenkommen hatte zurückweisen müssen, noch war er sich jemals eines solchen Verlangens wirklich bewusst gewesen. Er überließ es Lois, die gut oder schlecht damit fertig wurde, je nachdem, wie man es ansah. Aber ihr war es eine Notwendigkeit, ebenso sehr wie es eine Notwendigkeit war, sich den einzigen Menschen in der Stadt zu bewahren, mit dem sie sich wohl und behaglich fühlte, Elliott Abbott. Ihrer beider Intimität mit den Abbotts wuchs, wie sich die Kluft zwischen ihnen und der obersten Schicht von Clarkton weitete. Die beiden bedeutenden - und für die Stadt aufregenden - Ereignisse in dem mehr oder weniger regelmäßigen Fluss ihres Lebens während der Kriegszeit, der Tod ihres Sohnes Clark und der Ausschluss ihrer Tochter Fern aus dem Bennington College, hoben sich sozusagen in ihrer Wirkung auf. Nach dem ersten gab es viele formelle Sympathiebezeigungen, aber auf keine schienen die Lowells mehr als oberflächlich zu reagieren; dementsprechend gab es nach dem zweiten ein beträchtliches Maß von Genugtuung wie auch von Klatschereien — vieles davon die reine Bosheit, vieles davon ganz ohne Grundlage irgendwelcher Tatsachen; aber die Schärfe wurde abgestumpft, weil die Lowells in der Lage waren, ihr Leben in genau der gleichen Weise wie vorher fortzusetzen. Immerhin bestand kein Zweifel, dass diese beiden Ereignisse, im Verein mit dem Krieg, im Verein mit der tiefen Freundschaft sowohl zwischen Lowell und Abbott als auch zwischen Lois und Ruth Abbott, dazu beitrugen, dass die Lowells in ihrem großen alten Kolonialhaus, das drei Meilen jenseits des Mühlteiches und des Werks am Concordweg, lag, wohnen blieben.
10
Der erste Schluck seines Martinis setzte in Lowell einen Prozess der Entspannung in Gang; die Wärme tröpfelte in ihn hinein und breitete sich aus. Abbott hob das Glas: „Salud!" „Wenn ich gewusst hätte, dass du kommen würdest, Elliott", sagte Fern, „dann hätte ich mich nicht verabredet. Ich hätte mich nicht von der Stelle gerührt; da hätten sie mit Dynamit kommen müssen." Der Trunk brachte Lowell erst eigentlich nach Hause. Er war sehr müde heute abend. „Je älter ich werde", sagte Lois, „desto mehr wünsche ich mir Schnee. Auf weiße Weihnachten bin ich versessener als ein neunjähriges Mädchen." „Wir haben noch den alten Schlitten", sagte Ruth Abbott, „es fehlen nur die Glocken daran." Müdigkeit und Martini vermischten sich wohlig miteinander. Wenn Lowell einen Martini mixte, nahm er acht Teile Wacholder und einen Teil Wermut. Er fühlte sich jetzt wie ein Mensch in uralten Zeiten, der aus einem Unwetter kommt und in seine Höhle kriecht. „Erinnert ihr euch", sagte Fern, „als ich klein war, habt ihr mich im Schlitten ausgefahren", und Lowell blickte mit einem Gefühl der Bestürzung zu ihr hin; der warme Klang ihrer dünnen Stimme erweckte Zeiten, die in der Rückschau schöner waren als die vier Jahre, die sie in Südfrankreich verbracht hatten. Er trank, und es drängte ihn, seinen Arm um Fern zu legen, behutsam und voll Zärtlichkeit, aber sie war jetzt auf der anderen Seite des Zimmers und hing an den Worten, die Elliott sagte. Er stand seltsam festgewurzelt am Kamin, sah in das hübsche alte Zimmer, auf die beiden echten Audubons an der Wand, die unverwüstlichen Mahagonimöbel, die tiefe Couch. Elliott erzählte Fern vom Winter 1927, der, wenn man ihn hörte, der schlimmste Winter aller Zeiten gewesen sein musste. „Da steht der Mensch gegen seinen schlimmsten Gegner, Ferney", sagte er; „es ist die Kälte des Weltenraums, die von der Eiskappe herunterkriecht, und dahinter sind Millionen Meilen des Nichts, das uns seine Fragen aufgibt." „Irgendeine besondere Frage?" „Unsere Träume sind groß, und wir sind sehr klein." Lowell begegnete den Augen seiner Frau, rüttelte sich wach und begann die Gläser zu füllen. Ruth und Lois sprachen träge über nichts. „Ich hatte einen Ford Modell T", fuhr Elliott fort, „du wirst den Typ nicht kennen, weder aus der Wirklichkeit noch aus der Sage - und beide hatten es in sich, das kannst du mir glauben -, aber der Kern war die Tatsache, dass man bloß eine Handvoll Sand in den Getriebekasten zu werfen brauchte, wenn er seine Nücken hatte." „Das habe ich nie geglaubt", sagte Fern, „und außerdem habe ich doch einen gefahren, vor zwei Jahren auf dem Jahrmarkt. Man kaufte einen Anteilschein und durfte dann den Ford rund um die Arena fahren. Du machst dich nur ein gut Teil älter als du bist."
Zur Essenszeit fühlte sich Lowell zum ersten Mal an diesem Tage entspannt und behaglich. Er erfasste, dass er von dem Augenblick an, da Lois ihm erzählt hatte, dass heute abend die Abbotts bei ihnen sein würden, ein Schuldgefühl verspürt hatte, ein Bedürfnis, den sechs Tage langen Streik zu rechtfertigen, sich von aller Schuld daran freizusprechen und einer Frage Elliotts zuvorzukommen. Die Unterhaltung hatte aber so ungezwungen eine andere Richtung genommen, dass er sich nun ganz nebenbei Elliotts Verständnisses vergewissern konnte. Es war ihre Absicht gewesen, für den Winter in den Süden zu fahren, und sie wollten es immer noch, sobald die Unannehmlichkeit im Werke behoben wäre, und das, meinte er, sollte er Elliott irgendwie mitteilen, indem er ihm am Rande zu verstehen gäbe, wie wenig ihm die Fabrik bedeutete und wie gern er sie jetzt los sein würde, wenn sich die Gelegenheit nur böte. Er hatte zwei große Martinis getrunken, genug, um seine Gedanken zu entfesseln. Das Zimmer war warm, überdies war das Feuer im Kamin die altüberkommene Verkörperung der Wärme. In diesem Augenblick empfand er große Zärtlichkeit für Lois, für Ruth und Elliott Abbott, empfand er Mitgefühl und Verständnis für seine Tochter. Was wussten sie denn von ihr, dass sie es wagten, sie zu verdammen! In der Tat, fragte er sich, welches Recht hatte überhaupt irgendein Mensch, einen anderen zu verdammen? Er stand auf, um den Wein einzuschenken, und setzte sich wieder hin. Er plauderte jetzt frei und flüssig — nichts von großer Bedeutung, aber auch nicht völlig belangloses Zeug, nur eben angenehme gewöhnliche Konversation, wie sie in diesen Tagen so selten war. Erst als er vorgeschlagen hatte, dass sie alle zusammen im nächsten oder im übernächsten Jahr, wenn die Verhältnisse in Europa wieder einigermaßen normal geworden wären, ins Ausland fahren sollten - wenigstens zwei Monate England, Wales und Schottland und anschließend vielleicht vier oder fünf Monate auf dem Kontinent - fiel ihm ein, dass er über Elliotts finanzielle Verhältnisse nichts wusste, nichts darüber wusste, ob er sich eine Fahrt nach Europa leisten könnte oder nicht, und dass er einfach vorausgesetzt hatte, sechs oder sieben Monate von der Arbeit weg würden eine einfache und wünschenswerte Sache für seinen Freund sein.
Aber Elliott lachte nur und nickte, und Ruth sagte: „Das sind Träume, wie ich sie zwanzig Jahre lang jede Nacht geträumt habe."
Als sie mit Essen fertig waren, gingen sie zum Kognak und Kaffee wieder ins Wohnzimmer. Fern kam herein, fertig angezogen, in Biberjacke und Biberkappe, lächelnd und erhitzt; sie bat Elliott, nur eben noch ein Lied zu singen, bevor sie ginge.
„Nur eins, Elliott, ein einziges. Ich kann heute abend nicht bleiben. Wenn ich bleiben könnte, würden wir das Klavier für uns haben und die andern tun lassen, was ihnen Spaß macht."
Elliott war um Fern auf eine Art bemüht, die Lowell verwirrte. Er ließ sich ans Klavier ziehen, setzte sich und klimperte gedankenvoll mit einer Taste. „Welches?" „Eins von den spanischen, La Cinque Brigada", sagte Fern. Er drehte sich um und schaute sie einen Augenblick an, dann sah er über sie hinweg, um dem Blick seiner Frau zu begegnen. Er sang mit tiefer, voller Stimme, ein wenig weich:
„Es lebe die fünfzehnte Brigade... " auf spanisch und machte eine Pause, wenn das Mädchen auf seinen Blick hin mit dem Refrain einfallen sollte: „Rhumba la, rhumba la, rhumba la... "
„Die sich mit Ruhm bedeckt hat... " „Ay Manuela", sang Fern.
„An der Jarama-Front... hatten wir weder Flugzeuge noch Tanks noch Kanonen... und doch kämpften wir gegen die Mauren, gegen die Landsknechte und die Faschisten... wir kämpften... "
„Ay Manuela", sang das Mädchen und wiegte sich in dem raschen kastilischen Takt.
11
„Schachmatt, denke ich", sagte Elliott abbittend. „Du hast es herausgefordert, dein Geist ist nicht bei der Sache."
Lowell schob das Brett beiseite. Sie saßen in der Bibliothek; er hatte einen Vorwand gebraucht, um die Frauen los zu sein, damit Elliott sprechen könnte, wenn er etwas zu sagen wünschte. Aber der Arzt hatte auf eine Schachpartie gedrängt und sich darauf konzentriert. Für Lowell war Schach ein Spiel gewesen, das er vor seiner Übersiedlung nach Clarkton zwei- oder dreimal im Jahr gespielt hatte, aber Abbott liebte Schach, war ein guter Spieler und hatte Lowell eine Menge beigebracht. Seitdem dessen Sohn gestorben war, spielten sie es in stillschweigender Übereinkunft, und manchmal hatte Lowell den Verdacht, dass der Doktor es als wohlbedachtes therapeutisches Mittel anwandte; doch wenn das auch der Fall wäre, hatte er keine Neigung, sich dagegen zu sträuben. Von allen Menschen wusste vielleicht nur Abbott, wie nahe ihm Clarks Tod gegangen war und welch starker Gefühle des Schmerzes sein Gemüt fähig war.
Nur Abbott, nicht Lois noch sonst eine Seele, wusste von der unbegreiflichen und unglaublichen Sache, die er sich fünf Wochen nach dem Eintreffen der Nachricht von Clarks Tod geleistet hatte. Damals war Lowell nach Boston gefahren, hatte einen Spiritisten konsultiert und an einer Sitzung teilgenommen — eine schmutzige Angelegenheit, aus Gaze und Gaukelei zusammengesetzt, eine Welt, mit der er vorher als ein Mann von nur höchst zufälliger und unbestimmter religiöser Überzeugung weder in der Wirklichkeit noch in der Vorstellung in Berührung gekommen war. Und weil er sich davon reinigen oder seinen Verstand verlieren musste, hatte er es Elliott erzählt. „Warum hast du das getan? Warum um Himmels willen, George?" hatte Elliott ihn gefragt. „Weil ich den Jungen nicht aufgeben kann." „Du hast ihn niemals besessen“, hatte Elliott streng geantwortet. „Kannst du es nicht in deinen Kopf kriegen, dass du ihn nie besessen hast? Er lebte sein eigenes Leben. Wer zum Teufel bist du denn, dass du beurteilen kannst, ob er es richtig gelebt hat oder nicht!“ „Das sage ich ja auch nicht." „Doch tust du es. Und jetzt ist er tot. Jesus, was sind wir bloß für Menschen, dass wir dem Tod nicht ins Gesicht sehen können!" Und auf irgendwelche Art war es Lowell besser bekommen als Mitgefühl; aber jetzt, heute abend, brauchte Lowell Mitgefühl und Verständnis, und Elliott Abbott mied das Thema wie die Pest. Und als Lowell ihn schließlich nach dem Spiel direkt fragte, sagte Abbott:
„Das ist deine Sache, George."
„Was bedeutet, dass wir nicht darüber sprechen können - was bedeutet, dass ich plötzlich, sogar für dich, die Karikatur eines Unternehmers aus dem Daily Worker geworden bin, der seinen Arbeitern das Blut aussaugt."
Während er mit den Schachfiguren hantierte und ihre glatte elfenbeinerne Oberfläche mit den Fingern betastete, beobachtete Abbott ihn. „Nein, keineswegs", und dabei fiel ihm ein, dass diese Schachfiguren für das Fingergefühl die Reize chinesischer Spielsteine hätten, die die ganze Welt mit ihren Problemen und Konflikten lächerlicherweise auf einige wenige schwarze und weiße Figuren vereinfachten. „Bloß, dass du es selbst in Ordnung bringen musst", sagte Abbott. „Ich kann dir nicht dabei helfen."
„Du weißt, was mir das Werk bedeutet. Du weißt, dass es mir genau nichts bedeutet, nie etwas bedeutet hat."
„Ich weiß, dass du auch ohne das Werk ein sehr reicher Mann bist. Ich habe stets an dir geschätzt, George, dass du ein reicher Mann und dabei doch ein menschliches Wesen bist. Ich kannte nie genug reiche Leute, um von selbst auf eine solche Möglichkeit zu kommen."
„Ich wollte das Werk nicht. Ich dachte, dass es während des Krieges eine Aufgabe zu erfüllen hätte, mich nützlich machen könnte. Ich wollte von einigem Nutzen sein."
Es war Lowell sehr peinlich, so etwas sagen zu müssen, und Abbott war sich der Tatsache durchaus bewusst. Abbott dachte auch daran, dass die Lowell Company 1944 etwas über zwei Millionen Dollar Reingewinn gehabt hatte und 1945 nicht viel weniger. Lowell wusste es; sie sahen sich an und es blieb unausgesprochen.
„Du hättest mir geraten, die Angelegenheit gleich am ersten Tag zu ordnen", sagte Lowell.
„Oder vor dem ersten Tag. Wie ich sagte, es ist deine Sache. Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle tun würde - ich bin niemals an deiner Stelle gewesen. Meine eigenen Probleme sind ziemlich einfach: festzustellen, ob jemand krank ist und was ihm wehtut. Deine sind komplizierter. Aber ich sehe diese Leute, die für dich arbeiten, eine Lohnerhöhung fordern, und ich höre dich erzählen, dass dir das Werk gleichgültig ist. Ich mag Streiks nicht - ich mag sie ebenso wenig wie du, und ich kriege sie in gewisser Weise auch zu spüren. Eine Menge Leute werden krank und leiden während eines Streiks. Und dann verstehe ich auch nicht, um welches Prinzip es hier geht."
„Sie sind die höchstbezahlten Arbeiter im Staate", aber das kam ohne Überzeugung. Das hatte Lowell nicht gewollt, diese Richtung des Gesprächs, diese Art des Sondierens.
„Und der schlechtestbezahlte Arbeiter in Massachusetts verdient mehr als der bestbezahlte in Indien oder China. Worauf läuft das hinaus? Was hast du denn davon, wenn du diese Sache auskämpfst? Am Ende gewinnen sie doch; sie werden gewinnen, weil sie nichts mehr zu hoffen haben, wenn sie zurückgeschlagen werden. Das ist weniger wichtig als das, was die Sache dir antun wird."
„Mit andern Worten, ich werde... "
„Du wirst überhaupt nichts", seufzte Abbott. „Die Dinge werden dir zugefügt. Du hast dich in einen Strom gestürzt; es ist ein Strom des Verfalls, der Fäulnis. Jemand schlägt dich, und du wehrst dich. Du musst dich wehren."
„Sie könnten ihre Lohnerhöhung haben", sagte Lowell. Er war wieder entspannt, wieder in seinem Gleichgewicht, das ihm Sicherheit und Stärke bot. „Seltsam genug, Elliott, es stimmt, was ich über das Werk sagte. Ich will es gar nicht, ich wollte es niemals, ebenso wenig wie ich dies Haus je wollte. Aber manchmal glaube ich, Elliott, dass du in einer vorgestellten Welt lebst, und in einer vorgestellten Welt funktioniert alles und jedes. Im Leben aber tut es das nicht. Ich verschließe die Türen des Hauses, weil es mir gehört. Auch das Werk gehört mir. Mein Vater hat es gegründet und aufgebaut. Es ist wahr, ich überließ es Wilson zu entscheiden, ob die Lohnerhöhung, die sie forderten, angemessen wäre. Wilson meinte, sie wäre es nicht, aber bei genauer Betrachtung stimme ich ihr zu. Ich will nur nicht, dass man mir vorschreibt, was ich zu tun habe."
Abbott schwieg, und dieses Schweigen war etwas Neues zwischen ihnen, etwas Unfassbares und Lebendiges, das wuchs und sich vermehrte. Schließlich musste es gebrochen werden, und Lowell brach es; er zündete sich eine Zigarette an, lächelte und sagte:
„Lass es mich auf diese Art erklären, Elliott. Wir sind alte Freunde, und wir sollten einander verstehen können."
„Allerdings", sagte Abbott.
„Vor fünf Jahren betrat ich zum ersten Male seit meinem achtzehnten Lebensjahr wieder das Werk. Ich liebte es nicht, als ich achtzehn war, ich hasste es. Und an jenem ersten Tage vor fünf Jahren schlug eine Stanze zurück, und der Arbeiter verlor den Daumen. Wäre er ein bisschen langsamer gewesen, würde er wohl die Hand verloren haben; jedenfalls aber wünschte ich, gleich auf der Stelle, das Werk los zu sein, es zuzumachen und es verrotten zu lassen."
„Ich erinnere mich", sagte Elliott. „Das war Charley Brank."
„Aber ich konnte es nicht zumachen, ich konnte es nicht verrotten lassen. Es existierte unabhängig von mir. Ich konnte nicht eine ganze Stadt zum Tode verurteilen. Es ist mein Betrieb, meine Verantwortung. Seit fünf Jahren habe ich davon weglaufen wollen, aber ich konnte es nicht."
„Aber Charley Brank hast du nie wieder eingestellt", sagte Elliott. „Er wollte das Werk nicht zumachen, er wollte geheilt werden und wieder an die Arbeit gehen."
„Wenn es irgendeine Lösung wäre", sagte Lowell, „könnten sie morgen an die Arbeit zurückkehren. Aber nichts würde dadurch gelöst, ebenso wenig wie durch mein Davonlaufen. Der Betrieb gehört entweder mir oder ihnen."
12
Als sie sich in der Vorhalle verabschiedeten, küsste Elliott Lois und George küsste Ruth, wie es ihre Gewohnheit war; sie küssten sich herzlich, ohne Befangenheit, und dann wartete Lowell noch draußen in der Kälte, um zu sehen, ob Elliott seinen Wagen leicht in Gang brächte. Er winkte, als sie davonfuhren, aber Ruth Abbott hatte Elliott leise fluchen gehört, als er auf den Starter trat, und beobachtete ihren Mann, anstatt zurückzuwinken, wie sie eigentlich gemusst hätte. Sie überlegte, dass viel dazugehörte, ihn aus der Fassung zu bringen, und deshalb wählte sie ihre Worte sehr sorgfältig, als sie nach den Vorgängen in der Bibliothek fragte.
„Wir sprachen über den Streik", sagte Elliott. „Willst du mir nicht eine Zigarette anstecken? Du hättest zu uns hereinkommen sollen. George hatte gar keine Veranlassung, mich so in die Klemme zu bringen."
„Er wollte es doch so gerne", sagte sie, zündete die Zigarette an, schob sie ihm zwischen die Lippen und ließ ihre Finger eben einen Augenblick darauf verweilen.
„Das weiß ich."
„Habt ihr euch gestritten?"
„Nein. Es war überhaupt nichts. Ganz und gar sinnlos." Ohne einen Ton des Bedauerns oder der Missbilligung, sondern sachlich kühl fragte sie: „Wirst du wegen dieser Sache mit ihnen brechen? Ich mag diese Leute."
„Es geschieht von selbst, Ruth. Ich sage nicht ja oder nein. Ich ziehe die Drähte nicht. Ich bin immer wieder erstaunt über die menschliche Fähigkeit, sich zu ändern. Ich weiß, was George passieren wird, aber deswegen ist es mir doch nicht möglich, es zu verhindern."
„Weiß George das?"
Elliott zuckte die Achseln, und von da an fuhren sie schweigend weiter nach Hause. Als sie wenige Minuten später ihr Haus erreichten — ein weißes Schindelhaus Ecke Erste Avenue und Pappelstraße —, waren im Wartezimmer die Lampen an, und der Arzt fand, dass sich seine Gereiztheit durch die Aussicht auf einen späten Krankenbesuch erhöhte. Aber als er seinen Wagen unters „Dach" gebracht hatte - eine Art Vorbau an einer Seitenwand des Hauses, errichtet im letzten Jahrhundert, damit die Leute aus ihrem Wagen steigen könnten, ohne nass zu werden —, war sein Unwille verflogen; und um es Ruth wissen zu lassen, sagte
er:
„Wenn es eine weite Fahrt wird, willst du mich dann fahren?" Sie nickte. Sie waren zwanzig Jahre verheiratet und ohne Kinder. Sie war seine Sprechstundenhilfe und konnte einen Fall von Masern oder Bräune ebenso gut erkennen wie er selbst. Sie war an ihn gewöhnt, war aber auch ohne ihn ausgekommen und wusste, wie das war.
Als sie ins Haus traten, tauchte in Morgenrock und Lockenwickeln Frances Colby auf — Köchin, Zimmermädchen und alles andere in ihrem Heim - und berichtete: „Es ist kein Patient. Danny Ryan ist da mit noch jemand anderm, deshalb setzte ich sie ins Wartezimmer. Kann ich schlafen gehen?"
„Geh ruhig zu Bett", sagte Elliott.
„Wollen Sie ihnen noch Kaffee kochen? Ich habe es nicht getan, denn wenn Danny Kaffee kriegt, bleibt er die ganze Nacht; und ich wusste nicht, ob Sie ihn die ganze Nacht hier behalten wollten."
„Ruth wird den Kaffee kochen. Geh zu Bett."
„Ganz wie Sie wünschen. Es ist Ihr Haus, es ist Ihr Wartezimmer; Ihr Kaffee ist es auch." Sie schlurfte davon, eine starke Frau von fünfzig Jahren mit einem ungeheuren Busen, der neun Kinder gestillt hatte. Mit sechzehn hatte sie angefangen, und jetzt waren die Kinder erwachsen, verheiratet, tot und in alle Welt verstreut; ihre Anhänglichkeit an die Abbotts war ebenso dauernd wie unbegrenzt.
Danny Ryan grinste, als der Arzt und seine Frau in das Wartezimmer traten. Er war ein sehr kleiner Mann, fünf Fuß vier Zoll groß, und es schien ihm ein endloses Vergnügen zu bereiten, sich an Abbott zu messen; allein schon ihre Gegensätzlichkeit amüsierte ihn. Sein Alter lag irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig, er gehörte nämlich zu jener Sorte dürrer Männer, die recht wie Leder zusammenschrumpfen. Er hatte blaue Augen in einem dunklen Gesicht und war seit sechs Jahren Stanzer in dem großen Werk; zwei Finger seiner rechten Hand waren dabei zur Hälfte draufgegangen. Er stellte den Mann vor, den er mitgebracht hatte —jünger als er, mit schwerem Kinn, einer schwarzen Haarmasse und sorgenvoller Miene. „Das ist Mike Sawyer", erzählte er den Abbotts. „Mike ist der neue angestellte Sekretär und arbeitet von Springfield aus. Ich glaube, ihr habt Mike noch nie gesehen, aber er weiß über euch Bescheid."
Elliott und seine Frau drückten Sawyer die Hand, der sagte: „Ich habe dich mal in Spanien getroffen, aber das ist so lange her, dass du es wohl vergessen hast. Ich lag im Süden und bekam sehr schlimm Skorbut, so dass sie mich nach hinten schickten, und da hast du mich untersucht. Ich erinnere mich, dass du davon sprachst, wie man sich fühle, wenn die Zähne wie zu lose aufgezogene Perlen säßen, aber wahrscheinlich hast du es vergessen."
Elliott sagte, dass er sich nicht erinnere, aber er freue sich, Sawyer wieder zu sehen, und er hoffe, dass Massachusetts ihm gefalle.
„Später wird es mir einmal gefallen, aber es ist immer dasselbe, wenn man an einen neuen Ort kommt. Alles passiert dann auf einmal, wie zur Begrüßung."
„Das ist immer so an einem neuen Ort", sagte Danny Ryan.
„Doch das wird in Ordnung kommen, und es ist wirklich eine schöne Gegend hier. Ich habe noch nie in einer so schönen Gegend wie dieser gearbeitet."
Ruth fragte ihn, wo er früher gewesen wäre, und er sagte, beim Militär. Vor fünf Wochen war er entlassen worden, aber wenn sie Leute brauchten, was sollte man da tun?
„Ihnen sagen, dass sie sich wegscheren", sagte Danny Ryan. „Raus - lasst mich zufrieden. Wenn ich vier Jahre lang beim Militär gewesen wäre, ich hätte mich lang gelegt und gesagt: ,Haut ab, stört mich nicht, meine Ruhe will ich haben.' "
Sawyer grinste, und Ruth ging in die Küche, um den Kaffee zu bereiten. Abbott fragte, ob sie eine Zigarre möchten, und Sawyer schüttelte den Kopf, aber Ryan nahm mit großer Förmlichkeit an, einer fülligen, saftigen irischen Sorte Förmlichkeit, die einen kleinen Schimmer Überheblichkeit an sich hatte, eine Note aller feinster Ironie. Dann biss er die Spitze ab, zündete die Zigarre an und tat genießerisch den ersten Zug. Der Doktor kam nun zu der Zigarre, die er sich den ganzen Abend gewünscht hatte; er hatte dem Gelüst widerstanden, weil er wusste, dass Lois den Geruch nicht vertragen konnte. Sie würde es nicht erwähnt haben, aber sie hätte es mit solch stiller Duldermiene ertragen, dass schließlich allen Teilnehmern der Abend verdorben gewesen wäre. Jetzt saßen sie alle in den großen tiefen, zu fest gepolsterten und hässlichen Sesseln des Wartezimmers, sorgsam bemüht, nicht eher vom Thema zu sprechen, bevor Ruth zurückgekommen wäre, und doch so voll davon, dass ihnen ein anderes nicht einfiel. Nach ein oder zwei Minuten ging Ryan zum Radio hinüber und stellte es an; er bewegte sich hurtig und wie ein Vogel, geladen mit einer nervösen Energie, die anderen nicht nur auffiel, sondern sie auch unangenehm erregte. Der Lautsprecher wimmerte:
„Nimm mich in deine Arme, Baby, wiege mich! An deinem Herzen schlaf ich ein. Lass mich bitte nicht allein... "
„Ein paar Minuten noch, dann ist der Kaffee soweit", sagte Ruth, 48
die ins Zimmer zurückkam und es in gewissem Sinne wieder in Ordnung brachte, indem sie mit einem kurzen Blick jeden der drei Männer zurechtrückte, nur Sawyer sah sie länger als die andern an. Sawyer wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Ihre Figur war jugendlich, aber das sommersprossige Gesicht war vertrocknet und auf den ersten Blick nicht hübsch, und sie entsprach zu genau dem Typ, den man in einem Ort wie Clarkton und gerade auch als Gattin eines liebenswürdigen, breiten, schwerfälligen Provinzarztes wie Abbott erwartete. Aber Ryan bedeutete sie noch etwas anderes; Sawyer merkte es an der Art, wie er das Radio abdrehte und zu ihr sagte:
„Es ist schrecklich spät, euch noch zu belästigen, Ruth, aber diese Geschichte ist nun einmal kein Vergnügen, selbst wenn sämtliche Ladenfritzen voller Liebe zu den Streikenden sind und die Polizei wie Seide und Honig ist; ein Haufen Unfug ist das, wenn ihr mich fragt — und hierin stimm' ich gar nicht mit Sawyer überein, der behauptet, dass dieser Streik einen von Grund auf anderen Charakter habe. Zum Teufel hat er einen anderen Charakter!"
Er sah Sawyer an, der etwas verlegen sagte: „Gewiss, denke aber, wir streiten später darüber. Erzähl deine Geschichte."
„Gut. Sawyer kam zur Stadt wegen einer Besprechung heute abend, die übliche Sache eben mit den Gewerkschaftsleuten, und sie hätte auch weiter nichts Besonderes zu werden brauchen, weil alles ordentlich läuft. Aber er ist neu im Bezirk, und es ist gescheit, sich umzutun und mit den Dingen in Berührung zu bleiben. Auch hatten sie in Worcester bei einer öffentlichen Sammlung vier Tonnen Konserven zusammengebracht, und wir mussten einen Weg finden, einen Lastwagen nach dort zu schicken, um das Zeug hierher zu schaffen, und zwar auf eine Art, dass niemand darüber im Zweifel sein konnte, wer das arrangierte -ich meine nämlich, wenn wir nicht wenigstens daraus etwas für uns machen, dann können wir unsere Schnauzen in den Dreck stecken und sie drin lassen. Dann hatten wir heute nachmittag auch eine Sitzung des Streikkomitees, und sie sind so schwindlig von dem Erfolg geworden, wie sie das Werk dicht gemacht haben, dass sie wie auf Wolken wandeln, anstatt auf der Erde zu bleiben. Nach der Sitzung ging ich mit Joey Raye die Streikpostenkette am Tor an der Ersten Avenue kontrollieren... Du kennst ihn, denke ich, Doktor", erklärte er Abbott. „Er ist ein großer, vierschrötiger Neger, der in der Reparaturabteilung arbeitet, und ist ein sehr ordentlicher Bursche. Er hat die ganze Sache mit den Suppenküchen eingerichtet, und er ist einer von der Sorte, die nicht auffallen - spricht nicht allzu gut, aber man kann sich verdammt auf ihn verlassen. Wir stehen also da, als ein Wagen mit einem Durchlassschein ankommt, und der Streikpostenobmann lässt ihn durch, keine Aufregung oder sonst was. Aber nun sitzen da zwei Männer hinten im Wagen, und Joey Raye erkennt den einen von ihnen und sagt mir, das sei Hamilton Gelb. Fängt der Wecker an zu rappeln?"
Sawyer beobachtete Ruth Abbott, und ihm fiel die erstaunliche Veränderung auf, die mit ihr vorging, wenn sie lächelte. Ryan konnte nicht erzählen und zur gleichen Zeit stillsitzen; drei Sätze waren heraus, und schon war er durchs ganze Zimmer gerannt, und darüber begann Ruth Abbott zu lächeln. Sie lachte ihn nicht aus, sie vergnügte sich bloß an der Eigenart des kleinen Mannes, und miteins war sie lebendig und wach — und, seltsam genug, für Sawyer war sie zum ersten Male eine Frau: Brüste und Schoß und Beine, und eine gelassene Heiterkeit dahinter, die nicht zu erschüttern war. Als er von ihr zu ihrem Mann sah, fragte Sawyer sich, wer der Stärkere wäre und worin ihr Verhältnis bestünde.
„Was für ein Wecker?" fragte Ruth.
„Ein hübscher geräuschvoller Wecker. Geh zurück zu sechsunddreißig, siebenunddreißig und achtunddreißig."
„Da war ich in Spanien", sagte sie mit einem Blick auf ihren Mann. „Außerdem habe ich kein gutes Namengedächtnis. Das hält von der Politik ab. Aber er kommt mir bekannt vor, dieser
Name... "
„Schon gut, ich werde dir die Geschichte Bürger Gelbs kurz
erzählen. 1936 würgte er den Streik in den Rahway-Minen ab. Er plante und arrangierte das Commonwealth-Steel-Gemetzel. Er war drauf und dran, aus der Organisation der Autoarbeiter eine gelbe Gewerkschaft zu machen, aber der CIO (Anm.: Congress of Industrial Organisations — Kongreß der Industriegewerkschaften) kam ihm zuvor. Dann ging er nach Kalifornien und führte dort 1938 den großen Streich für die Obstpflanzer aus. Danach erledigte er sechs oder sieben kleinere Sachen, und das alles zusammen erwarb ihm einen großen Ruf. Er ist die wirklich große Nummer. Wo er während des Krieges war, weiß ich nicht. Nicht nur er, auch Stevens und Alec Cornwall und Von Sturmer, alle verschwanden aus dem Gesichtskreis. Aber was zum Teufel tut er hier? Dies ist nicht seine Sorte Arbeit, und es ist auch nicht seine Sorte Industrie."
„Ich glaube, du machst aus einem Maulwurfshügel ein mächtiges Gebirge", sagte der Doktor.
„Manchmal schadet das gar nichts", sagte Ruth. „Der Kaffee dürfte fertig sein. Wollt ihr mit in die Küche kommen?"
Sie gingen in die Küche und setzten sich um den weiß emaillierten Tisch. Eine große Schüssel mit Schinken- und Leberwurstbroten stand da und ein Teller mit Kuchen. Sawyer, hungrig und dankbereit, fragte sich, ob Ruth Abbott die Brote tatsächlich in der kurzen Zeit gemacht hätte, die sie draußen gewesen war. Sie bot an, und er begann zu essen. Als Abbott ihn fragte, wo er wohne, blickte er zu Danny Ryan hin. Ein seltsamer Ausdruck zog über des Doktors Gesicht, und Ruth Abbott erklärte:
„Elliott ist gegen Gastlichkeit, das ist alles. Ich meine Ryans Gastlichkeit. Er wohnt mit fünf kleinen Kindern und einer schwangeren Frau in einem Haus von vier Zimmern. Du bliebst besser hier."
„Als ich mit der Kirche brach", sagte Ryan entschuldigend zu Ruth, „tat ich es gründlich und sauber. Aber so wahr mir Gott und die Mutter Gottes helfe, ich habe mehr Kinder als je ein Ire auf der Welt."
„Das lässt sich verhüten", lachte der Doktor. „Aber ich kann es nicht. Ich besaufe mich und komme nach Hause, und hinterher möcht' ich mich selbst in den Hintern treten."
„Das gehört nicht zur Sache", sagte Ruth. „Über dein psychopathisches Geschlechtsleben können wir ein andermal sprechen, Danny. Was ist mit diesem Gelb? Warum kann sich Joey Raye nicht geirrt haben?"
„Er hat ein Gedächtnis wie eine Kamera. Vor ein paar Jahren war ich mit ihm auf einer Tagung in Boston, und es war, als hätt' ich ein Adressbuch bei mir gehabt. Er irrt sich nicht. Er vergisst niemals einen Namen oder ein Gesicht." „Und was bedeutet es nach seiner Meinung?" „Was es hier bedeutet, ist eine Sache", sagte Ryan mit vollem Munde. „Was es im allgemeinen bedeutet, ist eine andere. Im allgemeinen bedeutet Hamilton Gelb Krawall."
„Ich weiß nicht", sagte Mike Sawyer, „ich sehe das nicht ein. Ich bin bereit, auf Ryans Vorschlag hin hier zu bleiben, aber ich sehe es nicht ein."
„Wir werden auch allein fertig werden", fuhr Ryan plötzlich auf ihn los.
„Halt den Mund, Danny", sagte Ruth ruhig. „Verzeihung. Das Irische."
„Für alles, was du in den letzten zwanzig Jahren getan hast", sagte Ruth, „das dickköpfig, falsch, dumm und einfach ordinär war, hast du dem Zufall Schuld gegeben, der dich als Ire auf die Welt kommen ließ."
„Das stimmt", flüsterte Ryan.
„Zum Teufel stimmt es", sagte Ruth gleichmütig, und nun war Mike Sawyer hilflos und das Frauliche in Ruth Abbott war verschwunden. „Wenn du nachher von hier weggehst, wirst du in der Kneipe von Mc Cormick landen und wirst dich sinnlos besaufen, nur weil dieser Gelb in der Stadt ist und du nicht genug Mumm hast, damit fertig zu werden, nachdem du so lange ein üppiges
Leben geführt hast, und dann wirst du dir einreden, es wäre bloß, weil du Ire bist."
„Nur immer feste", sagte Ryan trübselig, „ich hab' es verdient. Aber ich sag' euch, dies hier ist nicht die Stadt für Krawall, und es ist auch nicht die Zeit für Krawall. Das geht nicht auf mein Konto, das ist eine objektive Tatsache, unglücklicherweise. Alles ist in dieser Stadt zu gut gewesen; fünf Jahre lang ist alles herrlich gewesen. Es wird scheußlich schlimm werden, wenn es hier Krawall gibt. Ich weiß nicht, was die Leute dann tun werden."
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Elliott Abbott saß auf der Kante ihres Bettes, einen Schuh in der Hand, spielte damit, zog an den Senkeln und versuchte etwas in Worte zu fassen, was er seiner Frau sagen wollte. Schließlich sagte er: „Worauf es hinauskommt, ist immer dieselbe verdammte Geschichte; ich kann es nur noch nicht schlucken. Ich kenne George Lowell. Ich mag ihn gern. Er besitzt eine tiefe menschliche Anständigkeit. Ich kenne seine Fehler und kenne seine Schwächen."
„Sicher kennst du sie", antwortete seine Frau unter den Decken hervor; sie lag auf dem Bauch, das Gesicht im Kissen vergraben, und glitt schon mit jener Leichtigkeit in den Schlaf, die ihn manchmal aufbrachte, zu anderen Zeiten aber mit einer Art neidvollem Staunen erfüllte.
„Warum sagst du nicht, was du denkst?" fragte Abbott.
„Weil ich bis jetzt noch gar nichts denke. Ich möchte nicht eher darüber nachdenken, bevor ich mehr weiß. Ich will schlafen."
„Du weißt ebensoviel wie sie", bestand Abbott.
„Ich weiß, dass Danny Ryan es liebt, die Dinge aufzubauschen. Ich weiß auch, dass niemand ein Gedächtnis wie eine Kamera hat. Eine Kamera ist etwas anderes als ein Gedächtnis. Ich bin müde, und ich werde keineswegs die ganze Nacht wachbleiben und diskutieren, bloß weil da irgend jemand ins Werk gefahren ist."
„Aber glaubst du, dass George fähig wäre... "
„Um Himmels willen, Elliott, was willst du denn von mir hören?"
„Ich weiß nicht", sagte er kläglich.
„Komm schlafen."
Als er endlich ins Bett stieg, schlief sie schon, und der sanfte, gleichmäßige Rhythmus ihres Atems war wie ein Stempel unter allem, was sich ereignet hatte. Er lag auf einem Ellbogen, belauschte sie und sah sie immer deutlicher, je mehr sich seine Augen der Dunkelheit anpassten. In diesem Augenblick fühlte er sich George Clark Lowell eng verbunden; im übrigen war er allein, Arzt in Neu-England, mittleren Alters, der einst in Spanien ein Unvergessliches erlebt hatte.
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Als die Abbotts fort waren, ging Lowell in die Bibliothek zurück und setzte sich wieder an das Schachbrett -Symbol des einzigen vom Menschen erfundenen Spiels, das versucht, in weißen und schwarzen Quadraten ein Muster und eine Wiederholung des Lebens zu geben, einen wohlgeordneten, durchschaubaren Mikrokosmos. Er starrte auf das Brett und erwog, dass nicht Worte zwischen ihm und Elliott ständen, sondern die vielen unausgesprochenen Dinge, die sich schwer und fordernd vor ihm erhoben. Sein Zorn auf Elliott schwand, und schließlich saß er so verstört da, dass Lois es merken musste, als sie hereinkam, um ihn zu holen. „Lass uns zu Bett gehen, George", sagte sie. Er nickte, stand auf und ging mit ihr hinauf. Vielleicht war es ein Reflex der Spannung oder eine instinktive Reaktion auf diesen neuen Umstand, der auf merkwürdige Weise aufregender als der Tod eines Kindes oder eine eheliche Verfehlung oder eine Szene dieser oder jener Art war: sie begehrte ihn, wie sie ihn seit Monaten nicht begehrt hatte, es ebbte und flutete so in ihr, dass sie seine Kleider betastete, als er sich auszog. Doch nachher, als sie im Bett lagen, war er impotent, so empörend impotent und widerwillig, dass ihm vor sich selbst übel wurde.
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