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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Furukawa war allein im Zimmer. In einem Kimono von Ikenobe saß er auf dem Bett. Der Arzt hatte ihm noch nicht erlaubt auszugehen. Ob er es doch einmal versuchte?
Durch das Fenster blickte er auf die Straße hinaus. In der Ferne, hinter den stufenförmig abfallenden Dächern, schimmerte der Suwasee. Ein heftiger Wind trieb blendendweiße Wolken am Himmel dahin.
In wenigen Tagen sollte die Gewerkschaftsversammlung stattfinden. Die Jugendsektion der Gewerkschaft und der Kommunistische Jugendverband bereiteten sich gemeinsam darauf vor. Furukawa wusste, dass die sogenannte „Initiativgruppe" der Jungkommunisten, zu der Onoki, Ikenobe und Inoue gehörten, zusammen mit anderen solchen Gruppen vorgehen und gegen die Rückführung der Fabrik protestieren würden. Der „Vereinigte Stab" war sich noch immer nicht mit der Company einig geworden. In den Fabriken, die durch den Rückführungsplan unmittelbar betroffen waren, machte sich eine starke Unruhe bemerkbar. Alle Gewerkschaftsorganisationen, mit der Gewerkschaft des Hauptwerks an der Spitze, führten einen erbitterten Kampf.
All das hatte Furukawa durch Ikenobe, Onoki, Torisawa Ren und Jamanaka Hatsue erfahren, die ihn oft besuchten.
Nein, in einer solchen Zeit durfte man nicht abseits stehen und die Hände in den Schoß legen!
Kam denn heute niemand, um ihm zu berichten, was in der Fabrik vorging?
Er griff nach einer Sammlung ausgewählter Artikel von Lenin und begann zu lesen. Hin und wieder machte er am Rande einen Strich mit dem Rotstift und dachte nach.
Plötzlich schrak er zusammen und richtete sich auf. Draußen ertönte der vertraute Schritt, näherte sich seinem Zimmer und machte vor den Schoji wie unschlüssig halt.
„Störe ich, Furukawasan?" Mit einem Bündel unter dem Arm trat Jamanaka Hatsue ein und hockte sich neben der Schwelle nieder.
„Man hat mich beauftragt, Sie nach Ihrer Meinung als Vorsitzender der Jugendsektion zu fragen. Ich musste mitten in der Arbeit gehen. Kassawara hat mir die Kündigung überbracht..." Hatsue nannte die Meister jetzt nicht mehr „Sensei". Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte über ihr erhitztes Gesicht. Als Furukawa das purpurrote Futter ihrer Kimonoärmel sah, war er ganz verwirrt.
„Heute in der Mittagspause hat die ,Tenrju-Gesellschaft' eine Erklärung über diese Geschichte mit den Militärhemden herausgegeben."
Hatsue hielt Furukawa einen Fetzen Papier hin. Es war der Text der Erklärung, den sie mit Bleistift in großen, ungelenken Schriftzeichen abgeschrieben hatte.
„Wir, die aus dem Kriege zurückgekehrt sind, die wir für das Vaterland gekämpft haben, sind der
Meinung, dass wir ein verbrieftes Recht haben auf den Empfang..."
Ach so! Sieh mal einer an! „...Wir haben nicht die Absicht, uns mit derart verlogenen Hirngespinsten abzufinden, die uns in üblen Ruf bringen. Wir halten es für unsere Pflicht, gegen die extremen Elemente innerhalb der Gewerkschaft zu kämpfen..."
„So steht es also?" Mit verzerrten Lippen blickte Schiro auf. „Diese Hemden sind doch nicht nur an Heimkehrer verkauft worden?"
„Natürlich nicht. In unserer Abteilung zum Beispiel hat auch der alte Gehilfe eins bekommen."
Hatsue und Schiro bemerkten nicht, wie nahe sie einander durch solche Gespräche kamen.
„Heute soll Ikenobesan in der Sitzung des Gewerkschaftskomitees im Namen der Jugendsektion sprechen. Er lässt Sie bitten, Ihre Ansicht über die Sache aufzuschreiben."
„Schön!" Furukawa nickte. Es gab unter den Mitgliedern der „Tenrju-Gesellschaft" viele Jugendliche, und die Fragen, die die Heimkehrer betrafen, gingen auch die Jugendsektion an. „Na, und wie denkt ihr anderen darüber? Du zum Beispiel?" „Ich denke, dass..." sie senkte den Blick und starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoße ruhten. Dann hob sie die langen Wimpern und sah Schiro an. „Ich denke, wenn wir alle, die Hemden bekommen haben, als Verbrecher betrachten, dann werden sie beleidigt und wütend sein. Sie wollen doch die Hemden nicht wiederhergeben..."
„...und nicht davor zurückschrecken, aus der Gewerkschaft auszutreten, was?"
„Ich weiß nicht, ob es soweit kommen würde... Aber ich glaube, je mehr Menschen wir auf unserer Seite haben, desto besser ist es."
„Das stimmt. Wenn es uns gelingt, die alten Sünden Takenoutschis aufzudecken, dann dürfen wir jene nicht vergessen, die schon Hemden erhalten haben. Man muss diese Leute dem Einfluss Komatsus entziehen und zugleich dem Gefühl der Empörung derer Rechnung tragen, die keine bekommen haben. Eine schwere Aufgabe! Ich würde schließlich auch nicht nein sagen, wenn ich so billig ein Hemd kaufen könnte. Sieh mal!"
Furukawa hob den Arm, um sein zerrissenes Hemd zu zeigen. Beide Ärmel waren sorgfältig ausgebessert.
„Was ist denn das für ein Wunder?" fragte er verblüfft.
Hatsue schlug die Augen nieder und errötete bis an die Haarwurzeln.
„Das hast du auch gemacht? Ich danke dir schön..."
Wenn sich Schiro über etwas wunderte, dann senkten sich seine Augenbrauen, und sein Gesicht nahm einen so bekümmerten Ausdruck an, als wollte er in Tränen ausbrechen. Er dachte einige Minuten lang nach, kratzte sich hinter dem Ohr, ergriff einen Bogen Papier, legte ihn vor sich aufs Kissen und begann, an Ikenobe zu schreiben.
Die Schoji klapperten unter den Windstößen. Schiro tauchte die Feder ein und schrieb einige Zeilen. Auf einmal stockte er unschlüssig. Hinter sich vernahm er ein Rascheln - Hatsue zog ein Päckchen aus ihrem Bündel. Sie saß ganz still und schien mühsam Atem zu holen. Schiros Herz klopfte, und Hatsue atmete immer rascher.
Schiro fühlte, dass in diesem Augenblick etwas sehr Wichtiges, Unabwendbares geschah. Er glaubte zu ersticken, wenn er weiter schwiege. „Hör mal", begann er, ohne sich umzudrehen. „Hör mal zu, Hatsuesan..." „Ja?"
„Wenn ich... wenn ich..." Schiro hob die Feder vor die Augen und betrachtete ihre Spitze. „Wenn ich sage, dass ich dich liebe, bist du dann böse?"
Er wandte sich um. Hatsue hatte die Augen niedergeschlagen und die Hände fest zusammengepresst. „Bist du böse?" Sie schüttelte langsam den Kopf. „Wirklich nicht?"
Alles ringsum schien in hellem Licht zu erstrahlen. Er umarmte sie. Seine Hand spürte die weiche, warme Mädchenschulter.
Als er die Kühle ihres schwarzen Haars und die Hitze ihrer Wangen dicht an seinem Gesicht fühlte, wusste er selbst nicht mehr, was er ihr in die Ohren flüsterte.
Von Zeit zu Zeit nickte sie; ihr Antlitz war rein und unschuldig wie das eines Kindes.

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