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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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24

Als Schinitschi erwachte, galt sein erster Gedanke den Broschüren unter seinem Kopfkissen. Ja, am Vormittag musste er sie Nakatani zurückgeben... Die Sonnenstrahlen, die durch die Schoji fielen, huschten über sein Gesicht, und er zögerte, die Augen zu öffnen.
Heute arbeitete die Fabrik wegen Strommangels nicht. Der gewohnte Tagesablauf fehlte; man hing sozusagen in der Luft. Besonders unangenehm war das am Monatsende, wenn kein Mensch mehr Geld hatte.
„Wie spät ist es?" Schinitschi schlug endlich die Augen auf und blickte zu der anderen Lagerstatt hinüber.
Furukawa hielt seinen nackten Rücken den Sonnenstrahlen entgegen und zupfte eifrig an seinem Hemd. „Was machst du denn da?" fragte Schinitschi. Furukawa wandte ihm sein vergnügtes Gesicht mit der frechen Stupsnase zu und grinste. „Ich fange Läuse!"
„Lass das, hörst du!" Schinitschi fuhr wie von der Tarantel gestochen in die Höhe; doch ihn erwartete eine noch größere Überraschung. Ein Apfelgriebs und zwei Zigarettenstummel zierten die aufgeschlagenen Seiten eines dünnen Büchleins, das am Kopfende von Furukawas Bett lag. Ohne Zweifel, es war die erste Nummer der „Akahata"!
„Hör mal!" Schinitschis Stimme klang ungewöhnlich scharf, und Furukawa sah ihn erstaunt an. „Wo hast du das her?"
Furukawa senkte die Brauen, seine Züge nahmen einen unglücklichen Ausdruck an. „Verzeih, bitte", sagte er mit schuldbewusster Miene wie ein gescholtenes Kind.
„Na, weißt du..." Schinitschi fand keine Worte. Das war doch ein Geheimnis! Nakatani hatte die Druckschriften nur wenigen Auserwählten gegeben.
„Hast du darin gelesen?"
„Hmm... ja", murmelte Furukawa. Er hielt noch immer sein Hemd in den Händen und wunderte sich, dass Schinitschi der Sache eine so große Bedeutung beimaß.
Schinitschi war verblüfft. Wie konnte Furukawa wenn er die Broschüren gelesen hatte, so ruhig sein?
„Na und, was hältst du davon?"
„Manches ist ganz unverständlich", antwortete Furukawa gleichgültig und betrachtete angelegentlich sein Hemd.
Als Schinitschi diese nichtssagende Antwort hörte, seufzte er erleichtert auf, fühlte sich aber gleichzeitig gekränkt. „Ich habe ja auch nicht alles verstanden, aber...", begann er nach einer kurzen Pause.
Doch Furukawa hatte die Sache offenbar schon wieder vergessen. Fr trat an das Fenster und schüttete seelenruhig pfeifend die Apfelreste und die Zigarettenstummel hinaus. „Ich kann diese Kommunisten und ähnliche Leute überhaupt nicht leiden, verstehst du?"
Er warf die Broschüre ins Zimmer, beugte sich aus dem Fenster und rief: „He, Mädchen, halt! Bleib mal einen Augenblick stehen!"
Weibliche Stimmen drangen von unten herauf. „Komm mal schnell her!" Furukawa wandte sich zu Schinitschi um und winkte ihn heran. Dann legte er die Finger an den Mund und pfiff, während er die Mädchen beobachtete.
Als Schinitschi sah, wie Furukawa mit den Frauen anzubändeln suchte, wurde er unwillkürlich rot. Furukawa Schiro war immer ein Draufgänger gewesen; doch seit seiner Soldatenzeit war er derart dreist und sprunghaft, dass Schinitschi sich mitunter Sorgen um ihn machte.
Jetzt aber überließ er es Furukawa, seine Zeit nach seinem Gutdünken zu verbringen, und ging in den Speisesaal hinunter, der im ersten Stock des Gemeinschaftsheims lag. Fast alle Plätze waren besetzt. Früher, als das Haus noch ein Hotel war, hatte dieser halbdunkle Raum, in dem sogar tagsüber Licht brannte, als Küche gedient. An Stelle eines Tisches war ein langes Brettergerüst auf dem Zementfußboden errichtet.
Die beiden Bedienerinnen hatten alle Hände voll zu tun; denn an den Tagen, an denen nicht gearbeitet wurde, empfingen die Arbeiter ihre ganze Tagesration, Frühstück und Mittagessen, auf einmal.
„Guten Morgen!" grüßte Schinitschi und setzte sich Onoki gegenüber, der eifrig mit seinem Frühstück beschäftigt war. Die Essstäbchen klapperten gegen den Rand seiner Schüssel.
„Wenn man so spät aufsteht, dann hat man nicht mehr viel Glück beim Angeln!" bemerkte Honda, der gern Zoten riss. Er war ein Mann von dreißig Jahren. Seine Familie wohnte in Tokio. Er trug einen Uniformmantel und saß mit aufgestützten Ellbogen am Tisch. Seine Augen waren gerötet, wahrscheinlich von der schlaflos verbrachten Nacht. Anscheinend hatten sie alle bis zum Morgen Majong gespielt.
„Unsinn! 'ne halbe Stunde abends, das reicht vollkommen hin..."
Onoki und zwei oder drei andere Arbeiter hatten sich Tücher um die Köpfe geschlungen und ihre Mützen darübergestülpt. Sie wollten Fische fangen gehen. Das nannten sie „Maßnahme für zusätzliche Ernährung".
Bei dem jungen Schleifer Utsumi aber, der seine ganze Tagesration in ein Holzkistchen packte und dieses am Gürtel festband, konnte man sich kaum vorstellen, dass er sich „zusätzlich ernährte". Er war ein blasser, dürrer Kerl und hüstelte fortwährend. In die Fabrik ging er jeden dritten Tag - einen Tag arbeitete er, und die beiden nächsten beschäftigte er sich mit Fischfang. Wenn es ihm gelang, wenigstens zweihundert Momme (Anm.:  750 Gramm.) Karauschen oder Weißfische zu angeln, so brachte ihm das drei- oder vielleicht auch fünfmal soviel ein, wie er im Werk verdiente.
„Ssisiehst du, dadas hahaben wir alles ddem Kaiser zu verdanken. Und was Konoe betrifft..." stotterte Inoue.
Eine Weile stritten die Majongspieler missmutig über dieses Problem.
Schinitschi schaufelte hastig den dunklen, mit Rettichkraut vermischten Reis aus der Schale und hörte dem Wortwechsel zu, als sich plötzlich Furukawa in das Gespräch einmischte: „Was redet ihr da für dummes Zeug? Wie der Kaiser auch gehandelt hat..."
Er entriss der Köchin den Schöpflöffel, goss sich Suppe ein und trat mit der Schale in der Hand an den Tisch.
Bei Furukawas Worten hob Honda den Kopf. „Ich spucke auf deinen Kaiser!" rief er verächtlich. „Seine
Schuld ist es, dass dieser verfluchte Krieg überhaupt angefangen hat!"
Furukawa setzte sich rittlings auf eine Bank. „Ach, sieh mal einer an! Habt ihr gehört, was er gesagt hat? Na gut, dafür wirst du dich verantworten müssen!"
Ob das nun noch Scherz war oder nicht, war unklar. Furukawa entsann sich seiner Soldatenzeit, und in seinen Augen glomm ein böser Funke auf. „Du bist wohl übergeschnappt, was?" Hondas gerötete Augen blitzten. Er war selbst demobilisierter Soldat und maß den Grünschnabel Furukawa, der auch im Rang weit unter ihm stand, mit wütenden Blicken. „Halt's Maul, verstanden?"
Furukawas eingefallene Wangen zuckten, und gleich darauf flog seine mit Suppe gefüllte Schale dem anderen an den Kopf. In der nächsten Sekunde aber stürzte Furukawa mitsamt der Bank, auf der er saß, rücklings zu Boden.
„Hört auf! Hört sofort auf, sonst gibt's 'ne kalte Dusche!"
Der Heimälteste Onoki lief aufgeregt mit einem Eimer Wasser um die Raufenden herum. Schinitschi und Inoue versuchten, die Gegner auseinanderzubringen.
Honda hielt Furukawas Kehle umkrampft, während ihm Furukawa aus Leibeskräften mit den Fäusten ins Gesicht schlug.
„Ihr wollt nicht aufhören? Na schön, ihr Teufel, dann sollt ihr euren Willen haben!"
Der kleine Onoki sprang auf den Tisch und schüttete den ganzen Eimer Wasser über die beiden Kampfhähne aus.

Als Schinitschi in Nakatanis Zimmer trat, sah er den Obermeister in einen warmen Kimono gehüllt mit einer Kompresse um den Hals am Herd sitzen. Der große Raum war schlecht gelüftet.
„Guten Tag, guten Tag!" Nakatani drehte am Knopf des Radioapparates, der auf einem niedrigen Schränkchen stand.
„Ich höre Wladiwostok!" sagte er erfreut und blickte auf seine Armbanduhr. „Eine Frau hat die Ansage eine Japanerin..."
Er hatte sich den Rundfunkempfänger, mit dem er Sender aller Wellenbereiche hören konnte, selbst gebastelt.
Die grippekranke fünfjährige Tochter Nakatanis lag im Bett. Auf einem Tisch an der Wand türmten sich Teile von Apparaturen, Kataloge und Zeichenrollen.
„Hast du sie mitgebracht?"
Schinitschi zog die Broschüren aus der Tasche und legte sie neben den Herd. Nakatani warf einen Blick in den Nebenraum, dessen Schiebewand etwas offenstand, und schob die Hefte mit einer lässigen Bewegung in den Ausschnitt seines Kimonos. Nebenan warteten einige Arbeiterinnen aus Okaja, die zum Baden nach Kami-Suwa herübergekommen waren.
„Es ist etwas sehr Unangenehmes passiert..." Schinitschi senkte die Stimme, damit ihn die Mädchen nicht hören konnten, und berichtete Nakatani von dem Vorfall am Morgen. „Dieser Teufel Furukawa hat die Broschüren gelesen!" „Was, der?" Nakatani war bestürzt. Furukawa arbeitete in einer anderen Werkhalle, und Nakatani kannte ihn nur flüchtig. Ob er das Geheimnis für sich behalten würde? Nakatani blickte zu Boden und dachte nach.
Da erklang die Stimme seiner Frau hinter der Wand: „Bitte, kommt doch an die Heizung", lud sie die Arbeiterinnen freundlich ein und trat ins Zimmer. Auf ihrem Rücken war ein Kind festgebunden. „Takenoutschisan hat eben angerufen und gebeten, ein Abendessen vorzubereiten. Es kommen acht Personen von der Fabrikverwaltung", teilte sie ihrem Mann mit, setzte sich hin und nahm das Kind auf den Schoß.
„So? Na, meinetwegen. Auf jeden Fall muss angeordnet werden, dass das Zimmer im zweiten Stock aufgeräumt wird", antwortete Nakatani. „Ich habe mich in einen richtigen Hotelwirt verwandelt", sagte er lächelnd zu Schinitschi.
Hinter der Wand war eine lebhafte Unterhaltung im Gange, und man hörte Furukawas Stimme: „Was, die Kommunistische Partei? Nun, siehst du, die Kommunistische Partei, das ist...", dann kam er herein. Sein Soldatenhemd war an den Schultern noch ganz nass.
„Es widert einen an, wenn man hört, wie sie auf den Kaiser schimpfen und alle möglichen Gemeinheiten gegen ihn vorbringen", redete er weiter und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
„Schon gut, schon gut", suchte Inoue ihn zu beruhigen und klopfte ihm auf die Schulter.
Furukawa verbeugte sich vor Nakatani und seiner Frau und grinste verlegen. Gleich darauf fuhr er mit lauter Stimme fort: „Ich sage nichts, die Kommunistische Partei ist vielleicht auch eine gute Sache..."
Dann wandte er sich an die Arbeiterinnen, die durch die offenstehende Fusuma (Anm.:  Schiebewand, Tapetenschiebetür.) hereinschauten: „Kein Dach über dem Kopf, hungernd und frierend - ist das ein Leid!"
Er stockte und rieb sich die Stirn mit der Hand. Dann drehte er sich zu Schinitschi um. „He, Ikenobe, wie geht es weiter? Wie hieß es doch da in diesem Brief?" Er sah ihn fragend an; doch da Schinitschi schwieg, wandte er sich wieder den Frauen zu.
„Hungernd und frierend... Oh, ihr Armen. Oh, ihr armen Mädchen!"
Hinter der Wand wurde gelacht. Nakatani senkte nervös die Lider. Schinitschi geriet langsam in Wut. So ein verflixter Bursche! Was würde er wohl noch alles schwatzen?
Die Arbeiterinnen aber fühlten sich seit Furukawas Eintritt angeregt. Die meisten von ihnen waren im Geist der alten Traditionen erzogen, die es den jungen Mädchen streng verboten, mit ihren männlichen Kollegen zu sprechen und zu scherzen. Darum saßen sie gesittet im Nebenzimmer auf ihren Plätzen und blickten nur verstohlen zu Furukawa hin. „Ihr habt die ganze Zeit hier in den Bergen gehockt und wisst überhaupt nicht, was für eine Sache das ist, der Krieg...", meinte Furukawa, ging vom Herd weg und ließ sich auf den Fußboden nieder. „Deshalb habe ich ja gesagt, das haben wir alles dem Kaiser zu verdanken", warf Inoue ein und riss seine runden Augen auf. Diskussionen begann er stets damit, dass er scheinbar mit seinem Gesprächspartner übereinstimmte; doch kaum war es ihm gelungen, ein Wort einzuflechten, so verteidigte er hartnäckig seinen eigenen Standpunkt. „Konoe hat Selbstmord begangen, und Tojo auch..."
„Wieder redest du so!" unterbrach ihn Furukawa. „Begreif doch: Tojo und Konoe, das sind gewöhnliche Menschen. Aber der Kaiser..., der Kaiser..." Furukawa reckte den Hals vor, stockte und suchte nach einem passenden Ausdruck. Was war der Kaiser? Ein Begriff, der schon immer, seit Furukawa denken konnte, in seinem Bewusstsein lebte. Aber als er jetzt versuchte, ihn in Worte zu fassen, begannen sich seine Gedanken zu verwirren. Sollte er sagen, der Kaiser sei ein Gott? Nein, das hätte übertrieben, pathetisch geklungen. Und „Oberkommandierender"? Das wäre auch unsinnig, denn es gab ja keine Armee mehr.
Plötzlich stieß Inoue einen Schrei aus. Auf dem Hemdkragen Furukawas wimmelte es von Läusen. Kobajaschi Schige, die dicht bei der Tür saß, schrie leise auf: „Um Himmels willen - Läuse!" Alle lachten und riefen durcheinander. Furukawa machte sich daran, die Läuse zu fangen - sein Gesicht war hochrot geworden. Vor den Mädchen konnte er es doch nicht mehr verbergen, und so hockte er mit zusammengezogenen Brauen da - ein Anblick zum Gotterbarmen. Er streckte die Hand mit den Läusen nach der Tür aus.
„Wie sie krabbeln, seht doch, wie sie krabbeln!"
Im Nebenzimmer brach ein Tumult los. Kobajaschi Schige war ganz aus dem Häuschen. Jamanaka Hatsue fuhr sich mit der Hand ins Haar. Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und war in äußerster Verlegenheit. Ihr Gesicht war feuerrot. Sie versuchte, Haltung zu wahren. Ein Kälteschauer lief ihr über den Rücken. Auch Jamanaka Kiku, die neben ihr saß, fuhr sich mit den Händen durch die Haare, dann lief sie mit dem Ruf: „Seht doch, wie sie wimmeln!" auf den Korridor hinaus. Furukawa rannte hinterher. „Unmöglicher Kerl!" sagte Schinitschi kopfschüttelnd und verließ mit Inoue das Zimmer. Kikus Schreien hörte man durch den ganzen Korridor.
Nakatanis Frau kam aus der Telefonzelle, die im Vorraum stand. „Sie werden am Telefon verlangt!" sagte sie lächelnd zu Schinitschi.
Er betrat die Zelle, hob ahnungslos den Hörer ans Ohr und zuckte im nächsten Augenblick überrascht zusammen.
„Wer ist am Apparat? Sind Sie es, Ikenobesan? Hier spricht... Ja, ich bin es..."
Kein Zweifel, es war Rens Stimme. „Ich bin in der Allee... Jaja, schnell bitte... Es ist sehr kalt hier..." Sie sprach hastig und aufgeregt.

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