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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Liebes Äpfelchen, du schönes Äpfelchen...
Furukawa Schiro lag lang ausgestreckt auf den Bastmatten und sang. Dabei trommelte er mit den Füßen den Takt gegen die Wand.
Ihm war schwer ums Herz. In seiner Kehle schien eine Saite zu fehlen: Wenn er zu den höchsten Tönen kam, dann kippte seine Stimme um und wurde zu einem kläglichen Piepsen. Ab und zu hob er den Kopf, warf einen raschen, finsteren Blick auf Ikenobe und klopfte weiter mit den Füßen gegen die Wand.
Ich lege die Lippen an das rosige Ä-Ähähäpfelchen...
Schinitschi saß in der anderen Ecke des Zimmers am Tisch und tat nichts dergleichen. Er hatte die Finger in die Ohren gestopft und las in einem Buch.
Schiro war eben erst nach Hause gekommen. Er hatte unterwegs in einer Gasse nahe dem Bahnhof von
Kami-Suwa Sake getrunken. Und jetzt rekelte er sich auf den Bastmatten. Wie immer hatte er seine Uniform an; denn andere Kleider besaß er nicht. Das zerschlissene Hemd war verrutscht und ließ seinen Bauch frei. Als ihm das Singen über wurde, begann er, angelegentlich zur Decke emporzustarren. Seine dunklen Augen waren auf einen Punkt gerichtet, und er verhielt sich einen Augenblick ganz still, als lausche er auf irgendetwas. Im nächsten Moment aber senkten sich seine Brauen, seine Lippen zitterten, Tränen traten ihm in die Augen und rollten über seine Wangen auf die Hände, die er hinter dem Kopf verschränkt hatte.
Die Fenster bebten unter den heftigen Windstößen. Es war der vierte Tag im neuen Jahr, und die Fabrik arbeitete nicht. Die Wolken hingen tief, und Tag für Tag brausten eisige Winterstürme vom Gipfel des Jagatake über den fest zugefrorenen Suwasee.
Schiro verstand sehr gut, warum Ikenobe, dieser Kerl, nicht zu seinen Eltern nach Tokio gefahren war, obgleich er eine ganze Woche frei hatte. Ja, Schiro verstand alles sehr gut, und eben daher rührte seine schlechte Laune.
Immer war er so, dieser Ikenobe. Ständig hockte er über Versen oder Romanen. Konnte ein solcher Mensch denn begreifen, was in Schiro vorging?
Na ja, er hatte eben den Krieg nicht mitgemacht...
Ikenobe war auch einberufen, aber wegen seines Gesundheitszustandes - er hatte eine Lungenentzündung bekommen - noch während der dreimonatigen Ausbildung entlassen worden.
Schiro fühlte sich allein - er hatte alle Schrecken am eigenen Leibe spüren müssen. Der Wunsch, irgendwohin zu laufen, etwas Tollkühnes, Wagehalsiges zu unternehmen, ergriff ihn mit einer solchen Gewalt, dass er beinahe vor sich selbst Angst bekam. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, als wollte er sich mit aller Kraft einem wahnsinnigen Verlangen widersetzen, und er fing wieder an, die Wände mit den Füßen zu bearbeiten.
Ich lege die Lippen an das rosige Ä-Ähähäpfelchen... Ruhig strahlt der Himmel...
Schinitschi bohrte die Finger noch tiefer in die Ohren und beugte sich so weit über das Buch, dass er es fast mit der Nase berührte.
Er las „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft". In der letzten Woche hatte er in seinem Innern eine Revolution durchgemacht. Bis dahin hatte er keine Ahnung gehabt, wie die Welt wirklich aussah. „Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich."
Es war ein schwieriger Text; aber die Stellen, die er zu erfassen vermochte, verblüfften Schinitschi. Zum ersten Mal in seinem Leben stieß er auf solche umwälzende Gedanken. Sie waren ebenso klar und einfach wie seine Drehbank - ohne ein einziges überflüssiges Schräubchen. Eine unbestreitbare, große Wahrheit strahlte ihn aus den Seiten dieses Buches an, eine so allumfassende, eine so tiefe Wahrheit, dass es schwer war, sie mit einem mal zu begreifen.
„Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie..."
Die Manufaktur? Was war das - Manufaktur?
Das Äpfelchen erwiderte kein Wooort...
„Halt den Mund!" schrie Schinitschi. Er konnte es nicht mehr aushalten.
Doch der schrille Gesang riss nicht ab.
...Ruhig strahlt der blaue Himmel...
„Hör mal!" Schinitschi stand auf und hockte sich neben dem Hibatschi nieder, in dem kein Stückchen Kohle glühte. „So geht das doch nicht. Du kennst nichts anderes als Saufen."
Statt einer Antwort lächelte Schiro nur ironisch und trommelte noch heftiger mit den Füßen gegen die Wand. Seit sich Schinitschi mit den neuen Ideen befasste, erschien ihm sein Freund so klein, so kläglich und töricht, dass er wütend wurde, wenn er ihn nur zu Gesicht bekam. Er bildete sich ein, es wäre nicht Furukawa, der sich hier auf dem Fußboden wälzte, sondern er selbst, wie er noch vor wenigen Tagen gewesen war, und sein Zorn wurde noch größer.
Wenn wir Arbeiter alle so sind wie der, dachte er, dann nützen uns die besten Wahrheiten nichts, und das Leben wird wie früher voll Betrug und Sorgen sein. „Du solltest lieber etwas arbeiten, was meinst du?"
Schinitschi warf einen Blick in die Zimmerecke. Auf der zusammengerollten Matratze lagen ein paar alte Zeitungen, eine Sporthose, ein Frühstückskästchen und dazwischen einige der Bücher, die Araki in Tokio gekauft hatte. Offenbar war nicht eines davon auch nur aufgeschlagen worden. „Wir müssen entschlossener werden. Ein fürchterlicher Feind steht vor uns - der Kapitalismus. Dadurch, dass du säufst, änderst du nichts."
Schiro hörte plötzlich auf zu trampeln. „Wir haben gar nicht begriffen, wie das Leben in Wirklichkeit ist", sagte Schinitschi. „Deshalb mussten wir uns im Krieg totschlagen und unsere Häuser niederbrennen lassen. Aber es geht uns immer noch nicht ein, was und wofür alles..." „Was quatschst du da?"Schiro sprang mit einem Ruck auf. Er wurde rot vor Wut und zog ein Gesicht, als hätte Schinitschi ihn schwer beleidigt. „Du warst nicht im Kriege", brüllte er, „und darum weißt du auch nicht, was Krieg ist. Was redest du für einen Unsinn? Krieg - das ist Heldentum, das ist etwas viel Ernsteres, als du glaubst!"
Furukawa hatte bisher nicht alles, was er hatte durchmachen müssen, verarbeitet und begriffen. Nur eines fühlte er ganz deutlich: die zahllosen Wundnarben, die seinen Körper und seine Seele verunstalteten, und den Schmerz von diesen Wunden, den nichts milderte. Wofür war das alles?
Manchmal glaubte er, es wäre für den Kaiser oder für das Vaterland oder auch nur, damit er am Leben bleiben durfte. Doch alle diese Gründe waren nicht stichhaltig; man brauchte nur ernsthaft darüber nachzudenken, und schon verloren sie jeden Sinn. Das Leben aber wurde dann ganz unerträglich.
Wenn Schiro allein war und seinen Gedanken nachhing, dann verschwanden diese unklaren Überlegungen völlig, ihm glitt endgültig der Boden unter den Füßen weg, und er fühlte sich verlassen und hilflos wie ein Papierdrachen, dessen Schnur gerissen ist. „Was quatschst du da? Ich trinke für mein eigenes Geld! Du brauchst mir keine guten Lehren zu geben!"
Er warf Schinitschi einen finsteren Blick zu, riss seinen Mantel vom Haken und stampfte aus dem Zimmer. Schinitschi blieb schweigend sitzen. Ein Schatten legte sich über seine Züge.

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