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Howard Fast - Clarkton (1947)
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SONNABEND, DER 8. DEZEMBER 1945

1

Danny Ryans Aufwachen glich immer einer Explosion. Nie wachte er friedlich auf- ebensowenig, wie er je in Frieden schlief. Wenn eines seiner fünf Kinder in der Nacht aufwachte, weckte es die andern mit auf; die Demarkationslinie zwischen Nacht und Tag war in ihren Gehirnen noch nicht eindeutig festgelegt. Gewöhnlich aber lagen alle fünf ein paar Stunden unmittelbar vor der Morgendämmerung in erschöpftem Schlaf, und bis etwa sieben Uhr herrschte verhältnismäßig Friede; dann explodierte die Welt. Hatte Danny Glück, so weckte ihn als erstes eine Bewegung auf; hatte er weniger Glück, dann trieb ihn ein schrilles, dröhnendes Crescendo von Tönen ins Bewusstsein, das ihn stets an die Zeit erinnerte - Jahre war es her —, da er zu oft und zu viel getrunken hatte. Und wenn er an manchen Morgen Pech hatte, dann kam ihm das Bewusstsein in Gestalt seines Sohnes Sean, der rittlings auf ihm saß und ihm mit entschlossenen kleinen Fingern die Augenlider hochklappte, während die andern unter der Bettdecke umherkrochen und an seinen Füßen zerrten.
Immerhin war er ebenso geschmeichelt wie dankbar, dass er und nicht Jean, seine Frau, den Anprall dieser morgendlichen Attacken abfing. Wenn er auf die vergangenen Jahre zurückblickte, kam es ihm vor, als sei Jean fast immer schwanger gewesen, und vielleicht hatte dieser Dauerzustand die Kinder erzogen, mit der Mutter ein bisschen sanfter umzugehen. Auch jetzt war Jean ungeheuerlich schwanger; sie lag zusammengerollt, voll animalischer Wärme, wohlig und in gelassener Hinnahme der Kinder neben ihm. Nichts vermochte Jean aufzuregen; nichts hatte jemals diese stattliche, hübsche französische Kanadierin seit jener Zeit vor elf Jahren aufgeregt, da Ryan ihr begegnete, sich irrsinnig in sie verliebte und sie heiratete. Ryan war immer noch in sie verliebt, immer noch hielt er sie für die größte, stärkste und schönste Frau auf der ganzen Erde.
Jean ihrerseits betrachtete ihn als einen von ihrer heranwachsenden Brut. Sie hatte eine ungeheure Geduld mit Männern und Kindern, gegenüber Krankheit und Hunger, Kindbett und Politik. Als sie Danny Ryan heiratete, hatten die Eltern sie gewarnt, dass Politik in doppelter Hinsicht wie Krebs wäre; sie wäre unheilbar und würde niemals besser, sondern immer nur schlimmer. Aber da dies eine Eigenschaft zu sein schien, die den meisten Lebensäußerungen zukam, war sie nicht allzu erschüttert. Sie selbst war tief in der Erde verwurzelt, wo nichts umkommt und Veränderung am wenigsten zu spüren ist; und für sie war Danny Ryan Dichter, Sänger und Prophet. Wenn der Pfarrer verdammte, was Danny tat, so war sie Französin genug, um ein uraltes und instinktives Wissen über Pfaffen zu haben; und sie trennte sich weder von der Kirche noch von Danny Ryan, die sie nach der gleichen widersinnigen und doch wirksamen Weise ihrer Vorfahren miteinander in Einklang brachte.
Von ihrem Mann verlangte sie auch gar nicht die gleiche praktische Brauchbarkeit, die sie von den Erscheinungen des Lebens im allgemeinen erwartete. Als sie noch ein kleines Mädchen war, kannte sie schon die Geschichte von Dannys Großvater Kevin Ryan, der im Jahre 1869 mit siebzehn anderen Iren ausgezogen war, die Eroberung Kanadas zu vollenden und sowohl das Land als auch die gottesfürchtigen Menschen, die es bewohnten, vom Joch des britischen Despotismus zu befreien. Gewisse Leute nannten es sogar heute noch ein tollkühnes Unternehmen, und einmal hatte sie auch Danny — der für seinen Großvater die höchste Achtung und die tiefste Bewunderung hatte - es als einen Ausfluss der Abenteuerlust bezeichnen hören. Aber schließlich hatte Kevin Ryan auf einer Massenversammlung in Worcester vor Antritt seiner Expedition selbst zugegeben, dass es ein kühnes Abenteuer für Männer mit großen Hoffnungen und erhabenen Idealen wäre; und obgleich er von der Möglichkeit des Scheiterns sprach, so wies er doch daraufhin, dass John Brown mit nur zwei Leuten mehr in seiner Gemeinschaft die Erde erschüttert und an große Reiche die Brechstange angelegt hätte — und dass, wie die Iren aus tausend Jahren Geschichte sehr wohl wüssten, es gar nicht abzusehen wäre, was das Volk alles leisten würde, wenn man nur erst einen kleinen Funken unter ihm entfachte. Aber die Franzosen des südlichen Kanadas unterließen es - und Jean rechnete es ihnen als ewige Schande an —, Kevin Ryan als ihren Befreier anzuerkennen und sich ihm zu Hunderten und Tausenden anzuschließen. Und nach einem neunzehnstündigen Gefecht gegen achthundert Polizisten und Milizsoldaten, im Stich gelassen von demselben Volk, das er befreien wollte, im Stich gelassen von seiner eigenen Regierung, lagen Kevin Ryan und vierzehn seiner Leute tot; sie entgingen wenigstens der Schmach, gehängt zu werden, die die drei übrigen traf.
Weil sie diese Geschichte kannte, verlangte Jean nicht, dass ihr Mann wie alle andern wäre. Wenn er mit dem Trinken aufhörte, dann würde er, so wusste sie, zu Großem berufen sein, wie es so viele Männer von kleiner Gestalt sind; und sie gestattete niemand ein böses Wort gegen ihn, nicht einmal dem Pfarrer.
Und als sie an diesem Morgen im Bett lag und ihm bei seinem Kampf mit fünf Kindern zusah, sagte sie: „Danny - vielleicht eine Woche noch. Wie die dich von außen treten, so tritt er mich von innen."
„Er?“
„Es wird ein Junge. Bei Gott, Danny, nach diesem werde ich mich lange, lange ausruhen. Jetzt keine mehr."
„Gott behüte, dass ich noch mehr wünschen sollte, nachdem ich sechs habe."
„So sagst du - aber du hast keine Willenskraft, Danny."
„Den Willen habe ich, aber ich habe kein Vertrauen in mich selbst; und das stimmt, wenn ich mir überlege, was ein Mann in seiner selbstsüchtigen Gier einer Frau seelenruhig antut."
„Das ist Unsinn", sagte sie und stieg aus dem Bett. „Willst du Buchweizenpfannkuchen?"
Die Kinder waren begeistert, und damit war es entschieden.


2

Beim Frühstück mit den Abbotts sagte Mike Sawyer: „Eigentlich müsste ich heute abfahren, aber ich denke, ich treibe mich noch eine Weile hier herum, vielleicht bis Sonntag abend. Ich werde wohl ein Hotelzimmer finden."
„Bleib hier", sagte Ruth. „Du störst uns nicht." „Natürlich störe ich, aber es ist angenehm hier. Ich würde mit Vergnügen hier bleiben, wenn ihr mich wollt. Wisst ihr, ich bin gestern abend ins Lesen geraten, ausgerechnet Niedergang und Sturz des Römischen Reiches, bloß weil ihr es gerade hattet. Bis zwei Uhr bin ich aufgeblieben und habe darin gelesen." „War deine Einheit in Italien?" fragte Abbott. „Erst Nordafrika und dann Italien; deshalb hat die Lektüre einen besonderen Reiz. Es sind dreitausend Seiten, ich werde nie damit zu Ende kommen, aber ab und zu möchte ich mich doch daranmachen. Vor Rom haben wir eine Zeitlang mit den Partisanen zusammengearbeitet. Man wusste, dass ich ein Roter war. Man steckte an die sechzig Prozent Rote in diese Truppe — die meisten von uns waren in Spanien gewesen -, weil man mit den Partisanen nicht zurechtkam und meinte, dass diese uns eher trauen würden. Kanntest du Jim Curry?"
„Ich glaube, er hatte einmal Skorbut, und da brachten sie ihn nach Barcelona herauf ins Lazarett. Das war das einzige Mal, dass ich ihm begegnet bin. Er arbeitete im Süden."
„Ein untersetzter Bursche - klein und breit", warf Ruth ein. „Das ist er. Er führte unsere Einheit. Es war eine schöne Arbeit. Ich hatte Dusel, dass ich dort war und nicht irgendwo anders. Aber es ist nicht mit einer zivilen Beschäftigung zu vergleichen.
Es ist bald vier Jahre her, seit ich eine Stellung hatte und auch nicht für lange, denn ich bin wohl zehn Jahre lang mehr ein Berufssoldat gewesen als irgend etwas anderes. Das macht mir Kummer. Ich will das hier nicht durcheinander bringen - nicht bevor ich weiß, wo ich stehe. Es ist keine einfache Sache, bezahlter Funktionär zu sein, selbst in einem so kleinen Bezirk wie diesem."
Der Doktor fragte: „Gibt es einen besonderen Grund, noch hier herumzuhängen?"
„Vor allem Gelbs wegen. Ich kann nicht dahinter kommen, weshalb sie in einen Ort wie Clarkton eine so große Kanone schicken."
„Er muss sich wieder in Erinnerung bringen", lachte Ruth. „Es ist lange her, dass er seinen Ruf erworben hat."
Das Telefon klingelte und Abbott ging an den Apparat. Es war Lowell, der sagte: „Ich muss dich heute früh noch sprechen, Elliott."
„Würde es dir um Mittag passen, um zwölf?"
„Es muss gleich sein."
„Nun - gewöhnlich mache ich meine Besuche... "
„Mach diesmal eine Ausnahme. Ich sage dir, ich muss dich sprechen, Elliott."
„Gut. Das beste ist, du kommst sofort herüber."
„In zehn Minuten bin ich bei dir."
Als Abbott in die Küche zurückkam, sah Ruth ihn fragend an. „Lowell", sagte er, zuckte die Schultern und setzte sich wieder an den Tisch.


3

Als Lowell zu Elliott Abbott ins Sprechzimmer kam, war es, als ob zwei Menschen sich nach langer Zeit wieder träfen, alte Bekannte eher als Freunde. Abbott beugte sich über den Schreibtisch, um ihm die Hand zu schütteln, und seine mächtigen Schultern und der zottige Kopf machten den Schreibtisch zu einer Winzigkeit. Seine hellen Augen sahen den andern neugierig an und stellten fest, dass Lowell mit Schlaf und Nerven gleichermaßen herunter war, eine Vermutung, die nicht weit daneben ging. Lowell aber, dem manche Dinge schon verloren gingen und bei dem die noch verbliebenen auf dem Wege dahin waren, bedeutete Abbott im Augenblick das einzige jetzt noch übrig gebliebene menschliche Wesen, das er in- und auswendig kannte, sein ganzes Leben hindurch von frühester Kindheit an gekannt hatte und das, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, fähig war, den Menschen -ihn, Lowell - von gewissen Ereignissen zu trennen, die im Gange waren. Und seine ersten Worte: „Elliott, ich sitze gemein in der Patsche", bezeugten es Elliott, der ihn beobachtete und nur schwach auf die Feststellung reagierte, dass er gemein in der Patsche saß, blieb ein Turm der Stärke. Sollte Gelb doch sein Gehirn an dem Fakt berauschen, dass er Kommunist war! Elliott war ein seltsamer Mann, wie er auch schon ein seltsamer, übergroßer, ungeschickter Jüngling gewesen war. Aber sie kannten einander, auch ohne Etiketten.
„Was ist los?" fragte Elliott.
„Nun, ich bin krank, das ist los. Eine scheußliche, schmutzige Sache — und zu wem sonst sollte ich wohl gehen?" Er wollte Elliott etwas vorlügen, aber er konnte es nicht - und überhaupt belügt man seinen Arzt nicht. Es hat keinen Sinn. Außerdem hatte er Angst, das konnte Elliott sehen, deutliche, sichtbare Angst.
„Eine Masse Leute sind krank", sagte Elliott und lächelte ganz leicht. „Es sind mehr Leute krank, als du dir vorstellst. Wir weichen ein wenig von der Norm ab, und dieser Zustand heißt Krankheit. Wir werden von einem kleinen Insekt gestochen, und auch dieser Zustand heißt Krankheit. Sie ist sehr weit verbreitet, George." Er stand auf und spreizte seine großen Hände auf dem Schreibtisch: „Lass uns hineingehen und einmal nachsehen."
Er brauchte nicht lange, nur ein paar Minuten, und dann saß er auf einem Emaillestuhl, beobachtete Lowell beim Anziehen und rieb sich mit dem Zeigefinger der einen Hand die Lippen.
„Ist's das, was ich denke?" fragte Lowell ihn.
„Ich weiß nicht, was du denkst, George. Es ist keine sehr aristokratische Krankheit. Es ist ein mehr oder weniger allgemeiner Zustand von Unsauberkeit, den die niederen Klassen Tripper nennen, ein hässlicher Name. Ich kann ihn auch in vier Silben sagen, wenn du das von mir verlangst."
„Es ist doch nicht... ?
„Nein, keineswegs, wenn dir dieser Unterschied ein Trost ist. Außerdem, dies hier kann ziemlich leicht geheilt werden. Sehr oft kann es in etwa drei Stunden nicht übertragbar gemacht werden. Vor fünf Jahren wäre es noch anders gewesen, aber heute weicht es ohne weiteres vor Penicillin. Man wird die Sache ebenso leicht los wie eine Erkältung - leichter, tatsächlich!"
Lowell stand da und sah ihn an; die Furcht verging, die Hilflosigkeit verging, aber Abbott tat nichts, als sich die Lippen reiben.
„Was du auch denkst", begann Lowell, „ich würde... "
„Ich denke gar nichts", sagte Abbott. „Die Sache geht mich nichts an. Ich bin dein Arzt. Meine Sache ist, dich gesund zu machen, wenn ich kann. Weiter nichts."
„Gut. Wenn du es von dieser Seite betrachten willst."
„Von welcher anderen Seite soll man es denn betrachten?"
„Es gibt wohl keine andere. Keine andere Seite. Du hast niemals irgendwelche Zweifel, was, Elliott?"
„Das gehört nicht hierher", sagte Elliott kurz. „Ich halte keine Predigten. Die Sache geht mich einen Dreck an."
„Würdest du mir etwas sagen?"
„Alles, was ich dir sagen kann, mit Freuden", sagte Abbott.
„Wann habe ich mir diese Geschichte geholt?"
Abbott sah ihn genau an und antwortete, ohne dass sich seine Stimme merkbar verändert hätte: „Vor drei Tagen ungefähr."
„Nicht vergangene Nacht?"
„Nicht vergangene Nacht", sagte Abbott, „auch nicht die Nacht zuvor. Es muss länger her sein."
„Bist du dessen sicher?"
„So entwickelt sich jedenfalls eine Geschichte dieser Art. Vielleicht kann es auch anders sein, aber mir ist das noch nicht vorgekommen."
„Aber letzte Nacht", sagte Lowell stumpf, „hätte ich da... " „Das hättest du", nickte Abbott. „Da war es übertragbar." Keinerlei Gefühl klang aus seiner Stimme, keine Verurteilung, kein Zorn. Er saß noch immer auf dem Stuhl, das Kinn in seine Hand geschmiegt, und betrachtete Lowell mit ruhigem Interesse. „Es ist heilbar bei dir", sagte Abbott. „Es ist auch bei jedem andern
heilbar."
„Gestern abend", begann Lowell mit einem nachtwandlerischen
Ton in der Stimme, „war ich... "
„Ich möchte lieber nichts davon wissen", sagte Elliott.
Zum ersten Male, seitdem sie heute früh zusammengekommen waren, lächelte Lowell. „Wie lange hast du auf diese Gelegenheit gewartet, Elliott?" fragte er. „Ich habe dich und Fern jetzt ein ganzes Jahr lang beobachtet."
„Tatsächlich?"
„Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich hätte das nicht
sagen sollen."
„Es macht nichts."
„Ich hätte es nicht sagen sollen. Letzte Nacht habe ich nur vier Stunden geschlafen, Elliott. Dieser verdammte Streik... "
„Es macht wirklich nichts. Vergiss es."
Lowell schüttelte den Kopf. Er fühlte sich schläfrig, sehr schläfrig — weit weg von allem, was er sagte, wie eine zuhörende dritte Person. Vielleicht war das Kranksein an dieser Verfassung
schuld.
„Ich werde eine Analyse machen und dir in einigen Stunden Bescheid sagen", sagte Abbott, stand auf und öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer. „Unterdes wird die Spritze ihre Wirkung tun, wie ich schon sagte, und bis zum Abend dürftest du die Geschichte los sein. Lass dir die Medizin besorgen und nimm alle drei Stunden eine Tablette. An deiner Stelle würde ich mich nicht überarbeiten heute. Ich würde früh zu Bett gehen. Du brauchst Schlaf."
„Danke", sagte Lowell; Abbott sagte nichts. Im Konsultationszimmer nahm Lowell Hut und Mantel auf, stand einen Augenblick und sagte dann:
„Ich möchte nicht, dass es ein solches Ende nimmt, Elliott. Ich habe nicht viele Freunde."
„Die hat keiner von uns", antwortete Abbott ruhig.
„Darf ich dich eins fragen?"
„Alles, was du willst."
„Bist du Kommunist, Elliott?"
„So lange kennst du mich schon und hast mich bis jetzt nie danach gefragt."
„Ich weiß", sagte Lowell hilflos.
„Ich bin Kommunist", sagte Abbott.
„Ich meine nicht, was du glaubst oder denkst. Es gibt doch eine Organisation, oder nicht?"
„Ganz recht."
„Und... "
„Ich gehöre dazu", sagte Abbott. „Mitgliedsbuch und alles andere. Wolltest du mich das fragen?"
Lowell nickte kläglich. Er zog seinen Hut und Mantel an, drehte sich um und ging hinaus. Abbott setzte sich an seinen Schreibtisch und saß da volle fünf Minuten, starrte auf die Löschunterlage, rollte den Füllhalter hin und her und machte kleine Tintenkleckse damit. Dann ging er zurück in die Küche, wo Ruth und Mike Sawyer saßen, rauchten und Frances Colby zusahen, wie sie einen Eierkuchenteig bereitete.
„Sie essen gut", sagte Frances zu Mike. „Kein gekauftes Brot, nein, Herr. Selbstgebackenes. Keinen gekauften Kuchen. Selbstgebackenen. Mein armer Vater würde sich in seinem Grab umdrehen, wenn er mich in meinem Alter noch so arbeiten sähe. Deshalb sage ich ihnen, die gesellschaftlichen Prinzipien beginnen zu Hause. Die Gleichheit der Menschen beginnt zu Hause. Mein Vater hatte eine Farm in New Hampshire; wir hatten einen Knecht, der einmal Gene Debs die Hand gedrückt hatte, und ich schwöre vor der ganzen Nation, dass er uns alle verrückt gemacht hat. Er wollte doch nicht mit uns essen! Alle Knechte, die wir hatten, so lange uns die Farm gehörte, setzten sich an den Küchentisch und aßen mit uns zusammen, aber er nicht. Nein, Herr. Wir waren die besitzende Klasse, und er hatte, was er Klassenbewusstsein nannte, das war eben so. Und wenn er für uns arbeitete, bei Gott, dann arbeitete er für uns, und er wollte keine gesellschaftliche Herablassung anstatt der fünfundzwanzig Dollar im Monat annehmen, um die wir ihn nach seiner Behauptung ausbeuteten. Nun, wir hatten nicht Ruh noch Rast, bis die Ernte herein war, und da nahm Vater einen Harkenstiel und sagte, dass er ihm das Klassenbewusstsein schon stecken wollte."
„Tatsächlich?" fragte Sawyer.
„Ja, da können Sie Gift drauf nehmen, wir mussten uns einen neuen Knecht suchen. Das hat meinen Pa gegen Sozialisten eingenommen."
„Was ist?" sagte Ruth zu Elliott. „Du hast George doch nicht
die Leviten gelesen?"
„Beinahe. Aber das ist es nicht." Er sah verwirrt und bekümmert
aus.
„Was denn?"
„George weiß, dass ich in der Partei bin. Er trug es wie ein Kreuz. Vor einer Woche wusste er es noch nicht." Abbott hatte das Gefühl, als wäre er sich vor einer Woche dessen selbst noch nicht ganz bewusst gewesen.


4

Der frühe Morgen war schön gewesen, aber jetzt wehte ein kalter, heftiger Wind von den Bergen herab und überwischte den Himmel mit der Verheißung von Schnee. Trockene Blätter und Kehrichtteilchen wirbelten den Concordweg hinunter, und jene beherzten Leute, die in Sweatern und dünnen Jacken aus dem Haus gegangen waren, kehrten zurück, um sich wärmer anzuziehen.
George Clark Lowell schlug den Mantelkragen hoch, als der Wind ihn traf, beugte den Kopf und ging quer über die Straße dahin, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Als er hinter dem Steuer saß, zündete er sich eine Zigarette an, machte vier oder fünf lange, nervöse Züge und warf sie weg. Er ließ den Wagen an und fuhr durch Clarkton östlich ins Land hinaus. Die Tatsache allein, dass er in diesem Augenblick die Stadt verließ, gab so sehr seinem Bedürfnis Ausdruck, sich zurückzuziehen und sich loszusprechen, dass er von Selbstmitleid und gerührtem Verständnis seiner selbst erfüllt ward - ein Gefühl, das er auf Abbott und dann sogar auf seine Frau ausdehnte, ein etwas weinerlicher Zustand, der sein Verlangen nach Alkohol bis zu einem Grad von Verzweiflung steigerte. Er dachte an Rose Antonini, in einer Aufwallung von Mitleid, das sie liebend umarmte, und begann zu überlegen, was er für sie tun könnte, irgendeine großartige und huldvolle Handlung, ohne ihr zu sagen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach geschlechtskrank geworden wäre. Aber das erschien ihm nicht als Wirklichkeit oder Tatsache, und wie die meisten Menschen glaubte auch er nicht leibhaftig an die Übertragung von Krankheiten, selbst wenn sie bewiesen war; und darüber hinaus vermochte er sich auch einzureden, dass sie sie schon früher gehabt hätte und ohne Zweifel noch öfter bekommen würde. Aber in seinen Gedanken an sie erhob sich die Krankheit wie eine Mauer, und er hatte die Tatsache hinzunehmen, dass es niemals wieder so sein würde wie gestern abend.
Nichtsdestoweniger empfand er eine zerfließende große Zärtlichkeit für sie, die er auch in irgendeiner Form zum Ausdruck bringen würde. Und wenn das sein Wunsch war, dann rechtfertigten sogar die objektiven Umstände der Angelegenheit seine Handlung; sie war, wenigstens für eine gewisse Zeit, einmal Clarks Freundin gewesen, so dass eine Erkenntlichkeit nicht scheel angesehen werden konnte. Noch trauriger machte ihn der Gedanke, dass selbst Elliott bestenfalls nicht genau begreifen würde, was er für eine kleine Italienerin empfinden konnte, die in seinem Werk arbeitete. Um dies zu verstehen, hätte Elliott etwas von der komplizierten inneren Sauberkeit wissen müssen, die ein Mann bewahren kann, der in einem New Yorker Hotel mit einer Hure ins Bett geht, obgleich er sie und sich selbst dazu verabscheut, und der sich dann fähig fühlt - ja, getrieben wird, die Welt aus den Angeln zu heben, weil eine andere Frau ihn in Brand gesetzt hat, mit solch fleischlicher Lust, wie er sie mit keiner Frau zuvor erlebt; der Mensch war schwach und stark, und stolz und eigensinnig und bußfertig zugleich. Er konnte Elliotts Beziehung zu Fern, seiner Tochter, verstehen, aber Elliott vermochte ihn nicht zu begreifen.
Fünf Meilen außerhalb Clarktons setzte er sich in eine schmierige Schnapsbeize, die hinter einer Tankstelle stand, und trank einen Whisky sauer — einen sehr schlechten Whisky sauer — und noch einen zweiten. Zu dieser Morgenstunde war nur der Kellner im Lokal, der ihm die Schnäpse mit schweigender und etwas verächtlicher Reserviertheit hinstellte. Lowells Mitleid wuchs. Er wälzte die Tatsache, dass Elliott Kommunist war, in seinem Kopfe hin und her. Für Elliott war es Grund genug, ihn zu hassen; er aber konnte stolz versichern, dass es für ihn noch längst kein Grund war, seinerseits Elliott zu hassen.


5

Von einem Fenster in Wilsons Büro beobachtete Frank Norman, wie Fern ihren Zweisitzer in die Streikpostenkette steuerte, ihren Passierschein vorzeigte und durch das Tor fuhr.
„Fräulein Lowell", sagte er zu Wilson, der an seinem Schreibtisch saß und bedächtig einen Haufen Papiere unterschrieb.
„Huhu! Das ist ein aufgewecktes Mädchen. Ein bisschen zu forsch für meinen Geschmack."
„Und hübsch dazu."
„Hübsch ist sie, alles, was recht ist. Sie muss fest an die Leine genommen werden. Ich sage nicht gern etwas über Herrn Lowell — ein verdammt feiner Mann. Sie verstehen mich, Krem der Erde, bloß zu bequem -, aber sie hat ihn am Bändel und nicht er sie."
„Ich hörte, sie hat Unannehmlichkeiten gehabt", sagte Norman langsam.
„Die ganze Stadt weiß es, sonst würde ich keinen Ton davon sagen. Wenn es eins gibt, wovor ich Abscheu habe, dann sind es Männer, die über Frauen herziehen."
„Darin stimme ich mit Ihnen überein", sagte Norman. „Von ganzem Herzen."
„Aber die ganze Stadt weiß es", sagte Wilson. Er mochte Norman gern. Norman war nicht wie Gelb, nicht Gelbs Kaliber, nicht Gelbs Typ, sondern ein sauberer, ordentlicher Bursche, der sich seiner Arbeit mit solchem Schwung, solcher Aufrichtigkeit hingab, dass es Wilson geradezu verjüngte, wenn er bei ihm war. Außerdem war er bescheiden, prahlte nicht mit seiner Militärdienstzeit und brachte Wilson den gleichen höflichen Respekt entgegen, wie er ihn einem seiner Offiziere erwiesen haben mochte. Die ganzen Kriegsjahre hindurch hatte sich Wilson in Gegenwart von Männern seines Alters in Uniform, Hauptleuten, Majoren, Obersten und Generälen, befangen und ungemütlich gefühlt. Es gab gar keinen Grund, so fühlte er, warum nicht auch er, hätte er nur die Chance gehabt, ebensoviel und sogar noch mehr geleistet haben würde. Und so bedeutete es ihm eine der größten Erleichterungen bei Kriegsschluss, dass er diesen fressenden Neid beiseite tun konnte.
„Das ist schade, Herr", sagte Norman.
Und auch das war ihm sympathisch an Norman, dieser gelegentliche und gewinnende respektvolle Gebrauch des Wortes ,Herr'. „Das kommt in einer Stadt wie dieser vor. Auf dem College wurde sie in eine dumme Geschichte verwickelt, und sie schmissen sie hinaus. Wahrscheinlich hätte Herr Lowell die Sache ausbügeln können, aber sie war eben zu verdammt halsstarrig."
Norman sah ihn fragend an.
„Ich weiß nicht, was eigentlich los war. Ein Haufen Gerüchte, ein Haufen übler Klatsch, aber was es wirklich war, weiß weder ich noch vermutlich sonst jemand in der Stadt. Eins muss man den Lowells lassen — verdammt feine Leute, dieselbe Familie wie die Lowells, über die man immerzu etwas liest, verstehen Sie —, sie tragen ihren Kummer nicht spazieren. Sie hatten einen Sohn, ist im Kriege umgekommen, wurde bei dieser Geschichte an der Bulge erschossen. Aber wie sie es hingenommen haben, das würde unsereiner nie fertig bringen. Wenn du mich fragst, Junge, das ist das Zeichen eines Mannes, nicht wie er steht, wenn alles so glatt wie möglich geht, sondern wie er steht, wenn es wettert und stürmt. Da wird Mumm gebraucht, und da zeigt sich der Schlappschwanz. Wenn einer ein Schlappschwanz ist, dann kommt es dabei heraus. Aber ich vermute, Sie haben das in Übersee selbst reichlich erfahren... "
Fern kam nun herein, die Wangen von der Kälte gerötet, noch erregt von dem Erlebnis, die Streikpostenkette passiert zu haben und in dem ruhenden, bestreikten Werk zu sein. Sie trug einen Rock mit gelbem Wildlederjäckchen, einen rauen braunen Sweater, Schuhe mit flachen Absätzen und einen langen gestrickten Schal aus der gleichen Wolle wie der Sweater. Es war das erste Mal, dass Norman sie richtig sah, abgesehen von dem flüchtigen Blick aus dem Fenster, und nun — so wie sie angezogen war, mit ihrem Haar so windzerzaust und locker — war er zugleich erregt und entzückt von ihr. Er hatte sich nicht vorgestellt, dass sie so hübsch wäre, und der Gedanke, sie kennen zu lernen und sich vielleicht mit ihr zu verabreden, machte seinen Auftrag hier in Clarkton geradezu vollkommen.
„Hallo, Tom", begrüßte sie Wilson. „Ich musste einfach herauskommen. Mir blieb das Herz beinahe stehen, als ich in das Tor einbog. Aber wissen Sie, die Leute waren sehr nett dabei. Wer ist das?"
„Fern, ich möchte Sie mit Frank Norman bekannt machen, einem der Betriebsberater, die Ihr Papa von New York hierher geholt hat. Das ist Fräulein Lowell, Frank."
Norman sagte: „Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Fräulein Lowell. Bestimmt waren die Leute sehr nett zu Ihnen. Der Teufel sollte sie holen, wenn sie es nicht wären."
Fern ging ans Fenster und sah hinaus: „Das macht die Sache weniger schlimm, was? Ich kann bloß nicht verstehen, wie diese paar Menschen euch daran hindern könnten, wenn ihr das Werk wieder aufmachen wolltet."
„Wenn wir aufmachen wollten, Fern... " sagte Wilson. „Frank, hier sind die Haftbefehle. Bringen Sie sie doch bitte zu Gelb, damit er sieht, dass sie in Ordnung sind. Dann können Sie nachsehen, ob Curzon die Leute hergeschickt hat."
„Sie gehen doch nicht gleich wieder, Fräulein Lowell?" fragte Norman.
„Warum?"
„Nun, es interessiert Sie vielleicht. Wir wollen die Streikpostenkette vom Tor zurückdrücken, und das gibt vielleicht ein bisschen Aufregung. Von diesem Fenster aus könnten Sie ausgezeichnet zusehen."


6

Gewöhnlich pflegte Danny Ryan ein oder zwei Stunden vor Mittag vom Gewerkschaftshaus in der Eichenstraße hinüber zum Concordweg und dann die Hauptstraße hinauf bis zur Birkenstraße zu gehen, wo das Werksgelände begann. Westlich der Birkenstraße kamen ungefähr vierhundert Meter mit Unkraut bewachsener Wiese, bevor man an die Tore der Lowell Company gelangte, und diese Wiese erstreckte sich nördlich bis an den Bach und südlich bis zur Hauptlinie der Eisenbahn, wo der freie Durchgang durch einen schweren, neun Fuß hohen Drahtzaun versperrt war. Von dieser Wiese wurde kein besserer Gebrauch gemacht, als gelegentlich einer streunenden Kuh oder Ziege einfallen mochte, und sie war freigiebig mit den Abfällen eines halben Jahrhunderts übersät, Lumpen, Eisen, das sogar für Schrott zu rostig war, verfaulten Brettern und ganz gewöhnlichem Müll. Seinerzeit, im Jahre 1928, hatte der alte Herr Lowell hier einen vorbildlichen Erweiterungsbau geplant, aber als eben das Fundament ausgeschachtet war, haute die Krise dazwischen, und es gähnten jetzt noch eine Reihe von Löchern als schlammige Gruben, die sommers eine Brutstätte für Mücken waren. Die Wege, die zu den vier Werkstoren führten, durchschnitten diese Wiese und waren, wie die Wiese selbst, mit alten, regenfeuchten Schildern PRIVAT! KEIN DURCHGANG FÜR UNBEFUGTE markiert. Manchmal ging Danny allein zur Fabrik hinauf, manchmal mit Bill Noska oder mit einem andern aus dem Büro, manchmal mit Joey Raye. Heute hatte er den großen Neger bei sich, und die beiden waren gerade um die Ecke in die Hauptstraße eingebogen, als sie auf Pater O'Malley stießen, der fröhlich grinste, erst Ryan und dann Raye die Hand bot und darauf fragte, wohin sie denn an diesem schönen Wintermorgen wollten.
„Hatten grade gedacht, zu den Toren hinunter zu gehen und die Lage zu peilen", sagte Ryan. „Joey hier hat mit seiner Kolonne aus einem alten Fordomnibus, den die Gewerkschaft gekauft hat, eine fahrbare Kaffee- und Semmelkantine gebaut, und nun will er die Leute am Tor fragen, was der alte Schlitten ihnen
bringen soll."
„Etwas dagegen, wenn ich ein Stück mitkomme?" fragte Pater
O'Malley.
„Durchaus nicht", sagte Raye. Ryan sagte gar nichts, und Pater O'Malley nahm neben ihm Tritt auf, stieß ihn mit dem Ellbogen leicht in die Rippen und sagte:
„Ich komm' Ihnen wohl zu nahe auf Ihre dünne irische Haut, was, Ryan? Sie fragen sich sicher, was zum Teufel werden die Leute sagen, wenn sie mich neben dem Priester hergehen sehen? Ein Verrat oder was sonst? Sie haben eben eine dünne irische Haut, und die irrt sich leicht. In solchem Ausmaß hab' ich meine Herde noch nicht verloren."
„Nichts derart", antwortete Ryan. „Der Bürgersteig ist breit, und er ist noch frei."
„Sie mögen mich nicht, was, Ryan?" lachte glucksend der Priester.
„Es geht hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Sie stehen auf der einen Seite. Ich stehe auf der andern. Das ist alles."
„Ich stehe auf der Seite Gottes, Ryan", sagte Pater O'Malley.
Ryan lachte. „Na, da müssen Sie erst mal Seinen gegenseitigen Beistandspakt vorweisen, bevor Sie Ihn für sich in Anspruch nehmen."
„Sie glauben nicht an Gott, nicht wahr, Ryan?"
„Wenn Sie mir was in die Hand geben und ich kann es sehen, dann glaub' ich daran." Ryan grinste, als er bemerkte, wie viele Leute, die ihnen auf der Straße begegneten, den Kopf neigten und dem Priester einen guten Morgen wünschten."
„Der Unterschied ist, dass ich Sie tatsächlich gern habe, Ryan. Ich täte es nicht, wenn Sie nur an das glaubten, was ich Ihnen in die Hand geben könnte."
„Es ist aber so."
„Wenn Sie einen Menschen Genossen nennen", sagte der Pfarrer obenhin, „woran glauben Sie denn da?"
„An den Sozialismus."
„Ohne die Bruderschaft der Menschen, Ryan? Bei Gott, dann ist er nicht viel wert, so wie ich ihn sehe."
„Natürlich sehen Sie ihn auf Ihre Art - Sie sind ein tüchtiger Mann in Ihrer Organisation, Pater, aber ich kann mich nicht für die Leier Haben-Sie-aufgehört-Ihre-Frau-zu-schlagen begeistern. Sie hatten in den letzten zweitausend Jahren sozusagen das Monopol auf die Bruderschaft der Menschen, und was in Teufels Namen haben Sie daraus gemacht! Fünfzig Millionen Tote in den letzten zehn Jahren - wenn das Bruderschaft ist, dann behalten Sie sie nur!"
„Sie haben wirklich mit der Kirche gebrochen, was?" sagte der Pfarrer unerschüttert. „Wenn ein Ire bricht, dann bricht er. Aber wie lange kann denn einer auch nur unter der bloßen Drohung ewiger Verdammnis leben?" „Ich komm' zurecht."
„Sicher tun Sie das. Und gerade da möchte ich einhaken. Sie sagen, Sie glauben nicht an Gott. Sie sagen, Sie glauben nicht an die Bruderschaft der Menschen. Sie sagen, Sie glauben nicht an die Erlösung durch Jesus Christus. Und doch sind Sie bereit, für das zu sterben, woran Sie glauben. " „Ich möchte lieber dafür leben." „Woran glauben Sie denn?"
„Wenn das eine ehrliche Frage ist", sagte Ryan und schaute zu dem Priester auf, „werde ich eine ehrliche Antwort versuchen." „Es ist eine ehrliche Frage. "
„In Ordnung — ich glaube an eine Zeit, da der Mensch aufhören wird, seinen Mitmenschen auszubeuten. Damit ist alles gesagt. Wenn Sie ein Buch darüber lesen wollen, dann kann ich
Ihnen eins geben."
„Ich habe etwas Marxismus gelesen, Ryan - keine Menge. Es ist eine ziemlich schwierige Lektüre, wenn Sie mich fragen. Aber ich habe einiges gelesen. Ich soll als Tatsache hinnehmen, dass alles Übel auf Erden daher kommt, weil ein Mensch dem andern Arbeit gibt. Das kann ich nicht akzeptieren."
„Sie machen es verdammt entsetzlich einfach", sagte Ryan. „Sie auch", lächelte der Priester. „Aber wenn ich die Sowjetunion betrachte, ist es nicht einfach, nicht wahr? Es ist mächtig kompliziert, scheint mir. Und Sie haben mir immer noch nicht gesagt, woran Sie glauben, und was Sie bereit macht, dafür Ihr Leben zu geben."
„Darüber wär' eine Menge zu sagen", seufzte Ryan.
„Ich habe Zeit."
„Ich nicht -jetzt nicht."
„Wenn Sie einmal Zeit haben, Ryan, setzen wir uns doch zusammen und sprechen darüber. Ich habe mich mit schlechten Menschen herumgestritten und habe gewonnen; da sollte ich, so scheint mir, auch bei einem guten Menschen eine Siegeschance haben."
„Was bringt Sie auf die Idee, ich sei ein guter Mensch?" grinste Ryan.
„Die Tatsache, dass Sie bereit sind, für das zu sterben, woran Sie glauben."
„Das ist eine Einbildung, Pater. Und wenn ich's wäre - die Nazis waren es auch, und sie starben dafür."
„Aber sie betrogen sich niemals mit der Vorstellung, dass sie eine bessere Welt schüfen. Für die Kirche war es ein schwarzer Tag, als sie zur Macht kamen."
„Ich hab' nie bemerkt, dass die Kirche irgendeinen Anschein gezeigt hat, sie aufzuhalten."
„Es ist nicht die Aufgabe der Kirche, Ryan, mit dem einen Teil ihrer Herde Partei gegen den andern zu nehmen. Sie haben noch nie gehört, dass ich eine Predigt zur Unterstützung Lowells gehalten hätte."
„Nein - aber haben Sie jemals eine Predigt zur Unterstützung des Streiks gehalten? Haben Sie jemals Ihrer Herde erzählt, wie man fünf Kinder mit dreimal Bohnen am Tag gesund aufzieht?"
„Nein, nicht dass ich wüsste", sagte Pater O'Malley gutmütig.
„Es ist merkwürdig", sagte Ryan, „aber immer wenn wir miteinander sprechen, Pater, geraten wir gleich auf den Himmel. Ich lebe aber nicht im Himmel. Wenn Sie sich über diese Erde und diese Vereinigten Staaten unterhalten wollen - zum Teufel, es wär' mir ein Vergnügen. Wir würden über die Neger sprechen, die gelyncht werden; über die Millionen entlassener Kriegsteilnehmer, die keine Wohnung kriegten; über die dreiundzwanzig Bergleute, die bei der letzten Explosion umkamen; und über die Griechen, die hingeschlachtet werden, weil sie ihre Freiheit lieben. Wir hätten eine verdammte Menge Dinge, worüber wir sprechen könnten."
„Das stimmt", sagte Pater O'Malley.
Hernach, als sie an den Rand der Wiese kamen, sagte Joey Raye zu Ryan: „Das ist 'n gerissener Pfaffe; halt dich nicht selbst zum Narren, Danny. Dem wirst du keine Ware verkaufen."
„Er mir auch nicht", lachte Ryan.


7

Einer von der Werkspolizei brachte Gelb die Nachricht, dass Danny Ryan und Joey Raye am Tor Birkenstraße angelangt wären, und Gelb, der in dem kleinen Büro war, das man ihm gegeben hatte, drehte sich zu Wilson und Norman um und sagte:
„Schön, gehen wir und geben es ihnen zu schlucken."
„Wie steht es mit den andern?" fragte Wilson.
„Ryan und der Nigger sind genug." Zu Norman sagte er: „Nehmen Sie die Haftbefehle für sie und nehmen sie noch ein Dutzend blanko mit. Lassen Sie Curzons Leute die Sache machen, Frank. Sie halten sich im Hintergrund und beobachten und lernen. Jack Curzon ist kein Dummkopf, und er hatte die besten
Lehrer."
„Ja, Herr", nickte Norman und wünschte, dass er noch in Wilsons Büro hinüberhuschen könnte, um Fern zu sagen, dass es jetzt soweit wäre, und sich zu vergewissern, dass sie zusähe.
Als sie in den kleinen eigenbedienten Fahrstuhl traten, sagte Gelb zu dem Jungen: „Das ist ein Punkt, den man sich merken muss, Frank. Dort hinunter gehen und die beiden Roten verhaften, wäre verdammt nichts Besonderes. Sie könnten sich nichts Besseres wünschen, und nichts, was von unserem Gesichtspunkt aus weniger wirkungsvoll wäre. Noch schlechter wäre es, wenn wir gleichzeitig auch die Blankobefehle verwenden und die ganze Streikpostenkette einlochen müssten. Für Massenverhaftungen hat diese Geschichte weder die nötige Reife noch den psychologischen Moment erreicht."
Norman schüttelte den Kopf. „Ich glaubte, gerade dazu hätten wir die Haftbefehle... " Der Fahrstuhl hielt, und sie stiegen aus.
„Ja und nein. Ich möchte mir den Ryan ein bisschen vorknöpfen; ich möchte mir diesen Neger ein bisschen vorknöpfen. Die Hauptsache ist aber, die Kette vor den Toren aufzubrechen. Nicht mit Gewalt — das wäre leicht genug, sondern indem wir sie in eine Lage versetzen, wo das Streikpostenstehen an sich zu einem rechtlichen Problem wird. Eine Gerichtsverfügung bietet einen anderen Weg, das gleiche zu erreichen, aber weder hier noch sonst im Land ist die Lage derart, dass man ihnen einen Gerichtsbefehl zu schlucken geben möchte. Vergessen Sie nie, Frank, die schwerste Sache der Welt für jeden Menschen ist, eine Entscheidung zu treffen — besonders, wenn er diese Art Entscheidung lange Zeit nicht mehr getroffen hat."
Am Eingang des Gebäudes erwarteten sie zwei von Curzons Leuten neben vier bewaffneten Werkspolizisten. Gelb übergab die Haftbefehle den Polizeibeamten, sagte ihnen noch ein paar Worte, und dann begab sich die ganze Gesellschaft ans Tor. Gelb, Wilson und Norman machten den Schluss, und Gelb erklärte dem Jungen:
„Bringen Sie die Leute in eine Lage, wo sie eine Entscheidung treffen müssen. Das liegt der menschlichen Natur nicht, sie hat nicht den Wunsch danach. Sie würden überrascht sein, wenn Sie nur einmal darüber nachdächten, wie sehr unsere Gesellschaftsordnung darauf gegründet ist, dass der Durchschnittsmensch unfähig ist, irgendeine Entscheidung zu treffen."


8

Danny Ryan unterhielt sich mit Maurice Renoir, dem Streikpostenobmann, und Joey Raye half zwei der Mädchen einen Salamander zu schüren und zog sie in seiner sanften, gemächlichen Art auf, als sie die kleine Gesellschaft vom Werk herankommen sahen. In der ruhigen, entschlossenen Art ihres Schritts lag etwas, das auf alle am Tor seine Wirkung tat. Die Streikpostenkette hielt inne, und aus einer organisierten Mannschaft wurde ein Schwarm vorsichtiger, ängstlicher Männer und Frauen. Ihre Herzen schlugen schneller; die Kälte des Wintertags kroch in sie hinein; die plötzliche, ungreifbare Drohung des Gesetzes warf sie auf sich selbst zurück und ließ sie mit leeren Händen dastehen. Ryan brachte die Streikpostenkette wieder in Gang. Zu Renoir sagte er: „Lass mich das Sprechen besorgen, Murray." Die Mädchen neckte er: „Hier kommt die SS. Gebt ihnen den Arm." „Wir werden im Chor rülpsen", sagte jemand, und die Spannung war gelöst. Renoir begann mit seiner hohen Stimme und mit einem merkwürdigen französischen Akzent zu singen: „Einst gab's 'ne Maid in der Gewerkschaft, hatt' niemals Angst und war sehr herzhaft... " Es war ein gezwungenes Lachen, aber sie lachten doch wenigstens. Joey Raye flüsterte Ryan zu:
„Das ist Harn Gelb, dort hinten. Der Clown in dem grellgrauen Anzug - mit dem Schnurrbart."
„Joey, werd' du nicht hitzig", sagte Ryan. „Du hältst den Mund." „Er hat 1937 in Allentown Sam Brodsky eine Kugel durch den Kopf schießen lassen. Er brachte seine Schläger von New York mit, und einer von ihnen ging auf Sam zu, fragte ihn nach seinem Namen und schoss ihn nieder. Und Sam war wie ein Bruder zu mir, als ich noch ein plumper, dummer schwarzer Bankert und Baumwollpächter war... "
„Du hältst den Mund", sagte Ryan bestimmt. „Wenn du dein großes Maul auch nur auftust, tret' ich dir's Gedärm aus dem Leib, so wahr ich lebe. Halt du bloß deine Schnauze!"
Die Polizisten kamen aus dem Tor heraus. Gelb, Norman und Wilson blieben drinnen. Einer von den Polizeibeamten ging auf die Streikpostenkette zu, fuchtelte mit seinem Knüppel und forderte sie auf, hübsch stehenzubleiben. Drei von der Werkspolizei folgten ihm und stellten sich zur Deckung dicht hinter ihn. Der andere Polizeibeamte fragte:
„Wer von Ihnen ist Ryan?"
Ryan kannte den Polizeibeamten, der die Streikpostenkette angehalten hatte. Es war Fanway, ein großer blonder Mann, der mit Curzon zusammen von außerhalb in die Stadt gekommen war, und Ryan sagte ruhig zu ihm:
„Lass uns mal drüber sprechen, Fanway. Wir wollen keinen Krach, Ihr wollt auch keinen Krach."
Die Polizisten hatten sich nunmehr zwischen die Streikposten gedrängt, die Kette war von neuem ins Stocken gekommen und die Arbeiter ballten sich unentschlossen zusammen. Renoir, der von hitzigem Gemüt war, hielt seine Hände in den Taschen und beobachtete Ryan. Die Mädchen hatten sichtlich Furcht; die Männer hatten auch Angst, versuchten aber, sie zu verbergen.
„Sind Sie Ryan?" fragte der zweite Polizist.
„Ganz recht. Was soll denn das? Wir sind in unserm Recht."
„Sie sind auch im Werksgelände", sagte Fanway. „Das Gelände des Werks beginnt draußen an der Birkenstraße, und Sie stehen eben vierhundert Meter ungefähr außerhalb des Gesetzes. Mit andern Worten, Sie müssen die Streikpostenkette hier auflösen und sie dort auf die Gemeindestraßen zurückziehen."
„Das ist ein Witz", sagte Ryan. „Der beste Witz, den ich je gehört habe."
„Sie machen den Mund ziemlich weit auf, Ryan", sagte der zweite Polizist zu ihm, „verdammt weit machen Sie den Mund auf.“
„Klar, und ich mach' ihn auch noch weiter auf. Was für einen Mist wollen Sie uns auftischen? Das sind die Werkstore — sie sind seit fünfundzwanzig Jahren die Werkstore gewesen. Das reicht für das gemeine Recht, oder nicht? Niemand hat dies Stück Land da draußen je benutzt, ausgenommen die Kühe, und die öffentliche Straße führt auch hindurch."
„Das ist eine Werksstraße", sagte Fanway. „Sie wollen keinen Krach nicht, Ryan - in Ordnung. Wir wollen auch keinen nicht. Wir haben hier Haftbefehle wegen widerrechtlichen Betretens fremden Eigentums gegen Sie und Raye drüben, und wenn Sie uns dazu zwingen, dann haben wir auch noch Blankobefehle gegen euren ganzen verdammten Haufen. Ziehen Sie also jetzt Ihre Kette friedlich hier heraus und bis hinten an die Straße zurück, oder sollen wir den ganzen Haufen von Ihnen einlochen?" Ryan konnte Raye atmen hören, kurz und erregt. „Zeigen Sie uns die Haftbefehle", sagte er.
„Hier sind sie, ordentlich, sauber und ganz nach Vorschrift." Raye sagte: „Ich hab' es dir gesagt, Danny. Ich kenn' diesen Hurensohn doch von früher her."
„Ich liebe solche Redensarten nicht", sagte Fanway. „Wieso haben Sie grade Haftbefehle für Raye und mich?" wünschte Ryan zu wissen.
„Ich schreibe die Haftbefehle doch nicht", seufzte Fanway. „Wie ist es also, Ryan?"
Ryan nickte und drehte sich langsam zu Renoir um: „Zieh sie an die Straße zurück, Murray. Nimm auch die andern Ketten zurück. Dann überbring die Geschichte Noska und Max Goldstein. Sag Max, dass er Kaution stellen soll. Wir haben keine Lust, in diesem dreckigen, verlausten Kittchen zu schlafen."


9

Es war zu spät, Wilson noch im Büro anzutreffen, und deshalb fuhr Lowell unmittelbar zum Polizeiamt. Er kam dort wenige Minuten später an, nachdem Ryan und Joey Raye eingebracht worden waren. Lowell war nicht betrunken; er wurde nicht leicht betrunken; aber zwei Schnäpse auf leeren Magen hatten seinen Gedanken die Schärfe genommen. Ein angenehmer feiner Nebel hatte die seelische Qual gedämpft, die ihn von Abbotts Sprechzimmer an begleitete, die zusammenhanglose Natur der Zukunft hatte sich wieder zur Einheit gefügt. Die Dinge kamen immer in Ordnung, und auch diese Sache würde es tun. Lois hatte er die Verantwortung in den Schoß geworfen, ihn zu verlassen oder nicht, und ihm schien es keinen großen Unterschied zu bedeuten, was sie wählte. Wie ihm jetzt vorkam, konnte er den Punkt, wo die Dinge ihre Bedeutung verloren hatten, bis zur Zeit von Clarks Tod zurückverlegen. Dieser Gedanke gefiel ihm. Vielleicht würde er mit Fern fort nach Europa gehen — für den Pass würde sich schon ein geschäftlicher Grund finden lassen-, sobald einmal diese elende Störung durch den Streik erledigt war. Die Vorstellung, mit einem hübschen jungen Mädchen wie Fern — und er selbst auch noch so jung — umherzureisen, mit ihr zusammen von den Leuten gesehen, beobachtet zu werden, war eine höchst angenehme Vorstellung, und er dachte voller Sehnsucht an die Entdeckung von Paris durch einen jungen Menschen, an die Abenteuer, die Europa jedem bot, der über etwas Geld und Enthusiasmus verfügte, an die vergeistigte Kultur längst toter und zerbrochener Dinge, und daran, wie er das alles wohl Fern vermitteln könnte — bis zu einem Punkte beinahe, wo er Clark durch sie ersetzen konnte.
Damit zugleich ergab sich eine Entschlossenheit, mit dem Streik fertig zu werden, rasch mit ihm fertig zu werden und seine Hände in Unschuld zu waschen. Je mehr er Wilson als einen unerträglichen Esel verabscheute, um so weniger war er darauf erpicht, nach der Melodie von Wilsons bewundernder Herablassung zu tanzen.
Er ging in das Polizeigebäude hinein, und der Beamte am Empfangstisch sagte: „Jawohl, Herr Lowell — sie sind im Büro von Hauptmann Curzon. Sie warten schon auf Sie."
Er nickte und folgte dem Polizeibeamten. Er war ein kranker Mann, aber er fühlte sich nicht krank; er war ein beraubter Mann, aber er fühlte sich nicht beraubt. Es gab ihm ein erregendes Gefühl zu wissen, dass im Grunde er diese Angelegenheit beherrschte, und dass Hamilton Gelb, Tom Wilson, der junge Frank Norman und Jack Curzon alle zusammen seine Wünsche ausführen würden, wenn er seine Wünsche nur deutlich genug formulierte. Nach Macht hatte er nie gestrebt, und wenn er von Menschen las, deren ganzes Leben vom Willen zur Macht bestimmt worden war, oder wenn er solchen Menschen begegnete, dann reagierte er, wie er es stets seinem Vater gegenüber getan hatte, mit einer Mischung von Grauen, Ekel und Verachtung. Ihr Extrem, jener Adolf Hitler, war ein irrsinniger, ordinärer und unbedeutender Mensch, und das variierte nur um Grade die ganze Skala hinunter. Er hatte nie ein Gelüst nach Macht gehabt, wie er sich ebensowenig je einer Begierde nach Geld bewusst gewesen war — aber jetzt ward er sich seiner Macht bewusst, mehr und mehr bewusst, und der Geschmack war nicht unangenehm. Sie war mikrokosmisch; sie war nicht sein Werk, wie er erwog; sie war eine kleine Welt für sich in einem Winkel von Massachusetts, aber der Geschmack war nicht unangenehm. Er wurde ein richtigerer George Clark Lowell. Er war ganz George Clark Lowell, als er in Curzons staubiges, schäbiges Büro trat, wo vier Mann, die für ihn arbeiteten, saßen und warteten; und als sie ihm die Hand geschüttelt hatten, erklärten sie ihm, was sie getan hatten. Lowell setzte sich. „Auf eine Anklage wegen widerrechtlichen Betretens hin können Sie sie nicht festhalten", sagte er.
„Ein paar Stunden doch", sagte Gelb. „Ein paar Stunden, mehr brauchen wir nicht."
Wilson war unsicherer als Gelb und dachte an Goldstein. „Dieser Jude", entschied er, „wird einen höllischen Lärm machen!"
Gelb ignorierte Wilson und sagte zu Lowell: „Ich hasse es, Dinge in die Länge zu ziehen. Wenn Sie einen Dauerwettstreit wollen, brauchen Sie mich nicht."
„Ich will keinen Dauerwettstreit. Wenn Sie glauben, Sie könnten die Geschichte beenden, wie lange würde das dauern?"
„Das meiste heute - und der Rest morgen."
Curzon sagte ängstlich: „Ich möchte bloß Ihre Versicherung haben, dass Sie mich decken werden, Herr Lowell."
„Was Herr Gelb auch tut... "
Gelb fragte Lowell: „Könnten Sie hier bleiben? Jack wird langsam fett und alt." Er besaß die Fähigkeit, beleidigende Dinge zu sagen, ohne eigentlich beleidigend zu sein, und er vermochte eine Forderung in die Form eines bescheidenen Vorschlags zu kleiden, der fast unmöglich abgelehnt werden kann. Lowell wollte ablehnen, aber er entdeckte, dass er zustimmte. Sie verließen alle das Büro und stiegen die ausgetretene Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Curzon öffnete die Tür zu einem Raum auf der Rückseite des Gebäudes und trat beiseite, um die andern vorangehen zu lassen. Als sie eintraten, konnte Lowell nicht umhin, über die Billigkeit der ganzen Geschichte nachzudenken, die aus dem fadenscheinigen Gewebe eines Hollywoodfilms gemacht war — oder vielleicht war diese Wirklichkeit das Muster, das Hollywood gebrauchte —, denn er fand Ryan auf einem Holzstuhl unter einer starken elektrischen Lampe sitzend, mit einem von Curzons Leuten an jeder Seite. Lowell erschien das gleichzeitig natürlich und albern, und es fiel ihm schwer, einen Mann wie Gelb, den er sehr zu schätzen und sogar gernzuhaben gelernt hatte, mit solchem Treiben in Verbindung zu bringen. Schamerfüllt und unbehaglich blieb er weit hinten im Schatten stehen und betrachtete Ryan, einen kleinen, gewöhnlichen, abgearbeiteten Menschen unbestimmbaren Alters - und er fragte sich, ob er nicht die Geschichte jetzt stoppen müsste, nicht gezwungen wäre, sie zu stoppen, da sie eine Beleidigung jeden Feingefühls und jeden Maßes guten Geschmacks war, die er besaß.
Er hätte gern gewusst, ob es Clark ähnlich ergangen war, als er ins Gefecht kam, und ob eine Schlacht ebenso gemein war. Wie Elliott Abbott war dieser kleine Mann auf dem hölzernen Küchenstuhl sein Feind von Urbeginn, der bärtige, bombenwerfende Unhold aus zehntausend Bildergeschichten bis zurück zu seiner frühesten Kindheit, aber er vermochte um sein Leben nicht diese Komödie mit der Wirklichkeit zu verknüpfen.
Und dennoch gebot er ihr keinen Einhalt.
Gelb, der ein wenig vor Lowell stand, fing an. Wilson und Norman traten auf eine Seite hinüber, und der Schatten verschlang sie. Curzon stellte sich an den Rand des Lichtkreises und schlug Ryan mit dem Handrücken den Kopf hoch, als Gelb zu sprechen begann. Für Lowell war die Veränderung, die mit Curzon vorging, außerordentlich; die Schlaffheit des Mannes verschwand; sein ganzes Wesen schien einer Verwandlung zu unterliegen, so wie ein Chirurg, der im Alltag ein gewöhnlicher Dutzendmensch ist, in einem Operationssaal zum Künstler
wird.
„Hallo, Ryan", sagte Gelb ungezwungen. „Ich wollte Sie
schon längst einmal kennen lernen."
„Wollen Sie den Nigger nicht auch?" lächelte Curzon.
„Ich will nur Ryan. Ryan ist mein Mann."
„Nicht der Nigger?"
„Nur Ryan — nur Danny Ryan. Er ist mein Mann. Ich mag Ryan gern. Ich habe Achtung vor ihm. Was ich in Clarkton auch höre - alles ist Danny Ryan; er ist ein großer Mann in Clarkton."
„Sie sind Gelb", sagte Ryan und lächelte sehr dünn. „Ich hab' es gern, wenn ich seh', mit wem ich spreche."
„Er hat es gern, wenn er sieht, mit wem er spricht", grinste Curzon. „Er ist auch mein Mann. Er hat es gern, wenn er sieht, mit wem er spricht."
„Sie seh' ich, Curzon", sagte Ryan. „Kein guter Anblick für
wunde Augen."
„Ich bin noch nie einem Iren begegnet, der nicht zu viel geredet hätte. Reden Sie weiter, Ryan."
Gelb trat an den Lichtrand heran, stand da und starrte Ryan ernst an. Dann fragte er ihn: „Sind Sie ein ehrlicher Mensch, Ryan?"
„Ich hab' meiner alten Dame Pfennige geklaut. So hab' ich mein Anfangskapital bekommen."
„Ich stelle eine direkte Frage, Ryan, und ich liebe eine direkte Antwort. Wenn Sie zu stolz sind, etwas nebenbei zu verdienen, dann können wir auch anders."
„Ich bin stolz; die Ryans waren Könige in der alten Heimat."
„Er hat Sinn für Humor", sagte Curzon.
„Ich habe Rote gesehen, die nicht gekauft werden konnten", sagte Gelb langsam. „Sind Sie einer davon?" „Ich mach' bei dieser Bande mit, weil es mir allerhand einbringt. Moskau zahlt einen Tausender die Woche. Können Sie es besser?"
„Sie sind eine Rotznase", sagte Gelb voll Absicht. „Genau wie alle andern. Sie brauchen uns nichts zu verraten, Ryan. Alles, was über Sie und diesen Nigger, den wir aufgegriffen haben, zu erfahren ist, das wissen wir. Alles — verstehen Sie mich? Sie können nun entweder mitspielen, oder wir können Curzon hier Sie ein wenig in die Mache nehmen lassen."
„Auf welche Weise mitspielen?"
„Ich habe hier ein Protokoll, ein ganz kurzes Protokoll, das schildert, wie Sie und Ihre Freunde den Streik angezettelt haben, um die politischen Ziele Ihrer Partei zu fördern. Es stehen einige Namen darin. Das Protokoll wird nicht verwendet werden, wenn es nicht nötig ist, und ich sehe keine Notwendigkeit voraus. Sie haben mein Wort darauf. Der Streik wird sowieso morgen zu Ende sein. Herr Lowell hat eingewilligt, morgen die Forderungen der Gewerkschaft anzuerkennen, und damit wäre dann Schluss. Aber ich wünsche, dass Sie dieses Protokoll unterschreiben. Herr Lowell ist bereit, zweitausend Dollar dafür zu zahlen."
„Das ist billig zu dem Preis", sagte Ryan. „Ich hab' erlebt, dass sich Zeilenschinder vom Daily Worker von Willie Hearst oder einem seiner Kumpane kaufen ließen, und das hat sie für 'n Rest ihres Lebens auf Eis gelegt. Aber für 'nen Proleten sind zwei Tausender ein Haufen Geld."
„Sie brauchen keine Rede zu halten", sagte Gelb ruhig, und in seine Stimme trat die Schärfe, die Lowell schon einmal bemerkt hatte. „Sagen Sie einfach ja oder nein, Ryan. Mehr verlange ich nicht - ja oder nein."
„Der Kummer mit Ihnen ist, Gelb, dass Sie altmodisch sind. Lowell weiß das nicht. Sie sind noch von siebenunddreißig, aber wir haben nicht mehr siebenunddreißig. Heute können Sie nicht mehr einfach daherkommen und Streiks abwürgen. Sie können nicht mehr einfach pusten und erwarten, dass die Arbeiterbewegung umfällt. Alles ändert sich, ausgenommen Bankerte wie Sie,
Gelb... “
Curzon schlug ihn ins Gesicht — es hörte sich an, wie wenn ein Apfel von einem Baum auf ein hartes Brett fällt—, und er kippte nach hinten über, mit Stuhl und allem. Lowell schien das alles sehr, sehr langsam vor sich zu gehen, und er konnte nicht begreifen, warum Ryan den Schlag nicht hatte kommen sehen, nicht versucht hatte, ihm auszuweichen.
Heiße, bittere Säure stieg Lowell vom Magen hoch, und er wich ganz ohne eigenen Willen zurück, bis sich seine Schultern gegen die Tür pressten. Da er ein empfindsamer Mann war, spürte er den Schlag am eigenen Leibe; er schmerzte ihn sogar noch, als die beiden Polizisten Ryan mitsamt dem Stuhl aufgehoben und wieder zurechtgesetzt hatten. Was den Grad der Brutalität anbetraf, so war das die scheußlichste Sache, die Lowell je gesehen; und obgleich er vierundvierzig Jahre alt war, die meisten Länder Europas bereist und sonst noch allerlei gesehen hatte, konnte er sich an nichts erinnern, was diesem hier entsprochen
hätte.
Ryan schüttelte den Kopf und versuchte einen ausgeschlagenen Zahn auszuspucken, der noch an einigen Fleischfäden baumelte. Seine Oberlippe war gespalten und begann bereits anzuschwellen; ein dünnes schwarzes Rinnsal Blut troff ihm aus dem einen Mundwinkel.
„Er ist mein Mann", sagte Gelb.
„Mein Mann ist er auch", grinste Curzon. „Er hat Mumm. Alle Iren haben Mumm. Nichts haben sie lieber als eine kleine Keilerei."
. „Vielleicht will er Frieden und Gemütlichkeit", sagte Gelb. „Er ist Familienvater. Fünf Kinder. Ein Familienvater wird der Keilerei müde. Er will Frieden und Gemütlichkeit. Er glaubt, ich sei altmodisch — aber es könnte sein, dass er nicht mehr in die Zeit passt. Sie haben sein Gesicht zu stark beschädigt", sagte er zu Curzon. „Der Kleine ist sowieso nicht hübsch, warum wollen Sie also sein Gesicht so stark beschädigen, Jack?"
„Nicht mehr ins Gesicht", lächelte Curzon.
„Nein." Gelbs Ton Ryan gegenüber war versöhnlich und schmeichelnd: „Wie steht es, Danny? Mir gefällt dies keineswegs besser als Ihnen."
„Scheren Sie sich zum Teufel!" sagte Ryan.
Diesmal traf ihn Curzon in den Magen, und wieder kam es Lowell vor, als bewegte sich der Polizeihauptmann mit marternder Langsamkeit — obwohl sich doch Curzons ganzer Leib mit dem Hieb bog, der Ryan erneut vom Boden hob und ihn mit dem Stuhl aus dem Lichtkegel in die Dunkelheit schleuderte. Und auch die beiden Geräusche kamen verzögert, das Geräusch der Faust auf Ryans Magen, der Schlag und die Explosion des herausgepressten Atems, und dann der Krach, als Mann und Stuhl über den Boden rollten.
Die beiden Polizisten brachten Ryan und den Stuhl zurück. Sie setzten Ryan in den Stuhl, aber er hing vornüber, und seine Hände griffen nach dem Leib. Der Zahn hing ihm aus dem offenen Munde und baumelte an einem dünnen Faden rosigen Gaumens.
„Er ist ein Blümchen", sagte Gelb. „Ein reizender Junge. Ein Blümchen."
„Er ist mein Mann", grinste Curzon. „Der Schuhwichser ist größer, aber Ryan ist mein Mann."
Ü ber die Schulter hinweg sagte Gelb: „Beachten Sie das, Frank. Er ist ein Mann von Grundsätzen. Ich biete ihm zweitausend Dollar, aber er ist stolz. Sehr stolze Leute, diese Kommunisten. Sie wissen auf alles eine Antwort, aber wenn ich ihm eine ruhige, höfliche Frage stelle, sagt er bloß, scheren Sie sich zum Teufel. Das ist ein Haufen Stolz für einen gemeinen, versoffenen Iren."
„Er hat es gern, wenn er Schläge kriegt", kicherte Curzon. „Es macht ihm Vergnügen, sie einzustecken."
„Aber er könnte damit aufhören. Er könnte es in sein Köpfchen kriegen, dass er und seine Genossen auf der Straße liegen, wenn die Fabrik wieder aufmacht. Er könnte es in sein Köpfchen kriegen, dass er in Clarkton nichts mehr zu bestellen hat. Er könnte es in sein Köpfchen kriegen, dass seine ganze dreckige Bande niemals etwas zu bestellen haben wird. Das könnte er in sein Köpfchen kriegen, und er könnte es sogar noch bezahlt bekommen."
Ryan atmete wieder. Er schüttelte den Zahn ab und sah zu, wie er ihm aufs Knie fiel und dann hinunter auf den Boden glitt. „Sie sind ein Held gewesen", seufzte Gelb. „Aber mir kommt es aufs Geschäft an, Ryan. Ich handle mit Dollars und Cents. Was halten Sie davon?" Er wechselte von neuem den Ton. „Sie haben Frau und Kinder. Was springt dabei für Sie heraus, Ryan? Nehmen Sie es doch für eine Weile leicht. Sie haben nur ein Leben zu leben, und Sie lassen es ganz vor die Hunde gehen. Machen Sie sich's leicht. Vielleicht können wir mit Herrn Lowell etwas arrangieren, wo Sie es sich wirklich mal leicht machen können. Er möchte anständig sein. Ich möchte anständig sein. Dies hier brauchte doch alles nicht zu sein, nicht im geringsten. Was Sie auch von mir denken mögen, oder was Sie auch von mir gehört haben, Ryan, ich kann Ihnen ehrlich sagen, dass ich Brutalität hasse. Ich beklage, dass sie manchmal nötig ist. Ich bewundere Tüchtigkeit. Deshalb bewundere ich euch Leute. Ich falle nicht darauf herein, was Dummköpfe über euch erzählen. Ich bewundere euch aufrichtig. Deshalb mache ich es zweitausend Dollar, deshalb setze ich einen anständigen Preis."
„Du dreckiger Hurensohn", sagte Ryan.
Diesmal traf ihn Curzon in die Lende, der gleiche Hieb wie vorhin, scharf und schwingend, mit dem ganzen Leib dahinter. Lowell fand die Türklinke, drückte sie herunter und entrann aus dem Zimmer. Er fühlte sich jetzt betrunken, schwer betrunken, hoffnungslos betrunken. Er stolperte den Korridor hinunter, bis er eine Tür mit der Aufschrift Waschraum sah, ging hinein, hing über dem Becken und erbrach sich.


10

Die Morgenzeitungen meldeten an diesem Tag, sowohl in New York als in Boston, dass aller Grund bestünde, in den Berkshires und weiter im Lande hinauf Schiwetter zu erwarten, und sie brachten Aufsätze auf der ersten Seite über einen erhofften Nachkriegsaufschwung in der Volkstümlichkeit dieses Sports. „Es besteht kein Zweifel", sagte ein Artikel, „dass der uralte norwegische Sport des Schilaufs viel dazu beitragen wird, die zahme Leere im Leben des Landsers auszufüllen. Bald wird der weiße Mantel König Winters die sanften Hänge Neu-Englands schmücken, und der vorgebliche Rausch der langen Bretter wird die Erinnerung an Minenwerfer und Sprenggranaten verdrängen. Professor Jackson Ely Lynn von der psychiatrischen Abteilung der medizinischen Fakultät der Columbia-Universität teilte uns seine Auffassung vom Wert einer solchen Therapie mit. ,Schifahren und Bergsteigen, sagte Professor Lynn, ,wird die normale, ungestörte Wiederanpassung an die Werte des bürgerlichen Lebens wesentlich erleichtern.' Dieser Korrespondent wenigstens wird die ersten Wintersportzüge mit vermehrter Genugtuung betrachten... "
Und wie um das Wunder zu erfüllen, durch das der Mensch fast jede Laune und Handlung der Natur vorauszusehen vermag, begannen gerade eine Stunde vor Mittag zarte, trockene Schneeflocken über Clarkton zu fallen. Die kleinen weißen Flocken trieben im Wind, wisperten die Straßen entlang und machten sich daran — in Übereinstimmung mit den fröhlichen Voraussagen der Presse -, die Nadelbäume zu bekränzen. Evan Baxter, dem der größte Eisenwarenladen der Stadt gehörte, reagierte auf den Schneefall, indem er ein Plakat hervorholte und es in seinem Schaufenster anheftete; es informierte Clarkton, dass die besten gleitsicheren, pflasterfesten Schneeketten Neu-Englands spottbillig bei ihm zu haben wären.


11

Auch Lois reagierte auf den Schnee; der erste Schneefall versetzte sie stets in melancholische Stimmung, und als sie nun die kleinen Flocken durchs Fenster beobachtete, durchflutete sie eine warme Traurigkeit - die dadurch gesteigert wurde, dass Fern von draußen hereinkam, ganz erregt und voller Jugend und Lächeln. Lois konnte es nicht übers Herz bringen, sich gegen Fern zu stellen; sie legte ihr den Arm um die Schulter und sagte:
„Ferney, Liebling, sei einmal nett."
„Das bin ich", sagte Fern. „Für Papa arbeitet jetzt ein junger Mann, der ist einfach süß. Er ist seit einigen Monaten von den Soldaten entlassen, und er ist nett und naiv und offen."
„Das freut mich", lächelte Lois. „Wie heißt er denn?"
„Er heißt Frank Norman - ein ganz netter, gewöhnlicher
Name."
„In New York kannte ich einige Normans. Ist er aus New
York?"
„Ich glaube."
„Sie waren sehr nette Leute."
„Er ist auch nett. Wenn es heute abend genug geschneit hat, wollen wir auf den Birds Hill rodeln gehen." •
Zum Teil war diese Unterhaltung mit Fern schuld daran, dass
Lois tat, was sie tat - weil das Gespräch so gesund und offen und anständig gewesen war. Es ließ sie erkennen, dass, wenn man etwas besaß, es wert war, dafür zu kämpfen und es zu verteidigen - und dass es nicht bloß die Geduld des Abwartens wert war. Deshalb schlug sie noch vor dem Lunch, den Fern versprochen hatte, mit ihr gemeinsam einzunehmen, im Telefonbuch den Namen Antonini nach; sie fand zwei Familien dieses Namens und rief aufs Geratewohl eine davon an. Eine Stimme halb im Schlaf, eine dröselnde, träge Stimme meldete sich, und Lois fragte höflich und sanft, ob sie mit Rose Antonini spräche.
„Ja.“
„Nun, hier ist Frau Lowell", sagte Lois.
Ein langes Schweigen, und dann: „Ja?"
„Ich weiß Bescheid über gestern abend", pladderte Lois los. „Ich weiß, dass solche Dinge passieren. Ich bin sicher, dass Sie verstehen werden, wie sie passieren... " Nur ein langes Schweigen kam danach, bis Lois fragte: „Hallo?"
„Was wollen Sie?"
„Ich weiß, dass Leute wie Sie - Geld brauchen", sagte Lois mühsam. „Ich könnte etwas Geld auftreiben, aber mein Mann darf es nicht wissen. Ich möchte, dass Sie irgendwo anders hingehen. Dafür könnte ich genug Geld auftreiben - dafür, dass Sie irgendwohin gehen und sogar angenehm leben können... "
Wieder kam ein langes Schweigen. „Hallo", sagte Lois.
„Ach, scheren Sie sich zum Teufel, Sie alter Dienstbolzen", antwortete ihr die schläfrige Stimme.


12

Max Goldstein war einer der Helden des ersten Weltkriegs gewesen, und was er damals vollbracht hatte — das meiste davon jetzt längst vergessen —, hatte ihm die Ehrenmedaille des Kongresses eingebracht. Für Clarkton war das seinerzeit ein großes
Ereignis gewesen, und als er im Juni 1919 heimkam, holte ihn eine Musikkapelle vom Bahnhof ab, und er schritt an der Spitze eines Triumphzuges durch die Stadt. All das gefiel ihm ebenso gut wie jedem andern; er war ein großer, unbekümmerter Mann, und seine Kriegserinnerungen bedeuteten ihm nichts Schreckliches. Eher umgekehrt, denn er war sehr stolz auf ein Buch mit Zeitungsausschnitten, das sein Vater angelegt hatte und das zumeist Ausschnitte aus dem Clarktoner Minuteman enthielt, aber hier und dort auch mit Stücken aus Bostoner und New Yorker Blättern durchsetzt war.
Er war in Clarkton geboren und aufgewachsen, wo seine Eltern einen kleinen Kurzwarenladen hatten, und seine Sympathie für diese Stadt war eingewurzelt und echt. Er war nicht ehrgeizig; einmal war er Friedensrichter gewesen, und dann hatte er auch für das Parlament des Staates kandidiert und war gewählt worden. Aber das war der Gipfel seiner politischen Karriere; er zog ihr seine alltägliche Praxis und sein Büro vor, das in einem mehrstöckigen Gebäude mit Dachgeschoß genau im Zentrum der Stadt lag. Im Laufe der Zeit heiratete er ein zartes, sehr hübsches polnisches Mädchen, blieb ohne Kinder, verlor sein Haar und entwickelte einen gewaltigen Wanst. Er war nur ein mäßig fetter Mann, aber er hatte von allen Männern der Stadt den gewaltigsten Bauch. Da er keine großen Bedürfnisse hatte, übernahm er nur solche Fälle, die ihm lagen, und fast nie drängte er jemanden wegen der Rechnung. Im Winter saßen gewöhnlich ein paar seiner Busenfreunde in seinem Büro, stritten sich über Politik oder spielten Dame; im Sommer verlegte er die Sache in die Grünanlage vor dem Gerichtsgebäude. Jetzt, in seinem einundfünfzigsten Lebensjahr, war er tatsächlich eine Reliquie, ein Rechtsanwalt von der alten Sorte, der bei seinen Grundsätzen blieb, seine Kunst liebte und hoffnungslose Fälle übernahm, die er selbst vorbereitete und selbst vor Gericht vertrat, und der nur einen bedeutenden Klienten hatte, die örtliche Gewerkschaft. An diesem Samstagmorgen spielte er mit dem Dentisten, der die Räume nebenan innehatte, gerade eine Partie Dame, als Maurice Renoir hereinpolterte und ihm berichtete, was am Werk vorgefallen war. Er hörte ruhig zu, nickte mit dem Kopf und tat mitten in der Erzählung einen Zug. Der Dentist übersprang drei seiner Steine.
„Zum Teufel", sagte Goldstein. „Zwanzig Jahre, und ich kann das Spiel immer noch nicht."
„In fünf Minuten habe ich einen Patienten. Noch eine Partie?" fragte der Zahnarzt.
„Ach, zum Teufel. Wie viel bist du voraus — einen Fünfziger?"
„Ja."
Goldstein zahlte, bedächtig und überlegt; er entnahm die Münzen einer ledernen Klappbörse, die er in einem Auszug seines Rollschreibtisches aufbewahrt hielt.
„Heiliger Gott", schrie Renoir, „hörst du mich denn nicht? Sie sind im Gefängnis!"
„Wenn sie dort sind, sind sie dort. Sie werden nicht weglaufen, und das Gefängnis wird auch keiner stehlen." Der Dentist ging hinaus; Goldstein lüftete seinen gewaltigen Leib und begann die Damesteine in ihre Schachtel zurückzutun. „Hast du mit Noska gesprochen?" fragte er Renoir.
„Wo zum Teufel ist Noska? Sag du mir's, Max."
„Sag du mir's", sagte Goldstein. „Das ist nichts. Das ist ein billiger, schmutziger kleiner Vorwand — widerrechtliches Betreten, du meine Güte!"
„Danny sagte, du holst ihn heraus."
„Was beißt Ryan? Hat er noch nie ein paar Stunden im Gefängnis verbracht?" Er schwang sich an seinen Schreibtisch zurück, nahm den Telefonhörer auf, frozzelte sanft eine Weile den Telefonisten und verlangte dann eine Nummer. „Elliott", sagte er, „bist du's, Elliott? Schön, hier ist Max. Sie haben sich gerade Danny und Joey Raye gegriffen, auf irgendeine verdammt blöde Beschuldigung wegen widerrechtlichen Betretens hin. Ich weiß nicht, was dahintersteckt - vielleicht bloß wieder einer von Tom Wilsons brillanten Einfällen. Nein — nein, es haut nicht hin. Selbst wenn Curtis seine Hosen in Lowells Westentasche wärmt, muss das Gericht die Klage verwerfen. Aber sieh her, es scheint, als ließe sich Noska im Moment nicht auftreiben, und Danny hat Ameisen in die Buxe bekommen. Wenn du also ein paar Hunderter als Kaution flüssig machen kannst, dann tragen wir sie hinüber aufs Gericht."


13

Abbott musste erst mit seinen Patienten fertig werden, deshalb schickte er Ruth zur Bank hinüber, rief dann wieder Max Goldstein an und fragte, warum sie sich denn nicht alle bei ihm träfen und dann zusammen zum Gericht hinüberführen? Goldstein sah keinen Grund, weshalb sie es nicht sollten, und es würde Ryan nicht weh tun, eine Extrastunde im Loch zu verbringen, sondern eher für seine unsterbliche Seele gut sein. „Besteht keine Gefahr, dass sie ihn piesacken werden?" wünschte Abbott zu erfahren, und Goldstein sagte: „Wozu? Das ist keine Situation dieser Art."
Abbott aber war nicht so sicher, und er beendete seine Sprechstunde rein mechanisch. Max Goldstein konnte sich irren, dachte er bei sich. Max Goldstein hatte sich schon manchmal geirrt. „Du bist ein ganz trister, humorloser, liebloser, ungläubiger Neu-England-Mann", hatte Goldstein erst vor etwa einer Woche zu Abbott gesagt, als Abbott die Auffassung vertrat, dass der Krieg und das Kriegsende einen Beginn und keineswegs ein Ende bedeuteten. „Wir haben dem Faschismus den Garaus gemacht", sagte Goldstein. „Allem Faschismus?" fragte Abbott und sah ihn an und versuchte sich einzuprägen, dass Max Goldstein Jude war, einer aus dem gleichen Volke, das sechs Millionen Menschen dem kalten Leichentuch der Erde übergeben musste und seinen Anteil an einem Leid hatte, das die Welt nicht sobald vergessen würde; aber das war schwierig bei Goldstein, der mehr Neu-England war und mehr zu dem Tal und den Bergen ringsum gehörte als er selbst. Goldstein hatte damals gesagt: „Im Frühjahr gehe ich Forellen fangen. Ich möchte in den Sonnenschein hinaus, mit hohen Stiefeln und einer Anglertasche, und vergessen, dass diese Bestialität je existierte." Nun hielt Elliott Abbott dafür, dass Vergessenwollen stets ein vergebliches Bemühen wäre; die Erinnerung suchte einen heim, und man war besser vorbereitet, wenn man das im voraus wusste. Seit 1939 hatte er, hier in den Vorbergen der Berkshires, das geruhsame Leben eines Land- und Kleinstadtarztes geführt und hatte vergessen, wie man kämpfte. Sein Unbehagen wuchs und wurde düster und melancholisch, so dass er gezwungen war, seinen Patienten zu erklären, dass sein eigenes Elend und nicht das ihre am Ausdruck seines Gesichts schuld wäre.
Ruth kam zurück. „Fünfhundert habe ich bekommen", sagte sie. „Wird das reichen?"
„Ich denke."
„Was ist los?" fragte sie, als sie sein Gesicht sah.
„Nichts. Warum machst du nicht ein paar Butterbrote, Ruth? Ich habe nur noch Jackie Maurois und Frau Bailey, dann bin ich durch."
Frau Bailey hatte einen aus dem Heer entlassenen Neffen, der Medizin studieren wollte. Als er ihr etwas für den Rücken verschrieben hatte, musste Elliott noch zehn Minuten lang der Aufzählung ihrer Familiengeschichte lauschen, bevor er sie aus der Tür scheuchen und nach hinten in die Küche gehen konnte. Goldstein war noch nicht gekommen, und es war schon zehn Minuten nach eins.
„Dieses verdammte Walross", sagte Abbott. „Der Himmel könnte über ihm einstürzen, und er würde sich immer noch nicht beeilen."
„Elliott, was bohrt dich denn?" wollte Ruth wissen.
„Nichts."
„Die Sache mit George heute morgen ist es nicht?"
„Das habe ich schon beinahe vergessen", sagte Abbott. Er setzte sich zu einem Butterbrot und einem Glas Milch an den Tisch. „Ich hatte es fast vergessen - ist das nicht komisch? Es ist verdammt komisch. Weißt du, ich bin bange", sagte er. „Das ist es -ich bin bange."
„Ich bin es meistens", sagte Ruth achselzuckend. „Möchtest du ein Stück Topfkuchen?"
„Ja — gern." Er saß am Tisch, ein gewaltiger Mann; Glas und Butterbrot wurden zwergenhaft vor seinen ungeheuren Händen; sie musste lächeln.
„Ich wünschte, ich könnte es auch", sagte er. „Gib mir doch noch ein Stück von dem Kuchen, Ruth. Du bist nicht bange, wie?" „Jetzt nicht mehr —nicht in der Beziehung, wie du meinst. Ich bin in anderer Beziehung bange."
„Man wird es, wenn man sich allein und hilflos fühlt. Man gehört zu einer Bewegung, und sie ist einem das ganze Leben und ist das einzige, was in diesem Lande anständig und gut und echt ist. Aber ich brauche mehr als du, Ruth. Ich schaue um mich und zähle an den Fingern beider Hände die Menschen, die in einem Ort wie diesem hier Kommunisten sind. In den Großstädten ist es anders, vermute ich."
„Ich weiß es nicht", sagte Ruth. „Wo zum Teufel bleibt denn Max?"
Er watschelte schließlich durch die Seitentür herein, lächelte und fragte sanft: „Warst du beunruhigt, Doktor? Wenn ich mich langsam in Bewegung setze, verlängere ich mein eigenes Leben, und die Revolution wird immer noch fahrplanmäßig kommen, oder nicht? Das ist eine Sache für die Jugend. Ich bin ein Museumsstück. Es kommt mir gar nicht zu, ein Roter zu sein." „Was hat dich aufgehalten - eine Partie Dame?" „Andere Menschen - andere Motive", sagte Goldstein gedankenvoll, als Ruth sich den Mantel anzog. „Zieh Stiefel an -draußen liegt der Schnee einen Zoll hoch. Du, Elliott, bist ein Berufsrevolutionär, ich bin ein fauler Sack; wir wollen uns doch die Wahrheit eingestehen, die ganze Wahrheit. Als du in Spanien warst, saß ich in der Sonne und wärmte mir die Füße am Herd; und was auch kommen mag, ich werde im Bett sterben, an Harnvergiftung und zu hohem Blutdruck. Was das betrifft, was mich aufgehalten hat, ich habe mich über die Tatsachen informiert, ein altmodisches, doch notwendiges Detail." Er folgte ihnen hinaus und kletterte in den Wagen; er grunzte, als er Ruth in die paar Zoll quetschte, die die beiden großen Leiber ihr ließen. „Ich würde eine ruhige Bewegung vorziehen", seufzte er. „Moralisch und korrekt und geduldig im sanften Fluss der Ereignisse. Eine Bewegung, die beide Seiten einer stachligen Materie sieht", fügte er einen Augenblick später hinzu, „aber für keine von beiden entschieden eintritt. Statt dessen verbünde ich mich mit einer Horde Parias. Ihr seid die Verdammten dieser Erde, genau wie die ersten Christen es waren. Aber ich bin weder demütig noch sündhaft, und Märtyrertum enthält keine sanften Lockungen. Ich habe auch kein nervöses System oder was ihr feinen jungen Leute einen neurotischen Zwangskomplex nennt. Ich bin George Babbitt, mit einer oberflächlichen Gelehrsamkeit — und der einzige Zwangskomplex, den ich habe, existiert in Gestalt einer Mesalliance mit einer Hure, die sich Wahrheit nennt. Ich finde, dass niemand sonst Interesse hat — an der Wahrheit, meine ich... "
„Um Himmels willen", rief Abbott, „hör doch auf, den modernen Sokrates zu spielen! Was geht denn eigentlich vor?"
„Nichts, woraus ich schlau werden kann. Nach ihrer kindlichen Vorstellung — die, wie mir geflüstert wurde, vollerblüht dem Gehirn eines altrenommierten Herrn namens Gelb entsprang, wie Athene der Braue des Zeus entsprang — kann Lowell, weil ihm das ganze Gelände zwischen den Werkstoren und der Birkenstraße gehört und er entsprechende Schilder aufgestellt hat, durch die einfache Handhabung des Verbots widerrechtlichen Betretens das Streikpostenstehen unterbinden. Sie machten sich eine Handvoll Haftbefehle zurecht, warteten, bis Ryan und Joey Raye erschienen, und lochten sie dann ein. Weiterhin haben sie die Streik-
postenkette bis an die Birkenstraße zurückgedrückt. Ich konnte Noska nicht auftreiben, und niemand sonst scheint zu wissen, was
nun zu tun ist."
„Das klingt nach einem billigen, dummdreisten Bluff", sagte Abbott. Sie waren am Gerichtsgebäude angelangt und rückten in die Reihe der schräggeparkten Wagen.
„Ist es auch — tatsächlich. Aber es gehört zum Schema Hamilton Gelbs. Eine ganze Generation von Streikabwürgern hat unter ihm gelernt, und unterschätzt ihn nicht! Euer 79. Kongreß lernt seine Technik. Der Trick besteht darin, irgendein Gesetz, eine Anordnung, einen Erlass, eine Verfügung oder Vorschrift auszugraben, gegen die sich die Streikenden vergehen, sie ihnen auf den Kopf zu hauen, sie zu einer unmöglichen Entscheidung zu zwingen und dann mit ausreichenden gesetzlichen Handhaben über sie herzufallen, um den Streik mit Glanz abzuwürgen. Und mittlerweile die Gewerkschaftsorganisation zu spalten. Das ist die klassische Methode. Deshalb haben sie sich auch Ryan und Raye
herausgesucht."
„Woher konnten sie das wissen?" wunderte sich Abbott.
„Das lässt sich doch herauskriegen", murmelte Goldstein traurig. „Sowas wie einen heimlichen Kommunisten gibt es nicht, lieber Freund. Nur die Geheime Bundespolizei ist dumm genug, es zu glauben und Zeit und Geld darauf zu verschwenden, sie auszugraben. Tu den Mund auf, rede vernünftig, liebe die Freiheit, wisse, was du willst — das sind die altfränkischen Tugenden, die mir eure kindische Bewegung wert und teuer machen, aber sie machen auch einen Menschen durchsichtig wie ein GOP-Programm (Anm.: Grand Old Party — Große Alte Partei; die Republikanische Partei)."


14

Das Kreisgericht war, im geographischen wie auch im geschäftlichen Sinne, der Mittelpunkt Clarktons. Es war ein altes, nicht allzu plumpes Granitgebäude aus dem Jahre 1897 und hatte einen angemessenen Ausdruck von Würde und Zurückhaltung. Eine breite steinerne Freitreppe führte zu der großen Doppeltür hinauf, über der in Stein gemeißelt JUSTITIA OMNIBU S stand, ein Spruch, den Abbott wegen seiner Kürze und seines Inhaltsreichtums stets bewundert hatte. Vor dem Gebäude war ein winziger Park, etwa hundert Fuß im Quadrat, und in seiner Mitte stand das Bürgerkriegsdenkmal mit den Namen aller Angehörigen des 108. Regiments Massachusetts rundherum, das die Wucht des ersten Angriffs bei Gettysburg auszuhalten hatte und so grässliche Verluste erlitt, dass von seinen dreihundertfünfzig und einigen Soldaten dreihundertzweiundzwanzig getötet oder verwundet wurden. Unterhalb der Namen und rings um den Fuß des Sockels war eingegraben: EINHEIT IST KOSTBAR — RUHM HAT EINEN SÜSSEN KLANG — ABER WENN EIN MANN SEIN LEBEN HINGIBT, TUT ER ES FÜR SEINEN BRUDER — UND WAS ANDERS SOLLTE SEIN BRUDER WERTSCHÄTZEN DENN DIE FREIHEIT? Im Park standen Bänke, die bei milderem Wetter den Stadtbummlern und jenen wenigen Bürgern dienten, die mehr als die vom Buch der Bücher zugestandenen sechzigundzehn Jahre erreicht hatten, doch jetzt waren sie verlassen und von einer dünnen Schneeschicht überzogen, wie auch die hölzerne Gedenktafel, die die neuen Toten des alten Kampfs verzeichnete. Von jenseits des Platzes sah die öffentliche Bibliothek zum Gericht herüber, und zu jeder Seite standen zweistöckige spitzdachige Häuser, die Läden und Büros beherbergten.
Abbott und seine Frau folgten Max Goldstein, als er mühselig die Stufen hinaufkletterte, schwitzend und schnaufend trotz aller Kälte, und dann warteten sie in der Vorhalle, bis er wieder zu Atem kam, sich aus seinem Mantel schälte und Halstuch und Handschuhe verstaute. Es war keine eilige Zeit fürs Gericht, sie brauchten nur ein paar Minuten zu warten, bis der Gerichtsdiener Goldstein mitteilte, dass Richter Curtis ihn empfangen wollte. Goldstein übernahm die Führung in den dämmerigen gotisch gewölbten Gerichtssaal, wo ein halbes Dutzend Leute sich auf den Bänken räkelten, ein Rechtsanwalt ungeduldig herumstrich und ein bebrillter zierlicher kleiner Mann mit einem kleinen Bürstenschnurrbart hinter dem Richtertisch gelangweilt Wache hielt. Er grinste Goldstein entgegen und winkte mit der Hand. „Hallo, Max."
Elliott und Ruth machten an der Schranke halt, aber Goldstein stieß mit der ungerührten Hartnäckigkeit eines Elefanten durch und dröhnte: „Allen Respekt vor dem hohen Gericht, aber wenn ich dieses blöde Grinsen auf deinem Gesicht erblicke, sehe ich immer einen willfährigen Diener der verrotteten Oligarchie, die die Stadt in ihren Klauen hält."
„Warum setzt du dich nicht zur Ruhe?" sagte der Richter trocken. „Du bist nur noch ein feister alter Bock, und jeden Tag wird's schlimmer mit dir."
„Ich habe noch nicht Geld genug, um mich zurückzuziehen. Ich halte meine Hände sauber."
„Nimm mal an, ich belange dich wegen Verächtlichmachung des Gerichts, und es kostet dich fünfhundert?"
„Mach voran, mach voran", murmelte Goldstein. „Hast du hier geschäftlich zu tun oder bist du bloß hereingekommen, um das Gericht zu beleidigen? Es ist Sonnabend, und beim normalen Gang der Dinge, wenn du nicht übers Telefon plädiert hättest, und ich nicht dumm genug gewesen wäre, es anzuhören, würde ich dich zu einer Ordnungsstrafe verknacken
und vertagen."
„Mach voran und vertage", sagte Goldstein. „Beim normalen Gang der Dinge säße ich in meinem Büro bei einer Partie Dame, anstatt in diesem wütenden Schneesturm herumzulaufen. Euer Gnaden.." fügte er hinzu.
„Worum handelt es sich?" fragte der Richter. „Ryan und Raye?"
„Ich erwarte, dass du unverzüglich die Haftentlassung verfügst."
„Das kann ich nicht", sagte der Richter kurz.
„Was? Allmächtiger Gott, bin ich dreißig Jahre bei den Gerichten von Massachusetts zugelassen und fünfzig Jahre Bürger dieses Staates, um zu hören, dass du von mir für einen so schäbigen kleinen Schwindel wie widerrechtliches Betreten Kaution verlangst?"
„Allerdings." Die Stimme des zierlichen kleinen Mannes wurde scharf, der Humor verschwand aus seinen Augen. „Allerdings, Max. Mach bloß nicht zu viel davon her. Ich kenne dich lange genug. Ich möchte nicht zornig werden."
„Ich kenne Sie auch schon lange genug, Euer Gnaden", antwortete Goldstein langsam, und für Abbott, der zuhörte, klang etwas aus der Stimme des Rechtsanwalts, das er nie zuvor vernommen hatte. „Wie viel Kaution?"
„Zweihundert Dollar für jeden", sagte der Richter bündig.
„Zweihundert Dollar für widerrechtliches Betreten?"
„Und wegen Widerstands gegen die Festnahme. Das ist sogar billig."
„Widerstand gegen die Festnahme?"
„Jawohl."
Goldstein wandte sich zu Elliott um und nickte. Mit eins war er ein fetter, müder alter Mann geworden.

 

15

Ryan vermochte zu grinsen, aber auf Joey Rayes zerschlagenem, formlosem Gesicht war kein Platz für ein Lächeln. Außerdem war auch etwas mit den Füßen des großen Negers nicht in Ordnung, und er musste sich schwer auf Elliott lehnen, um die vereisten Stufen des Gerichtsgebäudes hinunterzukommen. Bei jedem Schritt zuckte er zusammen, und kleine Schmerzensschreie. entrangen sich seinen gespaltenen Lippen. Sein Gesicht war zerstoßen, zerquetscht, breiig und geschwollen, dass er wie ein alter abgekämpfter Boxer nach einem langen, aussichtslosen Vorkampf aussah. Max Goldstein sah ihn an, seufzte und stützte ihn von der
anderen Seite.
„Widerstand gegen die Festnahme", sagte Goldstein. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen, und jetzt bin ich fremd hier."
Eine kleine Menschenmenge lief zusammen, als sie den beiden Männern über den Platz hinweghalfen. Goldstein und Abbott krochen in den kleinen Rücksitz des Wagens, während Danny Ryan und Joey Raye sich neben Ruth hineinschoben. „Ich bin zu alt für solche Aufregungen", sagte Goldstein verzweifelt. Abbott fragte: „Wer war es, Danny?" „Curzon und Gelb." Und Joey Raye murmelte: „Ich hab' euch doch von diesem Menschen erzählt." „Lass das Sprechen", befahl ihm Ruth. „Auch du, Danny. Du hast einen schlimmen Riss in der Lippe da, also rede nicht." „Die Lippe ist's nicht, es ist innen drin", sagte Ryan. „Ich muss inwendig kaputt sein. Ich wär' am liebsten gestorben vorhin, so
weh tat es."
Sie fuhren zu Abbott zurück und brachten die beiden Männer ins Behandlungszimmer. Mike Sawyer hatte auf sie gewartet, und als Goldstein zu helfen versuchte, schob Elliott ihn hinaus und sagte ihm: „Geh und setz dich zu Mike. Ich werde mit Ruth
allein damit fertig."
„Du bist mir böse, Elliott", sagte Goldstein kläglich. „Wie sollte ich das wissen? Wie konnte ich das wissen?"
„Ich bin dir nicht böse, Max."
Im Sprechzimmer erzählte der Anwalt Mike Sawyer, soweit er davon wusste, was geschehen war. „Dabei ist es eine solch ruhige kleine Stadt", klagte er. „Als ich klein war, spielte ich in Battle Creek. Ich bin hier zur Schule gegangen. Ich hoffe, hier zu sterben. Man gewöhnt sich an eine solch ruhige kleine Stadt."
„Das Schlimme ist", sagte Sawyer nachdenklich, „dass wir uns selbst nicht glauben. Wir sagen uns vor, dass Mord und Totschlag kommen muss, aber wir glauben dem Fahrplan nicht. Und wenn es dann so weit ist, sind wir ebenso überrascht wie jeder andere." „Was hoffen sie denn damit zu erreichen? Sie greifen sich zwei Burschen heraus und prügeln sie halb zu Tode auf eine dreckige kleine Anklage wegen widerrechtlichen Betretens hin. Was hoffen sie damit zu erreichen? Ich könnte es in der Stahlindustrie, im Bergbau, in der Konserven- oder Automobilindustrie verstehen — aber hier, in einem kleinen Ort wie Clarkton? Was erhoffen sie sich davon?"
„Es gehört zu ihrem Schema", sagte Sawyer. „Sie wollen die Arbeiterbewegung zerschlagen, das öffnet ihnen dann den Weg zu allem andern. Aber bevor sie die Arbeiterbewegung zerschlagen, müssen sie uns vernichten. Gelb begreift das. Ein Mann wie Gelb sieht die Dinge wissenschaftlich an. Er begreift das."
„Hast du eine Zigarette?" fragte Goldstein. „Es ist sinnlos. Vielleicht werde ich alt. Vielleicht will ich, dass es sinnlos ist."
„Wir werden alle alt", lächelte Sawyer und gab dem Rechtsanwalt eine Zigarette. „Als ich nach Spanien ging, glaubte ich, der Sozialismus würde in der Zeit, die ich weg wäre, nach Amerika kommen. Das ist schon lange her."
„Es geht langsam. Ich sehe auf diesen Leib, der mir nicht mehr erlaubt, meine Schuhe zu erblicken, und ich stelle fest, er ist alles, was ich habe. Ich muss mit ihm die Zeit auskommen, die mir noch geblieben ist. Man kann nicht tauschen. Jedem sein eigenes Jerusalem, seinen eigenen schönen Traum von der Menschheit Hoffnung. Keats oder Shelley oder irgend etwas. Wir klammern uns an ein Traumbild der Wahrheit und Brüderlichkeit, und plötzlich haben sie die Atombombe. Nun kommen sie da heraus, und ich muss Joey ins Gesicht sehen."
„Sein Gesicht wird wieder heilen", sagte Sawyer. Goldstein nickte, sagte aber nichts. Er rauchte seine Zigarette auf und bat Sawyer um noch eine. Sie warteten. Es hatte aufgehört zu schneien. Das Telefon klingelte, und Ruth kam heraus und ging an den Apparat.
Als sie das Telefongespräch erledigt hatte, sagte sie: „Sie kommen wieder in Ordnung."
„Was meinst du, in Ordnung?"
„Danny war am schwersten verletzt, und wir glaubten, er hätte einen Bruch. Aber er kommt wieder hoch. Joeys Füße... " Sie schüttelte den Kopf und ging wieder hinein. Eine Weile später kamen sie alle heraus. Joey Rayes Gesicht war geflickt und verpflastert, die Schuhe standen offen. Danny Ryan grinste und sank in einen Stuhl. „Hallo, Mike", sagte der Neger. „Ich hab' grässliche Kopfschmerzen - sonst bin ich so gut wie neu." „Er hat einen Schädel aus Granit", lachte Ryan. Raye sagte: „Sechs von ihnen drinnen trommelten mir aufm Schädel rum. Ich überlegte bloß, ob ich ihnen nicht auch 'n paar pflastern sollte, damit sie mich fertig machten; so elend war mir zumut." „Wenn sie ihn erledigt hätten, würd' ihm noch elender zumut sein", nickte Danny. „Ich hab' bei großen Burschen immer festgestellt, dass sie manchmal Mumm haben, aber nie eine Spur von Verstand."
„Wozu?" wollte Goldstein wissen. „Ich kenne Jack Curzon -er ist eine Giftpflanze, aber er hat nicht Mumm genug, das aus sich heraus zu tun." „Gelb."
„Wieso? Was will er damit gewinnen?"
Ryan sagte: „Zum Teufel, sie wollen durchgreifen und die Gewerkschaft zerschlagen. Sie fangen wieder bei einer Stadt mit einem Betrieb an. Es ist eine Provokation, weiter nichts."
„Ihr werdet also die Streikposten wieder ans Tor vorschieben müssen?" fragte Abbott Ryan trüben Gesichts, trüber Stimme. „Ganz richtig."
„Massenstreikposten, nehme ich an?" „Zwei- oder dreitausend Mann", sagte Ryan. Goldstein schüttelte bedenklich den Kopf, er war anderer Meinung.
„Lass mich einen Zivilprozess draufhauen, Danny. Wir bringen die Geschichte in die Zeitungen und setzen den ganzen CIO dahinter. Wenn ihr dort ihren Grund und Boden betretet, dann haben sie uns. Ich sage dir, dann haben sie uns."
„Ich will keinen Zivilprozess nicht. Ich will den Streik gewinnen. Zum Teufel mit einem Zivilprozess."
„Du handelst gegen das Gesetz, Danny... "
„Ich hab' heute morgen den Wanst voll gekriegt vom Gesetz. Joey auch. Sieh dir das Gesetz an, Joeys ganze Visage ist davon überzogen."
„Aber sie können damit nicht durchkommen", beharrte Goldstein.
„Sie kommen damit durch. Diese verdammte Stadt gehört ihnen. Der Staat gehört ihnen. Die ganzen stinkigen Werke gehören ihnen. Wach auf, Max!"
Ruth Abbott sagte: „Er hat recht, Max. Sie zwingen einen zur Entscheidung. Wenn man sich ihr entzieht, ist alles vorbei."
„Du sagst das so leicht", bemerkte Sawyer. „Aber wie steht's mit der Gewerkschaft? Wie steht's mit Noska?"


16

Lowell begegnete Noska zum ersten Male in Tom Wilsons Wohnung beim Lunch dieses Tages. Inzwischen fühlte sich Lowell wieder besser. Die Übelkeit hatte ihn verlassen und einem brennenden Appetit Platz gemacht, einem angenehmeren Verlangen nach Nahrung, als er zu irgendeiner Zeit während der vergangenen Woche verspürt hatte. Es überraschte ihn, wie schnell er den Vorfall auf dem Polizeiamt vergessen konnte; doch in der Rückschau erschien ihm die Prügelszene als ein Tagtraum, völlig beziehungslos und unwirklich. Er stellte sich vor, dass Soldaten im Kampf eine ähnliche Anpassung durchmachten, und er war ziemlich angenehm von seiner eigenen Fähigkeit berührt, Situationen wie diesen zu begegnen, ohne seinem ursprünglichen Impuls zu vorschnellem Rückzug nachzugeben. Zugleich damit hatte er das Gefühl, vor einem Abschluss zu stehen, vor einem nahen Höhepunkt. Die Tatsache, dass die Geschichte bald vorüber sein würde, ließ sie leichter rechtfertigen.
Im ganzen hatte Lowell ein Gefühl des Lebens, des Daseins. Er erinnerte sich - in Tucson in Arizona war es gewesen, als sie ein paar Wintermonate dort verbrachten -, von einem Freund einigen Leuten als ein sehr ordentlicher Sohn eines reichen Mannes vorgestellt worden zu sein, eine Kennzeichnung, die etwas Besonderes ausdrücken sollte. Und wirklich und gewiss, er war fähig zu erkennen, dass er keinen anderen Vorzug als den beanspruchte, für den Sohn eines reichen Mannes zu gelten und alles das sein zu wollen, was sein Vater nicht gewesen war - sanft von Stimme und angenehm in Manieren sein; ein nur auf Erwerb gestelltes Dasein verachten; in die Sommer- und Winterfrische gehen; das Geld, das er besaß, ohne Angabe oder Prahlerei ausgeben; starke Antipathien gegen Leute, die sich mit ihrem Reichtum nur selbst beschmutzen, kultivieren; seinen eigenen Reichtum auf tausenderlei Weise verbergen; Umgang mit Menschen von Kultur pflegen und auch selbst nicht allzu unvertraut mit der Kultur sein.
Aber nichts davon gab ihm ein so intensives Gefühl seines Selbst, wie er es in den letzten paar Tagen empfunden hatte. Einem Manne wie Gelb war er vorher nie begegnet. Die aufrichtige Bewunderung Frank Normans füllte einen Platz, der seit dem Tode Clarks leer gewesen war, und selbst Wilson erwies sich nun nicht so sehr als ein Flegel und Dummkopf denn als ein Mann, der eine Arbeit gewissenhaft und nach bestem Vermögen ausführt. Und der süße Geschmack am Rande davon war das Mädchen, Rose Antonini. Bei allem, was geschah, war sie in seinen Gedanken stets irgendwo gegenwärtig; sogar während der Prügelszene auf dem Polizeiamt hatte er eine Verbindung mit ihr hergestellt - als ob alle Leidenschaften durch ein und dasselbe Band miteinander verbunden waren.
Am Tisch bei Wilsons beobachtete Lowell jetzt Bill Noska mit einem lebhaften Gefühl der Neugier. Frau Wilson, eine dralle hübsche Person, hatte sich als Wirtin - sogar trotz der ungewöhnlichen Umstände -selbst übertroffen und den Lunch im Esszimmer mit einem spitzenumsäumten Tafeltuch unter goldgerändertem Porzellan angerichtet. In der Mitte des Tisches stand ein Blumenarrangement, von zwei silbernen Leuchtern flankiert. Ein beharrlicher Glaube, dass Lunch etwas anderes wäre als Mittagessen -genährt durch die jahrelange Lektüre des Ladies' Home Journal—, hatte sie bewogen, Gabeln, Messer und Löffel fächerförmig anzuordnen, anstatt sie gerade neben die Teller zu legen. Aber das Geschirr war Geschirr für Mittagessen und die Servietten waren schwerer Damast mit dem Glanz langen Nichtgebrauchs. Die Speisenfolge selbst zeigte die gleichen Widersprüche: sowohl Suppe und ein warmer Gang als auch prächtige Gelees in Formen, die auf den Farbfotografen zu warten schienen. Weil sie ihm am nächsten standen, servierte Wilson hauseingemachte Früchte, die wahre Obstwälle darstellten.
Lowell fragte sich, was Bill Noska davon dachte. Er selbst nahm es freundlicher hin, als er früher getan hätte. Das einzige Mal, dass Lowell und Lois bei Wilsons gewesen waren, auf einen Trunk und für zwanzig Minuten, hatte Lois auf alles ungut reagiert, auf das große neue Fachwerkhaus, das Wilson sich hatte bauen lassen, das überladene Mobiliar, das ein Innenarchitekt aus Worcester aufgestellt hatte, die Plüsch- und Samtvorhänge, die nicht zu den Perserbrücken passten, und die Tapeten mit breiten senkrechten Streifen in Silber und Grau oder in zwei verschiedenen Tönen von Blau. Aber er selbst hatte sogar damals eine gewisse Sympathie für Wilsons Trachten empfunden, und heute beim Lunch zeigte er nichts von seiner gewöhnlichen Gereiztheit gegenüber seinem Direktor. Die Erwägung drängte sich ihm auf, dass die ganze gewaltige industrielle Maschinerie Amerikas, diese mächtigste industrielle Maschinerie in der ganzen Welt, der ganzen Geschichte und der ganzen Zivilisation, fast gänzlich von Männern überwacht wurde, die mehr oder weniger Wilson glichen. Das war etwas, woran er früher noch nie in solchem Zusammenhang gedacht hatte, und er grübelte darüber nach, ob wohl auch Bill Noska Vorstellungen dieser Art aufstoßen würden.
Er beobachtete Bill Noska während des Essens. Der Mann, vermutete er, war slawischer Herkunft, vielleicht Pole, Litauer oder Tscheche. Über sechs Fuß groß, breit, solide und in gewisser Weise sogar hübsch, schien er alle notwendigen Eigenschaften eines Anführers zu besitzen. Lowell konnte sich vorstellen, dass die Leute diesem Manne vertrauen und ihm folgen würden. Lowells Wissbegier hatte etwas von der eines Touristen; diese Leute hatten wohl für ihn gearbeitet, aber er hatte sie niemals kennen gelernt, niemals mit einem von ihnen gesprochen. Bis vor kurzem war ihm das Wort Arbeiter ein bloßer Begriff gewesen, und wie bei den meisten seiner Klasse gingen seine Beziehungen zum gemeinen Volk, in Anführungsstrichen, über Taxichauffeure, Friseure, Hotelangestellte, Bootsleute — und in Zwischenräumen über alle jene andern, deren Lebenszweck es war, dies oder jenes seiner besonderen Bedürfnisse zu befriedigen. Sogar seine Verbindung zum Werk war während der letzten fünf Jahre - im Vergleich mit der augenblicklichen Situation - höchst gelegentlicher Natur gewesen. Florida und Arizona waren während des Krieges ebenso erreichbar gewesen wie die Berkshires. Er konnte sich für die Zeit in Clarkton nicht an ein einziges Mal erinnern, dass er mit einem Arbeiter tatsächlich gesprochen hatte, von dem einen oder andern Wort mit einem Büroangestellten abgesehen. Nicht, dass er die Vorstellung von vornherein abgelehnt hätte, sich mit Bill Noska zusammen zum Lunch zu setzen; es gehörte einfach zu den Dingen, die so unwahrscheinlich waren, dass sie im normalen Lauf der Ereignisse nicht vorkamen. Da es nun doch passiert war, fand er Noska durchaus menschlich, klar in seinen Ideen und ohne eine Spur jener Servilität, die nach der Beobachtung Lowells sich bei Arbeitern, die ihn und seine Freunde bedienten, so übereinstimmend zeigte. Als die Mahlzeit vorüber war und Wilson die Zigarren herumreichte, zündete Noska ohne eine Spur von Befangenheit die seine an und sagte zu Lowell:
„Ich möchte Ihnen deutlich sagen, Herr Lowell, dass ich herkam, weil Wilson meinte, es wäre eine Gelegenheit, sich über die Dinge zu unterhalten. Ich liebe den Streik ebensowenig wie Sie, aber ich kann nicht ohne den Vollzugsausschuss der Ortsgruppe handeln. Das einzige, was ich tun kann, ist zuhören."
„Mehr erwarten wir auch nicht von Ihnen", sagte Lowell.
„Sie sind Familienvater, nicht wahr, Bill?" wollte Wilson wissen. „Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie Bill nenne?"
„Ich bin schon Schlimmeres genannt worden", lächelte Noska. „Ich habe Familie — zwei Kinder."
„Kirche?"
„So wie jeder andere", sagte Noska.
Gelb sagte: „Wir wollen nicht bloß auf den Busch klopfen, Bill. Sie haben schon früher Streiks mitgemacht. Sie wissen, dass es für keinen der Betroffenen eine Landpartie ist."
„Das sagte ich schon."
„Wir möchten uns mit Ihnen zusammensetzen und die Sache in Ordnung bringen."
„Heute früh sah es verdammt nicht danach aus", sagte Noska.
„Vielleicht war ich ein bisschen voreilig damit, die Streikpostenkette zurückzudrücken. Herr Lowell meinte es auch, und jetzt bin ich geneigt, ihm zuzustimmen. Aber wenn wir die Geschichte aus der Welt schaffen, wird eine Streikpostenkette sowieso belanglos."
„Ich meine es wahrhaftig ernst damit, Noska", fügte Lowell hinzu. „Ich möchte diese Angelegenheit ebenso sehr abschließen wie jeder andere."
„Ich kann nur zuhören. Ich fälle nicht die Entscheidungen."
„Sie haben schon eine Menge Einfluss", lächelte Wilson. „Ich bin ein ziemlich guter Menschenkenner; ich weiß, wer ein Mann von Einfluss ist, sobald ich ihn sehe. Und von einem Federgewicht verlange ich nicht, dass er in der Schwergewichtsklasse auftritt. Ich bin nicht auf Bluffen aus, Bill - ich bin ein ziemlich ehrlicher Mensch, und ich liebe es, nach guter alter amerikanischer Art gerade auf mein Ziel loszugehen. Das mag mich für die Diplomatie ungeeignet machen, aber ich habe mir nie vorgestellt, dass ein ordentlicher, waschechter Amerikaner einen Diplomaten abgibt, wie diese Ausländer es schaffen. Wenn Sie mich fragen, dann verschwenden wir zuviel Zeit mit diesem diplomatischen Drumherumreden, anstatt zur Sache zu kommen und offen zu sagen, was wir meinen. Und hier ist das, was ich meine - geradeheraus gesprochen, es gibt nur eine Bagage, die Aussicht hat, bei diesem Streik etwas zu gewinnen... das sind die Commies (Anm.: Abkürzung von Communist, als Schimpfwort gemeint)."
Noska zog an seiner Zigarre und sah dem Rauch nach. Schließlich sagte er: „Die haben doch nichts zu sagen."
„Ich meine damit auch nicht, dass sie Ihre Gewerkschaft dirigieren. Sie machen auf mich nicht den Eindruck eines Mannes, der sich von einem Haufen halbbackener Strolche herumstupsen lässt, die dahin zurückgeschickt werden sollten, wohin sie gehören. Ich sage bloß, sie sind die einzigen, die Aussicht haben, etwas dabei zu gewinnen."
„Das sehe ich nicht", sagte Noska langsam. „Möglich, dass sie darauf aus sind, den Rahm abzuschöpfen. Und wenn Sie es so nehmen, glaube ich, dass mir dieses Pack nicht sympathischer ist als Ihnen. Aber ich sehe es nicht."
„Dies ist mein erster Streik", sagte Lowell. „Glauben Sie mir, Noska, so merkwürdig es klingen mag, ich bin die am wenigsten interessierte Partei hier, der objektivste Teil, nehme ich an. Von meinem Standpunkt aus -je länger Sie streiken, desto weher tut es Ihnen. Ich kann es aushalten. Wenn nötig, kann ich die Fabrik ganz und gar zumachen. Aber was können Sie gewinnen? Würde irgendeine Lohnerhöhung die Streikwochen wiedergutmachen?" „Vom Standpunkt der Roten sieht die Sache anders aus", warf Gelb ein. „Ich kenne diese Burschen von früher. Ihr Hauptinteresse ist, weiterzukommen. Sie wollen die Dinge übernehmen, nicht wahr? Nun also, da sind Streiks eine Wonne für sie. Arbeitslosigkeit. Schlechte Zeiten. Zum Teufel mit der Gewerkschaft! Zum Teufel mit den Arbeitern! Sie sind auf ihre eigenen Ziele aus. Jeder Streik ist ihr Nesthäkchen. Ich bin nicht dagewesen, aber ich wette Ihnen zehn zu eins, dass sie in dieser selben Minute auf Ihrem Gewerkschaftsbüro dabei sind, den Daily Worker zu verkaufen. Was habe ich gesagt? Habe ich recht?"
Noska antwortete nicht. Er hielt die Zigarre in der Hand und starrte in das Rauchgekräusel, das vom langen Aschenkegel aufstieg.
„Lebensmittel heranschaffen. Bei jedem verdammten Streik, den ich bisher erlebt habe, gab es tonnenweise Lebensmittel von der Partei. Grade nur ein armer kleiner Verein, der sich nicht selbst am Leben erhalten kann. Ist Ihnen jemals eingefallen zu fragen, woher diese Lebensmittel kommen, Noska?"
„Ihr würdet Kaviar essen, wenn es keine völlige Verschwendung wäre", sagte Wilson.
„Worauf um Himmels willen sind sie eigentlich aus?" tat Gelb bestürzt. „Wir leben hier doch in einem recht ordentlichen Lande. Es hat seine Unvollkommenheiten — sicher, aber verglichen mit Russland ist es ein Paradies. Ein Land, in dem Milch und Honig fließt, um einen biblischen Ausdruck zu gebrauchen. Wenn einer nicht zu faul zur Arbeit ist, findet er hier auch seine Beschäftigung. Und verdammt noch mal, wenn er doch zu faul zur Arbeit ist, dann gibt es immer noch die Unterstützung. Mag sein, dass er kein Millionär dabei wird -aber wieviele von uns sind denn Millionäre? Sicher, es ist nicht alles vollkommen. Sicher, die Nigger und Juden werden ein bisschen herumgestoßen. Aber überlassen wir doch mal das Land den Niggern und Juden, wie die Commies das von uns möchten, und schauen zu, was für einen christlichen Amerikaner dabei herauskommt. Wissen Sie, was ein Commie ist, Noska? Ein kranker Mann, ein Stück Krankheit. Ein Mensch, der hasst. Alles, was uns wertvoll ist, die Kirche, das Heim, das Land, in dem wir leben - weg damit, sagt er. Schauen Sie nach Spanien, wo die Roten zwanzigtausend katholische Priester umbrachten, sie kaltblütig ermordeten. Schauen Sie nach Russland -wissen Sie, dass sie während der Hungersnot in den zwanziger Jahren zwanzig Millionen Bauern ermordeten? Diese Art von Konzentrationslager wollten sie auch hier einrichten. Deshalb ist ein Streik ihr liebstes Kind. In New York gibt's einen Mann, Jack Loman heißt er — hat einmal selbst zur Partei gehört. Ein guter Schriftsteller, sauberer Charakter, aber in ihr Netz von Täuschungen geraten. Er hat erklärt - und es ist nicht zu bezweifeln -, dass jeder amerikanische Kommunist ein Agent der Sowjetregierung ist. Ich würde ein reicher Mann sein, wenn ich nur ein Prozent von dem Geld hätte, das Russland in dieses Land hineingepumpt hat, um diese Bagage zu unterstützen. Es gibt noch einen anderen Mann, Johnny Frank, vor kurzem noch einer der wichtigsten Männer in ihrer Bande; aber er glaubte an Gott und mochte sich nicht auf ewig in der Hölle schmoren sehen. Er kehrte zur Kirche zurück und machte einige recht erstaunliche Enthüllungen, als er aus der Partei ausrückte. Nannte die Namen der geheimen internationalen Agenten, die in ihrer Bande die Drähte ziehen. Enthüllte ein großes Komplott, sich der Atombombe zu bemächtigen und sie den Russen auszuliefern, die ganze Geschichte. Sie sind reizende kleine Burschen, wirklich sympathische kleine Jungen eben. Und deshalb sage ich, niemand außer ihnen hat die Chance, bei diesem Streik etwas zu gewinnen."
Gelb endete im gleichen Ton beleidigter Bestürzung, der den Beginn seines Ausbruchs markiert hatte. Lowell starrte ihn an, aber Gelb wich seinen Blicken aus; er schaute zu Norman hin und sah ihn ergriffen, hingerissen; während der ganzen Rede Gelbs hatte er die Augen nicht von dessen Gesicht gelassen. Schweigen hing wie ein dichter Schleier über dem Kreis, bis Noska murmelte:
„Ich beschließe keine Streiks. Ich pfeife sie auch nicht ab." „Das wissen wir. Wir haben uns zusammengesetzt, um miteinander zu sprechen", sagte Wilson ernst, „und ich glaube nicht, dass etwas verloren ist, wenn sich erwachsene Menschen zusammensetzen und Dinge durchsprechen. Das ist amerikanische Art."
„Freier Meinungsaustausch", sagte Gelb, „ist die Quelle der Demokratie. Wir können uns das noch leisten; ich sage, Gott steh dem Lande bei, das in eine Lage gerät, wo es das nicht mehr kann."
So sicher war die Stimme des Mannes und so aufrichtig, so vollkommen waren der Klang der Wahrheit, die klagende Note der Sorge, der Brustton der Empörung und Überzeugtheit, dass Lowell trotz seiner selbst, trotz der Dinge, die sich früher am Tage zugetragen hatten, sich mitgerissen fühlte. Gerade die Abgedroschenheit der Sprüche und Klischees, die Wilson und Gelb gebrauchten, erhöhte ihren Effekt, und die stumme Bewunderung Frank Normans war wie eine tadellose, fein erdachte Stütze, die zufällig im letzten Augenblick noch hinzugetan und nunmehr zum zentralen Faktor des Zusammenhalts und der Wirkung wird.
„Ich denke an diesen kleinen Teil von Neu-England", fuhr Gelb sanft fort; seine scharfen Kanten schmolzen und eine Note tiefen Nachdenkens haftete seiner Stimme an. „Ich denke an die Leiden, das Blut und den Schweiß und die Tränen der Generationen, die dies friedvolle Land aufbauten. Ich denke an die Pilgerväter und die Traditionen der Pilgerväter, an das Banner der Freiheit, das sie aufrichteten, damit es unsere Kinder erben; und dann denke ich an diesen dreckigen roten Abschaum, der ein Schandmal" — Gelb zog ein dickes Bündel neuer Geldscheine aus der Tasche und legte es auf den Tisch - „auf dem reinen Antlitz dieses freien Landes ist."
Noskas Augen hefteten sich auf die Scheine; dann schnellten sie hoch, wanderten von Gesicht zu Gesicht, verharrten auf jedem einen Augenblick, schnellten zurück und hefteten sich auf Gelb. Gelb steckte die Banknoten wieder in die Brusttasche.
„Ich glaube, ich muss gehen", sagte Noska.
Lowell erschien das Ganze plötzlich unglaubwürdig, billig, geschmacklos und offensichtlich gestellt. Noska musste das gemerkt haben. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Wilson wollte etwas sagen, aber Gelb packte ihn am Arm, hielt ihn einen Augenblick und stand dann auf und ging Noska nach... Lowell hörte, wie Gelb sagte: „Es tut mir leid, Bill. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte das nicht tun dürfen. Es war schäbig und niederträchtig, so zu handeln."


17

Gelb äußerte etwas, das in der Linie einer Entschuldigung gegenüber Lowell lag: „Alles ist einfach, bis man auf den Kern der Dinge stößt, Herr Lowell. Dann wird es kompliziert."
„Ich konnte Ihnen folgen, bis sie versuchten, ihn zu bestechen", sagte Lowell. „Aber es ist Ihre Arbeit, und Sie müssen sie auf Ihre Weise tun."
„Ich versuchte nicht, ihn zu bestechen", sagte Gelb sachlich, „ebensowenig, wie ich Ryan zu bestechen versuchte. Es ist eine Taktik, weiter nichts. Wenn Sie es für eine billige Taktik halten, haben Sie vielleicht recht."
„Es ist Ihr Geschäft", entgegnete ihm Lowell. „Ich habe den Streik satt bis obenhin. Wenn Sie ihn morgen beenden können, tun Sie es."
„Aber ich möchte, dass Sie mich verstehen. Wenn man einen Arbeiterführer bestechen kann, dann ist er schon zu verkommen und abgetan, um es wert zu sein. Der hier ist ein gesunder junger Mann. Ich will ihn zum Denken bringen. Ich will erreichen, dass eine Idee mit einer andern zusammenprallt. Er wird nicht stillsitzen."


18

Lowell fuhr zu derselben Kneipe hinaus, in der er am Morgen seine Schnäpse getrunken hatte. Es hatte aufgehört zu schneien; die Wolken brachen in tief purpurner Unentschiedenheit auf, und von einem Fleck blauen Himmels kamen lange Strahlen Sonnenlicht herab, die weißen Berge zu salben. Im unirdischen Licht des Nachmittags war die Landschaft ebenso schön wie melancholisch, und sie versetzte Lowell in eine schwermütige und beschauliche Stimmung. Er war ein empfindsamer Mensch, empfänglich für Schönheit, Farben, Töne und selbst die Beschaffenheit der Luft, die auf manche eine solch sichere Wirkung und auf andere eine solch geringe Wirkung ausübt. Bei solchen Anwandlungen schien es Lowell zuweilen, dass er das einzige menschliche Wesen wäre, das inmitten einer ungeheuren und unbeschreiblichen Einsamkeit atmete, und dass die ganze Welt ein Traum wäre, den er allein erlebte. Zu solchen Zeiten pflegte sich seiner eine jugendliche, eine wirklich knabenhafte Zärtlichkeit zu bemächtigen, und er genoss meist eine Verlassenheit, die näher an Glück als an Unglück lag. Er liebte dieses Gefühl, war insgeheim stolz darauf und frönte ihm, wann immer er konnte. Wenn es über ihn kam, pflegte eine puritanische Glut ihn zu ergreifen, eine hochgemute Entschlossenheit, die er oftmals als das Erbe irgendeines ehrwürdigen und gottesfürchtigen Neu-England-Ahnen ansah. Weder durch Widersprüche noch durch die Tatsachen der Geschehnisse des Lebens noch durch das, was er getan oder unterlassen hatte, wurde dieser asketische Drang gestört. Ganz im Gegenteil war er auf die edlen Möglichkeiten in ihm gerichtet, lebte und nährte sich in dieser verdünnten Atmosphäre, welchen Zeitraum auch immer er vorhielt.
In dieser Stimmung war er jetzt, als er zu der Kneipe fuhr. Er parkte den Wagen an der einen Straßenseite und stand noch eine Weile neben ihm in der wundervoll reinen, süß duftenden Winterluft. Jetzt, in diesem kurzen Augenblick, vermochte er ohne Bedauern an Clark zu denken; es gab keine Existenz, über die zu weinen sich verlohnte; alles und jedes war nur für einen Tag oder einen Augenblick. Er war froh und traurig zugleich, als er hineinging; er nickte dem Kellner zu und rief von der Zelle aus Rose Antonini an. Eine müde Stimme meldete sich, beschwert von einem italienischen Akzent, von Heimsuchungen, Drangsalen und unbereuten vergangenen Tagen, antwortete, hörte zu und sagte dann: „Richtig. Warten Sie mal eine Minute. Sie warten doch eine Minute, ja? Ich hole sie."
„Hier ist George", sagte er, als das Mädchen kam. „George?“ „George Lowell."
„Oh." Das war alles, was Rose sagte. „Ich muss dich sehen", sagte er. „Aber ich kann nicht kommen. Heute nicht." „Ich muss mich mit dir treffen. Jetzt."
„Ich kann nicht. Ich kann hier nicht sprechen. Ich kann mich jetzt nicht mit dir treffen."
„Du musst! Verstehst du denn nicht, du musst! Willst du, dass ich zu dir nach Hause komme? Ich muss dich sehen."
„Nein — komm nicht hierher." Sie schwieg von neuem, bis sie sagte: „Wo kann ich dich treffen?"
„Du weißt, wo Francois ist? Eine Tankstelle mit Restaurant, etwas außerhalb der Stadt... " „Ich weiß."
„Du kannst dort aus dem Bus aussteigen." „Ich weiß. Ich kann jetzt nicht sprechen." Dann hängte sie ein. Lowell ging wieder hinaus und stand bei seinem Wagen, rauchte und sah zu, wie die letzten Wolkenfetzen zusammengekämmt und vom Himmel gefegt wurden. Aber nach zehn oder fünfzehn Minuten begann es ihn zu frösteln, und er setzte sich, um zu warten, in den Wagen. Der Tankwärter kam herüber und fragte ihn, ob es etwas gäbe, was er für ihn tun könnte; Lowell gab ihm einen Dollar, verneinte und sagte, es wäre alles in Ordnung, er wartete auf jemand. Seine so köstliche, so echte, so süße Stimmung begann ihn zu verlassen; es waren jetzt beinahe vierzig Minuten, dass er angerufen hatte, und er begann sich wie ein dummer Junge vorzukommen - eine Reaktion, die er anerkannte und zur gleichen Zeit bekämpfte, indem er ihr die Überlegung entgegensetzte, wohin sie gehen könnten. Er dachte an das Blockhaus und verwarf den Gedanken wieder. Gestern war es richtig gewesen, als es geschehen war, aus der Brunst heraus, in der es geschehen war -doch nicht jetzt, nicht in der puritanischen Stimmung, die ihn beherrschte. Er beschloss, mit ihr irgendwohin zum Essen zu fahren und sich mit ihr zu unterhalten. Sie hatten in der Zeit, da sie zusammen gewesen, kaum zwanzig Worte gesprochen, aber wie er sich jetzt fühlte, war er sicher, dass er in ihr Inneres dringen, ihre Seele finden, zum Leben erwecken und entwickeln könnte, dass sie zu derselben Schönheit erblühte, die der Leib besaß.
Die Zigaretten gingen ihm aus, und er ging in die Kneipe, um sich neue zu kaufen. Drei oder vier Männer saßen da und tranken Bier, Männer in Joppen, Jagdmützen und Cordbreeches, wie sie in Massachusetts zur Winterzeit auf dem Lande getragen werden. „Noch nicht gekommen?" fragte der Kellner. Die Männer sahen Lowell neugierig an.
Nach einer Stunde stellte er den Motor an, und dann sah er den Bus halten, ein Stückchen hinter der Tankstelle, und sah Rose aussteigen. Sie trug Hosen, unter demselben Pelzmantel wie gestern. Sie hatte dicke Fausthandschuhe an, mit Kaninchenfell außen, und trug an Stelle eines Hutes ein Seidentuch um den Kopf gewunden. Auf der Straße würde er sie kaum erkannt haben, und als er sie in dieser Aufmachung sah, überkam ihn eine Woge von Widerwillen. Aber sein langes Warten zwang ihn durchzuhalten; in der Tat, die Notwendigkeit war jetzt wirklich dringender denn je. Er öffnete die Tür des Wagens, und Rose schlüpfte neben ihn herein. Als er sie zu küssen versuchte, geschah es verlegen und hölzern. Sie wich aus und schüttelte den Kopf.
„Lass", sagte sie. „Warum hast du mich den ganzen Weg hier herauskommen lassen?"
„Tut es dir leid, dass du gekommen bist?"
„Jetzt ist es egal, wo ich einmal hier bin."
„Ich musste dich sehen", sagte er. „Ich musste mit dir sprechen. Ich möchte mit dir irgendwohin zum Essen fahren."
„Ich bin nicht angezogen, um zum Essen auszugehen."
„Wir können in ein Lokal gehen, wo es nicht darauf ankommt."
„Warum kannst du mir nicht gleich hier sagen, was du mir zu
sagen hast?"
„Es war nicht irgend etwas Bestimmtes, das ich dir sagen
musste", erklärte er langsam. „Warum dann aber... " „Ich musste dich sprechen. Ich musste mich mit dir unterhalten.
Verstehst du das nicht?"
„Nein", sagte sie. „Nein." Ihre Stimme klang flau und unbewegt, sachlich und uninteressiert. Sie sah auf ihre Uhr.
„Darf ich dich küssen?" fragte er, wobei er sich völlig wie ein Narr vorkam und doch nicht vermochte, dem Zwang zu widerstehen.
„Ja - wenn du willst." Er küsste sie mit geschlossenen Lippen.
„Wenn du mich gelegentlich wieder dorthin mitnehmen wolltest, wo wir gestern abend gewesen sind, das wäre nett", sagte sie aus Gefälligkeit. „Es wäre nett, zuweilen ein Wochenende dort zu verbringen. Aber nicht jetzt. Heute bin ich nicht frei. . Ich muss wieder zurück."
Fast eine Minute saß er schweigend neben ihr. Dann nickte er und sagte: „Ich fahre dich zurück."
„Du brauchst es nicht, wenn du nicht willst", sagte sie. „Ich will dich aber nach Hause fahren." „Ich wohne in der Ahornstraße, aber du brauchst nicht ganz bis dahin zu fahren. Du kannst mich Ecke Kastanienstraße und Erste Avenue absetzen."
Vorher war es ihm noch nicht eingefallen, dass es ihr peinlich sein könnte, mit ihm gesehen zu werden. Er wendete den Wagen, schaltete und fragte:
„Hast du überhaupt etwas für mich übrig, Rose?" „Ich mag dich", sagte sie unbewegt. „Es wäre nett, wenn ich mit dir einmal wieder hinauf ins Land fahren könnte."

19


Frank Norman führte Fern zum Essen im Klub aus, oder eigentlich führte sie ihn aus, da es sein erster Besuch im Klub war und sie in ihrem Wagen fuhren. Norman hatte gehofft, dass sie ihn bitten würde zu fahren, aber Fern liebte es, selbst zu fahren, und es kam ihr gar nicht in den Sinn. Als sie losfuhren, erzählte sie ihm: „Es ist tatsächlich der einzige Klub hier, der in Frage kommt; der andere, der in Southdale drüben, hat wohl achtzehn Löcher -dieser hat nur neun, und schlecht sind sie auch — und bietet auch sonst viel mehr, verstehen Sie, aber er kam während der schlechten Konjunktur so sehr herunter, dass sie dort alle und jeden aufnahmen, sogar Juden. Aber hier ist das Essen herrlich, besonders ihre Schnitzel; sie grillen sie über Nussbaumholz, und sie bringen es immer fertig, auch welche zu haben."
Norman wünschte verzweifelt, das Richtige zu sagen; ein Mädchen wie Fern hatte er bis dahin nie kennen gelernt, und er war sich auch stark der Tatsache bewusst, dass er überhaupt noch nie jemand wie sie kennen gelernt hatte. Dass sie nicht den Vorstellungen entsprach, die er sich von ihr gemacht hatte, führte er darauf zurück, dass sie nicht bloß ein reiches Mädchen war, sondern ein reiches Mädchen, dessen Name Lowell hieß, was er dem Eindruck gleichsetzte, den er hier von Anfang an gehabt hatte - wenn man in Clarkton den Namen Lowell führte, dann tat man, was einem gefällig war, und was einem gefällig war, war es auch den andern. Frank hatte noch nie eine Verabredung mit einem reichen Mädchen gehabt - das heißt, mit einem Mädchen aus einer der Familien, die er so feurig bewunderte. Er war in Jackson Heights groß geworden, in einem hübschen roten Backsteinhaus, das mit einem andern roten Backsteinhaus zusammenstand, beide halb aus Holz und 1926 gebaut, um für siebzehntausend Dollar das Paar oder neuntausend Dollar das Stück verkauft zu werden. Frank hatte nicht einmal, er hatte tausendmal seinen Vater sagen hören, der größte Irrtum seines Lebens wäre gewesen, dass er nicht das Paar gekauft und dadurch die Möglichkeit gehabt hätte, die andere Hälfte zu vermieten und auf diese Weise mietfrei zu wohnen. Franks Vater war jetzt Bürodirektor bei Brady, Lance, Caldert & Simpson, einer Maklerfirma in New York City, Broadway 160, mit einem Gehalt von siebentausendvierhundert Dollar im Jahr, und bei dieser selben Firma hatte er vor dreiunddreißig Jahren mit nur vier Dollar die Woche angefangen. In dieser ganzen Zeit hatte er nicht einen Tag Feiern oder Arbeitslosigkeit gekannt, selbst nicht während der Krise von 1929, als Brady, Lance, Caldert & Simpson achtzehn Wochen lang ihre Geschäfte eingestellt hatten, denn sein Gehalt war in dieser Zeit weitergelaufen. Er hatte bei der Firma als Laufjunge angefangen und war nacheinander Bote, Registraturgehilfe, Kontorist, Buchhalter, stellvertretender Hauptbuchhalter, Kassierer, Personal- und schließlich Bürodirektor geworden. Dies war -ähnlich, wie die vielen „der und der zeugte den und den" die verschiedenen Abschnitte des Alten Testaments einleiten — buchstäblich ein Teil der Geschlechtergeschichte Frank Normans und ihm ebenso bedeutungsvoll wie seinem Vater geworden, der ihm oft genug schon zu Zeiten, da Frank noch viel zu jung war, es völlig zu begreifen, gesagt hatte: „Ich bin ein ,Fünftausend-Dollar-das-Jahr-Mann'. Ich weiß es, und meine Chefs wissen es auch. Es ist wichtig, Frank, seinen eignen Wert zu kennen, sich nicht zu unterschätzen, nicht zu überschätzen." Dies wurde natürlich als Glaubensbekenntnis aufgegeben, als Normans Gehalt auf sechs- und siebentausend stieg.
Aber obgleich doch Franks Vater innerhalb des Umkreises von Wallstreet arbeitete, begegnete Frank immer nur Mädchen, die in Jackson Heights wohnten und dieselbe höhere Schule wie er besuchten. Auf dem College wurde er dann mit einer Anzahl Jungen bekannt, die ein gut Teil reicher als er waren, aber er entdeckte, dass es nicht leicht war, sie sich zu Freunden zu machen und in ihre Gesellschaftssphäre hineinzugelangen, obgleich er ihnen mit berechneter unbedingter Hochachtung entgegentrat. Erst sein Heeresdienst öffnete ihm wirklich die Horizonte, und als er zurückkam, besorgte ihm Herr Bruce Caldert die Stellung bei Leopold und James, die aus der kurzen Zeit, da er für sie arbeitete, nur das beste über seine Ehrlichkeit, Anständigkeit und Strebsamkeit zu berichten hatten. Ausführlicher gesagt, er hatte den Ehrgeiz, reich zu werden; er erniedrigte diesen Ehrgeiz nicht und machte ihn nicht zu einer irdischen Angelegenheit; er bewunderte reiche Leute; er bewunderte den Fleiß und den Mut, die ihnen ihre Reichtümer verschafft hatten, und er bewunderte den eleganten und lobenswerten Vorgang, zu dem sie das Leben formten. Er war erst fünfundzwanzig Jahre alt, und er war dankbar, dass er in einem Land solch unbegrenzter Möglichkeiten lebte.
Frank Normans liebenswürdigster Zug war, dass er weder ein Zyniker noch ein Schuft war - und das zusammen ergab eine Tugend. Er war ein Mensch, den die Götter besonders begnadet hatten. Er war Amerikaner, weißer Amerikaner; er war protestantischer Episkopalist; er war gebildet, er hatte nie in seinem Leben im Rahmen des Vernünftigen etwas entbehrt; er war Pfadfinder gewesen und hatte den Rang eines Adlers erreicht; er hatte nie daran gezweifelt, dass Geld die Substanz aller Tugend wäre, er achtete amerikanische Frauen, räumte aber ein, dass irische, jüdische und italienische Mädchen gern mit Männern ins Bett gehen; er hasste die Sowjetunion in der selbstverständlichen Art, wie ein guter Christ den Teufel hasst; er warf Masturbation, Amoralität, Homosexualität und Marijuanarauchen zusammen in einen Topf und tat sie damit ab; er glaubte aufrichtig, dass arme Leute faul und Industriearbeiter der Ausschuss der Gesellschaft wären, und er war des Wissens sicher, dass nächst Henry Ford Thomas Edison das bedeutendste Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts darstellte.
Aus diesen und aus anderen Gründen wünschte er verzweifelt, sich bei Fern Lowell richtig zu benehmen. Sie sollte ihn als den sauberen männlichen Menschen erkennen, der er war; aber gleichzeitig fühlte er, dass ihm ihre Welt ebenso fremd war wie die ungeheuerliche, umstürzlerische Unterwelt, die Kommunisten, Feindagenten, Gewerkschaftsfunktionäre und andere Individuen ähnlicher Art bevölkerten. Der einzige Umstand, der sein Unbehagen lindern half, war das Wissen um ihren Sündenfall, um die Andeutungen unbestimmter, doch schwerer Vergehen, die ihren Ausschluss aus der Schule im Gefolge hatten. Obgleich er ihr diese Vergehen verzieh - einer Lowell hätte er alles verziehen —, halfen sie doch, sie ihm erreichbarer zu machen, da seine nicht allzu methodischen Überlegungen ihn zu dem Schluss führten, dass der Makel an ihrem guten Ruf sie — zwar nicht ihm, doch andern — weniger begehrenswert machte. Auf der andern Seite besaß er genug Verstand, um sich zu sagen, dass er sich mehr als gewöhnlich vor Annäherungsversuchen hüten müsste. Ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den beiden Extremen würde ungefähr richtig sein, dachte er.
Er erzählte, dass er für Schnitzel eine Vorliebe hätte, dass er froh wäre, weil auch sie Schnitzel möchte, und dass das einzige, was sie in Übersee wahrhaft vermisst hätten, ein gutes Schnitzel gewesen wäre, da die Wogs (Anm.: Westernized oriental gentlemen — Verwestlichte orientalische Herren; verächtlicher Ausdruck für asiatische und afrikanische Menschen) von Schnitzeln nicht einmal etwas wüssten und den meisten von ihnen sogar Fleisch zu essen verboten wäre, genau wie den Vegetariern. Dann sprach er von Ferns Mutter, die er an diesem Abend kennen gelernt hatte. (Ihn machte es immer glücklich, wenn jemand seine Mutter bewunderte.) „Sie ist eine wundervolle Frau", sagte er. „Sie hat einen natürlichen Adel."
„Sonderbar, dass Sie das sagen", lächelte Fern. „Die meisten Leute meinen, dass Mutter sehr schön sei. Sie ist es auch."
„Ich weiß es. Aber Sie würden überrascht sein, Fern - darf ich Sie Fern nennen? — wie sehr man bei meiner Arbeit danach schauen muss, was unter der Oberfläche steckt und was der wirkliche Charakter der Menschen ist."
„Natürlich können Sie Fern zu mir sagen. Glaubten Sie, dass ich von Ihnen verlangen würde, mich Fräulein Lowell zu nennen
- den ganzen Abend lang Fräulein Lowell dies und Fräulein Lowell das? Aber was meinten Sie vorhin, als Sie ,Wogs' sagten?"
„Nun, im Osten — wissen Sie, ich war da beim OSS (Anm.: Office of Strategie Services — Büro für Dienste der Kriegführung; politisch-militärischer Geheimdienst) in seinem großen Lager auf Ceylon - also im Osten, wissen Sie, sind die Menschen meistens Nigger, genau wie bei uns hier im Süden, und die Landser nannten sie eben Wogs, einfach ein Name. Ich weiß nicht, wie er aufgekommen ist."
„Waren Sie in Ceylon?"
„Und in Burma."
„Ich glaube, Sie haben soviel erlebt - Sie wollen nicht darüber sprechen, nicht wahr?"
„Es ist seltsam", sagte Norman, „aber die meisten Leute wollen es gar nicht hören. Mir macht es nichts aus, darüber zu sprechen -ich glaube, ich tue es gern. Das sind sehr interessante Länder, dort draußen, nur nicht sehr zivilisiert, und nichts von amerikanischer Tüchtigkeit. Alles ist anders, und das Leben bedeutet dort draußen nicht viel - ich meine die Eingeborenen. Wissen Sie, dass es allein in einem Land wie Indien vierhundertundfünfzig Millionen Menschen gibt? Ich glaube, es ist ziemlich günstig, dass sie nicht sehr tüchtig sind, denn wie lange denken Sie wohl, würden wir bestehen, wenn alle diese Menschen, denen weder am Leben noch am Tode etwas liegt, die Atombombe und andere Dinge hätten?"
„Unterhalten wir uns lieber über den Mond", sagte Fern.
„Es scheint, als ob man, worüber man auch immer spricht, stets wieder auf die Atombombe kommt. Ich habe drüben im Werk schwer gearbeitet. Dies hier ist ein herrlicher Genuss, wie Urlaub bei den Soldaten. Auch der Mond ist wundervoll."
„Sie sind ein seltsamer Junge," sagte Fern. „Sie sind so ernsthaft. Ich habe versucht, mir auszumalen, was Sie drüben im Werk eigentlich tun. Ist es wirklich irgendeine Geheimagentengeschichte? Sieht deshalb Herr Gelb wie Ronald Colman oder Bulldog Drummond oder ähnlich aus? Er würde so herrlich nach Hollywood passen."
„Herr Gelb ist ein sehr tüchtiger Mann - er ist mein Chef. Ich glaube, er ist einer der tüchtigsten und schlauesten Männer, die ich je kennen gelernt habe. Wir sind keine Geheimagenten oder irgendwas dergleichen", sagte Norman, mit tröstlichem Zweifel im Klang seiner Worte. „Meine wirkliche Arbeit ist Erhaltung -mit andern Worten, die ordentliche Instandhaltung und der Schutz eines Werks während eines Streiks. Sie ist ein Zweig der Betriebstechnik, könnte man sagen. Ich habe mein Examen als Betriebsingenieur gemacht, und dazu noch meine Erfahrungen beim OSS, da ist diese Arbeit gerade das, was ich mir wünsche. Ich habe sie gern."
„Es muss aufregend sein", lächelte Fern; sie konnte sich des Lächelns nicht erwehren, er war so geradezu und bieder. Sie hielt ihn für den nettesten Jungen, den sie seit langem kennen gelernt hatte, und es gefiel ihr, dass er dabei auch noch so gut aussah.
Sie kamen zum Klub, parkten und gingen in das große, weitschweifige Gebäude im Kolonialstil. Norman war mit seinen Freunden schon zwei- oder dreimal in Landklubs gewesen, aber das waren glänzende Sachen aus Graustein und Stuck in Westchester gewesen. Dieser hier war vergleichsweise beinahe ärmlich, aber er verstand, dass er im Grunde richtiger wäre, auf die gleiche Art, wie auch das alte Neu-England-Haus, in dem die Lowells wohnten, unzweifelhaft richtig war. Der Klub war innen sehr wohnlich eingerichtet, mit glühenden Feuern in fast jedem Raum. Die Bar, in die Fern ihn führte, war als große antike Küche aufgemacht, mit einem Sechs-Fuß-Herd und mit langen Tischen aus Kiefernholz. Er bestellte einen Scotch-Soda, und Fern nahm einen Martini. Er stellte fest, dass sie die meisten der Leute hier kannte, aber nur oberflächlich „hallo" sagte und sich nicht die Mühe machte, ihn vorzustellen.
„Samstagabends ist hier gewöhnlich Tanz", erzählte sie ihm.
„Auch heute abend. Wir können entweder tanzen, oder wir gehen nach draußen auf die Rodelbahn. Sie wird beleuchtet, und es ist lustig abends. Eine richtige Rodelbahn ist es eigentlich nicht, sondern nur eine lange Gleitbahn mit einer Kurve und einem Spill, das einen wieder hinaufzieht. Aber es ist sehr spannend, wirklich."
„Das wäre herrlich", sagte er. „Alles, was Sie tun wollen, wäre herrlich."


20

Joe Santana schloss seinen Laden gewöhnlich um sechs. Um viertel sieben stand das Essen auf dem Tisch, und um halb oder dreiviertel acht war das Geschirr aufgewaschen, abgetrocknet und weggestellt, lagen die Kinder im Bett und war die schönste Stunde des Abends gekommen. Dann konnte er seine Hausschuhe anziehen, seine erste Zigarre anzünden - er rauchte nie während des Tages, wenn er arbeitete — und das Radio andrehen, es auf Nachrichten, einen Vortrag oder ein Frage-und-Antwort-Spiel einstellen und gleichzeitig eine Zeitung, ein Buch oder ein Magazin im Schoß halten, für den Fall, dass sich das Radio als Enttäuschung erweisen sollte. Frage-und-Antwort-Spiele liebte er am meisten. Wie er einmal seiner Frau sagte: „Der Durst nach Wissen ist sehr fundamental. Jeder möchte etwas wissen. Was unterscheidet uns von den Tieren? Was erzeugt einen Menschen wie Dante oder ein Volk wie das italienische Volk? Ohne Zweifel, der Durst nach Wissen." Die Vorträge ärgerten ihn häufiger als nicht, aber er hörte immer wieder zu und schöpfte eine gewisse sanfte Befriedigung aus der Tortur, die er durchmachen musste.
Er und seine Frau waren beide zufriedene Menschen, dankbar für die Sicherheit, die ihnen der Laden und die Wohnung dahinter gewährten. Wenn es Joe Santana jemals eingefallen wäre, darüber nachzudenken, hätte er festgestellt, dass er ein glücklicher Mensch wäre, ein selten glücklicher Mensch, mit zwei solch prächtigen gesunden Kindern, einem anständigen Auskommen und einer Frau, die Manacotti kochte wie niemand sonst auf Erden. Er war dazu gekommen aus einer Kindheit voller Armut, Hunger und Prügel heraus; zu seiner Frau sagte er einmal: „Soweit ich mich erinnere, war mein Papp nie freundlich zu seinen Kindern. Er liebte uns, aber er war nicht freundlich zu uns. Ich verstehe das nicht."
Heute abend aber hatte er Sorgen. Bisweilen wunderte er sich, warum er, wie fast alle Kommunisten, die er kannte, den Frieden seines Heims so sehr und Streit so wenig schätzte. Aus seinem beschränkten italienischen Sprachschatz konnte er ein heimatliches Sprichwort vollständig zitieren: „Für Streit gibt es keinen guten Namen." Als er seiner Frau erzählte, dass an diesem Abend noch bei ihnen eine Versammlung sein würde, schüttelte sie den Kopf: „Ich habe Angst." „Das ist logisch", antwortete er. „Manchmal beneide ich die Leute, die keine Angst haben. Andererseits verachte ich sie auch manchmal."
„Man lebt so ruhig in einer kleinen Stadt wie hier", sagte Hannah, „dass man glatt verrückt wird, wenn so etwas passiert wie heute mit Danny."
„Es kommt vor."
„Aber ich kenne doch Sally Curzon. Ich war heute morgen im A-and -P (Anm.: Atlantic-and-Pacific — großer Konzern von Lebensmittelkaufhäusern), und da traf ich sie mit ihrem kleinen Mädchen. Sie sagte, dass sie mit allen Kindern zum Haarschneiden kommen müsste."
„Diese Art von Beweisführung macht mich fertig", lächelte Santana. „Im dritten Reich haben sich die Leute auch nicht die Haare bis auf die Schultern wachsen lassen."
„Aber wie sie es sagte. Danny ist kein Fremder hier. Wir sind keine Stadt, wo die Menschen Angst haben. Wir sind keine Stadt, wo es Ku-Klux-Klanbanden gibt wie in Boston oder Worcester. Was geht eigentlich vor, Joe?"
Er zuckte die Achseln und entschloss sich, am Ende doch eine Zigarre zu rauchen. Es war erst acht Uhr und noch eine volle halbe Stunde Zeit, bis die Versammlung beginnen sollte. „Ich grüble manchmal darüber nach, was sich ereignen wird", sagte er nachdenklich. „Ich habe es im Gefühl. Mein Papp pflegte mir zu erzählen, wie drüben in der Heimat die Wasserhexen mit einem Olivenzweig in der Hand herumgegangen sind. Wenn sie an eine Stelle kamen, unter der Wasser war, dann konnte keiner sehen, wie sich der Zweig bewegte, aber sie fühlten es. Das setzt natürlich voraus, man glaubt an so einen altmodischen Aberglauben, was ich natürlich nicht tue. Aber irgend etwas geht vor, und ich fühle es. Vielleicht ist es gerade erst der Anfang, mit kleinen Stückchen, die hier und da abbröckeln. Irgend etwas Gewaltiges stirbt, etwas anderes wird geboren, und die Ausläufer der Erschütterung kommen bis hierher, was nur natürlich ist. Ebenso natürlich ist, dass wir nervös werden. Eine Welt in Bewegung erzeugt Nervosität."


21

Danny Ryan und Joey Raye warteten in dem unaufgeräumten Geschäftszimmer der Gewerkschaft, als Bill Noska hereinkam, schlapp in der Haltung seiner großen Gestalt und mit trauriger und übelgelaunter Miene. Er sah die beiden verwundert an und setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch. „Wo zum Teufel warst du denn?" fragte Danny Ryan. Noska starrte ihn an: „Haben sie euch schlimm zugerichtet?" „Es war 'n Vergnügen", sagte Ryan, und Joey Raye grinste flüchtig. „Ich hab' es gern, verprügelt zu werden. Ich hab' es gern, wenn ich was abbekomme. Ich bin richtig scharf drauf." Er gab Noska eine kurze Schilderung, und der große blonde Mann schüttelte den Kopf und sagte: „Die dreckigen Bankerte."
„Ich wünsche, ich glaubte, dass du es so ansiehst", sagte Ryan. „Warum?"
„Man erzählt, du hättest 'ne Zusammenkunft mit Wilson gehabt", sagte Raye niedergeschlagen.
„Das ist kein Verbrechen."
„Ein Verbrechen ist es nicht, aber es klingt nicht besonders
gut.“
Noska sagte: „Warum zum Teufel wartest du denn nicht, Danny, bis ich mich wirklich verkaufe, bevor du mir Vorwürfe machst?"
„Dann ist es zu spät."
„Was ich bei einem Roten am meisten hasse", sagte Noska, „ist diese gottverfluchte erhabene, überlegene Miene, die besagt, dass jeder gekauft werden könnte, außer einem von euch Burschen. "
„Haben sie versucht, dich zu kaufen?" fragte Joey Raye sanft. „Ein Kerl namens Gelb", sagte Noska trübe. „Ein süßer Knabe. Er besorgte das Reden und überließ Curzon das Prügeln."
„Ja. Ich erinnerte mich an ihn von Pittsburgh her. Fünfunddreißig arbeitete ich dort in einem Walzwerk."
„Aber tüchtig", sagte Ryan. „Vielleicht hörst du jetzt auf mich und stellst dort zweitausend Leute vors Tor."
„Sie haben das Recht auf ihrer Seite", sagte Noska müde. „Was können sie denn tun - zweitausend Leute verhaften? Was zum Teufel ist denn los mit dir, Bill?"
„Es passt mir bloß nicht, von euch Burschen herumgeschubst zu werden!" sagte Noska wütend. „Es passt mir nicht, von Gelb und Wilson herumgeschubst zu werden, und es passt mir nicht, von euch Burschen herumgeschubst zu werden! Ich will, dass die Mitgliederschaft diesen Streik führt - nicht eine kleine Clique von
Roten!"
„Du willst, dass wir uns zurückziehen?" fragte Joey Raye
ruhig.
„Ich will, dass ihr eure Versuche einstellt, ihn in die Hand zu
nehmen."
„Wer sagt das? Wilson?" fragte Ryan. „Ich sage es."
„Warum?" fragte Ryan, stand auf, ging hinüber zum Schreibtisch und stand da, beide Hände auf die Platte gestützt. „Warum sagst du das? Du kennst mich seit langer Zeit. Du kennst Joey seit langer Zeit. Was in Jesus Namen wollen wir in die Hand nehmen, und warum? Klar bin ich Kommunist. Ich hab' es nie geleugnet. Du weißt es - Wilson weiß es auch. Ich bin Kommunist, weil ich sehe, wie jedes gottverdammte Stück unserer feinen Zivilisation von den Arbeitern stammt, aus ihrem Schweiß und ihrer Arbeit kommt. Ich bin Arbeiter. Ich bin immer Arbeiter gewesen. Ich bin Arbeiter, seitdem ich zehn Jahre alt bin. Ich bin Kommunist, weil ich niemand sonst kenne, der gewillt ist, sich das Gesicht einschlagen oder die Kehle durchschneiden oder eine Kugel in den Kopf jagen zu lassen, weil er für die Arbeiter ist. Ich kenne keinen sonst, der sie nicht verkauft."
„Du meinst, dass ich sie verkaufe?" sagte Noska kalt.
„Den Teufel tu ich! Ich bemüh' mich, dich dahin zu kriegen, dass du nachdenkst, deinen Kopf gebrauchst und Schluss damit machst, dass der ganze Mist, den du hörst, uns weit auseinander bringt."
„Mir scheint, dass ihr uns vielleicht weiter auseinander bringt", sagte Noska.
„Tun wir das? Wer hat die Kaufleute in der Stadt dazu gebracht, den Streik zu unterstützen? Wer hat die Suppenküchen in Gang gesetzt? Wer hat Tag und Nacht gearbeitet, um Lebensmittel heranzuschaffen, die Salamander zu füttern, für Unterhaltung zu sorgen und die Streikpostenkette in Fluss zu halten? Antworte mal darauf."
„Das ist der springende Punkt - weil ihr für euch was davon erwartet", sagte Noska matt.
„Schön, schön, Bill. Sieh mal — du bist nicht danach gebaut zu glauben, dass irgendwer irgendwas umsonst tut. Ich mache dir daraus keinen Vorwurf; schau, du lebst in einem Land, das nur einen Wert kennt, einen Standard, einen Maßstab - den Dollarschein. Den rührigen Dollarschein, den gerissenen Dollarschein,
den leichten Dollarschein. Leg ihn auf den Tisch, grün gedruckt, mit einem Bild von Washington drauf. Das haut hin, das tut seine Wirkung. Mit anderen Worten, Moskau bezahlt uns, und wir sind bloß deshalb dabei, weil wir was dafür kriegen. Aber lass mich etwas anderes sagen - du und ich, wir sind beide Katholiken. Ich habe mit der Kirche gebrochen, du hast es nicht getan. Doch wir können die gleiche Sprache sprechen. Ich kann von der Bruderschaft der Menschen sprechen, und es klingt nicht so, als ob ich chinesisch mit dir rede. Ich spreche nicht gern davon, denn wenn je eine Lehre in ihrem Sinn verkorkst worden ist, dann ist es dieses Zeug von der Bruderschaft der Menschen. Und doch gibt es nur eine Stelle, wo ich der Bruderschaft der Menschen begegnet bin, und das ist in der Kommunistischen Partei! Natürlich haben wir unsere Filzläuse. Bei uns sind Menschen jeder Art. Wir sind eine Bewegung, die aus dem Volk kommt, und im Volk gibt es keine Heiligen. Wir haben, grade in diesem Augenblick, hier in der Stadt eine Filzlaus, die uns verkauft, jawohl, und die Gewerkschaft dazu. Aber was bei uns ist, und sogar das Kroppzeug, ist immer noch verdammt das beste, was diese Gesellschaft je hervorgebracht hat."
„Ich will es nicht geschenkt, Danny", sagte Noska. „Ich hab' es dir auch gar nicht angeboten. Ich bitt' dich nur, halt die Augen offen - halt sie offen."


22

Lowell und seine Frau nahmen ihr Mittagessen gemeinsam zu Hause ein. Es war eine jener Mahlzeiten, wo sie einander am Tisch gegenübersaßen, an ihrem Essen nippten und dann und wann das eine oder andere Wort wechselten. Die Worte waren formell und höflich. Wenn Lois vom Wetter sagte: „Schnee in Neu-England ist grässlich. Ich begreife nicht, warum die Leute so romantisch darüber werden", dann stimmte Lowell zu. Als
sie mehr zur Sache kam und sagte, dass sie in den Süden fahren wollte, nickte er: „Ich glaube, das würde das beste sein." „Ich dachte an Arizona", sagte sie und beließ es dabei, als wollte sie andeuten, wie viele Erinnerungen Arizona für sie bärge, und Lowell nickte wiederum nur. Es war ihm gleichgültig. Zu dem Vorfall mit der kleinen Italienerin in der Stadt stand es jetzt in keiner Beziehung. Er schämte sich dessen nicht einmal. Durch eine Art Alchimie seines körperlichen Systems war es in die graue Truhe der Dinge gewandert, die geschehen waren, aber weder Form noch Farbe hatten: die Frau, die er in dem Hotel in New York zurückgelassen} das Mädchen vorher in Boston; das Mädchen davor, dem er vor einigen Monaten, als er sich mit Lois in Kanada treffen wollte, im Zuge begegnet war; und davor und davor - die endlose, nutzlose, schmutzige Suche, die seine Sinne quälte und seine Träume äffte; die Hotelzimmerdecken, die farblosen Wände, die Betten mit Sprungfedermatratzen, deren Federn durchkamen, die Schilder Bitte nicht stören, die Gideon-Bibeln, die billigen Netzvorhänge; der hochnäsige, halbverächtliche Ausdruck auf den Gesichtern zahlloser Kellner und Fahrstuhlführer; die ganze Jagd nach dem Glück ohne Glück - es glich sich zu Nichts aus, wie eine platte Ebene, von keinem Höcker oder Hügelchen Erde unterbrochen. Er saß da am Esstisch, beobachtete Lois und dachte daran, wie Wilson ihn beneidete und bewunderte und wie Curzon vor ihm kroch.
„Was gedenkst du zu tun, George?" fragte Lois plötzlich. „Tun? Wie meinst du das?" „Ich meine uns."
„Ich habe gar nicht daran gedacht, etwas zu tun", sagte er langsam und dachte dabei, dass ihre Ehe jetzt so viel enthielt, wie sie stets enthalten hatte, wie jede Ehe, die er kennen gelernt hatte. Er war müde und er wollte nicht darüber sprechen, sondern sich irgendwo hinsetzen, ausruhen und vergessen. Aber sie redete weiter, und sein Missmut verwandelte sich in tiefe Erbitterung. „Ist es denn falsch - ist es so falsch, George, dass ich behalten möchte, was weniges mir geblieben ist, und es verteidige und dafür kämpfe... "
Sie war nicht wachsam, sie war nicht klug, stellte er fest; sie war ein dummes Weib, das nie genügend zu zweifeln verstand. In einer plötzlichen Aufwallung von Hass und Verachtung ihr gegenüber sagte er sich, dass nichts ihn hindern würde, jetzt wegzugehen. Er wollte sie verletzen, fand aber nichts zu sagen, was treffend und dem Augenblick angemessen war, und statt dessen stand er jäh vom Tisch auf und ging in die Bibliothek. Er mischte sich einen Trunk, einen großen Scotch, der sehr wenig Wasser enthielt, stürzte ihn beinah auf einen Schluck hinunter, schauerte und hatte einen Anfall von Übelkeit. Er mischte einen zweiten Trunk - mehr Scotch und mehr Wasser. In dem Wunsch, etwas zu lesen, suchte er sich die „Schicksalsbucht" von Donn Byrne heraus, an die er sich von der Zeit her, als er sie zuerst gelesen hatte — es war vor zehn oder fünfzehn Jahren gewesen —, nur schwach erinnerte, die ihm aber wenigstens die Erinnerung an ein sonnüberströmtes irisches Feenland bot, an einen Ort, wo artige Männer und liebliche Frauen sich mit langsamer und gemessener Würde bewegten. Mit seinem zweiten Trunk wurde er zu rasch fertig, so rasch, dass ihm schlecht wurde und er sich einen dritten einschenkte. Er war nun ein bisschen betrunken, doch nicht so betrunken, dass er sich nicht bewusst war, wie oft er sich in der letzten Zeit so zurückgezogen hatte — zu sehr raschem Trinken, einem Sessel und einem Buch, das er nur halb sah. Er begann „Die Erzählung vom Zigeunerpferd" zu lesen, die er einmal, vor solch langer Zeit, Clark vorgelesen hatte; sie rief ihm die Erinnerung an ein Verhältnis zurück, das durch den trüben Schleier der Zeit hindurch so warm und gut und edel wurde und ihn beinahe bis zum Weinen rührte. Er hatte erst drei oder vier Seiten gelesen, als das Telefon klingelte. Er ging selbst an den Apparat und hörte Wilson sagen: „Es tut mir leid, Sie jetzt zu stören, George, aber Harn Gelb möchte wissen, ob wir nachher mit Butler zu Ihnen hinüberkommen können?"
„Butler?"
„Sie erinnern sich, Fred Butler - der Mann, mit dem wir auf dem Polizeiamt sprachen."
Da erinnerte er sich, aber er sagte ungehalten: „Warum hier? Warum zum Teufel können nicht Sie und Gelb... "
„Es tut mir leid, George. Der Junge ist nervös, will in kein Haus in der Stadt hineingehen."
„Gut, bringen Sie ihn heraus", sagte Lowell.
Dann ging Lowell zu seinem Buch zurück, aber es war langweilig und fade. In diesem Augenblick wünschte er mehr als alles andere, Elliott Abbott anzurufen, aber auch das brachte er nicht fertig.


23

Es war ziemlich spät, als Wilson mit Butler kam und Gelb ein paar Minuten nach ihnen eintraf. Lois war nach oben in ihr Zimmer gegangen, und Lowell war hinreichend betrunken, dass er sich aus dem Besuch nichts machte, hinreichend betrunken, dass seine rauen Kanten poliert waren, und er führte sie mit fast höfischer, europäischer Zuvorkommendheit in die Bibliothek. Er mixte würdevoll Schnäpse für sie und verriet seinen Konsum an Alkohol nur durch die beherrschte Langsamkeit seiner Hantierungen. Er war betrunken, aber nicht zu betrunken, um umherzugehen, zu sprechen, sich hinzusetzen und Gelb sagen zu hören: „Wir bitten Sie sehr um Entschuldigung, Herr Lowell. Es ist nicht bloß, dass Butler hier mit seinen Nerven fertig ist — ich möchte auch nicht, dass sich irgendein Stadium dieser Angelegenheit ohne Sie entwickelt. Ich halte es für einen Fluch unseres Systems, dass sich Leute wie Sie — und ich sage das mit dem tiefsten Respekt — einer aktiven Teilnahme entziehen."
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen", sagte Lowell und fuhr dann ernst fort: „Ich würde wahrhaftig ein schlapper Kerl sein, wenn sich dieser alte Boden Neu-Englands nicht auf mich verlassen könnte."
„Ich möchte noch heute nacht raus aus der Stadt", sagte Butler
plötzlich.
„Wir werden Ihre Zeit nicht allzu sehr in Anspruch nehmen", sagte Gelb, ohne Butler zu beachten.
„Der Mann hat Angst", lächelte Lowell. „Thoreau sagt von der Angst, dass sie aus der Seele stamme, nicht von draußen. Wer kann mir Böses tun, wenn meine Sache eine gerechte Sache ist?"
Gelb und Wilson wechselten Blicke. Lowell sprach mit derselben ernsten Höflichkeit weiter: „Sicher ist Herr Gelb in der Lage, dafür zu sorgen, dass Ihnen nichts Böses geschieht. Und wenn Sie die Stadt zu verlassen wünschen, bin ich sicher, dass Sie uns nicht so undankbar finden werden, Sie hier festzuhalten."
Ein schwacher Hauch eines Lächelns glitt so rasch über Gelbs Lippen, dass Lowell kaum gewiss sein konnte, dass es dagewesen war. Butler starrte ihn an. „Ich will, dass Sie Herrn Lowell wiederholen, was Sie mir über die Versammlung erzählt haben", sagte Gelb zu Butler und erklärte Lowell: „Eine Versammlung, die um halb acht heute abend stattfand, alle Gewerkschaftsfunktionäre, das Streikkomitee, Betriebsobleute, Küchen- und Streikpostenchefs - alles zusammen an die hundertzwanzig Leute. Dieser verdammte Narr von einem Richter ließ Ryan gegen Kaution heraus, und der stand nun auf und erzählte die ganze Geschichte. Erzählen Sie es auf Ihre Art, Butler."
„Er sprach etwa eine halbe Stunde", sagte Butler. „Ryan ist ein guter Redner. Sie müssen ihm eine scheußliche Abreibung gegeben haben, nach dem, wie es sich anhörte. Dann sprach der Nigger. Er sagte, Curzon hätte versucht, ihn umzubringen, und das hörte sich noch schlimmer an. Ich halte es für einen Fehler, dass er mit dem Nigger so umgesprungen ist", lächelte Butler; es war sein erstes Lächeln an diesem Abend, flüchtig und für Gelb bestimmt, als ob er sagen wollte: „Du verdammter Hund! Du hast es angedreht!" und Gelb sagte:
„Wir fragen nicht, was Sie denken."
„Es ist bloß, weil wir in der Gewerkschaft einen Haufen Ärger mit den Niggern gehabt haben", fuhr Butler fort. „Die Kanadier haben nichts für die Schwarzen übrig, und die Iren auch nicht. Aber dieser Joey Raye hat sie alle auf seine Seite gebracht, und deshalb, denke ich, war es ein Fehler."
„Uns interessieren Ihre Gedanken nicht, Herr Butler, mögen sie noch so klar und erhaben sein", sagte Lowell höflich, sah aber nicht Butler an, sondern betrachtete den Boden seines Glases, wo das Stückchen Eis sich auflöste, missgestaltete Hände ausstreckte, die flüssig und rastlos an der Bewegung des Getränks teilnahmen. „Auch eine Meinung interessiert uns nicht, selbst wenn sie durch eine so vielfältige Erfahrung wie die Ihre erhärtet ist. Uns interessiert die Tatsache, die Aristoteles die heilige Erhabenheit nennt, die in allen Orakeln wohnet."
Einen langen Augenblick war Stille, bis Gelb sagte: „Fahren Sie fort, Butler."
„Ryan verlangte Massenstreikposten. Er sagte, sein Vorschlag wäre, vielleicht zweitausend, vielleicht auch mehr Leute morgen früh, sobald es Tag wird, auf die Beine zu bringen und den ganzen Haufen gegen das Tor an der Birkenstraße zu wälzen. Er meinte, dass sie sich bei den Suppenküchen und am Gewerkschaftshaus sammeln und dann geradeswegs den Concordweg hinauf zum Werk marschieren sollten. Einer aus dem Saal rief: ,Und was mit Jack Curzon, wenn er versucht, uns zu stoppen?' und Ryan sagte, dass Jack Curzon und all die andern Zuhälter, die die Stadt verseuchten, wohl über eine Gummiente herfallen könnten, dass aber zweitausend Menschen, die man zum Marschieren brächte, von nichts außer dem Teufel persönlich aufgehalten würden." Butler sagte das mit Genugtuung. Sein mageres, abgerackertes Gesicht ging in den Worten auf, und er richtete sie an Gelb, der ruhig bemerkte:
„Das sagte er, was?"
„Genau so."
„Und was sagte Noska?" fragte Gelb.
„Nicht viel. Er wollte wissen, wie es den nächsten Tag und den übernächsten Tag weitergehen sollte, und wie lange sie glaubten, eine Streikpostenkette von der Größe auf die Beine bringen zu können. Ryan sagte, er hätte erlebt, wie es zweiundneunzig Tage lang geschehen wäre, aber er glaubte nicht, dass dieser Streik so lange dauern würde. Daraufhin bekam er Oberwasser, und dann stand Larry Cooney im Saal auf und fragte Noska, warum er nicht einfach zurückträte und der Kommunistischen Partei die Führung überließe."
„Was sagte Noska dazu?" fragte Gelb sehr ruhig. „Er sagte, wenn die Zeit käme, wo er glaubte, die Gewerkschaft nicht mehr führen zu können, würde er ihnen Bescheid sagen — und wenn Cooney Näheres wissen wollte, würde sich Noska nachher mit ihm unterhalten."
„Erhielt Cooney keine Zustimmung?" fragte Wilson. „Wenig - nicht viel, ganz wenig. Sie sehen, was für ein raffiniertes Spiel dieser Ryan und dieser Joey Raye treiben. Sie tun keinen Schritt, ohne dass sie nicht jeden einzelnen in dieser verdammten Gewerkschaft hinter sich haben. Sie warten, bis eine Sache durchgedrungen ist, und dann tun sie, als käme es von den andern. Das ist ein raffiniertes Spiel." Nach einem Augenblick fügte er hinzu: „Aber Noska ist nicht glücklich dabei. Sie haben ihn beim Schwanz, und er ist nicht glücklich dabei."
„Wenige Menschen sind glücklich", sagte Lowell überraschend. „Sehr wenige Menschen, Butler." Als er die Gesichter sah, erkannte er die Reaktion - sie hielten ihn für betrunken. In langsamen, schleppenden Gedanken musterte und wog er sie, dieses schändliche Trio, ein Renegat, ein Rohling und ein Dummkopf, und seine Überlegenheit erhob sich auf fast federleichten Flügeln. So, dachte er schwärmerisch, müsste sich gegenüber den barbarischen und den plebejischen Lümmeln, die seinen Willen taten, der Patrizier des alten Roms gefühlt haben, der wusste, dass sein Wille geschehen musste, und der gleichwohl seine Werkzeuge verachtete. Wie deutlich sah er sie! Und mit welcher Allwissenheit begriff er sie! Sie hielten ihn für betrunken - und vielleicht hatte er auch einen kleinen Schwips, jene feurige Lockerheit, die dem Denken erlaubt, wie Wasser zu fließen anstatt wie träges Öl. Er sah, dass Wilson sich anschickte aufzustehen, und er schüttelte den Kopf, winkte mit der Hand und sagte:
„Nein - ich möchte auch das übrige hören, Tom. Erlauben Sie Herrn Butler fortzufahren." Und zu Butler: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbrochen habe."
Gelb, der beinahe mit den Zähnen knirschte, sagte: „Dann werden sie also morgen loslegen? Stimmt das, Butler?" „Jawohl."
„Und wie steht die Partei dazu?"
„Hernach hatten wir eine Versammlung bei Joe Santana." „Beide Gruppen?"
„Beide. Deswegen will ich eben von hier weg. Sie wissen, dass ein Spitzel unter ihnen ist. Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis einer mit Fingern auf mich zeigt?" „Feige geworden?" fragte Gelb sanft. „Ich muss für meine Haut sorgen - sonst tut es keiner." „Was beschloss die Partei?"
„Sie machen mit bei der großen Kette — fast alle, ein paar ausgenommen, wie der Alte, der Professor. Sie wollen auch versuchen, ebenso viele Außenstehende in der Stadt zum Mitgehen zu bewegen, aber meine Meinung ist, sie werden nicht viele kriegen. Das ist alles. Sie sprachen noch ein wenig über einige Mengen Lebensmittel, die ihnen die Partei von Hudson in New York drüben und von Rutledge in Vermont oben versprochen hatte; aber meist wurde über die große Kette morgen geredet." Butler saß steif und unbehaglich da in Lowells komfortabler Bibliothek und drehte seine Kappe unentwegt in den Händen — ein kleiner, gewöhnlich aussehender Mann, der dem Anschein nach weder schlecht noch gefährlich war, die Art Mensch, die man vorbeigehen sieht und dann einen Augenblick später vergisst, ein müder Mann. Lowell gewährte ihm ein benebeltes Mitgefühl; dies war, so schien es Lowell, der Mensch überhaupt, der Mensch in seinem Elend, seiner Kleinheit und Verächtlichkeit.
„Dafür müsste ich eine Extraprämie haben", beklagte sich Butler. „Ryan haben Sie Geld angeboten - Noska haben Sie zweitausend angeboten, und ich arbeite für einen Apfel und Ei.
„Hat Noska das gesagt?" fuhr Gelb ihn an.
„Klar hat er das gesagt."
„Dieser Hurensohn", flüsterte Gelb.
„Ich arbeite für einen Apfel und Ei", beharrte Butler. „Ich muss heute nacht noch von hier weg. Ich habe Familie. Wie erwarten Sie von mir, dass ich reise?"
„Was wollen Sie?" fragte Wilson.
„Fünfhundert."
„Geben Sie sie ihm", sagte Lowell müde. „Geben Sie sie ihm und lassen Sie ihn gehen. Geben Sie sie ihm und schaffen Sie ihn hinaus. Schaffen Sie den Gestank von ihm hinaus."


24

Es schien Fern, dass dieser Abend in gewisser Weise einen Abschnitt ihrer Entwicklung bedeutete. Sie war nicht verliebt in Frank Norman, aber der Inhalt ihrer Gedanken war der einfache Satz: „Was für ein reizender Junge!" Er hatte sie nicht angefasst, außer einmal, als sie sich vom Schlittenaufzug hinaufziehen ließen, und da war sie an ihn geschmiegt gewesen, und er hatte es in einer solch täppisch deutlichen Art getan, dass es schon nett und ehrlich wurde. Da hatte sie ihn geküsst, und sie küsste ihn noch einmal, als sie im Wagen nach Hause fuhren. Sie hatten diniert, getanzt und waren dann nach draußen gegangen, um den Abhang auszuprobieren. Er war nicht sehr gut, weil nur wenig Schnee gefallen war, aber sie machten doch fünf Fahrten, bevor die Bahn abgenutzt war, und es war wundervoll, ein schieres Vergnügen. Da-
nach trabten sie im Mondschein über den Golfplatz, gingen auf einen Nachttrunk wieder in den Klub zurück - Glühwein, den keiner von ihnen mochte, der aber das angemessene Getränk war, wenn man von draußen aus dem Schnee hereinkam - und fuhren schließlich nach Hause. Der Abend entließ Fern in einer Stimmung voll gärender Reife, die zugleich etwas Kindliches und Unschuldiges enthielt. So war es auch am Hotel, wo sie Frank absetzte und wo er sie leicht und zart auf die Lippen küsste. Sie fuhr singend heim und betrat singend das Haus. Es war ziemlich spät, aber in der Diele und in der Bibliothek brannte noch Licht.
In der Bibliothek war ihr Vater; er lag ausgestreckt in einem großen Ledersessel, schwer schnarchend, den Kopf nach hinten hängend, ein Glas auf dem Boden neben ihm und die Lache, die der Trunk gebildet hatte, als es ihm aus der Hand gefallen war. Aus seinem hübschen langen Gesicht war alle Beherrschung geschwunden; der Mund stand offen, und ein Faden eingetrockneten Speichels kroch über sein Kinn — was, zusammen mit seinem ungekämmten Haar und dem Schatten eines neuen Barts auf den Wangen, ihm das Aussehen eines Fremden gab, eines besonders unappetitlichen Fremden. Als der erste Schock vorüber war, die erste schaudernde Reaktion auf ihn als einen Toten - eine Vorstellung, die das Schnarchen rasch zerstreute -, sah Fern ihn voller Ekel an. Sie musste sich buchstäblich zwingen, ihn anzurühren, ihn zu schütteln und ihn schließlich zu ohrfeigen; aber es erzeugte keine andere Reaktion als ein paar gemurmelte Worte, einen zusammenhanglosen Satz, der tief aus dem Unterbewusstsein kam, und dann erstarrte er mit entschiedenem Widerstand in Schlaf. Die Zunge kam heraus und leckte über die Lippen, und ein zweiter Speichelfaden erschien neben dem ersten. Lauter, als sie meinte, schrie Fern: „Steh auf, hörst du nicht? Steh auf, verdammt noch mal, du dreckiges Schwein, steh auf!" Dann rannte sie hinauf und in das Zimmer ihrer Mutter.
„Fern, hast du unten geschrieen?" fragte ihre Mutter in dem beherrschten, geduldigen Ton, den das Mädchen so hasste.
„Ich bin froh, dass du noch auf bist. Dein Mann liegt unten, stinkbesoffen, und ich kann ihn nicht wachkriegen. Vielleicht kannst du es?"
„Ich habe kein besonderes Verlangen danach", sagte Lois, und nun konnte Fern ihre Gestalt im Bett entdecken, eine Bettjacke an, ein Buch auf der Bettdecke neben ihr, als hätte sie eben das Licht ausgedreht.
„Möchtest du, dass er morgen früh noch da liegt, so dass Jane und die andern hineingehen und ihn sich ansehen können?"
„Wenn ihm das Spaß macht", antwortete Lois, ein kindliches Schmollen in der Stimme.
Fern lief hinunter, wütend und nunmehr halb außer sich; sie nahm den Eiskübel auf und stülpte seinen geschmolzenen Inhalt ihrem Vater über den Kopf. Da rappelte er sich ins Bewusstsein, jedoch langsam und schwerfällig. Er blinzelte mit den Augen, bis er das Mädchen erkennen konnte, und grinste, als er sagte: „Hallo, Ferney." Und dann kamen die Schmerzen und ersetzten das Grinsen durch ein Wimmern: „Ich habe einen fürchterlichen Kopf, Ferney. Wie spät ist es?" „Nach eins."
„Ich bin müde", sagte er. „Ich bin müde und habe einen fürchterlichen Kopf. Willst du mir einen Schnaps einschenken?" „Ich werde etwas Kaffee kochen." „Ein Whisky würde mir besser bekommen, Ferney." „Ich koch' dir etwas Kaffee", sagte sie.
Aber als er zu schlafen versuchte, merkte er, dass der Kaffee ihn wach hielt. Nachdem er ihn getrunken hatte, half Fern ihm die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Sie zog ihm die Schuhe aus und verließ ihn, und er saß da auf der Couch, während nur eine Lampe das Zimmer erhellte. Er band den Schlips ab, zog den Rock aus und schließlich die Hosen; es gelang ihm, zum Schrank zu taumeln und einen schweren wollenen Schlafrock zu finden, in den er sich einwickelte. Dann legte er sich auf die Couch, stumpf, in einem Bewusstsein seiner selbst ohne Form und wirklichen Inhalt, eine gallertartige, amöbenähnliche Masse. In seinen trüben Vorstellungen hatten seine Arme und Beine und auch sein Kopf keine Beziehung zur Wirklichkeit; sie dehnten sich aus und schrumpften zusammen; er verlor den Kopf, und seine Arme streckten sich über tausend Meter; seine Füße verschwanden, und sein Leib schwoll zu gewaltigen Proportionen an; seine Augen huschten heraus und füllten den ganzen abschätzbaren Raum aus, und dann wurden sie zu Nichts, und er war blind.
Trotz des Mantels fror ihn, und er ängstigte sich auch. Er bemühte sich, seine Vorstellungen festzuhalten, sie zu erkennen, sie zu beherrschen, sie zu den Vorstellungen eines Wesens zu machen, das eine erkennbare, vernünftige Welt bewohnt. Er tastete sich in seine Jugend zurück, wo es Sonnenlicht, Sicherheit und Zuversicht gab, aber seine Jugend war ein ungeheurer Raum, in dem er unglücklich umherwanderte, eine Höhle, eine betrunkene Halle, die zu seinen betrunkenen Träumen passte, ein Ort, wo die Jahre ein Kalender waren, der wie ein Kartenspiel ausgegeben wurde. Er erinnerte sich des ersten Mals, dass er Lois gesehen hatte, die Schwester eines Schulfreundes, groß und kühl und selbstgewiss wie eine Göttin, und dann schlug seine Erinnerung an die Jugend in die schreckliche Erkenntnis um, dass die Jugend vergangen und nicht zu ersetzen war. Sein Leben war vorbei und abgetan; er lag da und sah dem Tod ins Auge, und die Todesfurcht würgte ihm das Herz wie eine fest zugezogene Drahtschlinge. Die Vergangenheit war ein Augenblick, und ebenso war die Zukunft nur ein Augenblick, ein kurzes Vorspiel zum Erlöschen, dem Ende aller Dinge, dem endgültigen Schluss, dem Schrecken aller Schrecken. Die Furcht schlug ihm auf den Magen, sie ergriff seine Eingeweide; sie durchdrang ihn ganz, und er lag auf der Couch, das Gesicht in den Händen vergraben, und weinte betrunken.


25

Sein Sohn Clark jedoch hatte bis zu seinem letzten Augenblick den Tod nicht gefürchtet. In jener Zeit, die so lange, so traurig, unermesslich, unvergleichlich lange her war, die der Geschichte angehörte, die der verschatteten Vergangenheit angehörte, worin die Toten leben, wurde sein Sohn Clark gefangen genommen, frierend, zitternd, durchnässt und ganz von der Niedergeschlagenheit und dem Stumpfsinn erfüllt, Gefangener geworden zu sein, ein großer hübscher Bursche mit einem Bart von drei Tagen auf den Wangen, der zu dem Mann neben ihm einfach sagte: „Nun, so ist das; und was zum Teufel heißt das schon!" Zum mindesten aber war es einstweilen vorbei, und bald würde auch der Krieg vorbei sein — denn damals waren die Anzeichen des Endes unverkennbar. Und für Clark Lowell, der, bevor er nach Europa kam, nie einen Faschisten gesehen oder über einen Faschisten nachgedacht, oder einen Faschisten beachtet oder einen Faschisten gehasst noch einen geliebt hatte, war es, was dies betraf, ein Augenblick, der durchaus eintreten konnte. Er trat ein, und man wurde gefangen genommen. Er war ein Rätsel, in der Art wie der Krieg, dieser Krieg, dieser ganze gottverdammte ungeheure, liederliche und desorganisierende Krieg für die riesige heimwehkranke Armee und auch für den Leutnant Clark Lowell ein Rätsel war. Der Leutnant stand im Schnee, die Beine gespreizt, bis es geschah, bis er sah, wie es zu geschehen begann, und dann den ganzen Augenblick bis zum Ende, aber einen ausreichenden Augenblick, dass der Faschismus zu mehr als einer Predigt, einer Idee oder einer Ideologie wurde. Ihm selbst schoss ein SS-Offizier, der neben ihm stand, kühl eine Kugel in den Kopf.
Der Zeitungsberichterstatter, der die Geschichte schrieb, in der Clark Lowells Name zum ersten Mal erwähnt wurde, war ein wenig eifriger, ein wenig neugieriger und menschlicher als die meisten seiner Kollegen. Während sie in ihren Notizbüchern schrieben, kniete er im Schnee neben dem, was Clark Lowell gewesen war, und drehte den Leichnam um. Merkwürdigerweise war sein erster rascher Eindruck von dem vom Frost ganz blau und purpurn gefärbten Gesicht, dass dieser Mensch schön gewesen war. Abgesehen von jenem schrecklichen Loch, das die Pistole gemacht hatte, schlief der Junge, einen Anflug von Zweifel auf dem wächsernen Gesicht, einen Anflug von Ungewissheit, eine Andeutung von Ungläubigkeit, aber auch die friedvolle Überzeugung, die Ruhe bringt.


26

Freddy Butler wohnte Ecke Kirschenstraße und Dritte Avenue, zwei Häuserblöcke östlich der Eichenstraße und etwa drei Blöcke vom Gewerkschaftshaus entfernt. Er ließ sich von Wilson schon an der Zweiten Avenue, auf der anderen Seite des Concordweges, absetzen. Es gab keine Worte zwischen ihnen, und Butler, die fünfhundert Dollar in der Tasche und eine nagende Bitterkeit im Herzen, dachte bei sich: „Zum Teufel mit den Bankerten! Zum Teufel mit ihnen, den Filzläusen!" Er fühlte sich betrogen, einsam und elend, und es war keine einladende Vorstellung, zu dieser Stunde der Nacht seine Familie aus den Betten zu jagen, ihre Klagen anzuhören, statt einer vernünftigen Begründung seinen Willen vorzuschieben, die paar Sachen zu packen und durch die grimmige Kälte zu laufen und auf den Milchzug zu warten. Wie so oft vorher, kam ihm auch jetzt der Gedanke, sie gestrandet zurückzulassen und sich auf eigene Faust durchzuschlagen, und wie früher spielte er damit und verwarf ihn. Das Dahintreiben, die Landstraße, das Huren von Stadt zu Stadt, das Recht, eine Arbeit anzunehmen oder sie aufzustecken, wann immer es ihm verdammt passte, hätten vor Zeiten erregend auf ihn gewirkt. Aber dazu war Jugend unerlässlich, und er war hoch im mittleren Alter; Feuer und Lebenskraft hatten ihn verlassen, und seine Familie war die einzige Sicherheit, die er kannte. Er wusste zur Genüge, dass er ohne sie in den Bodensatz hinabsinken, ein Landstreicher und ein Strolch, ein schlapper, schmutziger Vagabund werden würde. So steckte er die Hände in die Taschen und ging durch die schlafende Stadt, durch die kalte, schweigende, mondhelle Nacht, horchte auf den weit entfernten einsamen Pfiff eines Zuges, das mürrische Bellen eines Hofhundes und probte mittlerweile, was er seiner Frau sagen wollte.
Er bog eben um die Ecke Dritte Avenue, als eine sanfte Stimme von irgend- oder nirgendwoher sagte: „Hallo, Freddy. Für einen Familienvater ist's aber reichlich spät zum Nachhausekommen... ", eine Stimme ohne Bosheit oder Drohung, richtig sanft und freundlich.
Er blieb jäh stehen; wie ein herzloses Messer stach ihn innen Furcht und er erstickte an der Hoffnungslosigkeit eines Menschen, der schon tot, erschlagen, doch bei Bewusstsein und von jener letzten und schrecklichen Ausgelassenheit erfüllt ist. Die ganze Zeit, so dachte er bei sich, hatte er für einen Apfel und Ei gearbeitet; nicht auf die Art, wie manche ihre Seele verkauften, die von einem lächelnden vornehmen Herrn als Teufel mit Gold aufgewogen wurde; nicht auf die Art, wie die großen Gewerkschaftsführer sich gegen bequeme und dauerhafte Pfründen verkauften; nicht auf die Art, wie die Intellektuellen sich für einen vergoldeten Ehrensitz in einer mit Samt ausgeschlagenen Kloake verkauften - sondern wie ein ordinärer Arbeiter für einen Apfel und Ei, einfach und allein für einen Apfel und Ei. Er hätte weglaufen, fortspringen, aufschreien mögen, aber es rückte schon diese ganzen Jahre heran, und es war zwecklos wegzulaufen. „Wer ist da?" fragte er.
Es war Joey Raye, ein ungeheuer großer schwarzer Mann, der aus der Toreinfahrt eines Ladens trat, wo er gestanden hatte, um sich vor dem scharfen Wind zu schützen, und der unter geschwollenen, geschundenen Lippen seine weißen Zähne zeigte und sagte: „Hallo, Freddy." Die Hände in den Taschen seiner blauen Tuchjacke, eine wollene Mütze auf den Hinterkopf gerückt, setzte er durch das sanfte Dehnen seiner vollen Stimme Vertraulichkeit an die Stelle von Schrecken. „Spazieren gewesen?"
„Ich habe eine Partie Billard gespielt", lächelte Butler und erklärte: „Die Nerven. Ich wollte mir eine Zigarre kaufen, und ich spielte eine Partie Billard." „Wo?" fragte Raye. „Bei Benny."
„Ich ging auch zu Benny rum. Ich hab' gedacht, ich könnte dich dort treffen."
„Ich muss grade rausgegangen sein", sagte Butler und hielt den Augen des Negers stand. „Du müsstest dir etwas Ruhe gönnen. Du hast eine schlimme Abreibung gekriegt."
„Sie haben mich schwer vertrimmt, allerdings", sagte Raye heiter, „sie haben regelrecht den Teufel aus mir rausgeprügelt. Mein Gott und Jesus, diese Weißen verstehen, einen zu verprügeln." Er hob die Augenbrauen, weil Butler so zitterte. „Kalt?" Butler nickte, und Raye sagte: „Komm hier in den Torweg und raus aus dem Wind. Dieser Wind ist grad wie 'n Knüppel, grad so scharf und eklig wie 'n Knüppel, grad wie 'n Knüppel, den, wie ich gesehn, die Polizisten tragen. Ein Knüppel, das ist ein scheußlich gemeines und schlimmes Ding. Ich kann keinen Knüppel leiden. Ich möcht' lieber, dass einer mit 'nem Sandsack mich überfällt als mit 'nem Knüppel."
„Das stimmt", nickte Butler und trat in den Torweg, beobachtete den Neger dabei und versuchte, sich klar zu werden, ob er so naiv wäre oder nicht; er schien wirklich naiv zu sein; er war einem schon immer naiv vorgekommen. „Zigarette?"
Butler nahm eine Zigarette, aber seine Hände bebten, und zweimal ging das Feuer aus. Raye zündete ein Streichholz an und hielt es zwischen den gewölbten Händen, wo es wie eine Kerze brannte. „Das ist ein Schiffertrick", grinste der Neger. „Als ich's erstemal ausfuhr, braucht' ich sechs Wochen um zu lernen, wie man ein Streichholz ansteckt und anhält. Mächtig nützlicher Trick, wenn man ihn kennt. Ich glaub', du wusstest gar nicht, dass ich auf See gefahren bin, Freddy?"
Butler schüttelte den Kopf.
„Ich bin rumgekommen", fuhr Joey Raye fort. „Lieber Himmel, bin ich rumgekommen; Stahl und Autos und Seefahrt und sogar eine Zeitlang Schlachthof in Omaha. Das ist mal eine Gegend, dieses Omaha. Es ist allerhand, wohin ein Mann in diesen Vereinigten Staaten alles kommt, bloß beim Versuch, Arbeit zu kriegen und seinen Bauch voll zu halten. Aber das war in der schlechten alten Zeit... "
„Ich muss machen, dass ich heimkomme", sagte Butler. „Wenn wir die Streikposten bei Tagesanbruch herausbekommen... "
„Ü ber die Streikposten brauchst du dir keine Sorgen zu machen", lächelte Joey Raye. „Wie lange bist du schon in der Partei,
Butler?"
„Bloß ein paar Monate. Du weißt doch, wann ich eingetreten
bin."
„Na klar, natürlich, aber das ist komisch. Das ist mächtig komisch, weil mir scheint, dass ich einen wie dich schon vor langer Zeit gekannt hab', in Kalifornien vielleicht, oder in Illinois oder irgendwo. Na, vielleicht war's jemand anders, ich bin schon so lang in der Partei und hab' viele Menschen kennen gelernt. Ich bin schon 'ne lange Zeit in der Partei, Butler. Fünfzehn Jahre im nächsten Frühjahr. Das ist 'ne mächtig lange Zeit."
„Es ist eine lange Zeit", stimmte Butler zu.
„Du weißt, wie ich dazu kam, einzutreten - das ist auch 'ne komische Geschichte. Mein Pappi war Baumwollpächter in Mississippi. Er macht 'ne Ladung Baumwolle fertig, und ich fahr' mit ihm zur Mühle — es war die letzte Ladung von allen. Er geht hinein zum Chef, rechnet ab und kommt wieder raus und sagt zu mir: ,Mein Wort, Joey, ich hab' genau fünfundsiebzig Cent bekommen', und hielt dabei das Geld so auf der flachen Hand, die Arbeit einer ganzen Saison. Nun sollten wir dies und das für Mutter und dies und das für die beiden kleinen Schwestern, die ich hatte, mitbringen, aber wir konnten überhaupt nichts mitbringen außer eben diesen fünfundsiebzig Cent, die mein Pappi in der Hand hält; und wie er da so steht, fängt er an zu weinen, und ich glaubte, das Herz sollt' mir brechen. Da sag' ich zu ihm: ,Wein nicht, Pappi. Geh du nach Haus.' ,Was willst du denn tun?' fragt er mich. ,Wein nicht', sag' ich ihm, ,und mach dir keine Sorgen. Geh nach Haus.' Dann geh' ich in die Mühle und geb' dem weißen Chef eine Tracht Prügel, wie er sie sein Lebtag noch nicht bekommen hat. Zwei andren Weißen dadrin, denen passte das nicht, da musst' ich sie auch verprügeln. Dann rannten sie nach einer Pistole, die musst' ich ihnen noch wegnehmen. Dann komm' ich wieder nach draußen, und Pappi steht immer noch da, und nun weint er ganz richtig, und er sagt zu mir: ,Mein Gott, o mein kleiner Gott Jesus, sei uns gnädig, was hast du jetzt angestellt?' ,Ich hab' die Weißen da verprügelt', sag' ich ihm, und dann fährt er mich in die Stadt und haut jeden Zoll des ganzen Weges auf die Maultiere ein. Sie versteckten mich unterm Haus meiner Tante, und da bleib' ich zwei Tage und zwei Nächte, derweil die ganze verdammte Gegend mit dem Staubkamm nach mir durchgekämmt wird. Dann schnapp' ich einen Güterzug, der nach Norden fährt, und seitdem bin ich nie wieder in Mississippi gewesen."
Butlers Sicherheit kehrte zurück. Er schnickte die Zigarette auf den Bürgersteig und sagte: „Schau, Joey, ich muss nach Haus."
„Klar — klar. Ich fing grad damit an, dir zu erzählen, wie ich dazu kam, in die Partei einzutreten, weiter nichts. Zwei, drei Jahre schlag' ich mich herum, überall eben, tu Niggerarbeit: Toiletten reinemachen, Kneipen fegen, Schuhe putzen, Geschirr abwaschen - und dann gibt's nicht mal mehr das. Es gibt überhaupt keine Arbeit, kein liebes bisschen. In dieser ganzen Zeit hab' ich eine Wut auf die Weißen im Herzen, die wie 'n Krebsgeschwür eitert und sich vom Herzen aus überall in mir verbreitet und mich zum Tier macht anstatt zu 'nem wirklichen Menschen.
Dann bin ich in Pittsburgh, und damals, einunddreißig, war es eine schlimme Stadt. Da treff' ich einen Weißen, der sich bemüht, die Arbeitslosen zu organisieren. Er bezahlt mir ein Essen. Ich hatte noch nie mit 'nem Weißen zusammen gegessen, aber ich war entsetzlich hungrig. Wir gehen in ein Restaurant, und man versucht uns rauszuwerfen, aber er fängt 'ne kolossale Schlägerei an, dieser Weiße. Schließlich landen wir im Loch, aber am nächsten Tag schmeißt man uns raus, das Loch ist so verdammt voll. Der Weiße erzählt mir, dass eine Demonstration stattfindet, und ich geh' mit ihm hin, und ich wart' immer drauf, dass er Schluss macht, aber er macht nicht Schluss. Er geht mit mir auf eine Art um, wie noch kein Weißer je zuvor mit mir umgegangen ist. Wir gehen also in der Demonstration, mit großen Plakaten, die zur Solidarität auffordern, vielleicht vierzig-, fünfzigtausend Leute; dann kommen die Bullen dazwischen, und ich weiß meinen Kopf noch nicht recht zu gebrauchen, so dass ich 'ne scheußliche Tracht Prügel bekomme und zurück ins Loch. Derselbe Weiße kommt mit Rechtsanwälten an, und nachdem mich die Bullen noch 'n bisschen verwalkt haben, lassen sie mich laufen. Ich wart' immer noch drauf, dass er Schluss macht, und ich trau ihm immer noch nicht, aber nach und nach ändert er das. Er bringt mir was bei. Hatte nie 'nen Tag Schule in meinem Leben gehabt, aber er unterrichtet mich, und langsam krieg' ich 'ne neue Auffassung von den Dingen, warum sie sind, was sie sind, und anstatt in einer Welt von Hass und Mord zu leben, hab' ich einen Bruder in jedem Mann, der arbeitet. Ich fang' an zu verstehen, dass der Hass gegen den schwarzen Menschen nur ein Mittel ist, und was für ein armer Narr der Mensch ist, der sich durch dieses Mittel missbrauchen lässt. Dann tret' ich in die Partei ein. Das ist fünfzehn Jahre her, und die Partei ist meine Mutter und meine Schwester und mein Bruder und mein ganzes gottverdammtes Leben, weil kein Mensch ein Engel oder Heiliger ist, und es gibt gute Menschen und schlechte Menschen, aber in der Partei sind, wie Jesus sagt, alle Menschen Brüder, und ich hab' gesehen, wie sich die Weißen und die Schwarzen die Hand gaben und sogar füreinander starben." Er holte tief Atem und fuhr dann fort: „Ich erzähl' dir das alles bloß, Freddy, damit du weißt, wie's kommt, dass ich dich nicht umbring'. Da liegt nämlich kein Sinn drin", sagte er sanft, beinahe traurig. „Es hat keinen Sinn, einen so kleinen Schmutzfleck auszuradieren. Gab' mir bloß Befriedigung, weiter nichts, aber ich komm' ohne diese Art von Befriedigung aus." Er spreizte seine großen, langfingrigen Hände: „Ich könnt' dich zerdrücken, wie ich ein Kücken mit einem Fleck auf der Haut zerdrücke - also was? Es käm' nichts Gutes dabei raus. Geh nach Haus, Freddy Butler. Hol deine Frau und deine kleinen Kinder, Gott helf ihnen, und fahr mit dem Milchzug. Komm nie zurück."

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