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  In der Mittagspause drängten sich die Arbeiter vor dem  Schwarzen Brett neben der Steckuhr. Sie waren es schon gewohnt, dass in letzter  Zeit ständig neue Bekanntmachungen ausgehängt wurden. Diesmal aber war es  etwas Besonderes: 
    „Achtung! Die Untersuchung durch die Gewerkschaft hat  zu einer Klärung der Angelegenheit der Militärhemdenverteilung geführt. 
    Es gibt einen Zeugen, der aussagen kann, woher diese  Hemden stammen und wie sie an eine gewisse Gruppe von Personen verteilt wurden. 
    Alle Einzelheiten werden auf der nächsten Versammlung  im Juni bekanntgegeben und den Mitgliedern der Gewerkschaft zur Überprüfung  vorgelegt. 
    Gewerkschaftskomitee des Werkes Kawasoi der  Tokio-Electro-Company." 
    Ikenobe Schinitschi stand gegen die Holzwand gelehnt,  rauchte eine Zigarette und machte dabei ein harmloses Gesicht. 
    Der Himmel hatte sich bezogen; ein heftiger Wind  wehte. Auf dem Fabrikhof herrschte reges Leben. In einer Ecke spielte eine  Gruppe junger Leute Ball. Ein Mann mit einem leeren Rucksack über der Schulter  drängte sich durch, ohne auf den fliegenden Ball zu achten, und huschte an  Ikenobe vorbei durchs Tor. Das war einer von denen, die auf Lebensmittelsuche  gingen, ohne den Feierabend abzuwarten. Junge Mädchen sprangen Seil,  kreischten  und lachten; andere standen  in Gruppen beieinander.  Einige Frauen  hockten auf dem Erdboden und musterten ein Stück Stoff, das offenbar als  Tauschobjekt dienen sollte. Sie machten finstere Gesichter und hatten Sorgenfalten  auf den Stirnen. Ein Heimkehrer schlenderte über den Hof und suchte Bekannte. 
    Ikenobe überlegte beunruhigt, was für Folgen die  Ankündigung haben könnte, die das Gewerkschaftskomitee auf Verlangen der  Gewerkschaftsmitglieder veröffentlicht hatte. Ob es wohl Komplikationen geben  würde? 
    Immer mehr Menschen kamen herbei und lasen die  Bekanntmachung. Hier in der Galerie, an der belebtesten Stelle des ganzen  Fabrikgeländes, hingen noch andere Anschläge: der Zeitungsausschnitt mit der  Acheson-Erklärung, die Ankündigung der nächsten Zusammenkunft der  „Tenrju-Gesellschaft" und der schon vergilbte Hinweis  auf die Gewerkschaftsversammlung im Juni.  Zwischen all diesen Meldungen gab es auch Zettel wie: „Tausche wenig getragenes  Herrenjackett gegen fünf Scho Reis oder acht Scho Weizen. Haschimoto,  Werkzeughalle", oder „Ein Liter Zuteilungsschnaps gegen Lebensmittel zu  tauschen gesucht. Jamamoto Hana, Kontrollabteilung." 
    Die fortschreitende Inflation machte alles zunichte,  was die Arbeiter im Februar erkämpft hatten, und solche Anzeigen wurden von  vielen mehr beachtet als alle andern Mitteilungen. 
    Ikenobe warf einen kurzen Blick zu dem Gebäude der  Werkleitung hinüber. Der Wind blähte die Vorhänge an den Fenstern des  Direktorzimmers. Ikenobe kamen diese Fenster vor wie böse Augen, hinter denen  sich der Rückführungsplan verbarg, dessen Veröffentlichung jeden Tag erwartet  wurde. 
    Zerstreut schritt er über den Hof auf das Büro des Gewerkschaftskomitees  zu. Plötzlich schrak er zusammen. Ein amerikanischer Jeep fuhr durchs Tor,  brauste dicht an ihm vorüber und hielt vor dem Verwaltungsgebäude. 
   
    Im Gewerkschaftsbüro sah sich Ikenobe erstaunt um.  Hier fand offenbar eine Sitzung statt; doch keines der sieben ständigen  Komiteemitglieder sprach ein Wort. 
    An dem langen Tisch saß zurückgelehnt mit halb  geschlossenen Augen der Vorsitzende Tschidschiwa, neben ihm Araki, der die Arme  über der Brust verschränkt hatte und mit gesenktem Kopf vor sich hin starrte.  Rittlings auf einem Stuhl, den Rücken dem Vorsitzenden zugewandt, hockte  Takenoutschi. Sein Kinn lag auf der Stuhllehne, und er blickte von Zeit zu Zeit  nach der Tür. Nakatani und Kassawara hatten die Tabakspfeifen zwischen den  Zähnen und sahen den Rauchwolken nach, die zur Decke aufstiegen. 
    Ikenobe erkannte sofort, dass etwas vorgefallen war -  das Schiff hatte die Orientierung verloren. 
    „Also, ich kann wohl gehen", sagte Takenoutschi  plötzlich in energischem Ton, warf einen Blick auf den Vorsitzenden, rührte  sich aber nicht von der Stelle. Tschidschiwa murmelte etwas vor sich hin, die  anderen schwiegen. 
    Ikenobe machte Araki ein Zeichen; er stand auf und  folgte Schinitschi vor die Tür. 
    „Ich glaube, unsere Bekanntmachung hat den Gegner  vorzeitig gewarnt." 
    „Meinst du?" 
    „Komatsu ist nicht untätig geblieben. Er wird alle,  die Hemden bekommen haben, gegen uns aufhetzen. Unter ihnen gibt es einige, die  nicht Mitglieder der ,Tenrju-Gesellschaft' sind. Zwei aus unserer Abteilung  sind eben zu ihm in den Unterrichtsraum gegangen." 
    „So?" 
    Araki trat auf die leere Galerie hinaus, lehnte sich  an das Geländer und senkte nachdenklich den Kopf. 
    „Vielleicht haben wir ihnen durch unsere Mitteilung  die Möglichkeit gegeben, im Voraus Maßnahmen zu treffen", fuhr Schinitschi  fort. „Takenoutschi scheint sich sehr sicher zu fühlen." 
    „Nein, das glaube ich nicht", erwiderte Araki  leise, ohne den Kopf zu heben. „Er ist erbost, dass der Beschluss über die  Veröffentlichung der Bekanntmachung in seiner Abwesenheit gefasst wurde. Er  hat nämlich ein schlechtes Gewissen, weil jetzt seine alten Sünden ans  Tageslicht kommen. Er ist es gewesen, der die Sachen damals bei Torisawa und in  den Bergen versteckt hat. Anscheinend ist der Direktor daran beteiligt. Sie  werden sich auf die Versammlung vorbereiten. Im Übrigen sind zwischen  Takenoutschi und Tschidschiwa Meinungsverschiedenheiten aufgetreten."  „Nicht möglich!" 
    „Tschidschiwa unterstützt den Rückführungsplan, aber  er hat seine eigenen Ansichten über Ehrlichkeit, verstehst du? Er verlangt, dass  der Vorfall mit den Militärhemden gründlich untersucht wird. Dadurch verlieren  die Anhänger des Rückführungsplans einen ihrer Wortführer." 
    Das bedeutete eine Spaltung der rechten Gruppe in der  Gewerkschaft! 
    „Die Leute, die Hemden bekommen haben, sind nicht  schuld. Das müssen wir bedenken und sofort einen neuen Aufruf erlassen. Aber  viel ernster, viel wichtiger ist die Tatsache, dass sich einige Arbeiter über  die Rückführung freuen. Was soll man mit ihnen machen? Dir geht es doch auch  so, nicht wahr?" 
    „Nein, ich habe mich damit abgefunden." 
    „Was heißt abgefunden? Es gibt welche, die sich nicht  damit abgefunden haben, und zwar sind das führende Mitglieder unseres  Jugendverbandes. Unsere Aufgabe besteht darin, den Kampf mit jenen zu führen,  die durch diese Maßnahme betroffen, das heißt, die entlassen werden. Na, was  meinst du dazu? Willst du nicht einige Jungkommunisten zusammenrufen und mit  ihnen darüber beraten?" 
    Auf einer Lichtung in den Bergen versammelte sich nach  Feierabend eine kleine Gruppe Jungkommunisten, unter ihnen Ikenobe, Onoki,  Inoue, Ito - ein Mechaniker aus der Montagehalle zwei - und der Dreher Fukuda.  Sie stammten alle aus Tokio und hatten früher im Werk Oi gearbeitet. 
    Von den Mädchen war nur Kassuga Schinobu erschienen. 
    „Ich möchte sehr gern nach Tokio zurück", sagte  Inoue laut wie immer und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Seit zwei  Jahren habe ich meine Mutter nicht gesehen. Sie ist krank. Mein Vater schreibt,  ich soll die Arbeit bei der ,Tokio-Electro' aufgeben. Da kommt mir diese  Rückführung sehr gelegen." 
    Araki hatte sich in der Nähe auf einen Stein niedergelassen  und blickte zwischen den Bäumen hindurch auf die weißen Schaumkronen, die der  Wind den Wellen des Suwasees aufsetzte. 
    „Was meinst du, Kassugasan?" wandte sich Araki an  das junge Mädchen, das mit untergeschlagenen Beinen auf der Erde hockte und  Grashalme abrupfte. 
    „Ich?" Sie hob den Kopf und lachte leise. „Mir  ist es ganz gleich." 
    Inoue, der sich neben ihr im Gras ausgestreckt hatte, sah  sie erstaunt an. 
    „Dddann ist es mmir aaauch gleich", stotterte er,  richtete sich auf und fuhr fort: „Tttrotzdem ist es schwer. Ich habe nnämlich  eine Freundin in Ttokio das müsst ihr verstehen!" 
    Beim Sprechen rieb er seine Knie mit der Hand und zog  seine runde rote Nase kraus. Das sah so komisch aus, dass alle lachten. Aber  auch dieses Lachen machte sie nicht froher. 
    „Vorsitzender!" wandte sich Ikenobe unvermittelt  an Onoki. „Ich finde, dass Äußerungen wie ,mir ist es gleich' unangebracht  sind. Können wir denn kämpfen, wenn wir eine solche Einstellung haben? Bedenkt  doch, wie viele wegen der Rückführung entlassen werden! Dummköpfe seid ihr,  weiter nichts!" 
    Inoue legte den Kopf auf die Seite und blinzelte. „Uunangebracht?...  Was sollen die Vorwürfe? Ddu hast dddoch selbst zuerst gedacht..." Er wurde wütend und stotterte  mehr als sonst. 
    Ikenobe machte eine beschwichtigende Handbewegung und  sagte rasch: „Hört auf zu streiten! Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich  könnte mich ja auch über die Rückführung freuen; aber ich bin der Ansicht, dass  wir dagegen kämpfen, dass wir in diesem Kampfe sogar an der Spitze stehen  müssen." 
    Araki sah die Jungkommunisten aufmerksam an. Einige  saßen gesenkten Hauptes, die Arme um die Knie geschlungen, auf ihren Plätzen  und sagten kein Wort. 
    Diese Passivität musste unter allen Umständen  überwunden werden. 
    Araki wusste, wie notwendig gerade jetzt Leute waren,  die nicht an ihre persönlichen Vorteile dachten, sondern nur daran, was für die  Allgemeinheit nützlich war. 
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