FREITAG, DER 7. DEZEMBER 1945
1
Jahr für Jahr wurde Jack Curzons Frau ein klein wenig fetter, nicht ordinär fett, nicht unförmig fett, aber sie rundete sich zu voller Reife, bis sie wie ein Akt von Renoir so matronenhaft geworden war, wie eine Frau werden kann, ohne sogleich als korpulent abgetan zu werden. Man kann nicht sagen, dass sich Curzon dieser Veränderung seiner Frau innerhalb der zweiundzwanzig Jahre ihres ehelichen Lebens besonders bewusst geworden wäre, aber er bemerkte doch, dass sie auf irgendwelche Weise anziehender wurde und dass sein Vergnügen an ihr sich nicht verminderte, sondern umgekehrt eher sich steigerte. Unbestreitbar war er in seiner Jugend etwas wie ein Kater gewesen, der überall in der Gegend umherstöberte — eine Praxis, die er ohne sichtbaren Bruch auch nach seiner Heirat fortsetzte, bis er im Alter von vierzig sagen konnte, dass er seiner Meinung nach alles mitgenommen hätte, was des Mitnehmens wert war. In den zehn Jahren zwischen vierzig und fünfzig gewöhnte er sich nach und nach an die monogame Ehe und ließ sie praktisch gelten, teils weil seine Stellung in der Öffentlichkeit es tunlich erscheinen ließ, teils weil er im Alter von siebenundvierzig zum Weinen und Lachen seiner Frau in den Pferch zurückgezwungen wurde, und teils, weil er — wie er es selbst darstellte — des Umherstreunens verdammt müde und überdrüssig geworden war.
Ob es nun deshalb war oder bloß damit zusammentraf, er entdeckte sein Weib aufs neue — eine Wiedergeburt, die Sally Curzon ebenso angenehm wie schmeichelhaft war, nachdem sie im langsamen Verlauf einer Generation ohne Schmerzen erfahren hatte, dass nicht alle ihre frühen Vorstellungen über die Beziehungen von Männern und Frauen richtig waren.
Für Jack Curzon wurde dieses neue Bewusstsein der Möglichkeiten seiner Frau mehr oder weniger rasch Gewohnheit. Er war ein Mensch der Gewohnheit und interessierte sich nicht besonders — außer wenn seine Verdauung gestört war - für sein Innenleben oder das seiner Mitmenschen. Abends sank er in dem warmen Dunst von Fleisch in Schlaf, morgens wachte er darin auf, wie auch an diesem Freitagmorgen. Als er sich beim unruhigen Zurüsten aufs bewusste Leben umdrehte, kam er mit dem Leibe seiner Frau in Berührung; er tastete danach, erkannte ihn, öffnete die Augen und sah das kränklich graue Licht des herandämmernden Tages, fühlte die Kälte der Luft, hörte irgendwo in der Ferne einen Hahn krähen und kroch im Geiste wieder unter die Decken zurück. Er dachte ein paar flüchtige Gedanken und begann mit normalem, unübereiltem Interesse seine Frau zu erforschen — ein Vorgang, der ihr Erwachen angenehm und glücklich stimmte.
Curzon gehörte nicht zu den Männern, die mürrisch aufwachen. Er steckte voll altmodischer Gewohnheiten, trug etwa lange Flanellnachthemden lieber als Pyjamas, rasierte sich mit einem großen Napf voll sorgfältig geschlagenen Schaums und einem geraden Messer, und er hatte es gerne, wenn seine drei Kinder im Badezimmer herein- und hinausrannten, während er sich rasierte. Er liebte den Duft frischen Kaffees und den Geruch des brutzelnden Frühstücks während des Rasierens, und er aß stets ein reichliches Frühstück: Obst, Brei, Eier, Schinken oder Speck, Toast und manchmal auch noch Kuchen. In den seltenen Augenblicken, wo es ihm einfiel, darüber nachzudenken, hielt er sich für einen gutmütigen Menschen, der kraft gewisser besonderer Fähigkeiten so erfolgreich gewesen war, wie man in seinem Beruf eben sein
konnte.
An diesem Morgen kamen anstatt der Eier Pfannkuchen auf den Curzonschen Frühstückstisch, ein besonderer Leckerbissen für alle in der Familie. Sie frühstückten alle zusammen: Sally in einem rosa Hauskleid, das gelbe Haar bereits gekämmt; Curzon bis aufs Oberhemd fertig angezogen, so dass man seine schwere wollene Unterwäsche sah; die drei Kinder, elf, acht und sechs Jahre alt, das älteste ein Mädchen, die beiden jüngeren Knaben -sie alle saßen rund um den Küchentisch. Curzon machte sich seine Pfannkuchen sorgfältig, wissenschaftlich zurecht; er nahm gern einen Stoß von vieren, jeder bekam eine glatte Schicht Butter, dann goss er Honig auf jeden einzelnen, packte die vier zusammen und goss über das ganze Gebäude wieder Honig, wie Glasur über eine Torte. Das war für Frau und Kinder immer von neuem interessant; ihnen ging seine Genauigkeit in kleinen Dingen ab, und sie hörten fast immer selbst zu essen auf, um ihn bei dieser Manipulation und bei seinem ersten Bissen zu beobachten. Wenn dann der erste Bissen herunter war, löste sich ihre Spannung und sie griffen wieder zu, aber niemals blieben sie von seiner ganz besonderen Freude am Essen unbeeinflusst, und sie genossen sie zumindest in der Vorstellung mit.
Als Curzon beim Frühstück saß, klingelte das Telefon. Eines seiner wenigen materiellen Zugeständnisse an den Erfolg bestand darin, dass er drei Telefonanschlüsse im Hause hatte, einen im Flur, einen am Bett und einen in der Küche, so dass er jetzt nur den Arm auszustrecken brauchte und durch eine angenehme Mischung aus Pfannkuchen und Kaffee hindurch „Hallo" rufen konnte.
Tom Wilson war am anderen Ende der Leitung; sein herzliches, geschmeidiges Organ dröhnte laut genug, dass jeder in der Küche es hören konnte:
„Hallo, Jack, störe ich Sie beim Frühstück?"
„Keineswegs" — dies aber in dem unglücklichen Bewusstsein, dass eine Unterbrechung der Nahrungsaufnahme deren köstliche Stetigkeit ruiniert, und etwas von diesem Unwillen ließ er durchklingen. Jack Curzon hasste jede Störung, die ihn vom Tisch holte, bevor er mit der Mahlzeit fertig war.
„Ich werde Sie keine Minute abhalten", sagte Wilson. „Es fiel mir eben ein, dass ich Ihnen doch sagen müsste, dass Harn Gelb in der Stadt ist. Und wenn alles klar ist, wollte ich mit ihm und vielleicht Herrn Lowell gegen zehn oder halb elf zu Ihnen hinüberkommen."
„Na, ich will verdammt sein", sagte Curzon gedankenvoll.
„Harn Gelb!"
„Passt Ihnen die Zeit?"
„Ich erwarte Sie", sagte Curzon. Er legte den Hörer auf und sagte zu seiner Familie, aber zu keinem im besonderen: „Harn Gelb - was sagt ihr dazu?"
2
Lowell und seine Frau waren dabei, ihr Frühstück zu beenden - eine schweigsame Angelegenheit meistens -, als Fern herunterkam. In der Regel nahmen die Lowells ihr Frühstück und sehr oft auch ihren Lunch in einem kleinen Raum neben dem Esszimmer ein, der das „Gewehrzimmer" genannt wurde, aber an Feuerwaffen nichts als eine alte Feuersteinmuskete enthielt, die über dem Kachelofen hing. Lois hatte diesen Raum mit kleingemusterten dunkelgrünen Tapeten ausgestattet und die hohen, schmalen Fenster mit weißen Chintzvorhängen versehen. Die Tischplatte auf Böcken und die Binsenstühle mit Rückenlehnen in Leiterform waren außer einer kleinen Anrichte aus Kiefernholz die einzigen Möbelstücke, und als noch eine Tür zur Speisekammer durchgebrochen war, betrachtete Lois dieses Zimmer als für seinen neuen Zweck wundervoll geeignet. In den fünf Jahren, die sie hier wohnten, hatte sie nicht nur diesen Raum verändert, sondern die ganze Atmosphäre des Hauses; Stück für Stück, langsam, ohne George Anlass zum Protest zu geben, hatte sie die Gegenwart eines Mannes daraus entfernt, der ein halbes Jahrhundert und länger sein Heim darin gehabt hatte. Der ältere George Lowell, ihr Schwiegervater, war nicht leicht zu verdrängen, aber Lois war geduldig. Mit genau der gleichen Geduld, genau der gleichen Gelassenheit hatte sie etwas weniger als zwanzig Jahre auf seinen Tod gewartet, und sie sah keinen Grund, warum ihre Geduld jetzt, da er fort war, weniger ausdauernd sein sollte.
Geduld lag in ihrem Charakter, und sehr oft gebrauchte sie sie in der Art, wie ihre Großmutter eine Lieblingspatentmedizin gebraucht hatte. Wenn sie irgend etwas nicht ganz begriff, dann beschied sie sich zu warten, bis sich das Problem von selbst löste; und weil ihre Kenntnis von Männern begrenzter war, als sie und die meisten ihrer Bekannten glaubten, erachtete sie, dass dieselbe Methode auch für das, was sich gestern abend ereignet hatte, am ratsamsten wäre. Das Ergebnis war ein geruhsames, geradezu schweigsames Frühstück, bis Fern erschien und sagte:
„Ich hatte Bauchschmerzen, Mutter, aber schwanger bin ich nicht, wenn du das etwa denken solltest. Ich habe mich entschlossen, Elliott deswegen zu fragen. Wie lange ist er gestern abend noch hier gewesen?"
„Ich hasse diese Art Gerede", sagte Lois. „Es ist nicht frivol, es ist nicht geistreich. Es ist gemeines Gerede."
Fern küsste ihren Vater und setzte sich neben ihn, und Lowell, der etwas sagen wollte, verschluckte seine Worte.
„Ich kam um halb eins nach Hause", sagte Fern. „Ich dachte, Elliott würde noch da sein."
„Warum war das so wichtig?" fragte Lowell.
Fern, die ihren Orangensaft trank, setzte ihn plötzlich hin und sah ihren Vater nachdenklich an. „Er ist ein herrlicher Mensch", sagte sie. Sie trank ihren Saft aus und begann sich Kaffee einzuschenken.
„Gibt es einen Grund, weshalb wir warten müssen, bis diese abscheuliche Geschichte zu Ende ist, George?" fragte Lois. „Ich hasse den Winter in Massachusetts. Ich habe ihn stets gehasst."
3
Aber dies war kein Wintertag im altüberlieferten Sinne des Wortes, keiner von denen, die vor unterdrückter Wut brüllend von den Berkshires herunterkommen und den verdrießlichen Mount Greylock zu einer Gottheit erheben. Dies war ein Tag, an dem sich die Morgennebel mit der frühesten Dämmerung verflüchtigten, die Sonne über die Hügel um Clarkton flutete, über die rotgepflasterten Straßen und die langen Reihen der rotziegeligen Mietshäuser — diese verblüffende Neu-England-Mischung von Elendsviertel und Ländlichkeit —, die sich entlang der Ersten und Vierten Avenue aufreihten und sich im Schoß der Hügel einnisteten. Es war ein frischer, sonniger Tag, voller Entzücken für die Sinne - und Mike Sawyer war sich dessen sehr stark bewusst, als er auf dem Wege zu Joe Santanas Friseurladen zusammen mit Danny Ryan die Hauptstraße hinunterging.
Sawyer gehörte zu jenen Männern, deren Gesichtshaar einwächst, wenn sie sich nicht regelmäßig von einem Friseur rasieren und nachrasieren lassen. Als er es Ryan sagte, meinte der kleine Mann, das wäre eine gute Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, weil er doch sowieso Joe Santana aufsuchen müsste; sie könnten also gleich hingehen und Mike rasieren lassen und dann vielleicht mit Joe einiges besprechen, bevor sie zum Werk hinausgingen, das Mike Sawyer noch nicht gesehen hatte. Sawyer war damit einverstanden; die Aussicht auf einen Spaziergang an diesem frischen schönen Morgen war verlockend, und er war ungeheuer neugierig auf Neu-England, auf jede Seite des Landes; alles war ihm neu, und jeder Teil davon war ein Teil eines Problems, das er zu lösen hatte, früher oder später. Wie sie so dahinschlenderten, entdeckte er, dass ein Spaziergang mit Ryan eine sehr gute Art war, mit Leuten bekannt zu werden. Auch zeigte Ryan nichts mehr von der Gegnerschaft, die er am Abend vorher bekundet hatte. Er kannte jeden und schien überall beliebt zu sein. Es war gerade Zeit für die Arbeiter, zum Werk hinauszugehen; sie gingen in dem langsamen, verlegenen Schritt von Männern, die seit vielen Jahren zum ersten Male wieder streiken, die großen Schaffellkragen ihrer Windjacken hochgeschlagen, die Jagdmützen mit den roten Ohrenklappen auf den Hinterkopf geschoben. Alle Augenblicke hielt einer von ihnen Ryan fest und überschüttete ihn mit einer langen heftigen Klagerede, und jedem hörte er zu und traf eine rasche, anscheinend treffende Entscheidung.
Sawyer nahm wahr, dass viele der Männer das eine oder andere Uniformstück trugen, und als er eine Bemerkung darüber zu seinem Gefährten machte, sagte Ryan: „Sie sind seit zweiundvierzig zurückgekommen. Dies ist eine Stadt mit nur einer Fabrik, Mike. Wie viele Tankstellen lassen sich in einer Stadt wie Clarkton schon aufmachen!"
Als sie schon fast bei Santanas Laden angelangt waren, wurde Ryan von einem schmächtigen rotköpfigen Mann mittleren Alters angehalten, den er Sawyer als Freddy Butler, einen der Genossen, vorstellte. „Was weißt du Neues, Danny?" fragte Butler, und Ryan antwortete, dass er nicht viel wüsste — es wäre ruhig, zu verdammt ruhig. Butler sagte: „Es wird davon gesprochen, dass wir ein paar ganz große Nummern in die Stadt bekommen hätten". „Das hast du gehört?" grinste Ryan. „Die Zungen flattern wie bei einem Hurrikan. Wer viel herumhorcht, kriegt eine erschreckliche Menge zu hören". „Schön. Aber was soll ich den Jungen sagen?" „Nur mit der Ruhe", sagte Ryan. „Wenn sie was wissen wollen, sag ihnen eben, nur mit der Ruhe."
„Ein ordentlicher Junge?" fragte Sawyer, als sie weitergingen.
„Ganz in Ordnung, bloß schrecklich nervös. Er ist zu viel herumgestoßen worden, glaube ich. Das macht den Menschen nervös."
Joe Santana hatte gerade aufgemacht, als sie bei ihm ankamen; er saß in seinem besten Stuhl und las die New York Times. Er wurde Sawyer vorgestellt und drückte ihm die Hand mit wirklicher Wärme. „Da hast du dir ein Problem aufgeladen", sagte er in Bezug auf Sawyers Bart. „Du hast dich an eine bestimmte Art des Rasierens gewöhnt und musst sie nun durchhalten. Und dazu bist du in einem Lande, wo die meisten Friseure nur Schlächter sind. Ich habe Achtung vor meiner Arbeit — überhaupt vor jeder Arbeit —, aber wie viele Friseure haben das noch? Friseure sind kein guter Typ, unglücklicherweise. Ich weiß es, ich habe überall im Lande für sie gearbeitet. Meistens habe ich andere Arbeit vorgezogen, aber früher oder später musste ich immer wieder zu meiner Haarschneiderei zurück, der paar Dollar wegen, die bitter nötig waren. Dies hier ist was anderes. Hier habe ich mir ein wenig Unabhängigkeit verschafft - soviel ein Mensch unter diesem System haben kann -, und ich habe Leute, mit denen ich reden kann. Und dann habe ich auch eine Quelle des Wissens." Er grinste und deutete mit dem Kopf auf die New York Times, die er sorgfältig zusammengefaltet und auf seinen Zeitungsstapel gelegt
hatte.
Sawyer sagte: „Du musst die Stadt doch sehr gut kennen." „Ja und nein. Es kommt auf den Grad an. Wie gut kennt ein Mann seine eigene Frau? Nur innerhalb gewisser Grenzen. Eine Stadt wie diese ist ein Problem für einen Gesellschaftswissenschaftler mit aufrichtigem Interesse für den Menschen. Ich bin nie in Lowells Haus gewesen - ihm gehört das Werk. Ich bin nie in Gaffertys Haus gewesen — er ist der allmächtige Bankier hier in der Stadt. Ich habe nur begrenzte Beziehungen, und so versuche ich, mit meiner Urteilskraft weiterzukommen. Ein Mann wie du lernt in einer Woche wahrscheinlich mehr als ich in einem Jahr. Aber die Urteilskraft hat auch ihren Rang, ihren rechtmäßigen Rang. Nimm diese Geschichte mit der Atombombe. Die New Tork Times glaubt, dass ein Krieg mit der Sowjetunion kommen wird; ich bin anderer Meinung — nicht aus politischen Gründen, obwohl man zweifellos auch solche Argumente anführen könnte, ein führender Kopf wie du, meine ich -, sondern aus Gründen der Natur des Menschen. Ich versetze mich an die Stelle des durchschnittlichen Mannes, des durchschnittlichen Soldaten. Er will nicht durch eine Atombombe zugrunde gehen. Dir und mir, uns ist es egal. Aber der durchschnittliche Mann mag dieses Ding nicht, es ist unnatürlich. Das ist ein Faktor."
Er hatte Sawyer schon fertig eingeseift und begann nun mit schnellen, kurzen Strichen zu rasieren. Er verstand seine Arbeit, und sein glatter Redefluss erlitt keine Unterbrechung, einerlei, womit er gerade beschäftigt war.
4
Als er den Concordweg hinunter zum Werk fuhr, dachte Lowell über das Verhältnis seiner Tochter zu Elliott Abbott nach, etwas — und dies war er bereit, sich selbst zuzugeben -, was noch vor wenigen Tagen undenkbar gewesen wäre. Sein Groll, sein Gefühl des Versagens vor seiner Frau mussten einen Auslas finden, und sogar die Tatsache, dass er anfing sich zu vergegenwärtigen, wie sehr er sich in den letzten Jahren auf Elliott Abbott verlassen hatte, half mit, seinen Unwillen auf den Arzt zu richten. Doch dahinein, und zu dem verrückten Gedanken, dass seine Tochter Abbott liebte - eine natürliche, verständliche jugendliche Zuneigung, wie er gleichfalls bereit war zuzugeben —, drängte sich ein Gefühl des Neides. An diesem Morgen vermochte er zum ersten Male seine Tochter objektiv zu betrachten, und was er sah, beunruhigte ihn. Er fragte sich, ob er Abbott nahe genug bleiben würde, um mit ihm darüber sprechen zu können, und dann gestand er sich ein, dass selbst, wenn es der Fall wäre, er vermutlich doch keine Worte finden würde.
Er war dicht vor dem Werkstor an der Vierten Avenue und fuhr langsamer, damit er dem Streikpostenobmann seinen Passierschein vorzeigen könnte. Und wieder kam ihm wie an allen anderen Tagen seit Beginn des Streiks der Gedanke, wieviel Kindisches und Widersinniges doch in dem Theater dieser kleinen Gruppe von Männern und Frauen steckte, die eintönig vor dem Tor im Kreise herummarschierten und ihre Plakate trugen, die so ungeschickt Lohnerhöhung, Zusammenarbeit von Schwarzen und Weißen, Einheit und Solidarität forderten — und alle diese andern Dinge, die, so schien es Lowell, nichts weiter als plumpe Schlagwörter waren. Sie selbst waren entweder neu in dieser Sache oder hatten vergessen, wie sie das letzte Mal gestreikt hatten - so lange Jahre war es schon her -, und verrieten es durch ihre Befangenheit, die sie vergebens zu verbergen suchten.
Drei Männer unter den Streikposten, die über das mittlere Alter hinaus waren - wahrscheinlich Meister, nahm Lowell an -, hatten zusammengerollte Regenschirme bei sich, das Unangemessenste von der Welt an diesem sonnenüberfluteten Morgen, und um das Bild der Wohlanständigkeit zu vollenden, trugen die alten Herren lange schwarze Mäntel, Seidenschale und Filzhüte. Obwohl keine besonderen Zuschauer da waren, stimmten sie alle Augenblicke ein zaghaftes Lied an: „... Schwarz und Weiß, vereinigt euch zum Kampfe... ", blieben eine Weile dabei und ließen es dahinwelken. Hierbei konnten die drei alten Herren nicht mitmachen, es waren die klaren Stimmen der jungen Leute, der Mädchen in ihren langen Hosen und billigen Pelzmänteln, der Burschen in ihren bunten Zusammenstellungen von Uniformstücken und Zivilkleidern, die den Gesang trugen. Lowell bemerkte, wie immer ein Halbdutzend Freiwillige herumstanden, die gelegentlich die Streikposten gutmütig hänselten und dafür sorgten, dass das Feuer in den durchlöcherten großen Ölkannen nicht ausging, die von Küste zu Küste als Salamander bekannt waren — wahrscheinlich deshalb, weil sie rot glühten, wenn sie lange genug erhitzt wurden.
Für Lowell war das alles ein Rätsel, und dazu eins, das er besonders unsympathisch fand. Es ärgerte ihn, dass er, obwohl sie doch ihn und seinen Wagen leicht genug erkannten, allein schon durch die kompakte Masse ihrer Leiber gezwungen war zu halten, seinen Passierschein vorzuzeigen und ihn vom Streikpostenobmann abzeichnen zu lassen, bevor er ein Gelände betreten konnte, das sein Eigentum war — und das, wie er erwog, kraft seines Besitzertums ihnen überhaupt erst die Existenz ermöglichte. An diesem Morgen war es noch ärgerlicher als sonst, und als ihm der Portier schließlich das Tor öffnete, riss er an den Gängen des großen Buicks, dass der Wagen geradezu hindurchsprang.
Er parkte an der gewohnten Stelle bei der Verladerampe und ward kaum von dem herzlichen „guten Morgen" besänftigt, das ihm der alte Mack Seelly, einer der Wächter, bot — ein Mann, der im Werk angefangen hatte, kurz nachdem sein Vater es gegründet. Er stakte zum Büroflügel hinüber, und erst als er im eigenbedienten Fahrstuhl auf dem Wege nach oben war, beruhigte er sich soweit, dass er eine Zigarette anstecken konnte. Er dachte, es wäre eigentlich schade, dass er an diesem Morgen nicht Elliott Abbott mitgenommen hatte, damit des Doktors Sentimentalität in Bezug auf den Arbeiter dann vielleicht einen konkreten Anhalt bekommen hätte. Lowell, der nicht leicht seine Neigung vergab, hatte doch ein tiefes Bedürfnis nach der Zuneigung anderer, und schon eine solche Kleinigkeit wie das Lächeln der Büromädchen war ihm eine Bestätigung.
Der Büroflügel der Lowell Company war in den frühen Neunzehnhundertzwanzigern angebaut worden, aber die Büroräume selbst, obwohl geräumig, waren in der dunklen Eiche und dem düsteren Rot von wenigstens zwei Jahrzehnten vorher gehalten. Nichts Leichtsinniges war an ihnen, aber auch kein Versuch, etwas vorzutäuschen, und ebenso sehr aus unbewusster Opposition vielleicht gegen das Vorgehen seiner Frau zu Hause wie aus anderen Gründen ließ sie Lowell völlig unangetastet. Andererseits konnte er nicht die Vorstellung ertragen, in dem riesigen Zimmer zu sitzen, das seinem Vater gehört hatte; er gab es Tom Wilson, dem Betriebsleiter, und nahm Wilsons Büro für sich.
Er saß gerade ein paar Minuten an seinem Schreibtisch, starrte träge und ohne großes Interesse auf den Stapel Post, als Wilson eintrat, das Gesicht von einem breiten Lächeln wie gespalten, die Hand einladend nach der Lowells ausgestreckt, die er kräftig drückte: „Fein, dass Sie wieder hier in der Kampflinie sind, George!" Wilson redete ihn mit dem Vornamen an, was er vor fünf Jahren eingeführt hatte, als Lowell ihm zum ersten Male begegnet war. Damals hatte er gesagt: „Willkommen in der Kampflinie, George!" und seitdem war es mit geringen Abweichungen immer dasselbe gewesen. Immerhin, es kam bei Wilson gut heraus. Er war nicht allzu hoch gewachsen, aber doch groß und füllig, mit breiten Schultern, Ende der Vierziger, und hatte schon einen beträchtlichen Bauch entwickelt. Ein dreifaches Kinn hing ihm über den Kragen, und er sprach mit etwas rauer, dröhnender Stimme; er bewies den Lowellschen Unternehmungen eine gewaltige Zuneigung und hatte eine Zuversicht zu sich selbst, seiner Lebensweise, seiner Lebensaufgabe und seiner Lebensstellung, die Lowell verabscheute und um die er ihn zur selben Zeit beneidete. Lowell mochte ihn nicht; Wilson wusste das und betrachtete es als eine Herausforderung, nahm diese Abneigung aber voller Achtung hin, weil sie von einem Manne vom Typ Lowells kam - ein Typ, den er außerordentlich bewunderte. In gewissem Sinne war er sogar stolz auf die Abneigung und unbeirrbar bestrebt, sie zu besiegen.
Er setzte sich neben Lowells Schreibtisch und berichtete ihm ausführlich, was sich in den letzten beiden Tagen ereignet hatte -eine Reihe von Tatsachen, an denen Lowell nur der Form halber interessiert war. Er unterbrach sich bloß, um das Ende einer Zigarre abzubeißen und sie anzuzünden, und ging dazu über, diese Tatsachen mit der Lage des Landes im ganzen in Zusammenhang zu setzen, mit der großen Streikwelle, den Möglichkeiten eines Krieges mit Russland und den Übergewinnsteuern, die vorsahen, dass die Regierung die Differenz ersetzen würde, wenn im laufenden Jahre die Gewinne des Unternehmens unter die von
1939 fielen.
„Was uns wirtschaftlich eine gesunde Position verschafft", sagte Wilson. „Bloß nach Dollar und Cent gerechnet, würde es sich beinahe lohnen, das Werk geschlossen zu halten. Aber das ist kurzsichtig gedacht, und ich hasse kurzsichtiges Denken und Planen. Sie stimmen darin mit mir überein?"
„Durchaus", sagte Lowell. „Ich habe nicht die Absicht, das Werk geschlossen zu halten". In der Tat war er zu dem Entschluss gelangt, sobald das Werk wieder in Betrieb, der Streik vorüber wäre, die Leitung in Wilsons Hände zu legen und fortzufahren - für den Rest des Winters bestimmt, vielleicht auch für längere Zeit.
„Eins ist sicher", fuhr Wilson fort, „wir haben noch allerhand Unruhe zu erwarten. Nichts kommt den Kommunisten gelegener als ein Streik. Streik, das ist Essen und Trinken für sie."
„Ich glaube, das ist nicht gerade das Hauptproblem", sagte Lowell ungeduldig. Er liebte diese Kommunistenhetze nicht; er fühlte instinktiv, dass in dieser ausschweifenden Sucht, eine kommunistische Gefahr an die Wand zu malen, etwas Unsauberes steckte. Abgesehen von Joe Santana, dem Friseur, der Kommunist war und auch kein Geheimnis daraus machte, konnte er sich nicht erinnern, jemals einen Kommunisten gesehen, gekannt oder mit einem gesprochen zu haben -sofern nicht Elliott Abbott zu diesen Leuten gehörte, eine Vorstellung, die er sofort mit dem Gedanken beiseite schob, dass sein Zorn auf Elliott doch zum mindesten in vernünftigen Grenzen bleiben könnte.
„Ja und nein - unterschätzen Sie diese Burschen nicht", nickte Wilson, und seine Stimme nahm jenen leicht herablassenden Ton an, den sie früher oder später immer bekam, wenn er mit Lowell sprach. „Harn Gelb könnte einiges darüber erzählen. Aber worüber ich nachdenke, das ist der allgemeine Charakter unserer Stellung hier in Clarkton. Bis 1932 hatte Ihr Vater niemals Ärger mit diesen Leuten. Wirklich, er ließ sie fühlen, dass sie alle eine große Familie wären, nicht in zarter Form, verstehen Sie, sondern mit eiserner Faust im Samthandschuh; aber er interessierte sie durch Gewinnbeteiligung und all dieses Zeug, und es gab eben keinen Verdruss, der der Rede wert gewesen wäre. In den dreißiger Jahren gab es allerdings eine ganze Menge Krach, als die Gewerkschaft aufkam, bis der Krieg die normalen Verhältnisse wieder herstellte. Es sind hochbezahlte Facharbeiter, die wir hier haben, und ich ziehe vor, einen Betrieb ohne irgendwelchen Krawall zu leiten. Aber wenn sich dieser Streik zu lange hinzieht, dann werden sie gemein werden. Sie würden sich wundern, wie gemein anständige Leute werden können, George. Das ist eine Seite; die andere Seite betrifft unseren Absatz. Ich möchte die Sache regeln und wieder ins Geschäft kommen." „Wer ist Harn Gelb?" fragte Lowell.
Wilson schien einen Augenblick überrascht zu sein. Er lehnte sich vor und sah Lowell scharf an; dann sog er an seiner Zigarre, beruhigte sich wieder und grinste.
„Das braucht wohl kein Geheimnis zu bleiben", sagte Lowell. „Sie haben ihn doch selbst ausgesucht." „Was heißt das, ich hätte ihn selbst ausgesucht?" Wilson starrte Lowell von neuem an, besann sich und ging zu einem rechtfertigenden und vertraulichen Ton über.
„Ich glaubte, Sie hätten ihn selbst ausgesucht. Er ist der eine der beiden Leute, die Leopold und James uns heraufgeschickt haben. Er ist einer ihrer besten Leute, zudem ein sehr geriebener Bursche. Ich glaubte, Sie hätten ihn sich extra gewünscht. Der andere ist bloß ein junger Laffe namens Frank Norman, aber Gelb wiegt das mehr als auf. Als Gelb herkam, hörte ich auf, mir Sorgen zu machen. Ich möchte, dass Sie mit ihm sprechen."
5
Als Mike Sawyer rasiert war, stellte Joe Santana ihn noch seiner sieben Jahre alten Tochter vor, die zur Schule musste, seinem fünfjährigen Sohn, der sich selbst, sein Kinderzimmer und alles, was er hinter dem Rücken seines Vaters im Friseurladen erreichen konnte, mit den Fingern beschmierte, und schließlich auch Hannah, die ihn überredete, am Abend zu einem echt italienischen Essen zurückzukommen. Dann schlug Danny Ryan vor, das Tal zurück zum Werk hinaufzugehen und auf dem Wege in die beiden größten Suppenküchen hineinzuschauen, damit Sawyer sehen könnte, wie die Geschichte organisiert war und wie gut das System funktionierte.
„Und es ist keine Fahrt ins Heu hier", sagte Ryan. „Es ist hier nicht wie in New York oder Boston oder sogar in einem Ort wie Worcester, wo es eine Öffentlichkeit gibt, die man um Hilfe angehen kann. Wenn wir hier streiken, dann streikt die ganze Stadt, und wir müssen in unsere eigene Tasche greifen."
Sawyer sah das ein und schlug vor zu versuchen, im ganzen westlichen Teil des Staates eine Massenhilfe zu organisieren.
„Etwas haben wir schon bekommen", sagte Ryan, „das, was der Lastwagen heute abholt. Wir brauchen aber mehr."
Die erste Küche, eben um die Ecke der Kiefernstraße, leitete ein Grieche, Sam Saropoles, ein großer brünetter Mann, der nicht nur zwei Söhne im Kriege, sondern auch fast sämtliche seiner Verwandten in der Widerstandsbewegung in seiner alten Heimat drüben verloren hatte. Der Kummer hatte an seinem Gewicht gezehrt und sein Fleisch hing in losen Falten, aber er hatte ein Lächeln für Ryan und einen herzlichen Händedruck für Mike Sawyer übrig. Die Küche war in einem leerstehenden alten Laden untergebracht, der jahrelang nicht benutzt worden war. Eine Gewerkschaftskolonne hatte ihn in Ordnung gebracht, die Wände geweißt, hinten einen Kohlenherd aufgebaut und einen langen Tisch aus ungehobelten Brettern hineingestellt, an dem etwa vierzig Leute auf einmal Platz hatten. Der Raum war warm, zu warm sogar, wenn man aus der Kälte hereinkam, und hing voll Essensdunst.
Ungefähr ein Dutzend Männer und Frauen saßen an dem Tisch und löffelten ein Eintopfgericht aus dampfenden Schüsseln. Eine etwa vier Fuß hohe Bretterschranke trennte den Küchenteil vom Essraum, und hinter ihr rührten drei Frauen und zwei Männer in Töpfen, wuschen Geschirr und putzten Gemüse. Saropoles ließ sie in die provisorische Küche ein und stellte sie der Reihe nach jedem einzelnen der Arbeiter vor. Oberkoch der Tagschicht war Max Levy, der den Beruf beim Militär gelernt hatte und ihnen stolz erzählte, dass am gestrigen Tage diese eine Küche sechshundertzweiundfünfzig Menschen satt gemacht hätte, mit vierhundertzwanzig Portionen Suppe, fünfhundertfünfzehn Portionen fester Nahrung, zweiundsechzig Dutzend Krapfen, fünfunddreißig Dutzend Wickelkuchen, von den eintausenddreihundertneunzehn Tassen Kaffee gar nicht zu reden.
„... was unsere Hauptsorge ist", sagte Levy. „Kaffee. Was den angeht, ist es wie bei den Soldaten. Wenn man Kaffee hat, ist ein Teil des Mutproblems schon gelöst. Ein Lichtblick sind uns die fünfhundert Pfund, die einer meiner Kameraden mir aus Springfield schicken will. Ich rufe ihn an, und er sagt, er sei gar nicht mit mir einverstanden, aber es mache ihm solches Vergnügen, mich wieder hinter einem Herd zu finden, dass er fünfhundert Pfund glatt wegschmeißen wolle. Aber die langen nicht für ewig."
„Max ist ein guter Koch in einer amerikanischen Weise, wie man sie ihnen beim Militär beibringt, wisst ihr, ohne Phantasie", sagte Saropoles, „aber er ist zu modern. Als ob man nicht schon genug Kopfschmerzen hätte, ein Lokal wie dieses zu leiten — er muss auch noch Vitamine und Eiweiß einführen. Wo zum Teufel kriegen wir aber Vitamine und Eiweiß her, wenn diese verfluchte Geschichte sechs Monate dauert? Ich erinnere mich, wie ich während des großen Stahlarbeiterstreiks gleich nach dem letzten Krieg in Ohio arbeitete. Da hatten wir einen Zentner Erbsen und einen Zentner braune Bohnen bekommen, und weiß Gott, wir ernährten tausend Menschen mit diesen beiden Säcken und mit allen möglichen Zutaten, die wir auftreiben konnten... "
6
Curzon erwartete die Leute vom Werk, als sie im Polizeigebäude ankamen. Er schüttelte jedem eifrig die Hand, sagte zu Lowell: „Ich kannte ihren Vater gut, Herr Lowell. Ein feiner Mensch, ein wirklich feiner Mensch, wie man heutzutage nicht viele mehr trifft", und führte sie dann in sein Büro. Als er das Gebäude betrat, fühlte Lowell eine seltsame, etwas ferne Anwandlung von Angst. Eine Weile später wurde ihm bewusst, dass er vor mindestens dreißig Jahren einmal in diesem hässlichen grauen Steinhaufen gewesen war, der seine viktorianisch-gotischen Türmchen neben dem Hotel Morrisana in die Höhe reckte, das gleich alt und gleich hässlich, doch von einem milderen Ocker war. Damals hatten er und Elliott etwas ausgefressen — was es gewesen, konnte er sich ums Leben nicht mehr vorstellen -, und ein Polizist hatte die beiden Jungen hierher gebracht, sie in ein Zimmer gesteckt und zwei Stunden lang allein gelassen, bis es herauskam, dass er Lowells Sohn war, worauf die ganze Geschichte unter großen Entschuldigungen fallen gelassen wurde. Aber er erinnerte sich, dass sein eigener Mut Elliotts Furcht nicht hatte überwinden können und dass genug dieser Ängste auf ihn übergegangen waren, um dieses Gefühl bis jetzt, drei Jahrzehnte später, zurückzubehalten. Als er darüber nachdachte, ward es ihm ganz gewiss, dass dies das einzige Mal gewesen war, dass er je ein Polizeirevier betreten hatte — ein Gedanke, der ihn jetzt lächeln ließ und einen Teil der angenehmen Normalität des Daseins wieder herstellte, die ihm in den letzten paar Tagen abhanden gekommen war. Er beobachtete Gelb, als sie in Curzons Büro, einen großen rechteckigen Raum mit hohen Fenstern, unmodernen grünen Lampen und schwerfälligen Mahagonimöbeln, eintraten, und er entschied, dass Gelb mit seinem eisengrauen Haar, dem makellosen braunen Kammgarnanzug mit dem Taschentuch in der Brusttasche, den breiten Schultern und dem sorgfältig gepflegten Schnurrbart weit mehr nach Autorität aussah als Wilson oder er selbst. Er überlegte, dass Wilson nicht sehr im Unrecht war, als er vorhersagte, dass Gelb es verstünde, Vertrauen einzuflößen.
Gelb sowohl wie Frank Norman waren auf angenehme Weise ganz anders gewesen, als er erwartet hatte. Norman sah wie ein ordentlicher junger Student aus: kurz geschnittenes Haar, gute Haltung, intelligente Redeweise - ein Mensch, den er ohne zu fragen aufgenommen haben würde, wenn ihn Fern mit nach Haus gebracht hätte. Normans Spezialität war der Werkschutz, und sie hatten ihn im Werk gelassen, um die Tätigkeit der Werkschutzleute zu überwachen, Bekanntschaft mit den einzelnen Wächtern zu schließen und das Gefühl für die Atmosphäre des Betriebs zu bekommen. Lowell hatte die echte Bescheidenheit gefallen, mit der er Fragen stellte und Aufklärung annahm.
Als sie sich jetzt in Jack Curzons Büro setzten, fragte Wilson den Polizeichef: „Ist Freddy Butler hier?"
„Ich wusste nicht, dass Sie ihn hier haben wollten." „Sie wussten nicht, dass ich ihn hier haben wollte!" sagte Wilson. „Man hat uns bloß das ganze verdammte Werk stillgelegt, und da wollen wir den Vormittag dazu verwenden, mit ihnen zu plaudern. Wir können uns darüber unterhalten, was für ein reizender sonniger Tag heute für diese Zeit des Winters ist."
Curzon war schon früher von Wilson so angefahren worden, aber vor Gelb und Lowell schätzte er diesen Ton ganz und gar nicht; außerdem hatte er das Gefühl, dass Wilson Gelbs wegen dieses Theater machte. Er kniff die Lippen zusammen, aber während er eben noch die rechte Antwort suchte - etwas, das raffiniert genug war, um sein Ansehen bei den andern wieder herzustellen und doch den Betriebsleiter nicht offen herauszufordern, half ihm Gelb aus der Klemme und sagte:
„Es gibt doch keinen Grund, warum Jack diesen Butler nicht herholen lässt, während wir hier warten? Ich bin überzeugt, dass wir genug zu besprechen haben." Er war noch rascher mit Vornamen bei der Hand als Wilson, und Curzon, der vorbereitet gewesen war, Gelb zu bewundern, liebte ihn nun geradezu.
„Es ist nicht gut, wenn er hierher kommt", sagte Curzon entschuldigend. „Wenn ihn jemand hier hereingehen sieht, muss er einen Vorwand haben."
„Dann geben Sie ihm doch einen Vorwand", sagte Wilson. Curzon nahm den Hörer ab. „Schön. Wenn Sie es so haben wollen, schön."
Sie brauchten nur ein paar Minuten zu warten, bis Butler erschien, denn es stellte sich heraus, dass er dem Mann, den Curzon nach ihm geschickt hatte, nur drei Häuserblöcke weiter in die Arme gelaufen war. Während dieser Zeit sagte Lowell beinahe gar nichts, er saß da und hörte zu, was Gelb und Wilson und Curzon sagten. Der Gedanke, dass Butler in dieser Weise für Wilson arbeitete, war Lowell wenig schmackhaft, aber er nahm die Sache auf die gleiche Art hin, wie er Wilsons Drängen gefolgt war, Schritte zu unternehmen, um sein Eigentum durch Leopold und James zu schützen. Allein die Tatsache, dass außer ihm selbst keiner der Beteiligten irgendein Bewusstsein oder Gefühl verriet, als ob diese Dinge mehr oder weniger über das Alltägliche hinausgingen, überzeugte ihn, dass seine Empfindlichkeit albern wäre, und der Kopfschmerz, der einzusetzen begann, war bloß ein zusätzlicher Beweis, dass er heilfroh gewesen wäre, den Dingen ihren Lauf zu lassen, sofern nur er selbst nicht mitzumachen brauchte. Solche Kopfschmerzen waren vertraute Kennzeichen einer unsympathischen Situation, und er reagierte darauf, indem er sich sagte, dass er schließlich, wenn die Geschichte vorbei wäre, wissen würde, was Wilson beabsichtigte, mochte es ihm nun gefallen oder nicht.
Gelb verbreitete sich darüber, dass die Stadt sehr reizend wäre. „Ein angenehmer Ort, um darin zu leben", sagte er. „Ich liebe Städte dieser Größe. Sie haben eine gesunde Atmosphäre."
„Prächtig geeignet, eine Familie aufzuziehen", sagte Curzon. Er erzählte Gelb, was seine kleine Tochter heute morgen wieder angestellt hatte, und Gelb lachte in dem eben notwendigen Maß von Würdigung, dass Curzon befriedigt war, doch auch mit genügender Zurückhaltung, um sowohl Wilson wie Lowell zu überzeugen, dass er, Gelb, über den Mann Bescheid wüsste. Wahrhaftig, Curzon war nicht schwer abzuschätzen, und deswegen hatte Lowell ein klein wenig Mitleid mit ihm.
„Und die Stadt hat überdies ihre Geschichte", informierte Wilson Gelb. „Wenn Sie es einrichten können, sollten Sie hinausfahren und sich das alte Blockhaus auf dem North Hill ansehen. Als Professor Adams vor zwei Jahren hier war, sprach er im Rotaryklub und betonte ganz besonders, dass seiner Meinung nach das alte Blockhaus das schönste Beispiel einer vorkolonialen Rekonstruktion in ganz Massachusetts wäre. Herrn Lowells Vater hat 1928 das Projekt finanziert. Es stehen zwei Bronzekanonen dort oben, die den ganzen Weg von New Orleans hergebracht worden sind, wo sie zweihundert Jahre lang unter Wasser waren." „Unter Wasser?" fragte Gelb.
„Versenkt. Sie waren die ganze Zeit über versenkt, so dass sie genau aus der richtigen Periode sind. Ich meine, sie waren mit einem Schiff untergegangen. Man musste sie mit einer Taucherglocke herausholen, und es kostete zweitausendzweihundertzwanzig Dollar, einschließlich Fracht."
Lowell atmete auf, als ein Beamter hereinkam, der Butler vor sich herschob. Er war überrascht, wie sehr Butler im Aussehen und Auftreten den Eindruck eines durchaus anständigen Menschen machte. Der rothaarige schmächtige Mann hatte ein abgehärmtes, ängstliches Gesicht, aber seine Nervosität verriet sich einzig darin, dass er beständig seine Mütze zwischen den Händen drehte. Als ihn Curzon neben den Schreibtisch platziert hatte, stand Gelb auf, ging zu ihm hinüber, lehnte sich an den Schreibtisch und lächelte ihn auf eine besonders beruhigende Art an.
„Es ist nichts Besonderes und nichts zum Aufregen, Butler", sagte er sanft. „Ich bin neu in der Stadt und möchte einige Fragen stellen, weiter nichts." Er hatte den Tonfall eines Krankenbesuchers, eine angeborene Gabe, den Menschen Mut zu machen. „Klar, Herr Gelb." „Wir sind uns schon mal begegnet?"
„Ich habe Sie in Youngstown gesehen, aber wahrscheinlich würde ich Sie nicht wieder erkannt haben, wenn ich nicht gewusst hätte, dass Sie in der Stadt wären." „Woher wussten Sie das?" „Es ist in der ganzen Stadt herum", sagte Butler, und Gelb zeigte zum ersten Male, seitdem Lowell ihm begegnet war, die Pranke; er fuhr Wilson an:
„Ich dachte, es sollte geheim bleiben."
„So wahr mir Gott helfe, der einzige, der von ihrem Hiersein wusste, war Herr Lowell selbst. Curzon habe ich es erst vor ein paar Stunden erzählt."
„Das stimmt", sagte Curzon. „Das stimmt, Herr Gelb."
Lowell betrachtete Butler und fragte sich verwundert, was das Kennzeichen eines ehrlosen Menschen wäre. Dieser hier war ein ruhiger, achtbarer Arbeiter, der keinen Krawall machte und deshalb mit den gesetzmäßig bestellten und gewählten Autoritäten zusammenarbeitete — daneben jedoch hatte Lowell nach Gründen zu suchen. Er fragte sich, ob Gelb oder Wilson oder Curzon jemals dieser Gedanke käme.
Gelb ging vom Schreibtisch fort, ließ sich in einen Sessel fallen und fragte Butler weiter aus, wiederum mit sanfter Stimme: „Woher kam das Gerücht?"
„Ich könnte es nicht sagen, Herr Gelb. Vielleicht hat jemand Sie erkannt."
„Mag sein", nickte Gelb. „Reden die Leute darüber?"
„Sie sind neugierig", sagte Butler.
Jack Curzon sagte: „Ich wüsste nicht, wem es weh tut, wenn sie neugierig sind."
Ein wenig lächelnd sagte Gelb leise: „Nehmen Sie mal an, Butler, Sie müssten mir eine Sache, und nur eine einzige Sache aus diesem Streik erzählen, ich meine, etwas, was ich noch nicht weiß; was würde das sein?"
Butler zuckte die Achseln und schaute von Gesicht zu Gesicht.
„Eine einzige Sache."
„Vielleicht würde ich sagen, dass dieser neue DL, Mike Sawyer, gestern in die Stadt hereinschneite."
„DL?" fragte Wilson.
„Distriktsleiter."
„Von der Gewerkschaft?"
„Von der Kommunistischen Partei", sagte Butler ruhig.
Lowell beobachtete Gelb, aber er zeigte keine Reaktion, keine Veränderung in seiner interessierten, beherrschten Haltung. Wenn man ihn sprechen hörte, war es schwer herauszufinden, ob eine Frage wichtiger als eine andere war.
„Sie sagen, er sei ein neuer Mann?"
„Erst ein paar Wochen bei der Arbeit. Vor ihm hatte Byron Rand den Posten. Ich hörte, dass sie ihn hinunter in den Süden geschickt hätten."
„Warum?"
„Es könnte ein Haufen Gründe sein", sagte Butler. „Aber er war ziemlich tüchtig. Es ist schwierig dort unten, deshalb schicken sie ihre besten Leute dahin."
„Und sie gehen, wohin sie geschickt werden?" fragte Wilson.
„Meistens gehen sie, wohin sie geschickt werden."
Gelb steckte sich eine Zigarette an und paffte eine Weile, bevor er sich wieder an Butler wandte: „Was wissen Sie über
Sawyer?"
„Er ist ein ruhiger Bursche, redet nicht viel, hört lieber zu. Ist in diesem Kriege und im Spanienkrieg gewesen."
„Bataillon Lincoln?"
„Richtig.“
„Es gibt noch einen anderen in der Stadt, nicht wahr?"
„Dr. Abbott."
„Vorläufig wollen wir ihn beiseite lassen." Gelb lächelte, wobei er vermied, Lowells Blicken zu begegnen, und Lowell war neugierig, wieviel dieser gutgekleidete, sanft redende Mensch wusste, wieviel er gewusst hatte, bevor er nach Clarkton kam, und wieviel er seither erfahren hatte. Da, fast als ob er Lowells Gedanken gelesen hätte, wandte sich Gelb zu ihm und sagte mit einem Ton aufrichtiger, doch nicht salbungsvoller Bescheidenheit in seiner Stimme:
„Es ist mein Beruf, Herr Lowell, und ich bin lange dabei. Ich bin sicher, dass Sie in Ihrem Beruf ebenso gut Bescheid wissen." Lowell musste wider Willen lächeln. Curzon und Wilson sahen einander an. Gelb fragte Butler:
„Wenn Sie Distriktsleiter sagen, meinen Sie dann den ganzen Distrikt?"
„Zum Distrikt gehören vier Staaten. Sawyers Gebiet ist das westliche Massachusetts. Es wäre wohl richtiger, ihn Bezirksleiter zu nennen. Das ist auch sein wirklicher Titel, aber wir nennen ihn DL."
Gelb straffte sich etwas, ganz wenig nur, eben genug, dass es bemerkbar war, und ließ den schwächsten Schimmer von Härte in seiner Stimme aufklingen, als er fragte:
„Wann traten Sie hier in Clarkton in die Partei ein, Butler?"
„Vor etwas weniger als sechs Monaten."
„Für so kurze Zeit scheinen Sie gut unterrichtet zu sein."
„Ich halte meine Ohren offen", sagte Butler; der Ton der Unverschämtheit in seiner Stimme entsprach genau dem Ton der Härte in Gelbs Stimme. Gelb lächelte ihn an, und seine Stimme wurde wieder einmal höflich und gewinnend.
„Schon früher in der Partei gewesen?"
„Neununddreißig in Ohio."
„Warum?"
„Ich hatte einen Auftrag."
„Von der United?" (Anm.: United States Steel Corporation - größter amerikanischer Stahltrust)
„Nein, von der Regierung. Sie bezahlt einen wie Grind und behandelt einen wie Dreck."
„Ich habe gefunden", sagte Gelb mitfühlend, „dass sie im allgemeinen großen Unfug macht. Verwaltung und Organisation vertragen sich nicht mit Politik. Und vorher?"
„Was vorher?"
„Ich meine, dass Sie schon vorher in der Partei waren."
„Neunzehnzweiunddreißig", sagte Butler.
„Auch in einem Auftrag?"
„Nein", sagte Butler. „Ich war herunter; ich hatte ein Jahr lang nicht gearbeitet und hatte drei Tage nichts mehr gegessen."
„Ich verstehe. Sagen Sie mir, wer hier in Clarkton Leiter der
Partei ist."
„Danny Ryan."
„Angestellt?"
„Nein, er ist Stanzer in der Fabrik. Wir haben keinen angestellten Funktionär in Clarkton, es ist nicht wichtig genug, nicht groß genug. Ryan ist auch zweiter Vorsitzender der Gewerkschaft. Er teilt sich mit Abbotts Frau, Ruth, in die Parteiarbeit; sie ist Organisationssekretärin für sämtliche Arbeiten."
„Wer?" sagte Lowell.
„Ruth Abbott", wiederholte Butler langsam und sah Lowell
ruhig an.
„Das ist eine Lüge", sagte Lowell. „Das ist eine verdammte
Lüge."
Butler wollte etwas entgegnen, aber Gelb schnitt ihm rasch und geschickt das Wort ab und sagte zu Lowell: „Es mag eine Lüge sein, Herr Lowell, es kann aber auch stimmen. Warten wir doch ab, bis ich mit Butler zu Ende gesprochen habe, und dann können Sie ihn nach Beweisen für alle Behauptungen fragen, die Ihrer Meinung nach zweifelhaft sind."
Wie sehr Gelb auch jede Schärfe in seinen Worten vermied, so mochte Lowell keineswegs, dass man in dieser Form mit ihm sprach. Er war es nicht gewöhnt, und er mochte auch nicht die Art und Weise, wie es mit der Erkenntnis zusammentraf, dass Gelb nach noch nicht vierundzwanzig Stunden in Clarkton über manche Dinge in der Stadt mehr wusste, als er in fünf Jahren erfahren hatte. Aber er nickte, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Man stellte etwas auf den Kopf; anfangs war es unglaublich, und dann passte es beinahe augenblicklich genau in die neue Perspektive. Butler, der den Eindruck eines naiven Menschen machte, war nicht naiv; wie ihn Lowell jetzt sah, wurde er ein amoralisches Wesen; er log, weil nichts in ihm die Lüge von der Wahrheit schied. In ihm lebte kein Prinzip, keine Maxime, kein kontrollierender Faktor — nicht mehr als in einem Tier auf dem Felde, einem Fuchs, der gestern gejagt worden war und morgen wieder gehetzt werden würde, nicht mehr als in einem kleinen Kinde oder einem sehr bösen, sehr alten Manne. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Lowell, flüchtig und fragmentarisch, eine Empfindung für das ethische Problem, das sich aus der Situation erhob; zu gleicher Zeit passte sich das kopfgestellte Bild in den Rahmen ein, und er wusste, dass Butler in diesem Falle nicht log.
„Sie wollen mehr über Ruth Abbott hören?" sagte Butler. „Sie spielt hier die Hauptrolle, und sie ist auch im Distriktsvorstand."
„Ryan auch?"
„Der auch", sagte Butler.
„Ich fürchte, Sie können die Abbotts nicht leiden", lächelte Gelb, die Andeutung von Abbitte und Verständnis an Lowell gerichtet. „Ich denke, wir lassen sie für eine Weile aus dem Spiel. Wie stark ist die Partei hier in Clarkton, Butler?"
„Dreiundvierzig Mitglieder." Dann fügte er noch mit einem Ausdruck, der fast einem entwaffnenden Lächeln glich, hinzu: „Einschließlich meiner selbst."
Gelb hielt nun ein kleines Buch in der Hand, trug aber keine Notizen, sondern Ziffern ein. Es war ein dünnes, kostspieliges Notizbuch in blauem Leder mit einem zarten Liniengeflecht von Gold, und es steigerte jenes Gefühl der Verwöhntheit, das Gelb ohne Einbuße seiner Männlichkeit zu bewahren verstand.
„Wie sind sie organisiert?"
„In zwei Gruppen", sagte Butler und bestätigte Lowell eine Klarheit der Auffassung, die dem schäbigen, schüchternen, mehr oder weniger unauffälligen Äußeren durchaus widersprach, so dass Lowell sich staunend fragte, welcher Zufall denn den einen Menschen auf diesen Platz, den andern auf jenen führte. Denn hier stand der Spitzel von Beruf geradezu als Allgemeinbegriff, ein Mensch ohne Vorurteile und ohne Vorlieben, der in der Verborgenheit einer schmutzigen Fabrikstadt Neu-Englands für die zwanzig oder dreißig Dollar die Woche wirkte, die Wilson gewillt war, ihm über seinen Arbeitslohn hinaus zu
zahlen.
„Es gibt eine Betriebs- und eine Wohngruppe", fuhr Butler fort, „ich bin in der Betriebsgruppe, wir haben sechsundzwanzig Mitglieder. Die übrigen sind in der Wohngruppe, Abbotts
Gruppe."
„Arbeiten die Leute aus der Betriebsgruppe alle im Werk?"
Butler nickte.
„Und wer alles ist in der Wohngruppe?"
„Abbott und seine Frau, Joe Santana - das ist der Friseur -und seine Frau. Der alte Professor Revere und sein Sohn, der eine, der Lehrer oben in Williams ist. Goldstein, der Rechtsanwalt, und seine Frau, und Milt Cooper, der gerade vom Militär gekommen ist... "
„Den Rest brauchen Sie nicht aufzuzählen", sagte Gelb; er wandte sich an Wilson: „Sie haben doch eine vollständige Liste,
nicht wahr?"
Wilson nickte. „Wieso kennen Sie die andere Gruppe so genau?" fragte Gelb Butler.
„Die beiden Gruppen halten einmal im Monat eine gemeinsame Versammlung ab. Seitdem der Streik anfing, haben sie fast alle drei Tage eine gemeinsame Versammlung abgehalten — zwei Versammlungen hatten sie schon. Alles, was überhaupt vorkommt, bespricht Ryan mit Ruth Abbott." „Er hält viel von ihr?"
„Ich möchte nicht sagen, wieviel... " grinste Butler und warf einen schnellen Blick auf Lowell, „aber er ist höllisch besessen von ihr. Ich weiß nicht, was in den Betten der Genossen vor sich geht, ich kann nur vermuten... " „Schweigen Sie!" sagte Lowell.
„Man hat mir eine Frage gestellt, ich beantworte sie." „Sprechen wir doch nicht mehr von Ruth Abbott", mischte sich Gelb beruhigend ein. „Wo treffen sich die Gruppen, Butler?" „Die Wohngruppe trifft sich bei den Abbotts - oder in Santanas Wohnung hinter seinem Friseurladen; die Betriebsgruppe an verschiedenen Stellen, bei Ryan oder jemand anderm."
„Wie stellt sich die Betriebsgruppe zu dem Streik?"
„Genau gesagt, hinterhältig. Verstehen Sie mich nicht falsch. Der Streik hätte ohne sie auf keinen Fall in der Art angedreht werden können, wie er angedreht wurde. Aber sie stehen deshalb an der Spitze, um alles für ihre gottverdammte Partei herauszuholen. "
„Wieso?" sagte Gelb, beinahe flüsternd.
„Ryan hält den Genossen große Reden über politische Schulung, damit sie in der Lage sind, die Arbeiter erkennen zu lassen, dass der Streik nicht alles ist, und ihnen beizubringen, dass sie lernen müssen, wie man zur politischen Aktion übergeht. Er sagt, wir müssen uns überlegen, wie wir den Sozialismus an die Arbeiter heranbringen. Sie in die Partei holen! Sie Einigkeit lehren! Sie ihr Klasseninteresse lehren — was bedeutet, dass sie auf einem Buch von Karl Marx in den Himmel reiten werden! Massenstreikposten und all dieser Quatsch, aber Ryan gibt sich keine Blöße. Hände weg von der Gewerkschaft, sagt er, Hände weg von der Gewerkschaft."
„Aber sie tun's nicht", lächelte Gelb.
„Was glauben Sie denn? Drei Genossen sitzen im Streikkomitee. Sie leiten die Suppenküchen, sie melden sich freiwillig als Streikpostenobleute, was kein Vergnügen ist, weil man dabei sein muss, ganz egal, wie das Wetter ist. Es ist ihr eigener verdammter kleiner Streik — doch sie lassen die Hände davon, ganz richtig; sie schaffen bloß tonnenweise Lebensmittel heran und verbreiten ihren Fetzen, den Daily Worker, über den ganzen Ort."
„Ließe sich nicht mit irgendeinem von ihnen verhandeln?"
Um Butlers Augenwinkel erschienen kleine Falten, und er sah Gelb einen langen, kühlen Augenblick an, bevor er antwortete: „Warum versuchen Sie es nicht?"
„Sie sind ein gerissener Bursche, Butler, aber sie sollten nicht zu gerissen sein. Ich kann Menschen nicht leiden, die zu gerissen sind."
„Wenn ich ein gerissener Bursche wäre, brauchte ich nicht bei dieser Schmutzarbeit zu sein."
„Dieser Danny Ryan", sagte Gelb. „Ist es bekannt, dass er ein
Roter ist?"
„Wie meinen Sie, bekannt?" „Gibt er zu, dass er ein Parteibuch hat?" „Er hängt es nicht an die große Glocke. Der einzige in der Stadt, der genug Mumm hat, sich hinzustellen und zu sagen, was er ist, das ist Joe Santana. Früher pflegte er in die Kirche zu gehen, und dann wurde ihm die Partei zur Religion-, direkt in seinem Laden hat er einen Stoß von Büchern des Dekans von Canterbury liegen und dreht sie jedem an, der dumm genug ist, dafür Geld auszugeben." „Ich fragte nach Ryan", sagte Gelb.
„Manche wissen es von Ryan, manche nicht. Als sie in der Gewerkschaftsversammlung beschlossen, über den Streik abstimmen zu lassen, warf Bill Noska, der Vorsitzende, Ryan vor, Kommunist zu sein. Ryan stritt die Beschuldigung keineswegs ab, verlangte bloß dauernd, sie sollten sich seine Vergangenheit ansehen und ihn nach dem beurteilen, was er täte; das ist die Tour, die sie immer reiten. Und dann kam ihm noch Joey Raye zu Hilfe - ein großer Neger, der wie ein Baptistenprediger redet -und riss ihn heraus. Dieser Ryan ist ein ganz gerissener Ire, der keinen Schritt tut, wenn er nicht weiß, wo er seinen Fuß hinstellt. Er hat diese Kampagne für Massenstreikposten angedreht, aber er betreibt sie nie zu stark — er betreibt nie etwas zu stark, wenn er merkt, dass es gegen ihn läuft."
Später hatten die drei, Lowell und Gelb und Wilson, im Werk
ihren Lunch. Geneigt, die Bedeutung der Vorgänge in Curzons Büro
zu verkleinern, sagte Lowell, er sähe nicht ein, dass sechsundzwanzig
Kommunisten in einem Betrieb, der fast fünftausend Männer und
Frauen beschäftigte, viel zu bedeuten hätten, weder so noch so.
„Ein fauler Apfel in einem Fass ist auch nicht viel", sagte Gelb.
„Eine kleine Krebsgeschwulst ebenso wenig, nicht wahr, Herr
Lowell?"
„Noch ist es nicht gegen das Gesetz, Kommunist zu sein", protestierte Lowell.
„Kommt noch, bloß ist das Gesetz so kolossal verdammt langsam. Dies ist eine ruhige Stadt, Herr Lowell. Ihr Vater hat niemals Krach hier gehabt. Aber todsicher bekommen Sie einen Haufen Unordnung, wenn Sie die Sache nicht gleich zu Anfang abdrehen."
Seines Standpunktes unsicher und von der sachlichen Offenheit sowohl Wilsons wie Gelbs bedrängt, suchte Lowell nach Gründen und Tatsachen, die er greifen konnte. Die ganze Zeit, die er mit den Abbotts verlebt hatte, kehrte zurück, aber um sein Leben nicht konnte er Abbott oder dessen Frau in das Bild einpassen, das Gelb entwarf. Mit Kommunisten hatte sich Lowell nie besonders beschäftigt, und wenn er es tat, so war er ein hinreichend gesunder und welterfahrener Mensch, um irrsinnige Wutausbrüche zu unterlassen; er brachte sie in jenem hinteren Schubfach seines Gedächtnisses unter, das auch die Tauchtauf-Baptisten, Technokraten und Sabbat-Adventisten enthielt. Merkwürdigerweise war es nicht Abbott gewesen, mit dem er gesprochen, als er ein einziges Mal den Versuch gemacht hatte, ernsthaft über diese Dinge zu reden, sondern sein Sohn Clark, und zwar im Zusammenhang mit der Roten Armee - zu einer Zeit, da sie sich viel über solche Themen unterhielten; und damals war er von Clarks frischem, wachsamem Hunger nach allem in der Welt mitgelockt worden, was in jenem flammenden Kessel, zu dem das Leben während des Krieges geworden war, erfahrenswert schien.
„Das einzige doch, was Sie jetzt vorweisen können, ist, dass sie Massenstreikposten wollen und dass sie Lebensmittel heranschaffen", sagte er.
„Diese Leute sind am leichtesten in der Welt zu unterschätzen", antwortete Gelb, „und das ist ein Fehler, den ich mit aller Gewalt zu vermeiden suche." Wie er so sein Stück Obstkuchen aß und seinen Kaffee trank, ernsthaft erzählte und Lowell in die Augen sah, war er offensichtlich ein aufrichtiger Mensch, gleich jenem seltenen Typ eines Offiziers, der Disziplin und Intelligenz mit wirklichen menschlichen Eigenschaften zu verbinden weiß. „Ich habe den Ruf, erfolgreich zu sein", fuhr er fort, „und ich glaube nicht, dass ich diesen Ruf haben würde, wenn ich diese Leute unterschätzt hätte." Er aß zwischen seinen Worten; es war eine Genauigkeit an ihm, die jeder Opposition spottete, eine Sachlichkeit, die bessere Erfolge als ein dramatisches Auftreten erzielte. „Wir begehen zwei Irrtümer, Herr Lowell. Wir mögen diese Leute nicht, und wir verstehen sie nicht. Kostspielige Irrtümer, wenn Sie mir glauben wollen. Denn sie sind ein sehr hoher Typ des Menschen, und das ist etwas, was wir anerkennen müssen. Sie sind äußerst geschickt im Organisieren. Der Zweck der Massenstreikposten ist nicht, Sie der Arbeiter bewusst zu machen, sondern die Arbeiter ihrer selbst bewusst zu machen. Das ist eine Vorstellung, die wir schwer begreifen, weil wir nicht wie die Arbeiter denken; aber sie tun es. Wenn Sie sich daran erinnern, zu Ihres Vaters Zeiten ging es mit der Betriebsgewerkschaft ganz glatt — es gab keine Unruhe. Dann trat der CIO auf, und die Leute in der Stadt begannen anders über das Werk zu denken." Er entschuldigte sich: „Nicht, dass ich über die Lage mehr weiß als Sie, Herr Lowell, aber ich kann aus hundert gleichartigen Situationen meine Kenntnis verallgemeinern. Ihr Vater stellte ein Muster patriarchalischer Fürsorge auf, aber als der CIO kam, begannen die Arbeiter zu fordern. Der Appetit war die ganze Zeit dagewesen, aber hier war nun ein Weg, ihn zu befriedigen, und entweder fressen sie Sie auf oder Sie machen ihnen klar, dass Sie in der Lage sind, ihrem Appetit Schranken zu setzen. Warum aber sind die Kommunisten der Schlüssel zu diesen Dingen? Nicht weil sie die Revolution fordern oder die Regierung stürzen wollen, nicht weil sie Familie, Kirche und alles andere zerstören — das sind Altweibermärchen für solche, die sie nutzen wollen, und sie dienen nur dazu, uns zu verwirren -, sondern weil die Kommunisten sehr geschickt die Arbeiter zum Bewusstsein ihrer selbst und zum Bewusstsein dessen bringen, was sie erreichen können, wenn sie sich in Bewegung setzen. Das wäre nicht gut für die Lowell Company, und es wäre nicht gut für Clarkton."
„Es ist gegen unsere Tradition", sagte Wilson. „Es ist gegen alles, was amerikanisch heißt, gegen alles, was uns am Herzen liegt. Es ist jene Art Totalitarismus, der unser Land in einen Kasernenhof verwandeln würde... "
„Was schlagen Sie vor zu tun, Gelb?" unterbrach ihn Lowell. Er war schon müde; es verlangte ihn, wegzukommen und dies hinter sich zu haben.
„Es gibt verschiedene Möglichkeiten vorzugehen", sagte Gelb. „Aber ich denke, wir sollten ihnen etwas zu schlucken geben, das wie ein Katalysator wirkt und den Streik von selbst beendet. Wilson sagt mir, dass es für Sie von außerordentlichem Vorteil wäre, mit der Geschichte rasch fertig zu werden — doch nicht durch einen Zurückzieher. Ich glaube, es wäre falsch, gerade jetzt zurückzuweichen. Es gibt gewisse Dinge, die wir tun können. Zum Beispiel sind eine Anzahl Gewerkschaftsfunktionäre ziemlich antikommunistisch. Hier wäre der Ansatzpunkt für einen Keil, es hängt aber davon ab, wie ehrlich diese Funktionäre sind. Wir werden das in Gang bringen. Aber mehr als das möchte ich dem Massenstreikpostenstehen zuvorkommen. Ich mag Massenstreikposten nicht. Ich möchte ihnen einen Knüppel zwischen die Beine schmeißen. Nun sagt mir Wilson, dass sich das Werksgelände das ganze Stück von den Toren bis zur Birkenstraße hinzieht.
„Das stimmt", sagte Lowell.
„Es wird auch vor dem Betreten gewarnt", sagte Wilson. „Ich sprach mit Burton darüber, und er sagt, Herrn Gelbs Vorschlag hätte eine solide rechtliche Basis."
7
Etwa zwei Stunden zuvor, mit anderen Worten gegen elf Uhr ungefähr, hatte sich bei Lois ein schneidendes Kopfweh zu entwickeln begonnen — eins von denen, die morgens anfangen und stetig schlimmer werden, bis sie in Schmerz und Allgegenwart den ganzen Menschen verzehren. Das traf sich recht unglücklich, denn Lois hatte sich vorgenommen, heute mit Fern über gewisse Gewohnheiten zu sprechen, die ihre Tochter angenommen hatte, und Lois sperrte sich, eine Idee, einen Plan, überhaupt jeden Kurs des Handelns aufzugeben, den sie für nötig hielt und zu dem sie sich entschlossen hatte. Sie war um so entschlossener, als dies keine besonders dringliche Sache war, auf keinen Fall dringlicher, als sie vor acht Tagen gewesen wäre oder nach acht Tagen sein würde. Sie legte sich für eine Stunde hin, aber das half nicht viel, und da fiel ihr ein, ein Glas kalte Milch zu trinken; sie erinnerte sich, dass Elliott es gegen fast jede kleinere Magenstörung verschrieben hatte, und sie erinnerte sich auch, dass er einmal gesagt hatte, Kopfschmerzen hätten ihren Ursprung im Magen. Als sie in die Küche ging, fand sie Fern dort sitzen, Milch trinken und mit Huhn belegte Brote verzehren, so rasch sie Martha, die Köchin, machen konnte. Lois trank ihre Milch und fragte dabei Fern, wo sie hinginge. „Zu Elliotts", sagte Fern. „Warum?"
„Weil ich glaube, dass ich krank bin", sagte Fern ruhig — eine Behauptung, die zu glauben Lois keinen Grund hatte, die sie aber antrieb, ihre Absicht durchzuführen; sie sagte Fern, dass sie gern einmal mit ihr sprechen möchte. „Lange, Mutter? Ich möchte mich nicht gern aufhalten." „Nur ein paar Minuten“, sagte Lois. Sie gingen in die Bibliothek, wo Fern mit den Händen im Schoß dasaß. Sie kannte ihre Mutter, sie ahnte, was kommen würde, und war schon entschlossen, es geduldig über sich ergehen zu lassen. Wie sie so Lois gegenübersaß, sah sie sehr reizend aus: ein junges Mädchen in braunem Kostüm, gelber Bluse und braunen Schuhen mit flachen Absätzen. Sie hatte das freimütige, offene Gesicht von Lois, auch die weitgesetzten Augen, die einen so völlig zu entwaffnen vermochten und denen, wie Lois jetzt erwog, ihr Vater wieder und wieder verfiel. Aber Lois war nicht gewillt, ihre Gedanken ablenken zu lassen, und da sie nicht wusste, wie sie ihre Aussprache einleiten sollte, stürzte sie sich mitten hinein und sagte Fern, dass es so nicht weitergehen könnte.
„Was, Mutter?"
„Soll ich dir alles einzeln aufzählen, Fern? Deine ganze Lebensweise."
„Wie lebe ich denn, Mutter?" fragte Fern.
„Zum Beispiel bloß die Geschichte mit Elliott."
„Welche Geschichte mit Elliott, Mutter?" fragte Fern mit stumpfer und träger Stimme. „Glaubst du, dass ich in Elliott verliebt bin? Bist du in ihn selbst verliebt - geht es darum?"
„Wie gemein, so etwas zu sagen!" Lois' Kopf hämmerte, und deshalb versuchte sie, sich zu beherrschen, um sich nicht von einem Impuls hinreißen zu lassen und ihrer Tochter gewisse Dinge zu sagen, die niemals zurückgenommen oder vergessen werden könnten. Seitdem Clark tot war, war ihr Fern immer schärfer ins Bewusstsein getreten, hatte sich ihr Bedürfnis, Fern zu lieben und von ihr geliebt zu werden, immer mehr gesteigert. Sie war nun in der Defensive, völlig in der Defensive, und Fern nützte es aus.
„Oder sind es die Abende, Mutter? Denkst du an die finsteren und schmutzigen Dinge, die ich nachts tue - das wilde und hoffnungslose Leben, das ich führe? Es muss ein hübsches Bild sein, das du mit dir herumträgst. Ich sollte Mitleid mit dir haben, bloß ich hab's nicht... "
Und durch die Qual in ihrem Kopf, durch die Panik, die sie überwältigte und ihren Wunsch erweckte, aus dem Zimmer zu stürzen, konnte Lois einzig und allein an den Tod ihres Sohnes denken, wie er von dieser herrlichen und leidvollen Erde Abschied nehmen musste - ihr großer, hübscher Sohn, der mit mehreren Hundert seiner Kameraden in einem französischen Walde von den Nazis gefangen genommen, mit den anderen zu einer Herde gesammelt, wieder abgeteilt, zurückgetrieben und dann niedergeschossen worden war, um mit einem Loch in seinem Kopf im Schnee liegenzubleiben. Das war alles, woran Lois denken konnte.
8
Das Lokal der Clarktoner Gewerkschaft war ein baufälliges Fachwerkhaus an der Kreuzung Eichenstraße und Vierte Avenue, am äußersten Rande der Stadt, mit den Bergen dahinter und mit einem murmelnden Bach, der vorbeilief. Weiter unten in der Eichenstraße verwandelte sich das Pflaster in einen alten Schlackenweg, der das Flüsschen auf einer dieser alten überdachten Neu-England-Brücken überquerte. Nach Osten zu stand an der Vierten Avenue eine lange Reihe Arbeiterhäuser, jene merkwürdigen ländlichen Elendsquartiere aus roten Ziegeln, die diesem Teil Amerikas eigentümlich sind und seltsam an die Alte Welt erinnern. Die Seltsamkeit wurde noch dadurch gesteigert, dass jede Wohnung in der Reihe nur vier winzige Zimmer enthielt und keine Zentralheizung, keine Wasserleitung, keine Kanalisation hatte. Je zehn Familien teilten sich in Abort und Pumpe, eine Tatsache, auf die Danny Ryan hinwies, als er mit Mike Sawyer die Vierte Avenue zum Gewerkschaftshaus hinaufging.
„Die Leute hier sind alle französische Kanadier", sagte Ryan. „Sie wurden größtenteils 1929 heruntergeholt, als der alte Lowell sich vornahm, den Streik zu zerschlagen - und es geschafft hat, bei Gott -, aber jetzt sind sie gute Gewerkschafter, nur dass die Kirche nun anfängt sie aufzuhetzen."
„Ihr habt viel Ärger mit der Kirche?" fragte Sawyer.
„Es geht los. Sie haben einen neuen Pfarrer aus Boston hierher bekommen, Pater O'Malley; groß, gut aussehend und mit der richtigen Sorte von Lächeln. Ein sehr gerissener Bursche. Er kommt zu mir in die Wohnung, macht einen großen Stuss mit den Kindern - ich glaube, er hat Kinder tatsächlich gern -, und dann sagt er: ,Ich höre, Sie sind Kommunist, Ryan.' Es wird behauptet, sage ich. Darauf er: ,Wenn jemand seinen Bruder Genosse nennen will, dann ist das ganz mein Fall. Ich habe Kommunisten gern, aber ich verabscheue den Kommunismus.' Von dieser Art Burschen ist er, richtig ausgekocht. Er fing ganz sachte an, aber jetzt macht er ein Affentheater wegen der gottlosen Roten. Nicht wegen des Streiks, dafür ist er zu gerissen."
Sawyer starrte die Brücke an, und Ryan erklärte, dass sie hundertdreiundvierzig Jahre alt wäre. „Vor etwa zehn Jahren wollten sie sie abreißen, aber der alte Lowell wehrte sich mit aller Macht und brachte es wieder in Ordnung."
„Sie ist wunderbar", sagte Sawyer. „Ich habe noch nie eine dieser alten überdachten Brücken gesehen. Ich sah Bilder davon, aber noch nie habe ich bisher eine in Wirklichkeit gesehen. Dies ist eine mächtig hübsche Gegend zum Arbeiten."
Ryan warf einen Blick auf ihn und sagte scharf: „Willst du mich veralbern?"
„Nein — zum Teufel, nein!"
„Ich versteh' dich nicht, Sawyer —Jesus, ich versteh' dich nicht. Vielleicht bist du zu lange aus dem Verkehr gezogen gewesen."
„Was beißt dich?" sagte Sawyer und bemühte sich, seine Gereiztheit zu beherrschen. „Was, zum Teufel, beißt dich, Ryan? Ich versuche hier weiterzukommen. Ich möchte auch mit dir weiterkommen. Wenn ich nicht begreife, dass Harn Gelbs Anwesenheit hier in der Stadt das Schlimmste ist, was je passierte -vorausgesetzt, er ist hier -, dann spielst du verrückt."
„Reg dich nicht auf", sagte Ryan.
„Ich versuche, mich nicht aufzuregen. Ich bemühe mich, mir beizubringen, dass ich mit dir zusammenarbeiten muss."
„Mir ging wieder mal der Hut hoch", sagte Ryan langsam und biss sich auf die Lippen. „Dies ist ein Streik und kein Sonntagsvergnügen."
„Ich weiß, dass es ein Streik ist, Ryan. Ich weiß noch nicht in allem Bescheid, aber ich bemühe mich, mein Handwerk zu lernen. Ich habe sie nicht gebeten, mich in die größte Streikwelle
hineinzuschicken, die jemals über das Land gegangen ist. Aber sie haben es getan, und hier bin ich nun." „In Ordnung - mir ging der Hut hoch." Sawyer sagte: „Dieser Byron Rand, den sie vor mir hier hatten - der war ein fixer Junge?"
„Er war ein höllischer Kerl", antwortete Ryan gelassen. „Warum schreibst du ihnen nicht einen Brief drunten in New York und sagst ihnen, dass es uns überhaupt gibt? Wenn ich meinen Ford auf die Weise führe, wie die ihre Organisation leiten, dann könnte ich ihn als Schrott verkaufen."
„Wenn das deine Meinung ist, na schön", sagte Sawyer. „Ich habe meinen Auftrag, und den möchte ich durchführen. Wenn du meinst, ich mache Murks, dann schreib du ihnen doch einen Brief. Bis dahin aber bleibe ich hier kleben."
Sie waren nun vor dem Gewerkschaftshaus angekommen. Auf dem Bürgersteig davor waren mindestens fünfundzwanzig oder dreißig Männer und Frauen, die in Gruppen zusammenstanden, sich unterhielten oder bloß an der Mauer lehnten und den warmen Sonnenschein des köstlich unwinterlichen Wetters genossen. Alle kannten sie Ryan, und Sawyer bemerkte wieder, wie geduldig Ryan ihre Beschwerden anhörte und wie bereitwillig sie ihre Klagen vor ihm auskramten. Als er Ryan so beobachtete, wurde ihm bewusst, dass er von dem kleinen Iren eine ganze Menge lernen könnte. Die Mühe würde sich lohnen. Es würde sich lohnen, seinen Spleen hinzunehmen - was er sowieso musste. Er stellte auch fest, dass wenigstens ein Dutzend Leute den Daily Worker lasen, und als er eine Bemerkung zu Ryan darüber machte, sagte der kleine Mann:
„Während des Streiks können wir ihn unter die Leute bringen. Bill Noska hat zwar Zeter und Mordio geschrieen, aber was kann er ihnen weismachen, wenn er das einzige Blatt ist, das ihnen nicht die Hosen runterzieht. Komm mit hinein. Ich möchte dich mit Noska bekannt machen."
Sie traten in einen schmutzigen Hausflur voller Menschen.
Eine Gruppe Arbeiter las die Notizen auf einem Anschlagbrett an der einen Wand. Gegenüber davon war ein Schalterfenster mit der Aufschrift Geschäftszimmer. Auch hier standen sie dichtgedrängt vor einer abgehetzten Frau, die mit fünf Leuten auf einmal zu sprechen versuchte. Hinter ihr arbeiteten zwei eifrige, aber abgespannt aussehende Mädchen an einem Vervielfältigungsapparat. Ein großes handgeschriebenes Plakat über dem Fenster lautete: Schreibt eure Bauchschmerzen auf- bringt sie nicht mündlich vor! Der Ort atmete Bewegung und Handlungsfreude, was Sawyer mit Befriedigung registrierte; er dachte, dass die Zeit, wo die Plackerei anfing, dann kam, wenn eine Streikbewegung versumpfte, und nicht, wenn sie sich beschwerte und ihre Bitterkeit über die ganze Gegend ausspie.
Danny Ryan ging den Flur weiter hinunter, öffnete die Tür zu einem unaufgeräumten kleinen Büro und schob Sawyer hinein. Ein alter Schreibtisch war in dem Zimmer, ein Telefon, eine Schreibmaschine, ein Haufen Streikpostentransparente und auf dem Fußboden ein Teppich von vervielfältigten Blättern und Pappbechern. Hinter dem Schreibtisch rieb sich ein großer blonder Mann nachdenklich seinen zwei Tage alten Bart und kaute zwischen den Worten eines Briefes, den er gerade diktierte, an einer Zigarre. Ein schmächtiges Mädchen mit Ringen unter den Augen nahm das Diktat geduldig auf. Ein athletischer, sehr schwarzer Neger saß an der einen Seite, hatte seinen Stuhl gegen die Wand gekippt, knetete an einem Stück Gummi herum und zählte anscheinend die Risse in der Decke. Als die beiden eintraten, brach der Blonde sein Diktat ab und schwenkte die Zigarre gegen Ryan.
„Hallo, Danny... " und dann zu dem Mädchen: „Ach, zum Teufel! Schreib ihnen einen Brief und sag ihnen, was ich ihnen deiner Meinung nach sagen sollte. Ich bin zu müde zum Denken." Er sagte zu Ryan: „Setz dich hin, Danny. Was gibt es Neues? Joey hier meint, ich sollte mich rasieren lassen und zu meiner Frau nach Hause gehen."
„Klar solltest du das", sagte Ryan. „Alles läuft glatt, warum brauchst du dich abzuquälen? Das hier ist Mike Sawyer." Er drehte sich zu Sawyer um und sagte ihm: „Das ist Bill Noska." Er nickte zum Neger hin: „Das ist Joey Raye. Ich glaube, ihr habt euch schon gestern getroffen."
Der Neger grinste, langsam und gutmütig. Er löste sich aus seinem Stuhl und selbst an seiner Bewegung ließ sich eine grenzenlose Gutmütigkeit erkennen.
„Eine außerordentliche und schöne Person - das ist Sally Dorcet, die den ganzen Kram schmeißt", sagte Ryan und legte einen Arm um die Schulter des Mädchens. Noska lehnte sich über den Tisch und gab Sawyer die Hand. „Freut mich, Sie kennen zu lernen", nickte Sawyer, und Ryan fügte hinzu: „Sawyer ist der neue Parteimensch für diesen Bezirk. Ich dachte mir, du solltest mit ihm zusammenkommen, damit du ihm ins Gesicht sagen könntest, was du auf dem Herzen hast, anstatt auf dem Umweg
ü ber mich."
„Ich meine, ihr solltet die Hände aus dem Spiel lassen", sagte Noska, doch ohne jede Überzeugung. „Die Gewerkschaft veranstaltet dieses Picknick, nicht die Partei."
„Ich habe nicht das geringste dagegen", sagte Sawyer.
„Wenn ich bloß wüsste, wohinter zum Teufel ihr Burschen
eigentlich her seid", beklagte sich Noska, „dann wüsste ich
schon, wie ich mit euch fertig würde, aber ich habe noch nie
einen Kommunisten getroffen, der mir eine klare Antwort geben
konnte."
„Meist sind wir hinter den gleichen Dingen her wie ihr", sagte Sawyer, der die Blicke Ryans und des Negers auf sich
fühlte.
„Ich will achtzehneinhalb Cent mehr die Stunde, aber keine Opiumträume. Und die, meine ich, kriegen wir auch ohne jede Strategie aus Moskau. Haben wir nicht schon Ärger genug, ohne dass uns die gottverdammten Zeitungen noch als Rote verschreien?"
9
Auf ihrer Fahrt durch die Stadt lenkte Fern ihren Zweisitzer mit jener besonderen Mischung von Selbstvergessenheit und Geschicklichkeit, die ihr bereits das Missfallen sogar der Leute eingetragen hatte, die von nichts Höherem und Erstrebenswerterem träumten als von einer Abendgesellschaft bei den Lowells. Das Gefühl wurde erwidert. Fern verabscheute Clarkton und die meisten seiner Einwohner und gab sich keine Mühe, ihre Verachtung zu verbergen; und neben anderen Dingen war es stadtbekannt, dass sie mit Vergnügen zwanzig Meilen weit fuhr, bloß um nicht einen Laden am Orte zu beehren. Als die episkopale Kirche Gedächtnisgottesdienste für die Söhne Clarktons abhielt, die im Kriege gefallen waren, erschienen die Lowells pflichtgetreu, aber Fern blieb ostentativ weg. Wie Lowell ihr einmal klarzumachen versucht hatte, war es ohne Sinn und vergrößerte es nur das Gerede - worauf Fern erwidert hatte, dass sie um nichts in der Welt die ohnehin kleinen Freuden dieser Menschen zu schmälern gedächte.
Es war heute fast ein Uhr, als sie bei Dr. Abbott ankam. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte ihren Gemütszustand nicht gebessert, und als sie sah, dass noch zwei Patienten im Wartezimmer saßen, kuschelte sie sich in eine Ecke der Couch und vergrub die Nase in ein Magazin. Elliott Abbotts Tagessprechstunde war von zwölf bis eins, gewöhnlich aber dauerte sie mindestens eine halbe Stunde länger. Diesmal jedoch ging es fahrplanmäßig. Abbott nickte Fern zu, als er herauskam, und erledigte in den nächsten zehn Minuten die beiden Leute, die noch gewartet hatten. Dann setzte er sich neben Fern auf die Couch und fragte:
„Bist du krank, Ferney - oder will ein schöner Tag vollkommen werden, weil du herüberkamst, um mich zu besuchen?"
„Ich bin krank, glaube ich", sagte sie. „Hast du gestern abend mit Vater eine Auseinandersetzung gehabt?"
„Ich weiß nicht, was dir solche Gedanken in den Kopf setzt. Komm in mein Sprechzimmer und erzähl mir, was dir
fehlt."
Sie fragte ihn, ob es nicht ohne Ruth sein könnte; er sah sie befremdet an, wollte nein sagen, begann nein zu sagen, zuckte dann aber die Achseln und willigte ein. „Na schön, wenn du mich allein sprechen willst."
Er ging ins Sprechzimmer, und Fern hörte ihn sagen: „Ruth, ich werde mit Fern allein sprechen." Sie zitterte, als sie hereinkam, und sie wusste, dass er es bemerkte und es zu anderen Dingen fügte. Sie setzte sich in einen Stuhl neben seinem kastenförmigen, einfachen Eichenschreibtisch, und Abbott setzte sich dahinter und spielte mit einem Federhalter. „Warum denkst du, dass du krank bist, Fern?" fragte er, die schiefergrauen Augen fest und prüfend auf sie geheftet. „Du glaubst nicht, dass ich es bin?" „Natürlich glaube ich dir, wenn du meinst, du seiest krank." „Mutter glaubt nicht, dass ich krank bin. Sie denkt, ich sei verliebt in dich. Sie ist eine keusche Seele, aber ich kann es nicht über mich bringen zu sagen, was sie denkt." Dann fügte Fern hinzu: „Es ist keine Verliebtheit. Ich liebe dich. Das ist so wahnsinnig verrückt, und ich habe hier unten solche Schmerzen, dass ich gar nicht mehr schlafen kann."
Noch immer blickte er sie an und sagte: „Gehen wir hinein und sehen wir uns einmal die Sache an, Fern, und dann wollen wir über die andern Dinge sprechen."
10
„Du glaubst mir nicht", sagte Fern. „Mutter denkt immer nur nach einem Schema, und du denkst auf die gleiche Art. Ich habe mir alles bloß ausgedacht, um mit dir allein zu sein."
„Ich glaube dir. Ich sage dir, der Schmerz ist tatsächlich da. Ich glaube nicht, dass du dir den Schmerz einbildest. Er tut dir weh und er ist da. Aber er ist nicht entstanden, weil organisch etwas mit dir nicht in Ordnung ist. Und ich denke, er wird wieder vergehen."
„Aber warum ist er denn da?"
„Warum kriegt deine Mutter ihre Kopfschmerzen, Fern?"
Das Mädchen sah ihn hoffnungslos an. Er hieß sie ihre Kleider anziehen, und dann ging er ins Sprechzimmer zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte auf einen Kalender. Es war seine Gewohnheit, mit Gegenständen von glatter Oberfläche zu spielen, als ob ihm die Tastempfindung ein Bedürfnis wäre, und so nahm er seinen Federhalter auf, drehte ihn in der Hand und malte dann Kringel auf das Löschblatt vor ihm; und er saß da und tat das, als Fern wieder hereinkam.
„Was ist mit mir nicht in Ordnung, Elliott?"
„Warum sagst du ,nicht in Ordnung', Ferney?" antwortete er ohne aufzusehen. „Ich sagte dir vorher, dass du nicht krank bist."
Sie stand vor seinem Schreibtisch und erzählte ihm mit der tonlosen Stimme, die in diesen Tagen mehr und mehr ein Teil ihrer selbst wurde: „Du bist das einzige gute Erlebnis, das mir je begegnet ist, Elliott, und ich sage dir, dass ich dich liebe; und du siehst mich an, als sei ich ein albernes Gör; und du meinst, ich erfinde Dinge... "
„Ich halte dich nicht für ein albernes Gör, Ferney. Wenn ich eine Tochter hätte, wünschte ich, sie wäre wie du."
„Das ist nicht wahr", sagte Fern. „Aber es ist die reizendste Lüge, die ich je gehört habe. Ich höre überhaupt nichts Nettes mehr."
Er hatte längst aufgehört, seine Mitmenschen zu bedauern, aus einer vollerblühten Erkenntnis der Zwecklosigkeit des Mitleids heraus. Aber die Tochter seines Freundes rührte ihn, wie sie so hilflos und kindlich vor seinem Schreibtisch stand. Es war ihm ein seltsames Gefühl zu denken, dass sie ihn liebte. Er wollte jetzt nicht darauf eingehen, sondern erst mit Ruth darüber sprechen; er wollte Ruth, mit der gelassenen Hinnahme von Tatsachen, die ihrer Beziehung zugrunde lag, sagen, dass diese Liebe in aller Tatsächlichkeit ebenso aufrichtig und wirklich wäre wie alles, was Liebe genannt wurde, in diesen Vereinigten Staaten in diesem Jahr 1945, wo Katharine Hepburn oder Ingrid Bergman die erhabenste Beziehung veranschaulichten, die die Ethik der Zivilisation hervorgebracht hatte - oder Lauren Bacall und Humphrey Bogart. Träume kamen aus der Traumfabrik heraus, und was war nun einmal sonst zu erwarten? Er begann sich alt zu fühlen, ein gewohntes Gefühl letzthin, und hörte kaum, wie
Fern sagte:
„Ist es dir nicht wichtig, mir zu glauben? Warum, glaubst du wohl, haben sie mich aus dem Bennington College herausgeworfen?"
„Setz dich", sagte er und rückte an dem Stuhl neben seinem Schreibtisch. „Möchtest du eine Zigarette, Fern?" Sie nickte, und er zündete eine für sie und eine für sich selbst an. „Mich kümmert es nicht, warum sie dich herausgeworfen haben", sagte er. „Es
macht nichts aus."
„Mir macht es etwas aus, was du denkst", beharrte sie. „Ich habe nichts getan. Weißt du, was sie hier über mich erzählen? Weißt du, was sie und sogar mein eigener Vater und meine eigene Mutter von mir denken? Weißt du, was es war? Wir lasen einen jungen Mann auf, einen Soldaten auf Urlaub, der kein Geld und keine Bleibe hatte, und wir bildeten uns ein, es wäre forsch und wie in Filmen, die wir gesehen hatten, wenn wir ihn heimlich in unser Zimmer hinaufbrächten. Als wir ihn oben hatten, mussten wir uns erst eine Weile gegen ihn wehren, doch schließlich hatten wir ihn soweit, dass er sich in eins der Betten legte, und wir beide, meine Zimmergenossin und ich, legten uns in das andere. In der Nacht fing er aber von vorn an, splitternackt, und er machte einen solchen Krach, dass die ganze Schule hereinkam - und er log. Er war richtig niederträchtig, gemein und niederträchtig,
und er log... "
Es kam Elliott gar nicht in den Sinn, dass sie etwa nicht die Wahrheit sagte. Es lag die ganze wehrlose Überzeugung darin, die aus der Wahrheit und sonst nirgendwoher kommt. Er fragte sie, warum sie es nicht Vater oder Mutter erzählt hätte.
„Weil ich sie hasse", sagte sie einfach.
„Das solltest du nicht tun, Fern. Es ist sinnlos, sie zu hassen."
„Clark pflegte das ebenfalls zu sagen, und er hasste sie doch auch. Auf eine andere Art. Er hatte Mitleid mit ihnen, ich nicht. Als Clark fiel, wäre auch ich am liebsten gestorben, aber ihnen machte es nichts aus."
„Doch, Fern."
„Meinst du? Du weißt nicht sehr viel von ihnen, nein, Elliott. Er war ihr kostbarster Besitz, er ging ihnen verloren. Die Leute konnten nun nicht mehr Mutter mit Clark Spazierengehen sehen und glauben, sie wären Bruder und Schwester. Sie können überhaupt nicht lieben, Elliott — sie können es nicht. Sie können nicht lieben und sie können nicht hassen. Und deshalb hasse ich sie. Ich hasse sie, weil Clark sterben musste und sie nicht einmal ahnten, dass es ihm weh getan hat oder wie sehr es ihm weh getan hat. Und ich konnte nur daran denken, wie weh es ihm getan hat. Und du glaubst nicht einmal, dass ich vernünftig rede, nicht wahr, Elliott?"
„Ich glaube, dass du vernünftig redest, Ferney."
„Was soll ich denn tun?"
Es war unsinnig von ihr, die Frage zu stellen, oder von ihm, eine Antwort darauf zu versuchen. Er hatte mindestens zehn Antworten bereit; er konnte sie skizzieren, sie genau formulieren, sie aneinanderreihen und sie in eine unbestimmte Zukunft hinein ausdehnen. Er erinnerte sich, dass Ruth ihm einmal gesagt hatte, die ärgste Sünde der Radikalen wäre ihre Zungenfertigkeit, aber Menschen änderte man nicht so leicht, wie man einen Satz änderte, den man sagen könnte, doch nicht sagen möchte. Die Veränderung war ein Vorgang, fundamental für alle andern, aber man beherrschte ihn nicht, wie man ein Musikinstrument beherrscht. Seine eigene Tochter würde, wenn sie am Leben geblieben wäre, etwas über elf Jahre alt sein, nicht sehr viel jünger als das Mädchen, das da nun saß und ihm erzählte, dass sie ihn liebte. Als sein eigenes kleines Mädchen in jener Nacht in Barcelona gestorben war, das Gesicht von einer Fünfzentnerbombe zu Brei zerquetscht, war er die ganze Nacht mit dem Leichnam in seinen Armen umhergewandelt, auf der Suche nach Ruth', er hatte keine Handlungslinien für die Zukunft abgesteckt, sondern hatte sich immer häufiger hingesetzt, um über den kleinen Leichnam zu weinen, bis die Nacht in den Morgen überging und sein Leid mit Verzweiflung mischte. Als er Ruth dann gefunden hatte, gab ihm ihre kalte, rachgierige Wut einen Stoß, einen Stoß, den er brauchte. Er holte ihn wieder ins Leben zurück - in einem Augenblick, da sein Herzblut verströmte, da er alle Antriebe und Gründe, die ihn hierher gebracht, in Zweifel stellte und keine Antwort fand. Der Unterschied zwischen ihm und seiner Frau trat jäh zutage. Er war nach Spanien gegangen, weil es logisch und vernünftig und sittlich war - und höchst richtig in Bezug auf sein Bedürfnis, nachts mit ruhigem Gewissen zu schlafen. Dann war das kleine Mädchen gestorben, und er erkannte, dass er nie mehr ruhig schlafen würde. Bei Ruth aber ließ der Hass kaum Platz für den
Kummer übrig.
Nachher, als Fern gegangen war, sprach er mit Ruth, die ihn dabei während der ganzen Zeit neugierig beobachtete und in der Art, wie sie den Kopf hob, etwas einem Vogel glich.
„Das muss sehr schmeichelhaft gewesen sein", sagte Ruth.
„Warum?"
„Ich glaube, dass ich mich sehr geschmeichelt fühlen würde,
wenn sich ein kleiner Junge in mich verliebte."
„Das ist teuflisch, so etwas zu sagen!" Sein Zorn war ein langsames Ding und kam nie wirklich zum Vorschein, wie der unterdrückte Geschlechtstrieb eines Jünglings.
„Es tut mir leid, Elliott, warum hast du nicht versucht, ihr zu
helfen?"
„Hättest du es getan?"
Ruth zuckte die Schultern: „Mir hätte es nichts ausgemacht."
„Siehst du es tatsächlich so an, ja?" sagte Abbott.
„Du hast ihr doch nicht geholfen."
„Was zum Teufel hätte ich denn tun können?" „Vielleicht hättest du mit ihr ins Bett gehen sollen", sagte Ruth rundheraus, wandte sich ab und ließ ihm seinen Zorn wie ein gefesseltes Lebewesen in der Kehle zurück, einen hoffnungslosen Zorn, der ebenso rasch verging, wie er sich gesammelt hatte. Er war ein vernünftiges Wesen, und er war fähig zu erwägen, dass Ruth, was immer sie sagte, etwas getan haben würde. Er hatte nichts getan; aber je mehr er die Angelegenheit drehte und wandte, um so überzeugter wurde er, dass es nichts gab, was er hätte tun können.
11
Hamilton Gelb schickte Frank Norman auf einen Spaziergang durch die Stadt. Norman erfreute sich einer gewissen Achtung und Zuneigung Gelbs, der aber keine besonders großen Hoffnungen oder Pläne wegen des jungen Mannes hegte, denn er glaubte nicht, dass Aufrichtigkeit und Pflichtgefühl Verstand und Objektivität hinreichend ersetzten. In der Tat, in solchen Momenten, da Gelb über Frank Norman aufgebracht war, nannte er ihn bei sich einen Bauernfänger mit der Seele eines Buchhalters; hinterher aber bedauerte er ein solches Verhalten gewöhnlich und schrieb es seiner weit zurückliegenden Vergangenheit zu, einer gewissen hartnäckigen und ausländischen Abneigung, den echten, aufrichtigen Typ des Amerikaners anzuerkennen. Und doch konnte Gelb nicht umhin, sich über die Art und Weise zu ärgern, wie sich Norman gegen jede Abweichung vom Schema wehrte, über seinen beinahe fanatischen Widerstand gegen jedweden Wechsel, über seine Einstellung gegenüber Negern, Juden, Ausländern und allem andern, was er für umstürzlerisch hielt. Gelb, der für Radikale ein gewisses Verständnis hatte, hasste sie keineswegs. Frank Norman hasste die Radikalen und begriff sie nicht oder wollte sie nicht begreifen, und dieser Hass wurde auch dadurch nicht merklich gemindert, dass Gelb sich geduldig bemühte ihm klarzumachen, dass ein des Bekämpfens werter Feind auch ein des Respekts würdiger Feind ist. Gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte er Norman gesagt: „Sie müssen sich gewisse Dinge aus dem Kopf schlagen. Sie müssen sich aus dem Kopf schlagen, dass diese Leute Mitglieder einer internationalen Verschwörung sind, die von Moskau dirigiert wird, und Sie müssen sich aus dem Kopf schlagen, dass sie eine Revolution planen, in der sie Postämter und Parlamentsgebäude besetzen und übernehmen werden. Das ist eine kindliche Auffassung, gut für Senatoren und Kongressmänner, aber nicht für die Arbeit, die wir tun.“
„Aber sie kriegen doch Befehle aus Moskau... " „Meiner eigenen Meinung nach scheren sie sich den Teufel um Moskau", hatte Gelb darauf gesagt. „Wenn sie eine Organisation von dieser Sorte wären, hätten wir keine Last mit ihnen. Welcher Idiot würde sich einer solchen Organisation anschließen? Ich habe zwanzig Jahre Erfahrung mit diesen Burschen hinter mir, aber die meisten von ihnen wissen gar nicht, dass es den Kreml gibt, und es ist ihnen auch gleichgültig. Ebenso geraten Sie daneben, wenn Sie etwa meinen, dass sie die Haupttriebfeder von allem sind. Sie sind eine sehr kleine Organisation und bestenfalls sind sie ein Katalysator. Sobald Sie glauben, dass sie die Gewerkschaften machen und die Streiks und alles übrige, erleiden Sie Schiffbruch. Das Gegenteil kommt der Wahrheit näher."
Aber das Gegenteil war keine Kategorie, mit der Frank Norman umzugehen verstand. Nach seiner Auffassung machte sich diese Denkmethode durch ihre unvermeidliche Kompliziertheit selbst unwirksam. Er war ein einfacher, keineswegs ungesunder Menschentyp, und während seiner ganzen Soldatenzeit hatte er sich die ruhige und nüchterne Überzeugung bewahrt, dass Amerika gegen die falschen Nationen kämpfte. Es freute ihn, dass er im Frieden eine Stellung auf der richtigen Seite anstatt auf der falschen haben konnte. Bevor er sich jetzt auf den Weg machte, gab ihm Gelb ein paar Worte guten Rats - darauf bezüglich, dass er die Augen offen halten und lieber die Stimmung erfühlen als versuchen sollte, etwas zu erhorchen. „Was auch immer man Ihnen beim Militär über diese Art Arbeit beigebracht hat", sagte Gelb, „die beste Methode ist, sich in die Gemütsverfassung der Leute hineinzuversetzen, die Sie beobachten. Versuchen Sie, ein Teil von ihnen zu werden und so zu reagieren, wie sie reagieren. Das erfordert Einfühlungsvermögen, und Einfühlungsvermögen ist etwas, wovon man nie genug haben kann. Geraten Sie nie in Zorn, denn sobald Sie in Zorn geraten, errichten Sie eine Mauer zwischen sich und Ihren Objekten. Sie könnten in Joe Santanas Friseurladen gehen und sich die Haare schneiden lassen. Stellen Sie keine Fragen, denn es gibt nichts Wissenswertes, das aus Fragen stammt. Die Leute wollen reden, und wenn Sie Geduld haben, werden sie Ihnen alles erzählen, was Sie interessiert. Das ist der einzige Faktor, der sie von Tieren unterscheidet."
Norman wäre wütend geworden, wenn er Gelb nicht so sehr verehrt hätte. Gelb war der Typ des Mannes, den er bewunderte, der Typ, der nach Normans Auffassung die besten Offiziere ergab. Deswegen wünschte er zu tun, was Gelb von ihm verlangte.
Er schlenderte die Hauptstraße von Clarkton hinunter, den Hut im Nacken, den Mantel offen, die Hände in den Taschen, und sah für jedermann wie einer jener College-Jünglinge aus, die manchmal von Williams herunterkamen, um sich im Hotel mit einem Mädchen zu treffen, sich zu betrinken oder vielleicht bloß, um ein Mittagessen mit viel Fleisch zu essen. Es war nicht schwer, an einem so hübschen, sonnigen Tag ohne Ärger zu arbeiten, und er hätte weit gefühlloser sein müssen, als er war, um nichts von der Stimmung, die die Stadt durchdrang, aufzunehmen. Sein Blick wanderte von Schaufenster zu Schaufenster, und hier und dort sah er Plakate, die besagten, dass der Ladeninhaber die Streikenden unterstützte, eine Bewegung, in der, wie Gelb ihm versicherte, die Roten die Initiative ergriffen hatten. Ihre Begründung war die mehr oder weniger gesunde Voraussetzung, dass die Arbeiter in der Stadt am meisten kauften. Norman achtete auch auf die Mädchen, schwarzhaarig zumeist und hübsch, und er wünschte sich, für den Abend eine Verabredung zu haben. Er trat in die dämmerige, säuerliche Höhle einer Kneipe und bestellte ein Bier, und ganz wider sein Erwarten stockte das Gespräch des ungefähren Dutzends Männer an der Theke, alle Arbeiter, bei seinem Eintritt nicht. Sie widmeten ihm kaum mehr als einen flüchtigen Blick und setzten dann die Unterhaltung in ihrer schwerfälligen und bedächtigen Art fort - über die Atombombe, die Familie Lowell, die Lebensmittelpreise, den letzten Krieg, den Präsidenten, die Hockeyspiele, die Russen und eine Menge andere Dinge. Er ging zurück ins Tageslicht und schlenderte weiter. Bald darauf kam er zu Joe Santanas Frisiersalon und ging hinein. Ein Mann wurde gerade rasiert, und ein zwölfjähriger Junge wartete. Norman setzte sich, nahm ein Exemplar der New Masses auf und blätterte es durch, wobei ihm die passende Bemerkung eines Leitartikelschreibers über Einwickelpapier-Zeitschriften einfiel. Seine eigene Achtung vor technischem Können ward durch seine Meinung über jene ausgeglichen, die nichts gut machten und es anscheinend gar nicht konnten.
Der Friseur sprach über das Problem der Evolution in einer Weise, die ihn an sein erstes Jahr im College erinnerte. Er fiel in eine Art leichten Schlummer, als er zuhörte — zufrieden mit sich selbst und überzeugt, dass er einen aufregenden Beruf gut erfüllte.
12
Das Mädchen, das Lowell die Tür seines Hauses öffnete, blieb bei ihm stehen und sah ihn an, als er seinen Mantel ablegte, bis er
fragte, was es gäbe.
„Fräulein Antonini wartet drinnen schon eine halbe Stunde, und ich möchte nur wissen, ob ich sie bitten soll, noch länger zu warten."
„Wer ist Fräulein Antonini?"
„Ich weiß es nicht", sagte das Mädchen. „Sie sagte, sie hätte eine Verabredung mit Frau Lowell."
„Und wo ist Frau Lowell?"
„Sie liegt seit ein Uhr oben mit schlimmen Kopfschmerzen und schläft jetzt. Ich meine, sie sollte weiterschlafen."
„Gut", sagte Lowell. „Ich werde mit Fräulein Antonini sprechen. Wo ist sie - im Wohnzimmer?"
„Im Wohnzimmer", sagte das Mädchen.
Lowell war nicht neugierig; Neugier, selbst nur Interesse, vermochte er zu diesem Zeitpunkt nicht aufzubringen. Die zweiundzwanzig Stunden seit seiner Rückkehr nach Clarkton übersetzten sich, was seine Person betraf, in Leere - eine geistige Ausgehöhltheit, die ihn gleichgültig und apathisch machte. Ein Schnaps war das einzige, wonach ihn in diesem Augenblick verlangte, und was für ein unsympathisches Wesen Fräulein Antonini auch immer sein mochte, so würde sie seiner Frau mit ihren schlimmen Kopfschmerzen vorzuziehen sein. Zuerst ging er in die Bibliothek, und während er die Martinis mixte, versuchte er, ein wenig Begeisterung in sich für den Rest des Tages und den Abend zu erzeugen. Er versuchte an Dinge zu denken, die er gern tun möchte, an eine Reise, die er gern machen möchte, und entdeckte, dass er mit Lois' Vorschlag einverstanden war, von Clarkton wegzugehen. Das einzige, was ihn noch hielt, war, wie er jetzt deutlich erkannte, eben der Streik. Erst seit dem Streik war seine Beziehung zum Werk etwas mehr als oberflächlich geworden. In gewissem Sinne war er seiner erst seit dem Streik als einer Person mit mehr als nur unmittelbaren Bedürfnissen bewusst geworden. Der Streik war ein Kalender.
Mit dem Mixbecher und zwei Gläsern trat er ins Wohnzimmer, sah nebenhin flüchtig auf das Mädchen, das dort saß, und setzte seine Utensilien auf dem Klavier ab. In seiner gewohnten Art, Leute zu grüßen ohne sie anzusehen, sagte er: „Guten Tag, Fräulein... "
„Antonini", sagte sie.
„Sie hatten sich mit meiner Frau verabredet, aber sie ist unpässlich. Kann ich etwas für Sie tun? Ich bin Lowell." „Ich weiß nicht", sagte sie.
Er hatte sie zwar schon gesehen, seit er hereingekommen war, aber jetzt erst lebte sie und wurde Fräulein Antonini. Sie war zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt und hatte eine Figur, die ihn innerlich aufriss, die ihn krank machte — nicht augenblicklich, sondern nach und nach, so dass seine Begierde, die unmerklich begonnen hatte, als er den Raum betrat, zu solcher Höhe stieg, dass sie sein Herz auspumpte und in seinen Ohren pochte und ein Gefühl wie unter die Haut getriebene lange Nadeln in ihn hinunterpresste.
Nach außen hin war er unverändert. So etwas war ihm schon früher passiert, aber es geschah nicht oft. Es kam zuweilen vor, wenn er auf der Straße ging, und dann war es etwas gewesen, das kam und ging, wie ein süßer Duft, den schon die Gesetze der Natur unerreichbar machten. Diesmal ging es nicht vorüber, und er sah das Mädchen behutsam und gespannt an, während er die Gläser füllte. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid und füllte es aus, wie eine jener reifen schwarzen Pflaumen ihre schimmernde Haut ausfüllt. Sie hatte hohe runde Brüste, eine geschweifte schmale Taille, eine leichte Wölbung, wo ihr Magen war, volle Hüften und Beine, die weder schlank noch schon plump waren. Und dies alles sah er, bevor er noch ihr Gesicht wirklich sah. Sie war keine außergewöhnlich hübsche Person, aber ihr Gesicht steigerte seinen Hunger, bis er einen wirklichen körperlichen Schmerz empfand. Die Nase war gerade und eben eine Kleinigkeit zu lang, als dass sie dem Ideal von Hollywood entsprochen hätte. Sie hatte volle Lippen, ein etwas großes Kinn und einen ungewöhnlich schönen langen und wohlgebildeten Hals. Die Augen waren dunkel wie das Haar, das sie in einem schweren Knoten im
Nacken trug.
Jetzt sagte er ihren Namen aus einem Bedürfnis heraus: „Fräulein Antonini, möchten Sie nicht etwas trinken? Es tut mir leid, dass Sie warten mussten."
„Es macht nichts." Sie verweigerte weder den Cocktail noch nahm sie ihn an, und er stand da, das Glas in der Hand, und registrierte ihre Stimme, die abgesehen von einer gewissen Schrillheit ziemlich angenehm klang, die Stimme einer jungen italienischen Arbeiterin, die in Clarkton aufgewachsen war und ihr bestes schwarzes Seidenkleid und schwarze Pumps mit hohen Absätzen angezogen hatte, um bei den Lowells Besuch zu machen — aus wer weiß welchen Gründen, die ihn alle nicht im geringsten kümmerten. Er wusste, dass Lois über ihren heftigen Kopfschmerzen, die ihre Ohnmächtigkeit ebenso sicher anzeigten, wie gewisse andere Merkmale die seine bezeichneten, diese Verabredung längst vergessen, weggestellt, beiseite geschoben, aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatte, mit allen anderen Dingen, die Widrigkeiten versprachen. Er begehrte verzweifelt seinen Martini, hielt ihn aber in der Hand, ohne ihn zu kosten, und ging zu ihr hinüber und sagte:
„Wollen Sie denn keinen Martini, Fräulein Antonini? Ich würde sowieso einen getrunken haben, ob nun jemand hier wäre oder nicht."
Jetzt nahm sie das Glas und sagte: „Frau Lowell bat mich, sie zum Tee zu besuchen."
„Zum Tee?" Es schnappte etwas in seinem Gedächtnis ein. Er versuchte sich zu erinnern; da war etwas, was Lois ihm erzählt hatte; er versuchte sich zu erinnern, konnte aber um sein Leben nicht darauf kommen. Er stand über sie geneigt, sah auf ihr Gesicht hinab, auf ihre Brüste, auf den Spalt, wo der Saum ihres Kleides abstand; er träumte, dass er die Hand sinken und sanft über die Seide gleiten ließe, und sie würde sich nicht bewegen, würde sich nicht abwenden, wie ihm ihre Augen sagten, die offen und ruhig in die seinen blickten. Ihre Oberlippe kräuselte sich ein wenig, der feine dunkle Flaum darauf glänzte von einem schwachen Schimmer Feuchtigkeit. Aber er ließ seine Hand nicht sinken, sondern fragte stattdessen, ob er ihr helfen könnte, ob sie ihm sagen wollte, weswegen sie gekommen wäre.
„Ich weiß es nicht", sagte Fräulein Antonini und sah unverwandt den großen, vorzüglich aussehenden Mann, der vor ihr stand, an. „Ich heiße Rose Antonini, und ihr Sohn Clark war ein Freund von mir. Frau Lowell bat mich herzukommen, aber ich weiß nicht, worüber sie mit mir zu sprechen wünschte."
Jetzt kam die Begierde zurück, und er trat fort und trank einen großen Teil seines Martinis. Sie nippte an ihrem Glas. Der Schmerz in ihm war zu einer wirklichen Pein geworden, einer körperlichen Pein, die ihm den Magen verdrehte, die Schenkel krampfte und das Herz zusammenpresste. Er musste sich setzen. Er sagte zu sich: „Ich muss mich setzen, ich muss mich setzen... " Er ging zu seinem Sessel hinüber und setzte sich hinein, und das
Mädchen sagte:
„Dies ist ein sehr hübsches Zimmer." „Sie sind Clarks Freundin", sagte er nickend. Sie bestätigte weder, noch leugnete sie die Tatsache: „Ich weiß nicht, weswegen Frau Lowell mich sprechen wollte."
„Ich glaube, sie wollte nur einmal mit Ihnen sprechen — weil Sie Clark gekannt haben." „Ich verstehe."
„Haben Sie Clark gut gekannt — lange, meine ich?" „Wir trafen uns ein paar Mal. Fast immer, wenn er auf Urlaub war, verabredeten wir uns."
Er hörte sich sagen und lauschte ein wenig neugierig seinen eigenen Worten, als er es sagte: „Clark und ich standen uns sehr nahe. Er war mein einziger Sohn."
„Ich weiß."
„Wahrscheinlich hat es auch Ihnen weh getan", sagte er.
Ihre Stimme klang etwas verlegen, als sie antwortete. „Ich weinte, als ich es hörte", sagte sie. „Ich hatte einen Bruder, der bei Tarawa umgekommen ist. Das machte es noch schlimmer.
„Was tun Sie, Fräulein Antonini?" fragte er sie.
„Ich arbeite - im Werk." Unnötigerweise fügte sie hinzu: „Zur Zeit arbeite ich nicht."
„Natürlich nicht. Sind Sie verheiratet?"
Sie schüttelte den Kopf. Lowell fiel nichts ein, was er sonst noch sagen könnte, nichts, was des Sagens wert oder notwendig gewesen wäre. Seine Fragen nach Clark waren rein förmlich, es war ihm einerlei. In Bezug auf dieses Mädchen hatte Clark keinen Zusammenhang und keine Wirklichkeit und keine Existenz; in Wahrheit sprach Lowell überhaupt nicht von Clark - er sprach von nichts und niemand.
Er sah, dass sie ihr Glas beinahe ausgetrunken hatte, stand auf und füllte es von neuem. „Er ist sehr gut", sagte sie. „Für mich ist es noch zu früh zum Trinken, und auf den leeren Magen steigt er mir zu Kopf."
„Ich mag nicht für mich allein trinken." Das hatte er gar nicht sagen wollen, aber zum ersten Male, seit er den Raum betreten hatte, lächelte sie ihn an.
„Ich muss gehen", sagte sie.
„Trinken Sie zuerst aus."
„Gut. Aber dann muss ich fort. Ich bin mit dem Bus herausgekommen. Geht noch einer zurück?"
„Ich werde Sie nach Hause fahren." Er überlegte, ob Lois ihr wohl Geld angeboten hätte. Als er sich zurückrief, was Lois gestern im Wagen gesagt hatte, gewann er den Eindruck, dass sie etwas für das Mädchen zu tun beabsichtigt hatte. Aber Lois hatte Rose Antonini nie gesehen, und es war fraglich, ob sie nach einem Zusammentreffen mit dem Mädchen noch ebenso denken würde. Er erinnerte sich der Freundinnen, die Clark mit ins Haus gebracht hatte und die Lois gefallen hatten; sie waren anders gewesen als dieses Mädchen. Als er sich fragte, ob sie wohl erwartete, dass er ihr Geld anböte, drängte das sieche Gefühl, das seinen Magen, sein Fleisch, seine Knochen und sein Rückgrat durchdrang, die Frage beiseite.
„Es ist doch komisch, dass Sie Clarks Vater sind", sagte sie.
„Warum?"
„Ich weiß nicht, es ist bloß komisch."
„Es reut Sie nicht, gekommen zu sein?"
„Es macht mir nichts aus."
„Ich habe wahrscheinlich kein Recht, Sie danach zu fragen. Sie brauchen mir auch nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen. Aber, haben Sie für Clark sehr viel übrig gehabt?"
„Ich hatte ihn gern. Er war nicht mein einziger Freund, aber ich hatte ihn gern."
„Ich verstehe."
Sie stand auf und sagte: „Jetzt muss ich bestimmt gehen. Es
wird dunkel draußen."
Er holte ihr selbst den Mantel, einen imitierten Sealpelz, und half ihr hinein. Das Mädchen erschien, als sie fortgingen, und er sagte: „Sie können Frau Lowell sagen, dass ich Fräulein Antonini mit dem Wagen zurück zur Stadt bringe."
13
Sobald er sich zu ihr in den Wagen setzte, wusste er, was geschehen würde. Sie sah ihn nicht an; sie sah stracks geradeaus, aber bevor er die Scheinwerfer einschaltete, schob er eine Hand unter ihren Mantel, gegen ihre Brust. Sie rührte sich nicht; sein Magen war jetzt leer und der Schmerz tief unten in den Weichen. Er knipste die Lichter an, startete den Wagen und wendete ihn. Es war nun ganz dunkel draußen, und wenn sie bemerkte, dass er nach rechts einbog anstatt nach links, wohin es nach Clarkton ging, so ließ sie nichts davon erkennen. Er fuhr eine halbe Meile weit, bog dann auf einen verlassenen Kuhpfad ein und löschte die Lichter. Sie wehrte sich nicht, als er sie in die Arme nahm, kam ihm aber nicht entgegen. Er küsste sie offenen Mundes, zermahlte ihre Lippen mit den Zähnen, bis sie vor Schmerz aufschrie; und von da an wurde sie lebendig, fast als ob ihre Muskeln und Nerven selbständige Wesen wären, die aus dem Schlaf geweckt wurden. Er streifte ihr den Mantel von den Schultern und zerrte an ihrem Kleid. Sie sagte: „Nicht doch - Sie zerreißen es ja, sehen Sie denn nicht?" Er riss ihr das Kleid herab, den Büstenhalter, und sie wimmerte wie ein junger Hund. „Nicht hier", bettelte sie, „nicht hier". „Es muss hier sein! Allmächtiger Jesus Christus, es muss hier sein!" „Nicht hier im Wagen." Der Magen sackte ihm fort, und er wurde zu Feuer. Ihr Stöhnen dauerte an, aber in einem anderen Ton, einer anderen Tonart. Er war sich seiner Finger im Fleisch ihres Rückens, seiner Zähne in ihrer Schulter kaum bewusst. Ihr Körper war in jedem Muskel und Gelenk gespannt und vibrierte wie eine Stimmgabel.
14
In seine Ecke gekauert, eine Zigarette in der Hand, den Arm ruhend über das Steuer gebreitet, betrachtete er ihr Profil, eine dunkle Silhouette auf grauem Hintergrund, die nur dann Fleisch und Blut wurde, wenn sie tief an ihrer eigenen Zigarette zog. Rose Antonini - Rosa Antonini — Rosita Antonini — Rosolita Antonini. Sein Bauch war jetzt voll, er war wie ein Becher, der süßen Wein enthält.
„Du hast mein Kleid zerrissen", sagte sie. „Es ist zu nichts mehr gut, lauter Fetzen."
„Du kannst Kleider haben, alle Kleider, die du willst."
„Ich will keine Kleider von dir. Ich will überhaupt nichts von dir."
„Du willst mich?"
Die Silhouette nickte. Lowells Gedanken waren jetzt locker, wie ein leichtes Wollgewebe, und er ließ sie entschlüpfen und gleiten und wehen, wohin sie wollten, weil ihm nun alles egal war, weil ihm die Vorstellung nichts ausmachte, welch tölpelhafter, leidenschaftsloser, linkischer Tor Clark diesem Mädchen gegenüber gewesen sein musste. Jugend und Befriedigung durchströmten ihn, als die Spannung aus Magen, Herz und Leisten, aus all seinen Muskeln, Nerven und Adern gewichen war.
„Ich war noch nie mit jemand zusammen wie du", sagte sie. „Ich hatte Angst."
„Aber jetzt hast du keine Angst." „Jetzt habe ich keine Angst."
Er setzte sich auf, rückte sich hinter dem Steuer zurecht, stellte die Zündung ein, ließ den Motor an, knipste die Lichter an und fuhr rückwärts aus dem Kuhpfad heraus. Einmal auf der Straße, gab er Gas, und sie dröhnten durch die Nacht.
Nach einer kleinen Weile sagte sie: „Wo fährst du hin?" Er antwortete nicht. Er fuhr entspannt, saß locker hinter dem Rad und hielt den Wagen stets auf fünfzig Meilen die Stunde. „Wo fährst du hin?" fragte sie von neuem. „Ich habe ein Haus oben in den Berkshires, anderthalb Stunden
von hier."
„Ich sollte nach Hause fahren", sagte sie.
„Ich sollte auch nach Hause fahren."
„Fragst du nichts danach?"
„Nicht viel -nein."
„Du könntest doch jedes Mädchen haben, das du willst. Warum
gerade mich?"
„Woher weißt du, dass ich jedes Mädchen haben könnte, das ich
haben will?"
„Du hast sie doch gehabt - ich weiß es." Und dann, nach einem Augenblick oder zwei, fragte sie, beinahe kindlich: „Bist du mit ihnen auch so? Bist du mit deiner Frau auch so?"
„Wie?"
„Wahnsinnig, verrückt, ganz von Sinnen." „Nein", sagte er, „so nicht." „Fühlst du dich jetzt wohler?" fragte sie. „Ja. Ich fühle mich wohler."
„Das freut mich", sagte sie lächelnd und schmiegte sich an ihn, den Kopf gegen seinen Arm.
Sie fuhren weiter, keiner von ihnen sprach. Lowell versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was Gelb gesagt hatte, als sie ihren Lunch nahmen, etwas, das hierauf Bezug hatte -aber es glitt fort, wie die schwarze Straße unter den Reifen, wie der Wall von Dunkelheit, die Bäume, der sterngesprenkelte Himmel, das zunehmende Auf und Ab der Berge, und er gab den Versuch auf. Er war nicht in der Stimmung zu denken, nicht in der Stimmung sich auszuloten. Jetzt war er körperlich, lebendig und alert. Er wurde sich ihrer bewusst; die ganze Nacht lang würde er sich ihrer so bewusst sein. Er wurde hungrig; sein Hunger steigerte sich Meile für Meile, bis er ihn zwang, die Bremsen zu ziehen und bei einem Gasthof an der Straße einzubiegen.
„Ich kann nicht mit hinein", sagte sie, „ich bin nackt unter dem Mantel."
„Lass deinen Mantel zu."
Sie hatte ihn geöffnet, um es ihm zu zeigen. Vom Kleid war nichts übrig geblieben, und er wunderte sich, woher ihm die Kraft gekommen war, es so zu zerreißen, es so zu zerfetzen. Er starrte auf ihren nackten Leib, auf ihre großen, festen Brüste, die keinen Büstenhalter brauchten, um zu stehen, und das Verlangen kam wie eine Woge, wie ein Pulsschlag. „Nicht hier", bettelte sie. Er ließ den Gasthof liegen, fuhr eine Meile weit die Straße hinauf und schwang den Wagen an den Straßenrand. Jetzt war er weniger gierig, vermochte sogar zart zu sein, und hernach ließ er den Wagen noch eine volle halbe Stunde dort stehen und hielt sie in den Armen. Später hielt er vor einem andern Gasthof und ließ sie im Wagen, während er hineinging und ein paar Frikadellen und zwei Flaschen kaltes Bier holte. Sie aßen und rauchten dann Zigaretten, schweigend, befriedigt und satt. Danach fuhr er weiter in die Berge hinein, wo die Tannen an den nördlichen Hängen den frühen Winterschnee noch hielten.
Das Haus lag am Rande eines kleinen Sees, mit eigenem Bootshaus und Anlegeplatz — ein einstöckiger Bau aus polierten Zedernbalken, der ebenso gegen Winterkälte wie gegen Sommerhitze
isoliert war. Es war feucht darinnen, aber er stieß den Wärmeregler auf und hielt dann ein Streichholz an das vorbereitete Feuer im Kamin. Sie kam zaghaft herein und musterte voller Spannung die Deckenbalken des Raums, die breiten tiefen Couches und Sessel und die Bücherborde, die vier Fuß hoch um die Wände liefen und sie unter einer Last von Schiffsmodellen, Gewehren und Sportgeräten fast verbargen. Ein Klopfen an der Tür brachte sie auf den Sprung wie ein erschrecktes Tier, aber es war bloß der Wächter der Kolonie, der wegen des Lichts nachsehen wollte; nach ein paar Worten mit Lowell und einem Zehndollarschein ging er wieder, entschlossen, zu vergessen, dass er jemand hier gesehen hatte - sofern es sich nicht besser lohnen sollte, sich zu erinnern. Lowell ließ Rose am Feuer sitzen, während er in ein anderes Zimmer ging. Als er wiederkam, trug er einen Hausmantel über Hemd und Hosen, und. auf dem Arm hatte er einen weiten wattierten, pfirsichfarbenen Morgenrock Ferns, den er zusammen mit einem Paar gestrickter Norwegerhausschuhe dem Mädchen gab. Noch niemals hatte er für eine Frau ein solches Gefühl gehabt, für keine Frau, auch nicht für Lois. Er saß auf der Couch vor dem Kamin und sah ihr zu, wie sie aus ihrer billigen Pelzimitation schlüpfte, die kunstseidenen schwarzen Strümpfe herunterschälte und die Stöckelschuhe von den Füßen schleuderte. Sie begegnete seinen Augen und kam zu ihm, den pfirsichfarbnen Mantel an einer Hand hinter sich herschleifend. Es war nicht mehr kalt. Das Feuer war eine tobende Lohe und schuf einen Wall von Wärme zwischen Kamin und Couch. Nackt wie er nie zuvor eine Frau gesehen hatte, kam das Mädchen zu ihm. Und wieder erneuerte sich das Leben aus seinen Lenden, hämmerte gegen seinen Magen, verklammte sein Herz...
Die Kälte des ausgebrannten Feuers und das kränkliche Licht der Morgendämmerung weckten ihn auf. Er rührte sich, und das Mädchen rückte dichter an ihn heran. Er drehte seinen Kopf, dass er sie küssen und die Zunge über den Flaum ihrer Oberlippe spielen lassen konnte.
15
Nicht eher als kurz vor dem Abendessen begann Lois eine leichte Ungewissheit zu verspüren. Sie rief das Werk an, aber Tom Wilson, der noch dort war, sagte: „Nein - er ging etwas nach drei Uhr fort. Wiedergekommen ist er. nicht." Lois fragte das Mädchen noch einmal aus, erfuhr aber auch bloß wieder die Tatsache, dass Herr Lowell gesagt hatte, er wollte Fräulein Antonini nach Hause fahren. Ihr Kopfschmerz war jetzt fast vergangen, und noch war sie nicht eigentlich beunruhigt. Als sie mit Fern darüber sprach, sagte das Mädchen gleichgültig: „Es ist alles in Ordnung. Wenn er einen Zusammenstoß oder etwas dergleichen gehabt hätte, würdest du es doch sofort erfahren haben. Oder nicht?"
„Wie kannst du nur so reden!"
„Was soll ich denn sonst sagen? Warum rufst du nicht bei Fräulein Antonini an und erkundigst dich, ob sie zu Hause ist?"
„Wie gemein, so etwas zu sagen."
„Gemein ist doch beinahe alles, was ich in den letzten Tagen sage."
Das Essen verlief schweigend und lustlos; nachher versuchte Lois einen Kriminalroman zu lesen, aber die Worte blieben ohne Sinn, und anstatt ihnen zu folgen, begannen ihre Gedanken ein rührseliges Bild ihrer Familie zu erschaffen. In einer kleinen Weile war sie dabei, nebensächliche Vorfälle aus ihrem Gedächtnis hervorzuziehen, die sich mit ihr und ihrem Sohn zugetragen hatten, und die Begebenheiten auszuschmücken, in denen sie beide immer zusammen und niemand anders dabei gewesen waren. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihm an den Strand zu gehen pflegte, als er sehr klein war und sie in Südfrankreich lebten; und ihr Gedächtnis verwandelte die Landschaft in einen Watteau vom Mittelmeer, in dem nur der Reifrock der Schäferin fehlte. Sie steigerte sich bis in Tränen hinein, und Fern, die sich im Haus herumtrieb, warf einen Blick ins Zimmer und sah ihre Mutter dasitzen und weinen. Sie ging hinaus, und einen Augenblick später hörte Lois den Motor des Zweisitzers. Lois trocknete ihre Tränen und ergab sich - ohne jeden Sinn für die Wirklichkeit - dem Gedanken an Georges Tod. Schon früher hatte sie oft genug flüchtige Betrachtungen angestellt, was sie tun würde, wenn ihr Gatte stürbe; schwarz stand ihr gut, und immer empfand sie mehr Mitleid mit sich selbst als mit George. Ihre Gedanken liefen in keiner Weise auf einen Plan hinaus, noch fußten sie auf einer wirklichen Annahme oder Überzeugung von Georges Tod; sie waren einfach losgelassen und schweiften umher, während sie sich an dem Bild ihrer Witwenschaft ergötzte. Sie würde sich in der Fünften Avenue oder am Central Park eine Wohnung nehmen, vielleicht auch eine Villa im Osten von New York kaufen, wie sie und George eine während der Winter 1937 und 1938 gemietet hatten, als sie so lächerlich billig waren. Sie würde ein ruhiges Leben führen — aber hier überkam sie wieder das Mitleid mit George, der nicht da war. Nachdem sie noch ein bisschen geweint hatte, rief sie Elliott an und erzählte es ihm.
„Ich würde mir keine Sorgen machen", sagte er, „ich bin überzeugt, dass George nichts passiert ist."
„Aber so etwas hat er doch noch nie getan."
„Ich würde mir trotzdem keine Sorgen machen", sagte Elliott
sachlich.
„Kennst du dieses Fräulein Antonini?"
„Ich kenne sie", sagte Elliott, „ein Mädchen, das manchmal mit
Clark ging."
„Du wusstest es also auch. Und du hast mir nie etwas davon gesagt?"
„Ich glaubte, dass Clark es dir erzählt hätte", log Elliott.
Lois fand keinen Übergang, ihn das zu fragen, was sie eigentlich fragen wollte. Sie legte den Hörer auf, ging zu ihrem Buch zurück, legte es nach einer Weile beiseite und wanderte ruhelos durch das Haus. Das Telefon klingelte, das Herz stand ihr still, aber es war nur Tom Wilson, der wissen wollte, ob Lowell inzwischen nach Haus gekommen wäre. Als sie mit dem Gespräch fertig war, ging sie hinauf in Clarks Zimmer. Sie setzte sich auf das Bett ihres Sohnes und betrachtete sein Bild auf dem Schreibtisch, aber sie hatte keinerlei Bedürfnis mehr zu weinen. Ihr Selbstmitleid hatte sich zu einem soliden Klumpen perverser Befriedigung verdichtet, und der Ursprungskeim des Hasses war geboren. Sie schalt sich jetzt eine Törin, weil sie Wilson und Abbott angerufen hatte, und sie begann sich eine Zukunft auszumalen, in der die Witwenschaft keineswegs noch eine Rolle spielte.
Erst als sie zu Bett ging, drang in ihr allmählich wieder Zärtlichkeit für George durch, und sie war bereit, die Voraussetzung hinzunehmen, dass sie ihren Gatten doch sehr liebte. Er wurde in der gleichen Weise zum Kind, wie Clark ein Kind war, und es kam ihr in den Sinn, was er ihr früher einmal erzählt hatte ...
Als sie noch sehr jung waren, waren er und Elliott Abbott einmal in irgendwelche Patsche geraten und zum Polizeirevier geschleppt worden. Über viel mehr ging es nicht hinaus, und sie wurden noch am selben Tage entlassen. Aber Georges Vater, der alte Herr Lowell, war außer sich gewesen. Lois konnte sich tatsächlich an Georges Vater sehr gut erinnern. Er war in Taunton am selben Tage geboren, als das Feuer gegen Fort Sumter eröffnet wurde; er trug den Namen Lowell in Armut, Elend und Hass, bis er in seinem einunddreißigsten Lebensjahr in sein Tagebuch schreiben konnte: „Ich habe meine erste Million Dollar gemacht, und der Geschmack ist süß." Der Geschmack wurde noch süßer. Es kostete den alten Mann glatte fünfzigtausend Dollar zu beweisen, dass er ein Lowell im Sinne von Massachusetts war und dass das Dorf Clarkton von seinem Urgroßvater gegründet wurde, und er rächte sich auf seine Weise an dem schläfrigen Dorf am Hügelhang. Aber woran sich Lois jetzt erinnerte, das war die Geschichte, die George ihr von dem Tag erzählt hatte, da er in die Patsche geraten war, und wie ihn hinterher sein Vater geschlagen hatte, bis die Haut auseinanderplatzte und das Blut herausrann, bis er mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich
der Bibliothek lag und um Gnade winselte, während er über den Ehrenkodex der Lowells belehrt wurde und besonders darüber, was es hieße, ein Lowell zu sein.
16
Es war fast neun Uhr morgens, als Lowell erschien. Fern begegnete ihm beim Hinausgehen, grüßte ihn mit einem Lächeln und sagte: „Du siehst mitgenommen aus", doch sie stellte keine Fragen und machte keine weitere Bemerkung. Das Mädchen sagte ihm, dass seine Frau beim Frühstück im Gewehrzimmer wäre, aber er zuckte nur die Achseln, ging hinauf, entkleidete sich, duschte, rasierte sich und zog sich wieder an. Er band sich die Krawatte, als Lois hereinkam.
„Hallo, George", sagte sie.
„Hallo, Lois."
„Ich nehme an, du hast einen Zug verpasst - oder so etwas Ähnliches."
„Ich war oben im Blockhaus", sagte er, „mit Rose Antonini."
„Weiter nichts?"
„Weiter nichts."
„Du möchtest nicht darüber sprechen, nehme ich an?" fragte Lois.
„Ich habe kein besonderes Verlangen danach."
„Gut", sagte sie. „Wenn du darüber sprechen willst, sag es mir
bitte."
Sie war wieder ihr altes Selbst, die Stimme gleichmäßig und beherrscht, die Haltung ruhig und gefasst, die weitgesetzten Augen von einer ausgeglichenen Würdigung der Situation erfüllt. „Wann immer du darüber sprechen willst, George. Es waren ein paar Anrufe für dich da", fügte sie hinzu. „Wenn du nicht vor elf im Werk sein kannst, bittet dich Wilson, gleich ins Polizeiamt hinüberzukommen."
„Danke, Lois", sagte er. |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |